Tote Mädchen lügen nicht - Filmausgabe - Jay Asher - E-Book

Tote Mädchen lügen nicht - Filmausgabe E-Book

Jay Asher

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Beschreibung

Der Bestseller jetzt als Netflix-Serie

Als Clay Jensen aus der Schule nach Hause kommt, findet er ein Päckchen mit Kassetten vor. Er legt die erste in einen alten Kassettenrekorder, drückt auf »Play« – und hört die Stimme von Hannah Baker. Hannah, seine ehemalige Mitschülerin. Hannah, für die er heimlich schwärmte. Hannah, die tot ist. Mit ihrer Stimme im Ohr wandert Clay durch die Nacht, und was er hört, lässt ihm den Atem stocken. Dreizehn Gründe haben zu ihrem Tod geführt, dreizehn Personen hatten ihren Anteil daran. Clay ist einer davon ...

Mit exklusivem Fotomaterial zur Netflix-Serie, produziert von Selena Gomez!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 324

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© Sonya Sones

Der Autor

Jay Asher ist der Autor des weltweiten Millionenbestsellers »Tote Mädchen lügen nicht«, der in 37 Länder verkauft, u. a. für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde und wochenlang die Spiegelbestsellerliste besetzte. Der Roman wird als 13-teilige Serie auf Netflix ausgestrahlt. Sein zweiter Jugendroman, »Wir beide, irgendwann«, entstand in der Zusammenarbeit mit der Co-Autorin Carolyn Mackler. Jay Asher lebt in Kalifornien, wo auch sein neuester Roman »Dein Leuchten« spielt. Mehr zum Autor unter jayasher.blogspot.com und auf Twitter @jayasherguy.

Mehr zu cbj/cbt auf www.instagram.com/hey_reader/

Von Jay Asher sind ebenfalls bei cbt erschienen:

Wir beide, irgendwann

Dein Leuchten

Jay Asher

Aus dem amerikanischen Englischvon Knut Krüger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2017

Erstmals als cbt Taschenbuch November 2012

© 2007 für den Originaltext Jay Asher

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Thirteen Reasons Why« bei Razorbill, an Imprint of Penguin Random House, New York.

© 2009 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem amerikanischen Englisch von Knut Krüger

Lektorat: Ulrike Hauswaldt

Umschlaggestaltung und Fotoabbildungen im Innenteil: init | Kommunikationsign, Bad Oeynhausen, unter Verwendung der THIRTEEN REASONS WHY Series Artwork © 2017 Paramount Pictures Corporation and Netflix, Inc. All Rights Reserved.

he ∙ Herstellung: ang

Satz und Repro: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22004-4V003

www.cbt-buecher.de

»Sir?«, wiederholt sie. »Wann soll das Paket ankommen?«

Mit zwei Fingern streiche ich mir über die linke Augenbraue. Das Pochen ist schlimmer geworden. »Spielt keine Rolle«, antworte ich.

Die Postangestellte nimmt das Paket. Derselbe Schuhkarton, der vor nicht mal vierundzwanzig Stunden auf meiner Veranda gelegen hatte, wieder eingeschlagen in eine braune Papiertüte, verschlossen mit durchsichtigem Klebeband, genau so, wie ich ihn bekommen hatte. Doch jetzt mit einem neuen Namen versehen. Dem nächsten Namen auf Hannah Bakers Liste.

»Was macht das?«, frage ich.

Sie legt das Paket auf eine Gummiunterlage und tippt etwas auf der Tastatur.

Ich stelle meinen Becher mit Tankstellenkaffee auf die Theke und blicke auf den Monitor. Ich ziehe ein paar Scheine aus meinem Portemonnaie, krame einige Münzen aus meiner Hosentasche und lege das Geld auf die Theke.

»Ich glaube, der Kaffee hat Sie noch nicht richtig wach gemacht«, sagt sie. »Ich bekomme noch einen Dollar.«

Ich schiebe einen weiteren Dollar rüber und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Der Kaffee ist lauwarm, als ich daran nippe, was das Schlucken noch schwieriger macht. Aber ich muss irgendwie zu mir kommen.

Oder auch nicht. Vielleicht ist es das Beste, diesen Tag wie in Trance zu verbringen. Vielleicht ist das der einzige Weg, um ihn durchzustehen.

»Müsste morgen ankommen«, sagt sie. »Spätestens übermorgen.« Dann lässt sie das Paket auf einen Rollwagen fallen, der hinter ihr steht.

Ich hätte bis nach der Schule warten sollen. Ich hätte Jenny noch einen friedlichen Tag gönnen sollen.

Obwohl sie es nicht verdient.

Wenn sie morgen nach Hause kommt, wird sie ein Paket vor ihrer Tür vorfinden. Falls ihre Eltern schon da sind, wird es vielleicht auf ihrem Bett liegen. Sie wird genauso erstaunt sein wie ich. Ein Paket ohne Absender? War das ein Versehen oder beabsichtigt? Vielleicht von einem heimlichen Verehrer?

»Wollen Sie eine Quittung?«, fragt die Angestellte.

Ich schüttele den Kopf.

Ein kleiner Drucker spuckt trotzdem eine aus. Ich sehe zu, wie sie den Beleg abreißt und in den Mülleimer wirft.

Es gibt nur ein einziges Postamt in der Stadt. Ich frage mich, ob es dieselbe Angestellte war, die auch die anderen auf der Liste bedient hat – diejenigen, die das Paket vor mir bekommen haben. Haben sie die Quittungen als makabres Souvenir behalten? Sie in ihren Wäscheschubladen versteckt oder an die Pinnwand geheftet?

Fast hätte ich es mir anders überlegt. Fast hätte ich gesagt: »Entschuldigung, könnte ich doch die Quittung haben?« Als Erinnerungsstück.

Doch hätte ich ein Erinnerungsstück gewollt, hätte ich ebenso gut die Kassetten überspielen oder den Stadtplan aufheben können. Aber ich will diese Kassetten nie wieder hören. Hannahs Stimme werde ich sowieso nicht mehr loswerden. Und auch die Häuser, die Straßen und die Highschool werden mich stets an sie erinnern.

Ich habe keine Kontrolle mehr darüber. Das Paket ist unterwegs. Ich verlasse das Postamt ohne Quittung.

Weit hinter meiner linken Augenbraue pocht mein Kopf immer noch. Wenn ich schlucke, brennt es säuerlich in meiner Kehle, und je näher ich der Schule komme, desto näher bin ich einem Zusammenbruch.

Ich will zusammenbrechen. Ich will auf den Bürgersteig sinken und in die Büsche kriechen. Denn unmittelbar hinter den Büschen macht der Fußweg eine Kurve und führt am Parkplatz der Schule entlang. Er durchschneidet eine Rasenfläche und läuft direkt auf das Hauptgebäude zu. Sobald man die Eingangstüren hinter sich gelassen hat, betritt man einen langen Gang, der an zahlreichen Schließfächern und Klassenzimmern vorbeiläuft, bis man schließlich die stets geöffnete Tür erreicht, hinter der die erste Stunde stattfindet.

Am Kopf des Zimmers, frontal zu den Schülern, befindet sich das Pult von Mr Porter. Er wird der Letzte sein, der ein Paket ohne Absender erhält. Und in der Mitte des Raumes, in der ersten Reihe links, steht der Stuhl von Hannah Baker.

Leer.

Ein Paket von der Größe eines Schuhkartons lehnt an der Haustür. Unsere Haustür hat nur einen schmalen Briefschlitz, alles, was größer als ein Stück Seife ist, muss draußen bleiben. Der hastig hingekritzelte Name auf der Verpackung adressiert das Paket an Clay Jensen, also hebe ich es auf und gehe hinein.

Ich trage das Paket in die Küche und stelle es auf die Arbeitsplatte. Ich öffne eine Schublade und nehme die Schere heraus. Dann schlitze ich das Paket mit der Schneide rundherum auf und öffne es. In dem Schuhkarton befindet sich ein länglicher Gegenstand, der in Luftpolsterfolie eingewickelt ist. Ich rolle sie auseinander und erblicke sieben Musikkassetten.

Jede Kassette ist oben rechts mit einer Nummer beschriftet. Die Farbe sieht aus wie Nagellack. Jede Seite trägt eine eigene Zahl. Die Seiten eins und zwei befinden sich auf der ersten Kassette, drei und vier auf der zweiten und so weiter. Die letzte Kassette ist auf einer Seite mit »13« beschriftet, die andere Seite ist leer.

Wer kommt nur auf die Idee, mir einen Schuhkarton mit Musikkassetten zu schicken? Wer benutzt heute noch Kassetten? Wo soll ich die überhaupt anhören?

In der Garage! Auf der Werkbank steht ein Gettoblaster. Mein Vater hat ihn auf dem Flohmarkt erstanden. Da das Teil schon uralt ist, macht es ihm nichts aus, wenn es mit Sägemehl bedeckt und mit Farbe bekleckst ist. Hauptsache, man kann damit Kassetten hören.

Ich ziehe einen Stuhl vor die Werkbank, lasse meinen Rucksack zu Boden fallen und setze mich hin. Ich drücke auf »Eject«. Eine Plastiklade schwingt auf und ich lege die erste Kassette ein.

Hallo zusammen. Hier spricht Hannah Baker. Live und in Stereo.

Ich kann es nicht glauben.

Keine Wiederkehr. Keine Zugabe. Und diesmal auch absolut keine Forderungen.

Nein, ich kann es nicht glauben. Hannah Baker hat sich das Leben genommen.

Ich hoffe, ihr seid bereit, denn ich will euch die Geschichte meines Lebens erzählen. Genauer gesagt, warum mein Leben ein Ende fand. Und wenn ihr diese Kassetten hört, dann seid ihr einer der Gründe dafür.

Was? Nein!

Ich werde nicht verraten, welche Kassette wen von euch ins Spiel bringt. Aber keine Sorge, wer diese hübsche kleine Schachtel bekommen hat, dessen Name wird irgendwann auftauchen – versprochen!

Tote Mädchen lügen nicht!

Ist das etwa ein Abschiedsbrief?

Ihr lacht ja gar nicht. Sollte ein Scherz sein.

Bevor Hannah gestorben ist, hat sie diese Aufnahmen gemacht. Warum?

Es gibt nur zwei Regeln und die sind ganz einfach. Regel Nummer eins: Ihr hört zu. Nummer zwei: Ihr schickt die Kassetten weiter. Hoffentlich wird euch beides schwerfallen.

»Was hörst du da an?«

»Mom!«

Ich fingere aufgeschreckt an den Tasten herum und drücke mehrere gleichzeitig.

»Mensch, hast du mich erschreckt!«, sage ich. »Das ist nichts Besonderes. Nur ein Projekt für die Schule.«

Meine Standarderklärung. Wenn ich erst spät nach Hause kommen will – Schulprojekt. Wenn ich extra Geld brauche – Schulprojekt. Und jetzt die Kassetten eines Mädchens. Eines Mädchens, das vor zwei Wochen eine Handvoll Tabletten geschluckt hat.

Schulprojekt.

»Darf ich mal hören?«, fragt sie.

»Das ist nicht von mir«, entgegne ich, während die Spitze meines Schuhs über den Betonboden kratzt. »Ich helfe nur einem Freund … in Geschichte, ziemlich langweiliges Zeug.«

»Das ist aber nett von dir«, entgegnet sie. Sie beugt sich über meine Schulter, hebt einen schmutzigen Putzlappen – eine meiner alten Stoffwindeln –hoch und nimmt sich das Maßband, das sich darunter befindet. Dann küsst sie mich auf die Stirn. »Bin schon wieder weg.«

Ich warte, bis die Tür sich schließt, den Finger bereits auf der Starttaste. Doch meine Hände, meine Arme, mein Hals, alles fühlt sich taub an. Ich habe nicht genug Kraft, um die Taste eines Kassettenrekorders herunterzudrücken.

Ich nehme die Stoffwindel und lege sie über den Schuhkarton, um ihn nicht ansehen zu müssen. Ich wünschte, ich hätte diese Schachtel und die sieben Kassetten darin nie zu Gesicht bekommen. Das erste Mal auf »Play« zu drücken, war einfach gewesen. Ein Kinderspiel. Ich hatte nicht geahnt, was ich hören würde.

Doch jetzt ist es eines der beängstigendsten Dinge, die ich je getan habe.

Ich drehe die Lautstärke herunter und drücke auf »Play«.

… Nummer eins: Ihr hört zu. Nummer zwei: Ihr schickt die Kassetten weiter. Hoffentlich wird euch beides schwerfallen.

Nachdem ihr alle dreizehn Seiten angehört habt, legt ihr die Kassetten wieder in den Karton und schickt sie an denjenigen weiter, der eurer kleinen Geschichte folgt. Und du, glückliche Nummer 13, du kannst mit den Bändern zur Hölle fahren. Vielleicht sehen wir uns dort, aber das hängt natürlich von deiner Religion ab.

Solltet ihr versucht sein, die Regeln zu brechen, so versichere ich euch, dass es von allen Kassetten Kopien gibt. Und diese Kopien werden in der Öffentlichkeit für ziemlichen Wirbel sorgen, wenn das Paket nicht jeden von euch erreicht.

Das war keine spontane Entscheidung.

Glaubt nie wieder, ihr könntet euch bei mir sicher sein.

Wie kann sie das nur denken?

Ihr werdet beobachtet.

Mein Magen zieht sich zusammen, ich bin drauf und dran, mich zu übergeben. In der Nähe steht ein umgedrehter Plastikeimer auf einem Schemel. Falls nötig, kann ich ihn mit zwei Schritten erreichen und umdrehen.

Ich kannte Hannah Baker kaum. Das heißt, ich hätte sie gern näher gekannt, doch bekam ich nie die Chance dazu. Den Sommer hindurch haben wir zusammen in einem Kino gejobbt und vor gar nicht langer Zeit auf einer Party ein bisschen rumgeknutscht. Doch wir hatten nie die Gelegenheit, uns wirklich näherzukommen. Und nie war ich mir bei ihr sicher. Nicht ein Mal.

Diese Kassetten sind bestimmt nicht für mich bestimmt. Das muss ein Irrtum sein.

Oder ein schlechter Scherz.

Ich ziehe den Mülleimer zu mir heran. Obwohl ich das schon einmal gemacht habe, schaue ich mir erneut die Verpackung an. Irgendwo muss doch der Absender zu finden sein. Vielleicht habe ich ihn nur übersehen.

Hannahs Selbstmordkassetten sind durch mehrere Hände gegangen. Jemand hat sie überspielt und sich einen Spaß daraus gemacht, mir die Kopien zu schicken. Morgen in der Schule wird jemand lachen, wenn er mich sieht, oder grinsend den Kopf abwenden. Dann werde ich es wissen.

Aber wie werde ich reagieren?

Keine Ahnung.

Das hätte ich fast vergessen: Wenn ihr auf meiner Liste seid, dann habt ihr vor einiger Zeit eine Karte bekommen.

Ich stopfe die Verpackung wieder in den Mülleimer.

Ich bin auf der Liste.

Vor ein paar Wochen, nur wenige Tage bevor Hannah die Tabletten schluckte, hat jemand einen Umschlag durch den Lüftungsschlitz meines Spinds gesteckt. Darauf stand mit rotem Filzstift: GUT AUFHEBEN – DU WIRST IHN BRAUCHEN. Darin befand sich ein zusammengefalteter Stadtplan, auf dem zirka ein Dutzend Punkte durch rote Sterne markiert war.

In der Grundschule haben wir genau solche Karten der Handelskammer benutzt, um uns die Himmelsrichtungen einzuprägen. Die Karten waren mit kleinen blauen Nummern übersät, die zu den Firmennamen gehörten, die am Rand aufgeführt waren.

Ich habe Hannahs Karte in meinem Rucksack aufgehoben. Eigentlich wollte ich sie in der Schule herumzeigen, um herauszufinden, ob noch jemand eine Karte bekommen hat. Ob jemand wusste, was das Ganze soll. Doch mit der Zeit wurde sie immer mehr von meinen Schulsachen zerquetscht und schließlich habe ich keinen Gedanken mehr daran verschwendet.

Bis heute.

Auf den Kassetten werde ich mehrere Orte unserer geliebten Stadt erwähnen, die ihr besuchen sollt. Ich kann euch nicht dazu zwingen, doch wenn ihr etwas mehr verstehen wollt, dann lasst euch von den Sternen leiten. Oder ihr schmeißt die Karten einfach weg und ich werde nie davon erfahren.

Während Hannahs Stimme aus den staubigen Lautsprechern dringt, spüre ich das Gewicht meines Rucksacks an meinen Beinen. Irgendwo auf dem Boden befindet sich die zerfledderte Karte.

Oder vielleicht doch. Ich weiß nicht, wie die ganze Sache mit dem Tod funktioniert. Wer weiß, vielleicht stehe ich ja in diesem Augenblick hinter euch und schaue euch über die Schulter.

Ich beuge mich vor und stütze meine Ellbogen auf die Werkbank. Mein Gesicht ruht in meinen Händen, und als ich mir mit den Fingern durch die Nackenhaare streiche, bemerke ich verwundert, wie feucht sie sind.

Tut mir leid. Das ist nicht fair.

Sind Sie bereit, Mr Foley?

Justin Foley. Einer aus der Abschlussklasse. Er war Hannahs erster Kuss.

Woher weiß ich das eigentlich?

Justin, mein Lieber, du warst mein allererster Kuss. Die erste Hand, die ich gehalten habe. Dabei warst du nur ein Durchschnittstyp. Ich sage das nicht, um gemein zu sein – bestimmt nicht. Du hattest nur eben irgendwas an dir, was mich dazu trieb, deine Freundin sein zu müssen. Bis heute weiß ich nicht, was das eigentlich war. Doch es existierte … und es war unglaublich stark.

Du hast es nie bemerkt, doch vor zwei Jahren, als ich ein Neuling war und du in die Klasse über mir gingst, da habe ich dir stets nachspioniert. In der sechsten Stunde habe ich immer im Sekretariat ausgeholfen, also kannte ich jeden Namen in deinen Kursen. Ich habe sogar deinen Stundenplan fotokopiert, irgendwo muss ich den heute noch haben. Er wird bestimmt wieder auftauchen, wenn sie später meine persönlichen Sachen durchsuchen, aber wahrscheinlich werfen sie ihn weg, weil sie nicht glauben, dass der Krimskrams einer Schulanfängerin irgendwas bedeuten könnte.

Doch für mich hatte das alles eine große Bedeutung. Ich bin zu dir zurückgekehrt, um einen Beginn für meine Geschichte zu finden. Und sie fängt tatsächlich bei dir an.

An welcher Stelle der Geschichte werde ich auftauchen? An zweiter? Oder dritter? Wird sie immer schlimmer werden? Sie sagte, die glückliche Nummer dreizehn soll mit den Kassetten zur Hölle fahren.

Wenn du die Kassetten bis zum Ende angehört hast, Justin, wirst du hoffentlich verstehen, was für eine Rolle du bei der ganzen Sache gespielt hast. Sie mag vielleicht klein aussehen, aber auch sie zählt. Am Ende zählt alles.

Hintergangen zu werden. Eines der schlimmsten Gefühle überhaupt.

Ich weiß, dass du mir nicht wehtun wolltest. Wahrscheinlich hatten die meisten von euch keine Ahnung, was ihr getan habt – was ihr wirklich getan habt.

Was habe ich denn getan, Hannah? Ich habe absolut keine Ahnung, was das sein könnte. Diese Nacht, falls du darauf anspielen solltest, war genauso seltsam für mich wie für dich. Vielleicht sogar noch seltsamer, weil ich immer noch keinen Schimmer habe, was eigentlich passiert ist.

Unser erster Stern befindet sich auf C4. Setzt euren Finger einfach auf Spalte C und fahrt dann runter bis zur 4. Genau wie beim Schiffeversenken. Nachdem ihr das Band gehört habt, solltet ihr dorthingehen. Wir haben in diesem Haus zwar nur kurz gewohnt – in dem Sommer, bevor ich auf die Highschool kam –, doch immerhin war das unsere erste Adresse, nachdem wir hierhergezogen waren.

Und dort habe ich dich zum ersten Mal gesehen, Justin. Vielleicht erinnerst du dich daran. Damals warst du in meine Freundin Kat verliebt. Die Schule sollte erst in zwei Monaten beginnen, und Kat war der einzige Mensch, den ich hier kannte, weil sie direkt neben uns wohnte. Sie hat mir erzählt, dass du im letzten Jahr ständig hinter ihr her warst, sie die ganze Zeit angestarrt hast und auf den Gängen immer wieder zufällig mit ihr zusammengestoßen bist.

Natürlich rein zufällig, oder?

Kat hat mir auch erzählt, dass du auf der Schuljahresabschlussparty endlich den Mut aufgebracht hast, etwas anderes zu tun, als sie anzustarren und ihre Nähe zu suchen. Ihr beide habt jeden langsamen Tanz miteinander getanzt. Und dann hat sie sich von dir küssen lassen. Der erste richtige Kuss ihres Lebens. Was für eine Ehre!

Die Geschichten müssen furchtbar sein. Haarsträubend. Deshalb schickt sie auch einer an den anderen weiter. Aus reiner Angst.

Wer käme schon auf die Idee, einen Haufen Kassetten weiterzugeben, die einem die Verantwortung für einen Selbstmord in die Schuhe schieben wollen? Niemand. Doch Hannah will, dass wir, die auf der Liste sind, ihr zuhören. Und wir gehorchen, schicken die Kassetten weiter, und wenn auch nur, um sie von Leuten fernzuhalten, die nicht auf der Liste stehen.

»Die Liste«. Hört sich an wie ein Geheimbund oder ein elitärer Klub, dem ich aus unerfindlichen Gründen angehöre.

Ich wollte wissen, wie du aussiehst, Justin, also haben wir dich von mir aus angerufen und gefragt, ob du nicht rüberkommen willst. Wir haben von mir aus angerufen, weil Kat nicht wollte, dass du erfährst, wo sie wohnt … noch nicht … obwohl ihr Haus ja direkt nebenan war.

Du hast gerade Basketball oder Baseball oder so was gespielt und hattest im Moment keine Zeit. Also haben wir gewartet.

Viele von uns haben in jenem Sommer Basketball gespielt, in der Hoffnung, als Angehörige des ersten Jahrgangs in das Juniorteam aufgenommen zu werden. Justin hatte bereits einen Platz im Team sicher. Also haben viele von uns im Sommer mit ihm trainiert, um sich etwas abzuschauen. Und manchen ist das auch gelungen.

Andere waren leider weniger erfolgreich.

Wir saßen stundenlang in meinem Erkerfenster, das auf die Straße hinausging, und redeten, als du plötzlich mit einem deiner Freunde – hi, Zach! – die Straße hinaufkamst.

Zach? Zach Dempsey? Das einzige Mal, dass ich Zach mit Hannah gesehen habe – und das auch nur für einen kurzen Moment –, war der Abend, an dem ich sie kennenlernte.

Unmittelbar vor unserem alten Haus treffen zwei Straßen aufeinander wie ein umgekehrtes T, ihr seid also mitten auf der Straße auf uns zugelaufen.

Warte. Warte. Ich muss nachdenken.

Ich kratze an einem eingetrockneten roten Farbklecks auf der Werkbank. Warum höre ich eigentlich zu? Ich meine, warum tue ich mir das überhaupt an? Warum reiße ich nicht einfach die Kassette aus dem Rekorder und schmeiße alle zusammen in den Müll?

Ich schlucke heftig. Tränen brennen in meinen Augenwinkeln.

Weil es Hannahs Stimme ist. Eine Stimme, von der ich glaubte, sie nie wieder zu hören. Ich kann die Kassetten nicht wegwerfen.

Und natürlich wegen der Regeln. Ich blicke zu der alten Stoffwindel hinüber, unter der sich der Schuhkarton befindet. Hannah sagt, dass sie von jeder Kassette eine Kopie angefertigt hat. Aber wenn das nicht stimmt? Vielleicht hat die ganze Sache ein Ende, wenn ich sie nicht weiterschicke. Aus und vorbei. Nichts passiert.

Aber was ist, wenn auf den Bändern doch etwas zu hören ist, was mich belastet? Falls das alles doch kein Trick ist? Dann wird ein zweiter Satz Kassetten an die Öffentlichkeit gelangen. Das hat sie jedenfalls gesagt. Und jeder kann sie dann anhören.

Der Farbklecks blättert ab wie alter Schorf.

Wer traut sich zu testen, ob das Ganze nur ein Bluff ist?

Du warst mit einem Fuß im Rinnstein und hast den anderen auf die Rasenfläche gesetzt. Weil mein Dad den ganzen Morgen über die Rasensprenger angeschaltet hatte, war das Gras noch feucht, und du bist ausgerutscht. Zach starrte in diesem Moment zum Fenster rauf, um einen Blick von Kats neuer Freundin – schönen Gruß auch– zu erhaschen, stolperte über dich und landete neben dir auf dem Bordstein.

Du hast ihn weggestoßen und dich aufgerappelt. Als Zach wieder auf den Beinen war, habt ihr euch unschlüssig angeschaut, als wüsstet ihr nicht, was ihr jetzt tun solltet. Und wozu habt ihr euch entschieden? Ihr seid einfach weggelaufen, wieder die Straße hinunter, während Kat und ich uns kringelig gelacht haben.

Ja, ich erinnere mich daran. Kat fand das wahnsinnig komisch. Sie hat mir im Sommer auf ihrer Abschiedsparty davon erzählt.

Die Party, auf der ich Hannah zum ersten Mal gesehen habe.

Oh, mein Gott, sie war so unglaublich hübsch. Und neu in der Stadt, das war das Aufregendste. Dem anderen Geschlecht gegenüber verfiel ich meist in ein unverständliches Stammeln, über das sich jeder Pfadfinder amüsiert hätte. Doch ihr gegenüber konnte ich ein neues und anderes Gesicht zeigen.

Kat zog noch vor Schulbeginn weg, und ich verliebte mich in den Jungen, den sie zurückgelassen hatte. Und es hat nicht lange gedauert, bis dieser Junge auch an mir Interesse zeigte. Was vielleicht mit der Tatsache zu tun hatte, dass ich ständig in seiner Nähe zu sein schien.

Wir waren in keinem Kurs zusammen, doch lagen unsere Klassenzimmer in der ersten, vierten und fünften Stunde zumindest nah beieinander. Okay, in der fünften war es doch eine ziemliche Strecke, und manchmal kam ich zu spät, um dich noch zu sehen, aber in der ersten und vierten Stunde gingen unsere Zimmer zumindest vom selben Flur ab.

Bei Kats Party hingen alle auf der Terrasse herum, obwohl die Temperatur unter null war. Vermutlich war es die kälteste Nacht des Jahres. Und ich hatte natürlich meine Jacke zu Hause vergessen.

Irgendwann habe ich mich überwunden und angefangen, Hallo zu dir zu sagen. Ein wenig später hast du dir ein Herz genommen und damit begonnen, mein Hallo zu erwidern. Eines Tages bin ich dann grußlos an dir vorbeimarschiert. Ich wusste, dass dich das beschäftigen würde, und diese Situation führte tatsächlich zu unserem ersten richtigen kleinen Gespräch.

Nein, das stimmt nicht. Ich hatte meine Jacke mit Absicht zu Hause liegen gelassen, damit jeder mein neues Hemd bewundern konnte.

Was für ein Idiot ich doch war.

»Hey«, sagtest du. »Willst du gar nicht Hallo zu mir sagen?«

Ich lächelte, holte tief Luft und drehte mich um. »Warum sollte ich?«

»Weil du sonst immer Hallo sagst.«

Ich habe dich gefragt, warum du glaubst, dich bei mir so gut auszukennen. Dann habe ich dir gesagt, dass du wahrscheinlich überhaupt nichts über mich weißt.

Auf Kats Party habe ich mich während meiner ersten Unterhaltung mit Hannah gebückt, um mir die Schuhe zuzubinden. Aber es ging nicht. Ich konnte keine Schleife binden, weil meine Finger vor Kälte ganz taub waren.

Zu Hannahs Gunsten muss ich erwähnen, dass sie angeboten hat, es für mich zu tun. Aber natürlich habe ich das abgelehnt. Stattdessen wartete ich so lange, bis sich Zach in unser unbeholfenes Gespräch einschaltete, dann ging ich hinein, um meine Finger unter fließendem Wasser aufzutauen.

Wie peinlich.

Früher, als ich meine Mutter fragte, wie ich die Aufmerksamkeit eines Jungen auf mich ziehen könnte, sagte sie: »Tu so, als seiest du schwer zu haben.« Also habe ich ihren Rat befolgt. Und es hat tatsächlich funktioniert. Du fingst an, vor meinen Klassenzimmern herumzulungern und auf mich zu warten.

Ich glaube, es hat Wochen gedauert, bis du endlich nach meiner Telefonnummer gefragt hast. Aber ich wusste, dass du es irgendwann tun würdest, deswegen hatte ich geübt, sie so gelassen und beiläufig auszusprechen, als würde es mir nichts bedeuten. Als würde ich sie jeden Tag hundert verschiedenen Leuten geben.

An meiner alten Schule hat es schon Jungs gegeben, die mich danach gefragt hatten, aber hier, an meiner neuen Schule, warst du der Erste.

Nein, das stimmt nicht. Aber du warst der Erste, der meine Nummer bekommen hat.

Im Grunde hätte ich sie auch den anderen geben können. Aber ich war vorsichtig. Du weißt schon … neue Stadt, neue Schule. Und diesmal wollte ich selbst darüber entscheiden, wie ich von den anderen gesehen wurde. Wie oft bekommt man schon eine zweite Chance?

Bevor du mich gefragt hast, Justin, habe ich immer alle Zahlen richtig gesagt – bis auf die allerletzte. Dann geriet ich plötzlich durcheinander … absichtlich schusselig sozusagen.

Ich öffne den Rucksack, der auf meinem Schoß liegt.

Ich war viel zu aufgeregt, um zuzusehen, wie du meine Nummer notierst. Zum Glück warst du viel zu nervös, um das zu bemerken. Als ich schließlich die letzte Zahl über die Lippen brachte – die richtige Zahl! –, strahlte ich von einem Ohr zum andern.

Doch deine Hand zitterte so heftig, dass ich fürchtete, du würdest die Zahlen durcheinanderbringen, und das konnte ich nicht zulassen.

Ich ziehe ihre Karte aus dem Rucksack und falte sie auf der Werkbank auseinander.

Ich zeigte auf die Zahlen, die du hingekritzelt hattest. »Das muss eine Sieben sein«, sagte ich.

»Ist es auch«, sagtest du.

Ich benutze ein hölzernes Lineal, um die Falten zu glätten.

»Na gut, solange du deine eigene Schrift lesen kannst …«

»Kann ich«, sagtest du. Trotzdem hast du die Zahl durchgestrichen und eine zittrige Sieben hingekritzelt, die noch schwieriger zu lesen war.

Ich zog die Enden meiner Ärmel in die Länge und war drauf und dran, dir damit den Schweiß von der Stirn zu wischen … etwas, was meine Mutter bestimmt getan hätte. Doch ich konnte mich gerade noch beherrschen. Wahrscheinlich hättest du nie wieder irgendein Mädchen nach seiner Telefonnummer gefragt.

Durch die seitliche Garagentür höre ich, wie Mom meinen Namen ruft. Ich drehe die Lautstärke runter, bereit, auf die Stopptaste zu drücken, falls sie sich öffnet.

»Ja?«

Als ich nach Hause kam, hattest du schon angerufen. Zwei Mal!

»Ich finde es ja schön, dass du arbeitest«, sagt Mom. »Ich wollte nur wissen, ob du mit uns zusammen zu Abend isst.«

Meine Mom hat mich gefragt, wer du bist, und ich hab geantwortet, dass wir einen Kurs zusammen haben. Wahrscheinlich, sagte ich ihr, wolltest du dich nur nach den Hausaufgaben erkundigen. Genau das hättest du auch gesagt, erzählte sie mir.

Ich betrachte den ersten roten Stern. C4. Ich weiß, wo das ist. Soll ich dort hingehen?

Ich konnte nicht glauben, dass du meine Mutter angelogen hast.

Doch warum machte mich das so glücklich?

»Nein«, entgegne ich. »Ich gehe noch zu einem Freund und helfe ihm bei seiner Projektarbeit.«

Weil wir uns dieselbe Lüge ausgedacht hatten. Das war ein Zeichen.

»Das ist aber nett von dir«, sagt Mom. »Dann stell ich dir was in den Kühlschrank, was du später aufwärmen kannst.«

Meine Mutter fragte, welchen Kurs wir denn zusammen hätten, und ich sagte »Mathe«, was zumindest nicht völlig gelogen war. Schließlich hatten wir beide Mathe. Nur eben nicht zusammen.

»Schön«, sagte Mom. »Das hat er mir auch erzählt.«

Ich habe ihr vorgeworfen, ihrer eigenen Tochter nicht zu glauben, riss ihr den Zettel mit deiner Telefonnummer aus der Hand und rannte nach oben in mein Zimmer.

Ich werde dorthin gehen. Dorthin, wo sich der erste Stern befindet. Doch vorher, nachdem ich diese Seite zu Ende gehört habe, werde ich Tony einen Besuch abstatten.

Tony hat seine Musikanlage im Auto nie aufgerüstet und hört beim Fahren immer noch Kassetten. Auf diese Weise, sagt er, bestimmt er auch weiterhin, was gespielt wird. Wer weiß, was die Leute, die er mitnimmt, sonst so für Musik dabeihaben.

Als du dich am Telefon gemeldet hast, sagte ich: »Justin? Hier ist Hannah. Meine Mutter hat gesagt, du hättest wegen der Mathehausaufgaben angerufen.«

Tony fährt einen alten Mustang, den er von seinem Bruder »geerbt« hat, der ihn von seinem Vater hatte, der ihn wahrscheinlich schon von seinem Vater übernommen hatte. An der Schule gibt es nur wenige Paare, deren Liebe so innig ist wie die von Tony zu seinem Auto. Aus Eifersucht auf seinen Mustang haben ihm schon mehr Mädchen den Laufpass gegeben, als ich je geküsst habe.

Du warst verwirrt, hast dich aber schließlich doch daran erinnert, meine Mutter belogen zu haben, und als der höfliche Junge, der du bist, hast du dich dafür entschuldigt.

Tony ist zwar kein enger Freund von mir, aber wir haben einige Schularbeiten zusammen erledigt, also weiß ich, wo er wohnt. Vor allem aber besitzt er einen alten Walkman, mit dem man Kassetten hören kann. Ein gelbes Ding mit dünnen Plastikkopfhörern, das er mir bestimmt ausleihen wird. Ich werde ein paar Kassetten mitnehmen und sie mir anhören, während ich durch Hannahs alte Wohngegend spaziere, die nicht weit von Tonys Haus entfernt liegt.

»Also, Justin, was für ein Matheproblem hast du denn?«, habe ich gefragt. So leicht wollte ich dich nicht davonkommen lassen.

Oder ich höre sie mir woanders an. An einem ruhigen Ort, an dem ich allein bin. Hier zu Hause geht das nicht. Ich glaube zwar nicht, dass Mom oder Dad sich an ihre Stimme erinnern könnten, aber ich brauche Platz. Platz, um zu atmen.

Und du bist voll drauf eingegangen. Du hast mir eine Textaufgabe gestellt: Wenn Zug A dein Haus um 15.45 Uhr verlässt und sich Zug B von meinem Haus aus zehn Minuten später in Bewegung setzt …

Du konntest es nicht sehen, Justin, aber ich habe tatsächlich meine Hand gehoben, als würde ich in der Schule und nicht zu Hause auf meiner Bettkante sitzen. »Nehmen Sie mich dran, Mr Foley«, sagte ich. »Ich weiß die Antwort.«

Als du meinen Namen genannt hast – »Ja, Miss Baker?« –, da habe ich Mamas Schwer-zu-haben-Regel einfach über Bord geworfen. Ich antwortete, die beiden Züge würden im Eisenhower Park an der Raketenrutscheaufeinandertreffen.

Was hat Hannah nur in ihm gesehen? Das habe ich nie begriffen. Selbst sie gibt zu, es nicht genau zu wissen. Aber dafür, dass Justin ein absoluter Durchschnittstyp ist, sind erstaunlich viele Mädchen hinter ihm her.

Natürlich ist er relativ groß. Und vielleicht finden es manche Mädchen ja faszinierend, dass er ständig grübelnd aus dem Fenster starrt.

Du hast lange geschwiegen, Justin. Wirklich seeeeeehr lange. »Und wann treffen sie aufeinander?«, hast du schließlich gefragt.

»In fünfzehn Minuten«, habe ich geantwortet.

Du sagtest, fünfzehn Minuten sei aber eine schrecklich lange Zeit für zwei Züge, die mit Volldampf aufeinander zurasen.

Oh Hannah, mach langsam.

Ich weiß, was ihr alle denkt. Ihr denkt, Hannah Baker ist eine Schlampe. Hoppla, habt ihr’s mitbekommen? Jetzt hab ich doch tatsächlich im Präsens von mir gesprochen … soll nicht wieder vorkommen.

Sie macht eine Pause.

Ich ziehe den Stuhl näher an die Werkbank heran. Die beiden Spulen im Kassettenrekorder, die hinter dem trüben Plastikfenster verborgen sind, transportieren das Band von einer Seite auf die andere. Aus dem Lautsprecher dringt ein sanftes Rauschen.

Woran hat sie in diesem Moment gedacht? Waren ihre Augen geschlossen? Hat sie geweint? Hat sie den Finger auf der Stopptaste, kann sich aber nicht überwinden, sie herunterzudrücken? Was tut sie? Ich höre nichts.

Aber ihr irrt euch gewaltig.

Ihr Stimme klingt wütend. Sie zittert fast.

Hannah Baker war niemals eine Schlampe. Zu keinem Zeitpunkt. Was die Frage aufwirft, was ihr über mich gehört habt.

Ich wollte nur einen Kuss. Ich hatte gerade auf der Highschool angefangen und war noch ungeküsst. Aber ich mochte einen Jungen und er mochte mich und ihn wollte ich küssen. Das ist alles.

War das wirklich alles? Ich hab da nämlich noch was anderes gehört.

In den wenigen Nächten vor unserem Treffen im Park hatte ich stets denselben Traum. Vom Anfang bis zum Ende. Ich werde ihn euch erzählen, um euch eine Freude zu machen.

Doch zuerst ein paar Hintergrundinformationen:

In meiner alten Stadt gab es einen Park, der in einer Hinsicht dem Eisenhower Park glich. Sie haben beide ein Raumschiff. Ich bin sicher, dass sie von derselben Firma hergestellt wurden, weil sie absolut identisch aussehen. Eine rote Nase zeigt in den Himmel. Von dieser Nase aus laufen Gitterstäbe hinunter bis zu den spitzen Flügeln, auf denen die Rakete steht. Zwischen der Nase und den Flügeln befinden sich drei Plattformen, die jeweils durch Leitern miteinander verbunden sind. Auf der obersten Plattform steht ein Steuerrad. Von der mittleren Ebene führt eine Rutsche zum Spielplatz hinunter.

An vielen Abenden, die meinem ersten Schultag vorausgingen, bin ich auf die oberste Plattform des Raumschiffs geklettert, habe mich vor das Steuerrad gesetzt und meinen Kopf darangelehnt. Die kühle Brise, die durch die Gitterstäbe wehte, tat mir gut. Ich schloss meine Augen und dachte an zu Hause.

Ein einziges Mal, im Alter von fünf Jahren, bin ich auch dort hinaufgeklettert. Ich habe geschrien und geschrien, weil ich mich nicht mehr heruntertraute. Aber Dad war zu breit, um mich zu holen. Also musste er die Feuerwehr rufen, die schließlich eine weibliche Mitarbeiterin vorbeischickte, um mich zu befreien. Ich vermute, dass es schon mehrere solche Rettungsaktionen gegeben hat, denn vor ein paar Wochen habe ich gehört, dass die Stadtverwaltung darüber diskutiert, das Raumschiff vom Spielplatz zu entfernen.

Ich glaube, das ist auch der Grund, warum mein erster Kuss in meinen Träumen immer auf diesem Raumschiff stattfand. Es war für mich ein unschuldiger Ort, und genauso sollte mein erster Kuss sein: unschuldig.

Vielleicht hat der Park deshalb keinen roten Stern bekommen. Weil die Rakete verschwunden sein könnte, ehe die Kassetten all ihre Adressaten erreichen.

Also zurück zu meinen Träumen, die an dem Tag begannen, als du zum ersten Mal vor meinem Klassenzimmer auf mich gewartet hast. Von diesem Tag an wusste ich, dass du mich magst.

Hannah hat ihr T-Shirt nach oben gezogen und Justin erlaubt, seine Hände auf ihren BH zu legen. Das ist damals im Park geschehen. Das habe ich jedenfalls gehört.

Aber Moment mal … Warum sollte sie das mitten im Park tun?

Der Traum beginnt stets damit, dass ich auf der oberen Plattform des Raumschiffs stehe und das Steuerrad in der Hand halte. Es ist immer noch das Spielplatzraumschiff, keine echte Rakete, doch wenn ich das Lenkrad nach links einschlage, heben die Bäume des Parks ihre Wurzeln und machen einen Schritt nach links. Wenn ich das Lenkrad nach rechts drehe, bewegen sich die Bäume nach rechts.

Dann höre ich plötzlich deine Stimme, die mir vom Spielplatz aus zuruft: »Hannah! Hannah! Hör auf, mit den Bäumen zu spielen, und komm zu mir!«

Ich lasse das Lenkrad los und klettere die Leiter hinunter. Doch als ich die nächste Plattform erreiche, sind meine Füße so groß geworden, dass sie nicht mehr durch die Öffnung passen, die sich im Boden befindet.

Große Füße? Ist das dein Ernst? Ich bin zwar kein Spezialist in Traumdeutung, aber vielleicht hat sie sich gefragt, ob Justin einen Großen hat.

Ich stecke meinen Kopf durch die Gitterstäbe und rufe: »Meine Füße sind zu groß. Willst du immer noch, dass ich runterkomme?«

»Ich liebe große Füße!«, rufst du zurück. »Nimm die Rutsche, ich fang dich auf!«

Ich setze mich also auf die Rutsche und stoße mich ab. Doch meine enormen Füße leisten der Luft so viel Widerstand, dass ich nur sehr langsam vorankomme. Während ich also im Schneckentempo nach unten gleite, bemerke ich, dass deine Füße extrem klein und kaum zu erkennen sind.

Ich wusste es!

Du gehst ans Ende der Rutsche und breitest die Arme aus, um mich aufzufangen, und stell dir vor, meine großen Füße treten kein bisschen auf deine kleinen.

»Siehst du. Wir sind füreinander geschaffen!«, sagst du. Dann beugst du dich vor, um mich zu küssen. Unsere Lippen kommen sich näher … und näher … und dann wache ich auf.

Eine ganze Woche lang bin ich jede Nacht genau in dem Moment aufgewacht, als du mich küssen wolltest. Doch jetzt, Justin, jetzt würde ich dich wirklich treffen. In diesem Park. Am Fuße der Rutsche. Und du würdest mich wild und leidenschaftlich küssen – ob dir das nun gefällt oder nicht.

Glaub mir, Hannah, wenn du so zurückgeküsst hast wie damals auf der Party, dann hat es ihm garantiert gefallen!

Ich hatte dir also gesagt, dass wir uns in fünfzehn Minuten treffen würden. Natürlich habe ich das nur gesagt, um ganz sicherzugehen, dass ich vor dir da bin. Denn wenn du den Park erreichen würdest, wollte ich schon auf der obersten Plattform des Raumschiffs sein, genau wie in meinen Träumen. Und so kam es dann auch – allerdings ohne tanzende Bäume und riesige Füße.

Von meinem Aussichtspunkt aus sah ich, wie du genau am gegenüberliegenden Ende des Parks auf den Spielplatz kamst. Du hast alle paar Schritte auf die Uhr geguckt und bist langsam zur Rutsche gegangen, während du in alle Richtungen geschaut hast, nur nie nach oben.

Ich habe das Lenkrad ganz eingeschlagen, damit du es knarren hörst. Du bist einen Schritt zurückgetreten, hast den Kopf in den Nacken gelegt und meinen Namen gerufen. Doch keine Sorge. Obwohl ich meinen Traum wahr werden lassen wollte, habe ich nicht erwartet, dass du jedes Wort kennst und mich auffordern würdest, nicht mit den Bäumen zu spielen, sondern zu dir herunterzukommen.

»Bin gleich unten«, sagte ich.

Aber du wolltest lieber zu mir nach oben kommen.

Also rief ich zurück: »Nein, ich nehme die Rutsche.«

Dann hast du tatsächlich dieselben Worte gesagt wie in meinem Traum: »Ich fang dich auf!«

Da kann mein erster Kuss leider nicht mithalten:

Andrea Williams aus dem siebten Jahrgang, nach der Schule hinter der Turnhalle. Sie kam in der Mittagspause an meinen Tisch und hat mir so vielversprechende Dinge ins Ohr geflüstert, dass ich für den Rest des Tages einen Ständer hatte.

Als der Kuss vorbei war – drei Erdbeer-Lipgloss-Sekunden später –, machte sie auf dem Absatz kehrt und lief davon. Als ich um die Ecke spähte, sah ich, wie ihr zwei Freundinnen jeweils einen Fünfdollarschein in die Hand drückten. Ich konnte es nicht glauben: Meine Lippen waren eine Zehn-Dollar-Wette gewesen.

Ob ich mich darüber freuen sollte? Vermutlich nicht, dachte ich.

Doch seit damals habe ich eine absolute Schwäche für Erdbeer-Lipgloss.

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich die obere Leiter runterkletterte. Der große Moment war gekommen. Mit rasendem Herzen habe ich mich auf die Rutsche gesetzt. Alle meine Freundinnen hatten ihren ersten Kuss in der Schule bekommen, und meiner wartete am Fuße einer Rutsche auf mich – so wie ich es gewollt hatte. Jetzt musste ich mich nur noch abstoßen.

Und das tat ich.

Ich weiß natürlich, dass es in Wahrheit anders war, doch in der Erinnerung kommt es mir so vor, als wäre alles in Zeitlupe geschehen: Ich stoße mich ab, gleite hinunter, meine Haare wehen im Wind, du breitest deine Arme aus, um mich aufzufangen, und ich breite meine aus, um in deinen zu landen.

Wann hast du dich entschlossen, mich zu küssen, Justin? Auf dem Weg zum Park? Oder war es eine spontane Idee, als du mich plötzlich in deinen Armen hieltst?

Kleine Zwischenfrage: Wer von euch möchte wissen, was mir während meines ersten Kusses durch den Kopf ging? Hier kommt die Antwort: Hotdogs mit Chilisauce!

Glückwunsch, Justin!

Tut mir leid. So schlimm war’s nun auch wieder nicht, aber danach hat er eben geschmeckt.

Zu Erdbeer-Lipgloss würde ich nie Nein sagen.