Tote ohne Namen - Louisa Luna - E-Book
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Louisa Luna

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Beschreibung

Alice Vega ist Privatdetektivin, manchmal Kopfgeldjägerin und immer Spezialistin im Auffinden verschwundener und entführter Personen. Vega ist knallhart, notfalls gewaltaffin, aber auch sehr klug, deduktiv begabt, eine ultrascharfe Beobachterin – und sie gibt nie auf.

Als zwei mexikanische Mädchen tot aufgefunden werden, heuert sie das San Diego Police Department an, denn bei den beiden Toten ohne Namen fand man zwar keine Dokumente, dafür aber einen direkt an Vega gerichteten Hilferuf. Das DEA, die auf Drogen spezialisierte Strafverfolgungsbehörde, legt ihr nahe, die Finger von diesem Job zu lassen. Und auch die mexikanischen Kartelle schalten sich ein. Aber sie alle haben die Rechnung ohne Vega gemacht …

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Titel

Louisa Luna

Tote ohne Namen

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea O’Brien

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Tote ohne Namen

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Danksagung

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Tote ohne Namen

Ich wurde einmal gefragt, was man über Alice Vega wissen müsse. »Sie fürchtet weder Schmerz noch Tod«, sagte ich. In jenem Augenblick erkannte ich, dass ich auch über meine Mutter sprach.

Für meine Mutter Sandra Luna, wieder einmal.

1

Hier ist unser Mädchen: siebzehn, eingetroffen vor einem Jahr aus einem heruntergekommenen, staubigen Kaff in Chiapas, gilt allgemein als hübsch, weil sie blutjung ist, das Gesicht noch glatt, keine Narben oder Falten, der Körper biegsam und prall. In ihrem Kopf tobt allerdings ein Krieg: Erinnerungen an ihre besorgte Mutter, ihren schmerzgeplagten Vater, dazu die leise köchelnden Gedanken über Sex und Gewalt und die Angst vor den Männern, die hier auftauchen, mit ihrem harten, ausgehungerten Blick, mit dem sie sie schon verschlingen, bevor sie sich ihr Stück Fleisch aus der Auslage ausgesucht haben.

Unser Mädchen läuft barfuß, traumverloren. Ihre Träume handeln von Kollisionen, Kollagen, Explosionen aus Farben und Feuer, die immer harmlos beginnen: Sie sitzt mit ihrer Schwester auf der Veranda unter dem löchrigen Sonnenschirm und spielt mit Anziehpuppen oder lockert den gelben, ausgequollenen Reis. Doch dann wendet sich das Blatt, die Puppen in ihren Händen werden zu wimmelnden Kakerlaken, im Reistopf wallt jetzt Blut, und ihre Zähne werden zu Messerklingen, die ihre Zunge zerfetzen.

Das Haus hat zwei Etagen, im Erdgeschoss ist das Schlafzimmer, in dem sie und die anderen Mädchen nebeneinander auf Handtüchern schlafen, und das Wohnzimmer, wo sie fernsehen und warten. Eine Etage tiefer sind die fensterlosen, stickigen Kammern. Die Arbeitsräume.

Und dann ist da noch die Garage neben dem Haus. Darin stehen keine Autos. Es gibt nur einen Tisch, ein paar Maschinen und Werkzeuge. Unser Mädchen war noch nie dort, aber sie hat davon gehört. Nur Mädchen, die heulen oder sich dumm anstellen, landen dort, und unser Mädchen ist schön brav, tut, was man ihr sagt. Sie stellt keine Fragen, macht keinen Ärger. Aber sie beobachtet alles ganz genau.

Von den Bossen hält sie sich fern. Bei Coyote Ben ist das leicht, weil er ständig kommt und geht, aber wenn er gerade mal im Haus ist und es nichts zu tun gibt, packt er sie am Schopf und flüstert ihr ins Ohr. Er spricht Englisch, deshalb versteht sie nicht alles, aber sie weiß auch so, dass er keine Antwort erwartet. Sie darf die Getränke mixen.

Fat Mitch ist immer da, er trägt eine Waffe am Gürtel, sie bohrt sich in seinen Fettwanst, als wollte sie ihn erstechen. Die Waffe hatte er Selena getauft, nach der Sängerin, und er redet ständig davon, damit die Mädchen nicht vergessen, dass diese Waffe existiert. Er spricht Spanisch, sagt Sachen wie: »Selena hat gut geschlafen und will heute ein bisschen spielen.« Und dann ist da noch Rafa.

Rafa bringt die anderen in die Garage. Fat Mitch behauptet, er macht das nur, weil er es muss, aber unser Mädchen lässt sich nicht verarschen. Sie weiß, dass Rafa auf seine Arbeit steht. Es ist nicht wie auf der Farm, wo man die Kleinsten damit beauftragt, die kranken Tiere zu erschießen oder zu ersäufen, um sie abzuhärten. Das Haus ist vielleicht eine Farm, aber Rafa ist nicht der Kleinste, in Wahrheit ist er größer und stärker als Fat Mitch, und unser Mädchen hat gehört, dass er grinst, wenn er in der Garage mit den anderen tut, was er tut. Das passiert eben, wenn man sich dumm anstellt.

Unser Mädchen weiß es besser, und von den Dummen hält sie sich fern: Isabel, Chicago, Glatthaar. Die heulen und sind ständig am Essenklauen. Dumm. Aber diese andere, sie heißt Maricel, die ist neu, kommt aus der Stadt. Obwohl es eigentlich nicht so schlau ist, sich mit den Neuen abzugeben, mag unser Mädchen sie irgendwie, und Glatthaar mag sie auch. In einer anderen Zeit, an einem anderen Ort hätten sie vielleicht miteinander Karten gespielt und sich über die Jungs in ihrer Klasse unterhalten. Stattdessen warten sie darauf, dass jemand sie auswählt. Immer noch besser als die Alternative. Wenn eine länger als einen Monat im Fernsehraum rumsitzt, ohne dass sie jemand will, fliegt sie raus. Sie kommt nicht in die Garage, sondern weg. Aus dem Haus, landet irgendwo in der Wüste, weil sie sich ihr Brot nicht verdient hat.

Unser Mädchen hat aus dem Fernsehen ein paar Brocken Englisch aufgeschnappt. Sie hört aufmerksam zu, wenn die Nachrichten kommen. Polizei, Mord, Fangen, Freilassen. In den Nachrichten geht es um einen Jungen, er sieht so alt aus wie sie, ist aber Amerikaner. Angestrengt formt sie das Wort, das die Nachrichtensprecherin ständig wiederholt, es klingt seltsam. Geh. Kitt. Nackt. Geh-kitt-nackt. Der Junge spricht mit der Frau im Fernsehstudio, zeigt auf das Bild eines Aquariums. Da ist noch eine Frau, nicht die Nachrichtensprecherin, in der Ecke steht 2014. Ihr Name steht darunter am Bildschirmrand. Unser Mädchen ist aufmerksam: amerikanischer Vorname, mexikanischer Nachname. Sie sieht nach Polizei aus. Oder lesbisch. Oder Gangsterin. Sie trägt Schwarz. Und eine Sonnenbrille.

Zurück zum Jungen. Er sagt dauernd dasselbe: »Die Frau hat mich geretten, sie hat mich geretten.« Unser Mädchen beobachtet, wie der Junge sich beim Heulen auf die Unterlippe beißt. Nein, nicht »geretten«, sondern »gerettet«. »Sie hat mich gerettet«, wiederholt der Junge wieder und wieder.

Unser Mädchen beobachtet Maricel, die am Bildschirm klebt. Wie gebannt starrt sie darauf. Der Junge sagt: »Sie hat mich gerettet. Alice Vega hat mich gerettet.« Maricel fängt an zu weinen, sie und der Junge heulen gemeinsam. Unser Mädchen merkt, dass ihr die Hände zittern.

Plötzlich kommt ihr ein Gedanke: Wenn ihr uns wie Tiere behandelt, benehmen wir uns auch so. Im Geiste entfaltet sie eine Landkarte. Stück für Stück. Sie hat mich gerettet, hat der Junge gesagt. Sie. Hat. Mich. Gerettet.

2

Alice Vega starrte auf die Hunde, die Hunde starrten auf das Fleisch.

Sechs verschiedene Rassen, manche zitternde Fellknäuel, andere groß mit langen Schnauzen, alle angebunden am selben Radständer vor Reno’s Coffee, ihr Blick wie gebannt auf das Frühstückssandwich gerichtet, das das Paar am nächstgelegenen Tisch verspeiste. Die Lefzen hingen schlaff herab, die Zungen flatterten wie feuchte Flaggen. Vega wusste nicht viel über Hunde, welche Gene welche Rassen hervorbrachten, aber eines war klar: Sie alle wollten ran an den Speck, selbst wenn sie gar keinen Hunger hatten.

Vega saß an einem Tisch ohne Sonnenschirm, es war erst neun Uhr morgens, aber schon brütend heiß. Nett hier, langweilig. Die Straßen blitzblank, die Menschen auf unauffällige Weise attraktiv, die Hunde gepflegt. So ähnlich war es auch dort, wo Vega wohnte, doch in ihrer Stadt gab es mehr Obdachlose und weniger Luxuskarossen. Ein bisschen schäbiger, aber nicht viel. Kalifornien war ein eigener Planet, Vega hatte ihr ganzes Leben dort verbracht, daher kamen ihr die meisten Orte vertraut vor. In San Diego war es genauso.

Als ihr Handy neun Uhr fünfzig zeigte, warf sie ihren Becher in den Müll, betrachtete die Hunde noch ein letztes Mal, dann ging sie. Fuhr zum rund einen Kilometer entfernten Gebäude der Rechtsmedizin und parkte davor. Das Gebäude aus hellem Sandstein wirkte wie ein Krankenhaus oder eine Grundschule. Vega klickte auf die Mail mit Namen und Adresse.

Dann stieg sie aus, ließ ihre Halswirbel knacken und verdrehte sich wie eine Lakritzstange. Danach ging es ihr besser. Fünfunddreißig ist nicht soo alt, dachte sie, als müsste sie sich rechtfertigen.

Durch die Automatiktür ins kühle, cleane Interieur, Linoleumboden mit Karomuster. Ein Pförtner saß auf einem Klappstuhl vor dem Schreibtisch, den Blick auf den Überwachungsmonitor gerichtet. Er reagierte nicht überrascht, als Vega vor ihm stand, schließlich hatte er sie vom Parkplatz kommen sehen.

»Kann ich Ihnen helfen?« Er war jung und schwarz, der Schatten eines Barts auf der Oberlippe.

»Ich habe einen Termin bei Emilia Paiva«, sagte Vega.

»Vega? Ist das Ihr Nachname?«

Sie nickte, zeigte ihm ihren Führerschein. Der Pförtner nahm ihn und notierte ihre Daten im Register vor ihm. Dann drückte er zwei Knöpfe auf seinem Telefon und gab ihr den Führerschein zurück. Vega spähte auf den Bildschirm: der frisch gemähte Rasen vor dem Gebäude, geparkte Autos, eine Reihe weißer Transporter. Hinter einem standen zwei Angestellte in Schutzkleidung und zogen eine Bahre mit Leichensack heraus.

Da ertönte eine weibliche Stimme. »Sie sind Alice Vega.«

Vega blickte auf, und da stand sie: Eine Latina mit jugendlichem Gesicht und geradegeschnittenem, dunklem Pony. Die Frau war ein bisschen kleiner als Vega, wog aber locker über hundert Kilo. Ihren blauen Laborkittel trug sie offen, darunter ein T-Shirt mit der Aufschrift Deadpool.

»Ms Paiva?«, fragte Vega.

»Mia«, sagte sie munter. »Alle nennen mich Mia.«

Sie gab Vega die Hand.

»Das da ist Sam«, sagte sie mit Blick auf den Pförtner. »Er lächelt einmal die Woche.«

Sam lächelte.

»Da!«, rief Mia. »Mir nach«, sagte sie zu Vega.

Vega folgte ihr durch graue Schwingtüren in einen Gang mit einem länglichen Fenster an der einen Seite, durch das man auf eine Reihe geparkter Fahrzeuge sah. Am Ende des Gangs befanden sich identische Schwingtüren. Trotz ihres eindrucksvollen Gewichts bewegte sich Mia relativ zügig.

»Wie lang arbeiten Sie schon mit Rowlie?«, fragte sie Vega.

»Roland Otero? Bis jetzt habe ich nur einmal mit ihm gesprochen. Er wollte, dass ich Sie treffe.«

»Ah-ha«, sang Mia, während sie sich durch die Tür schob, »jetzt verstehe ich.«

Vega fragte nicht, was Mia zu verstehen glaubte. Vor ihnen teilte sich der Gang. Auf der einen Seite befanden sich durchsichtige Schiebetüren, dahinter sah man Techniker an langen Bänken und Schreibtischen mit Mikroskopen, kastenförmigen Analysegeräten und Laptops. »Toxikologie« stand auf einem kleinen Schild. Auf der anderen Seite befand sich ein engerer Korridor und am Ende eine Treppe nach unten. Vega folgte Mia, die ohne Punkt und Komma weiterplauderte.

»Heiß hier, hm?«, fragte sie, wartete aber nicht auf eine Antwort. »Heute sollen es zweiunddreißig Grad werden. Wenigstens sind wir hier drin.«

Als Mia sich umwandte, lächelte Vega rasch. Besser, sie reden zu lassen, dachte sie, obwohl das nicht besonders schwierig war, die Frau war eine echte Plaudertasche. Am Fuß der Treppe schob sie sich durch eine weitere Schwingtür und blieb dann vor einer Stahltür stehen. Ein großes Schild warnte vor Biogefährdung. Mia hielt ihren Ausweis an das Kartenlesegerät, und das rote Lämpchen wechselte zu grün. Die Tür öffnete sich automatisch.

Sie betraten einen großen Raum, an den Wänden standen sechs Fächer hohe Metallregale voller weißer Plastiksäcke, jeder hatte einen schwarzen Reißverschluss in der Mitte, jeder enthielt eine Leiche. Vega kannte den Geruch. Saures Formalin, gemischt mit dem blutigen Gestank beim Schlachter.

»Hier, setzen Sie die auf«, sagte Mia und reichte ihr eine Schutzbrille. »Die Chemikalien sind ziemlich heftig für die Schleimhäute.«

Vega streifte sie sich über, Mia tat dasselbe und zog sich dann bläuliche Latexhandschuhe an.

»Passiert mir auch. Mir tränen ständig die Augen. Nicht weil ich emotional bin oder so, ich habe nur empfindliche Schleimhäute.«

Sie blieb an zwei zusammengeschobenen Bahren stehen. Auf jeder lag ein Leichensack. Vega trat ans kurze Ende der Bahren, wo sie die Füße vermutete.

»Zwiebeln schneiden? Können Sie vergessen!«, fügte Mia hinzu. »Okay, hier haben wir die Erste.«

Mia zog den Reißverschluss auf. Im Sack lag die Leiche eines jungen Mädchens, eine Latina mit langem, lockigem Haar, das ihr im Stehen vermutlich bis fast zur Hüfte gereicht hatte. Sie war schlank mit kleinen Brüsten und schmaler Hüfte. Ihr Körper zeigte Spuren des bei der Obduktion durchgeführten Y-Schnittes. Mia schob den Sack ganz zur Seite, damit Vega das Wichtigste besser sehen konnte: die ungeschickten Einschnitte über dem linken Hüftknochen.

»Weiblich, Alter zwischen zwölf und vierzehn, wurde letzten Donnerstag eingeliefert. Todesursache Myokardinfarkt infolge massiven Blutverlusts durch mehrere Stichverletzungen«, erklärte Mia, während sie mit zwei Fingern die Hüfte anhob, um Vega zu zeigen, dass die Schnitte weitergingen. »Ich schätze, sie war schon einen Tag tot, bevor sie bei uns eingeliefert wurde. Keine Anzeichen von kürzlich stattgefundener sexueller Gewalteinwirkung per se, aber diverse Risse an den Schamlippen und im Analbereich, das Hymen fehlt. Auffällig ist hier vor allem das funktionierende Intrauterinpessar.«

Vega umrundete die Tote und stellte sich neben Mia, damit sie dasselbe sah wie sie.

»Organe sind alle relativ normal, außer dem Loch in der Niere.«

»Ist sie daran gestorben?«, fragte Vega.

Mia zuckte die Achseln.

»Nierenverletzungen bluten stark, das hat den Prozess sicher beschleunigt, aber es ist nicht so, dass sie sicher überlebt hätte, wenn der Mörder ihre Niere nicht erwischt hätte. Keine Nahrungsreste im Magen. Hier ist was für Sie«, sagte Mia etwas zu fröhlich. Sie zeigte auf die Wunden. »Sehen Sie die oberflächlichen Schnitte hier?«

Vega beugte sich vor. Zwischen den tiefen Schnittverletzungen an der Hüfte und am Rücken befanden sich mehrere schorfige Stellen, sie lagen dicht nebeneinander, einige waren länger, andere kürzer, es sah aus wie ein Barcode.

»Ich nehme an, unsere Jane Doe hat sich bewegt, der Mörder ritzt mit der Klinge in die Haut, aber Sie sehen selbst, dass einige Spuren kürzer sind als andere?«

Vega nickte.

»Gezackte Klinge, oder?«, fragte Mia.

»Sehe ich auch so«, sagte Vega. »Sonst noch was zum Messer?«

»Nichts Besonderes. Wahrscheinlich eins Komma sechs Millimeter, aber das trifft auf die meisten Messer zu.«

Mia richtete sich auf, betrachtete den gesamten Körper.

»Ein paar Hämatome, Prellungen hier und da. Das hier unten«, sie verdrehte den rechen Oberschenkel, um Vega die kleinen sternförmigen Narben auf der Innenseite zu zeigen, »sieht nach Brandmalen von Zigaretten aus.«

An den Handgelenken und Fingern entdeckte Vega kleine rote Schnitte.

»Abwehrverletzungen«, sagte sie.

»Haargenau.« Mia zog die Nase kraus. »Mörder kommt von hinten, Mädchen verdreht sich, schlägt mit den Händen nach hinten aus.«

Mia vollführte eine skurrile Pantomime, wedelte mit den Händen und wackelte mit den Fingern.

»Und die hier.« Sie war ans Kopfende getreten. »Sehen Sie die?«

An der rechten Schläfe war ein eiförmiger roter Fleck zu erkennen.

»Schlagverletzung, stumpfer Gegenstand«, sagte Mia. »Aber mir fällt spontan nicht viel ein, was so eine Delle machen würde. Kochlöffel?«

Vega neigte den Kopf, um die Stelle genauer in Augenschein zu nehmen. Die Haut war leicht geschwollen. Es sah fast aus wie eine allergische Reaktion, ein Ausschlag wie von Gifteiche oder Giftefeu, aber konzentriert an dieser einen Stelle.

»Wollen Sie die andere auch noch sehen?«, fragte Mia.

»Klar.«

Mia trat an die zweite Bahre und zog den Reißverschluss des Leichensacks auf. Vega stellte sich neben sie. Dieses Mädchen roch anders. Sie zwang sich, den Geruch mit allen Sinnen wahrzunehmen. Streng, dumpf, feucht. Als wäre sie frischer.

Diese Tote war entweder älter oder besser entwickelt, ihre Brüste waren voller, die Kurven runder, das Schamhaar dunkler und üppiger. Die Augen waren geschlossen, doch ihr Gesicht trug einen erkennbaren Ausdruck. Die Stirn war gerunzelt, die Lippen hatte sie verzogen, als wäre sie sauer. Außerdem wies ihr Körper erheblich massivere Verletzungen auf. Sie hatte dunkelbraune, pflaumengroße Flecken an Armen und Beinen und identische Schnittverletzungen an der Hüfte, allerdings waren sie präziser ausgeführt und zum Rücken hin länger. Vega entdeckte vier Schnitte, keine Ausrutscher.

»Der Täter wird geschickter«, sagte Mia.

Vega nickte stumm.

Mia fuchtelte über dem Schambereich des Mädchens herum. »Jane Doe Nummer zwei. Auch zwischen zwölf und vierzehn. Ebenfalls dutzende Risse an den Schamlippen.« Wieder hob sie die Hüfte mit zwei Fingern an. »Diesmal hat er die Niere dreimal erwischt.«

Vega beugte sich vor. Eigentlich wollte sie sich die Verletzungen genauer ansehen, doch ihr Blick wanderte zu den Händen. Unter den kurzen Fingernägeln und in den Ecken der Nagelhaut des Mädchens hatte sich Schmutz angesammelt. Ihre Finger waren lang und schlank und ruhten so schwerelos auf der Bahre, dass es Vega vorkam, als würden sie schweben. Sie spähte zur anderen Hand, die erstaunlicherweise einen ganz anderen Anblick bot. Die Finger der rechten Hand waren verkrampft und fast geschlossen, zur Faust geballt.

Wieder stieg Vega der Geruch in die Nase, dieses Mal nahm sie nur Fleisch wahr, und sie musste sich zwingen, nicht an Essen zu denken, an die Hunde und das Frühstückssandwich, Truthahn an Thanksgiving, Fischstäbchen. Sie krümmte sich, legte die Hände auf die Knie und atmete durch den Mund.

»Ist Ihnen schlecht?«, fragte Mia voller Mitgefühl. »Passiert mir auch manchmal. Erst letzte Woche. Hatte zwar einen hef–tigen Kater, aber trotzdem.«

Vega schrillten dermaßen die Ohren, dass sie Mia kaum hörte.

»Versuchen Sie’s damit.« Mia hielt ihr was vors Gesicht: eine kleine weiße Pille.

»Pfefferminz«, sagte Mia.

Vega schob sie sich in den Mund. Der frische Geschmack erfüllte ihren Rachen und stieg ihr in die Nase. Sie konnte wieder frei atmen.

»Danke«, sagte sie, als sie sich aufgerichtet hatte.

»No probs«, sagte Mia, den Blick wieder auf die Tote gerichtet. »Wo waren wir stehengeblieben?«

»Hat man sie an derselben Stelle gefunden?«, fragte Vega.

»Nein. Rowlie hat alle Einzelheiten, Tatort und Fundort und so. Keiner von unseren Leuten war vor Ort. Aber ich kann Ihre Frage beantworten: Nein, verschiedene Fundorte, zu verschiedenen Zeiten aufgefunden. Jane zwei mussten wir gründlicher reinigen, sie war voller Staub.«

»Todesursache, Art des Opfers sind gleich. Könnte aber trotzdem Zufall sein, oder? Wieso gehen wir davon aus, dass eine Verbindung besteht?«, fragte Vega.

Mia grinste so breit, dass ihre runden Wangen an den Rand der Schutzbrille stießen. Schlaue Hamsterbacke, dachte Vega.

»Die Zweite hatte auch ein Pessar«, verkündete sie zufrieden.

Vega wartete. Sie wollte Mia nicht in die Parade fahren.

»Ich habe sie bereits entfernt«, fuhr Mia fort und zog zwei Asservatenbeutel aus dem Regal unterhalb der Bahre. Sie hielt beide in die Luft. »Kupfer. Derselbe Hersteller.«

»Woher wissen Sie das?«

»Der Name steht auf der Spirale. Health-Guard.«

Mia griente, als wollte sie gleich ein Kaninchen aus dem Hut zaubern.

»Darf ich Ihnen noch was zeigen?«, fragte sie und schob ihre Schutzbrille hoch.

Vega nickte.

»Dann kommen Sie mit.«

Sie trat an einen langen Arbeitstisch in der Ecke des Raums, auf dem ein Computermonitor und ein Mikroskop standen. Mia zog die Pessare aus den Beuteln und legte sie unters Mikroskop. Auf dem Monitor war das verschwommene Bild des Pessars vor weißem Hintergrund zu sehen.

»Ich stell das schärfer«, sagte Mia, während sie durch Okular sah.

Nach einer Weile war der Schriftzug erkennbar, die Worte Health-Guard waren in die beiden Stifte am oberen Ende eingraviert.

»Schauen Sie mal genau hin«, sagte Mia, immer noch übers Mikroskop gebeugt.

Sie drehte den Objektivträger, sodass der längere Teil des Pessars besser erkennbar war. Auch dort war etwas eingraviert.

»Ziffern«, sagte Vega.

»Genau. Acht Ziffern, aber Sie müssen sich nur die letzten drei merken.«

Sie zog den ersten Objektivträger weg und schob das zweite Pessar unter das Objektiv.

»Haben Sie sich die drei Zahlen gemerkt?«, fragte sie Vega.

»79433530«, sagte Vega.

Mia sah sie beeindruckt an.

»Sehr gut.« Sie justierte die Schärfe so gut es ging.

Die Spirale sah identisch aus, stammte vom selben Hersteller. Sie las die Nummer ab.

»79433525.«

Mia hob den Kopf und sah sie triumphierend an.

»Jawoll. Rowlie sagt immer, ich soll nicht warten, wenn mir was auffällt.«

Vega kehrte zurück zur Bahre. Jane zwei. Nummer 79433525.

»Das ist ein kluger Rat«, sagte sie.

Die finstere Miene, die Brüste, die geballte Faust, die andere Hand, die sich zu ihr hinzustrecken schien. Irgendwo gibt es vier, die sind genau wie ihr, dachte Vega, oder ganz anders.

Während er wartete, schob Max Caplan den Finger unter den Knoten seiner Krawatte, um sie etwas zu lösen. Damals, als Polizist, hatte er täglich Krawatte getragen, aber immer locker gebunden, wie kurz vor der Happy Hour. Nachdem er seine zweite Karriere als Privatermittler eingeschlagen hatte, waren die meisten davon im Müll gelandet, nur ein paar hatte er behalten, für Hochzeiten und Beerdigungen. Doch jetzt, da er für eine Anwältin arbeitete, warf er sich an den Tagen, an denen er seine Berichte einreichte, in Blazer und Krawatte.

Vera Quinns Kanzlei war eine One-Woman-Show, genau wie Caps Detektei. Quinn war unkompliziert, gepflegt und besaß die Attraktivität einer hochrangigen Politikerin. Sie war vermutlich die bekannteste Anwältin in Denville, PA, und ihr Konterfei war auf dutzenden Reklametafeln zu sehen, darunter das selbsterklärende Motto, das vermutlich jedem potenziellen Mandanten aus dem Herzen sprach: »Ich verdiene nur, wenn Sie gewinnen.« Die eleganteste Mandantenjägerin in ganz Allegheny.

Seit er vor anderthalb Jahren zwei entführte Mädchen gefunden hatte, konnte er sich über Auftragsmangel nicht beklagen. Die beiden Brandt-Schwestern waren aus der Gegend verschwunden, und Cap hatte mit detektivischem Gespür herausbekommen, wo der Entführer sie versteckt gehalten hatte. Doch Vera Quinn war seine treuste Kundin, sie zahlte gut und zuverlässig. Wenn Cap ehrlich war, fand er die Arbeit zwar nicht besonders aufregend, aber das kleine Polster auf seinem Konto hatte er sich auf der linken Arschbacke verdient. Keine Straftäter, die sich trotz Kaution absetzen, keine Ehebrecher. Nur staubtrockene Gespräche mit Versicherungsfirmen.

Und nebenbei half er sogar den Bedürftigen! Vera Quinn setzte sich für den kleinen Mann ein. Kunstfehler, Montagsautos, Parasiten im Essen. Der einzige Preis, den er einmal die Woche zahlen musste, war die Krawatte, und ernsthaft? Was war das schon gegen Veilchen, Muskelzerrungen und schlaflose Nächte? Eine klare Win-win-Situation!

»Sie können jetzt reingehen, Cap«, sagte die Empfangsdame. Sie war sechzig, Raucherin und hatte eine Stimme wie eine Kettensäge.

»Danke, Martha.«

Als Cap eintrat, lehnte Vera an ihrem Schreibtisch und sprach in ihr Headset. Das Mikro war gerade mal so groß wie ein Radiergummi. Sie lächelte ihm zu und winkte enthusiastisch, während sie das Gespräch zu beenden versuchte.

»Mein Bericht geht morgen raus … Danke, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben. Auf Wiederhören.«

Sie drückte den Knopf und legte das Headset ab.

»Heißa!«, rief sie.

»Gute Nachrichten?«

Vera warf die Hände in die Luft, als wäre ein Tor gefallen.

»Turino hat sich auf einen Vergleich eingelassen.«

»Jetzt schon?«

»Jetzt schon«, sagte Vera lachend. »Wenn ich nicht gerade auf Paleo-Diät wäre, würde ich uns glatt eine Margarita ausgeben.«

Cap grinste. Vera hatte Humor und keine Allüren, und sie konnte über sich selbst lachen. Und sein gerade erst begonnener Job war bereits erfolgreich abgeschlossen. Kinderspiel.

»Ich glaube, Double Gs Aussage brauchen wir nicht mehr«, sagte er, als er den braunen Umschlag auf Veras Schreibtisch legte.

»Nein, aber wir sollen sie trotzdem in der Hinterhand behalten. Noch ist nichts unterschrieben. Steht was Interessantes drin?«

»Zwei Tagelöhner haben ausgesagt, ihr Vorarbeiter hätte ihnen gesagt, sie sollen schnell arbeiten und sich nicht so genau an die Regeln halten.«

Vera setzte sich auf ihren Bürostuhl.

»Genau wie du vorausgesagt hast.«

Cap zuckte die Achseln.

»Ist doch klar. Diese Jungs haben keine Aktien in der Sache. Sollten wir Mr Myse anrufen und ihm sagen, dass er sich seine Krankenhausrechnung und vielleicht noch einen Kurztrip nach Atlanta leisten kann?«, fragte Cap.

»Wohl eher die Bahamas«, meinte Vera grinsend.

»Genial! Wer von uns sagt es ihm?«

»Gleich. Erst muss ich noch was mit dir besprechen.«

Sie sah ihn an, als wollte sie ihm ein pikantes Geheimnis verraten. Cap wurde ganz nervös, lächerlich, aber er konnte es nicht ändern. Es war immer unangenehm, wenn man der einzige Ahnungslose war.

Er rang sich ein Lächeln ab und sagte: »Schieß los.«

Vera rieb sich die Hände.

»Du bist zufrieden, oder? Mit unserer Zusammenarbeit, meine ich.«

»Ja klar, Vera.«

Sie nickte.

»Du bist ein Profi, Cap, an deiner Arbeit ist nichts auszusetzen. Gründlich, schnell, mit mehr Erfahrung und Gewissenhaftigkeit als alle anderen aus der Branche, mit denen ich es zu tun hatte.«

Cap wurde ganz verlegen, er mochte Komplimente nicht, denn er glaubte sie nur, wenn sie von seiner Tochter kamen, nur dann genoss er sie wie einen sanften Regenschauer.

»Danke«, sagte er schließlich. »Du weißt, dass das auf Gegenseitigkeit beruht.«

Vera ging nicht weiter darauf ein, sondern lächelte nur verkniffen.

»Ich habe über unsere Kooperation nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir uns permanent zusammentun sollten.«

Sie ließ ihre Worte einen Moment wirken. Ganz die Anwältin. Überlass der Gegenseite das Denken und Reden, vielleicht kommt sie selbst auf das, was man hören wollte. Aber Cap war Cop, er beherrschte das Spiel mit dem Schweigen genauso gut, vielleicht sogar besser.

Er lächelte sie einfach weiterhin an, musste aber daran arbeiten, seine Verwirrung nicht zu zeigen.

»Ich habe ein Angebot für dich«, sagte Vera schließlich. »Du arbeitest Vollzeit bei mir, als Angestellter. Deine Arbeitszeit bleibt flexibel, genau wie jetzt auch. Mach einfach dieselbe Arbeit wie vorher, aber mit Krankenversicherung, Urlaub, null Verdienstausfall, auch nicht bei Krankheit. Du musst mir nur garantieren, dass du zwei Jahre bleibst, danach sehen wir weiter.«

Vera gab Cap einen grauen Umschlag. Er nahm ihn wie ferngesteuert entgegen.

»Vera … ich«, stammelte er.

»Bitte. Du musst nicht sofort antworten. Lass es dir ein paar Tage durch den Kopf gehen. Besprich es mit Nell.«

Cap grinste. Anscheinend wussten Gott und die Welt, dass seine Tochter Nell seine treueste Ratgeberin war. Obwohl sie sich drastisch verändert hatte, seit sie zwei Stunden lang mit einer Waffe bedroht worden war. Die Entführung der Brandt-Schwestern hatte Cap viel Kummer bereitet. Früher war Nell ein Ausbund an Lebenslust und Neugier gewesen, jetzt wirkte sie verängstigt und war oft schlecht gelaunt.

Seine Ex, Jules, war immer noch stinksauer auf ihn, weil er Nell in Gefahr gebracht hatte. Als Cap ihr in einer E-Mail seine Sorge darüber gestand, dass Nell neuerdings Heimlichkeiten vor ihm habe, kam prompt die Antwort: Was hast du denn erwartet? Sie hat ein traumatisches Erlebnis hinter sich, und jetzt kriegst du die Krise, nur weil sie sich wie ein normaler Teenager benimmt? Hör bloß auf, dich im Selbstmitleid zu suhlen!!

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, meinte Cap jetzt. Er kam sich vor wie ein Idiot.

»Überleg’s dir«, sagte Vera. »Wir sind ein gutes Team.«

»Danke, Vera. Das ist echt … ein Ding«, sagte er jovial, aber ohne sich weiter festzulegen.

»Hoffentlich ist das positiv gemeint.«

»Aber hallo! Natürlich! Ich hab mich nur so daran gewöhnt, mich ständig um meine Auftragslage zu sorgen, dass ich gar nicht weiß, was ich mit der ganzen Energie tun soll, wenn das nicht mehr nötig ist.«

Vera lächelte. »Fitnessstudio?«

Sie lachten, unterhielten sie sich noch eine Weile über den Turino-Vergleich, den nächsten Fall und potenzielle Neukunden, dann begleitete Vera ihn zum Ausgang. Cap schob sich den grauen Umschlag in die Tasche und verabschiedete sich.

»Wir sprechen uns bald?«, fragte Vera.

»Ja. Und nochmal danke!« Cap schüttelte ihr die Hand.

»Ihr Zwei-Uhr-Termin wartet«, sagte Martha.

»Bin gleich da!«

Vera winkte Cap noch ein letztes Mal zu, dann verschwand sie im Büro. Cap blieb kurz stehen, er musste sich erst mal wieder berappeln.

»Man sieht sich, Cap«, sagte Martha, während sie gelangweilt durch Facebook scrollte.

»Ja, Martha. Bis bald.«

Cap riss sich zusammen, fummelte am Türknopf herum und stand endlich wieder draußen, wo ihm die schwüle Augusthitze entgegenschlug. Jetzt krieg dich wieder ein, Caplan!, dachte er. Egal, was sich in dem grauen Umschlag verbarg, es war garantiert ein gutes Angebot, Veras Kanzlei war solide und seriös, sie selbst eine großartige Chefin, und bei der geringen Selbstbeteiligung an der Krankenversicherung fing doch jeder normale Amerikaner sofort an zu sabbern wie vor einem saftigen Cheeseburger.

Wo lag also das Problem? Er lockerte seine Krawatte. Wie hieß dieser Film noch mal? Mit Brad Pitt … oder war es George Clooney gewesen, der sich die Krawatte vom Hals gerissen und sie zu Boden geworfen hatte, weil er das Jobangebot eines Großkonzerns ausgeschlagen hatte? Solche Sperenzchen ließ Cap besser bleiben.

Schließlich hatte er nur zwei von den Dingern.

3

Vega wartete. Sie war die Einzige. Sie kam sich vor wie beim Arzt. Hinter dem Schalter saß eine junge schwarze Polizistin, das Haar zu einem adretten Knoten zurückgebunden, die Uniform gestärkt. Das Telefon summte dezent. Auf dem Tisch lagen Zeitschriften, fein säuberlich ausgebreitet. Blitzblanke Böden, kein Stäubchen.

Während sie auf Roland Otero wartete, las Vega die Nachrichten über den Tunnel. Sie scrollte auf ihrem Handy zu den Fotos: Lampen, Lüftungssysteme, Geräte und Schienen für die Rollwagen. Herein kam man über ein Loch im Boden, das sich auf einer Baustelle in der Nähe des Flughafens verbarg. Gerade mal breit genug für einen großen Hund oder mittelgroßen Menschen. Oder zwei Mädchen, dachte Vega.

Ein Latino trat durch die Tür hinter dem Empfang. Er war ein bisschen größer als Vega, schlank, in schwarzem Button-Down-Hemd und grauer Anzughose, eine weiße Strähne im ansonsten grauen Haar.

»Ms Vega«, sagte er, machte einen Schritt auf sie zu und gab ihr die Hand. »Roland Otero.«

Sie begrüßten einander. Erst jetzt entdeckte Vega die Pockennarben auf Wangen und Stirn und nahm den moschusartigen Duft seines Aftershaves wahr.

»Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit haben«, sagte er, als er sie zur Tür führte.

Vega nickte und rang sich ein freundliches Lächeln ab. Als sie am Empfang vorbeikam, fiel ihr die Glock 19 im Holster der Polizistin auf. Dann folgte sie Otero in einen großen Raum, der sie an eine Turnhalle erinnerte. Es gab offenbar keine Büros, nicht mal abgetrennte Nischen, nur Schreibtische, zwei oder mehrere zusammengeschoben, Konferenztische, Automaten für Snacks und Getränke, Kaffeemaschinen – keine Wände, keine Türen, nur ein langes Fenster mit Blick auf den strahlend blauen Himmel. Es war auch nicht laut, die vielen gleichzeitig geführten Unterhaltungen nur ein Brummen im Hintergrund.

»Sie haben Mia getroffen?«, fragte Otero, während sie sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch bahnten.

Die meisten Cops hier trugen Zivil, überwiegend Männer, nur ein paar Frauen. Weiß, schwarz, braun.

Sie kamen an einen langen Arbeitstisch in der hintersten Ecke, der fast direkt am Fenster stand, offenbar das Äquivalent des sonst so heiß begehrten Eckbüros. Otero bot Vega einen Stuhl an und setzte sich an den minimalistisch ausgestatteten Schreibtisch: gelber Notizblock, Stift, schlanker Monitor.

»Sie haben sie getroffen, oder? Mia?«

»Ja«, antwortete Vega.

Otero wartete, es dauerte ein bisschen, bis er kapierte, dass sie nicht mehr sagen würde. Irgendwann nickte er.

»Was halten Sie von unseren beiden Janes?«

Vega war nicht sicher, ob das hier ein Vorstellungsgespräch werden sollte und sie den Job überhaupt wollte, aber es wäre unsinnig, sich bei der Antwort zurückzuhalten. Momentan wusste sie nicht, ob sie engagiert oder gefeuert war, also würde sie Rede und Antwort stehen wie jede normale Bewerberin.

»Todesursache und Umstände ähnlich, genau wie Alter, ethnische Zugehörigkeit. Ich nehme an, die erste Tote wurde innen gefunden, die zweite draußen.«

Vega dachte an den Schmutz unter den Fingernägeln des zweiten Mädchens, die gerunzelte Stirn. Sie verdrängte die Bilder und konzentrierte sich wieder. »Beide hatten offenbar vor kurzem Geschlechtsverkehr und trugen ein Pessar. Angesichts ihres Alters gehe ich davon aus, dass sie Opfer von Zwangsprostitution waren, Sexhandel.«

Vega ließ den Blick über Oteros Kopf wandern, für einen Moment wirkte das Fenster, als hätte es keine Scheibe, der Himmel war blau wie Wasser, bald würde er überschwappen und das Zimmer überschwemmen.

»Die Seriennummern. Zwischen den beiden Toten liegen vier Nummern. Daraus können wir schließen, dass es andere Mädchen gibt, die die Pessare mit den Nummern 526 bis 529 tragen. Also mindestens vier.«

Otero sah sie eine Weile an, dann erhob er sich.

»So sehen wir das auch. Wenn Sie hinter den Tisch treten, kann ich Ihnen ein paar Fotos zeigen.«

Vega kam näher. Er gab das Passwort ein und bewegte die Maus. Mehrere Seiten ploppten auf, er klickte auf eine Datei namens »JD1 8-16«.

»Das hier ist Jane Doe Nummer eins.«

Vega erkannte das Mädchen aus der Rechtsmedizin. Lockiges Haar, schlanker Körper. Es war eine Nahaufnahme, sie lag verrenkt auf dem Rücksitz eines Autos, nackt bis auf einen Spitzen-BH und Slip. Aus ihren Stichwunden sickerte Blut. Es sah aus wie Öl.

»Wir haben sie in einem geparkten Auto an einer Straße in El Centro gefunden.«

»Im San Diego County?«, fragte Vega. Sie rief sich die Karte des Bundesstaates ins Gedächtnis.

»Imperial«, sagte Otero. »Der Sheriff hat es an uns weitergegeben, weil wir mehr Ressourcen haben, bessere Labore. Und Rechtsmedizinerinnen wie Mia.«

»Kennen Sie den Besitzer des Wagens?«

»Ja. Hat sein Auto am Freitag um sechs Uhr als gestohlen gemeldet.«

»Und? Glaubwürdig?«

»Scheint so, ja.«

»Abdrücke?«

Otero nickte. »Teilabdruck am Lenkrad, aber kein Treffer.«

Er schloss das Foto.

»Wollen Sie die Zweite auch noch sehen?«

»Sicher.«

Er öffnete ein weiteres Foto. Das zweite Mädchen lag in einem Graben, sie trug Shorts. Seitlich auf ihrem weißen Trägerhemdchen prangte ein Blutfleck, wo der Täter sie mit dem Messer verletzt hatte. Sie war staubbedeckt, barfuß.

»Ein Trucker hat sie in einem Graben in der Nähe von Brawley entdeckt und gleich den Notruf gewählt. Das war gestern früh.«

»Hatte er was damit zu tun?«

»Wir können seine Route verfolgen, er ist in West Texas losgefahren. Hat mehrere Alibis.« Otero seufzte. »Zum zweiten Opfer können wir nicht viel sagen, außer dem, was Mia Ihnen schon erzählt hat. Ähnliche Stichverletzungen.«

Otero schloss die Dateien, was Vega als Aufforderung deutete, wieder auf ihre Seite des Schreibtischs zurückzukehren.

Er lächelte höflich, aber nicht aufrichtig, und Vega hatte das Gefühl, dass er ihr etwas verschwieg. Kein Problem, auch sie behielt einiges für sich.

»Müssen Sie sonst noch was wissen?«, fragte er nach einer Weile.

»Ja. Was hatte das zweite Opfer in der Hand?«

Falls Otero überrascht war, verbarg er es sehr gut. Nur sein Kopf neigte sich leicht zur Seite.

»Keine Ahnung, was Sie meinen«, sagte er.

»In ihrer rechten Hand«, sagte Vega und hielt zu Demonstrationszwecken die Finger in die Luft. »Sah aus, als hätte sich ihre Hand kurz vor der Leichenstarre geschlossen. Entweder machte sie eine Faust, oder sie hielt was fest. Unwahrscheinlich, dass sie sich mit der Faust wehren wollte, das ist eher untypisch für Frauen. Sie benutzen«, Vega spreizte die Finger, »meist die Fingernägel und kratzen. Deswegen gehe ich davon aus, dass sie etwas in der Hand hatte.«

Otero nickte leicht, dann schob er seinen Stuhl zurück.

»Kommen Sie mit in die Asservatenkammer, Ms Vega?«, fragte er.

»Sicher.«

Nachdem sie den großen Raum durchquert hatten und ein Stockwerk tiefer gegangen waren, kamen sie an eine mit dicker Stahltür gesicherte Kammer, daneben befand sich ein Ausgabefenster. Ein Polizist stand dahinter. Er schob Otero ein Tablet hin, der tippte eine Nummer ein und schob das Gerät zurück. Otero zog zwei Paar Handschuhe aus dem Spender neben der Tür. Ein Paar hielt er Vega hin.

Der Mann hinter dem Ausgabefenster drückte einen Knopf, und die Tür öffnete sich mit einem Summen.

Otero und Vega traten ein.

Die Asservatenkammer war blitzsauber, blaue Archivboxen standen ordentlich aufgereiht auf Regalen, es gab mindestens zehn Gänge. Vorn standen zwei lange Stahltische mit Klappstühlen.

»Ich will ehrlich sein«, sagte Otero. »Ihre Frage hat mich überrascht.«

Er zog eine Box vom ersten Regal. Ganz vorn, gerade erst angelegt, dachte Vega. Nachdem er sie auf den Stahltisch gestellt hatte, sahen er und Vega sich schweigend an.

Schließlich verzog Otero das Gesicht zu einem Grinsen. »Ich dachte, Sie würden mich fragen, warum Sie hier sind.«

Vega lehnte sich an den Tisch, beugte sich zur Box, hielt seinem Blick aber stand.

»Warum bin ich hier, Commander?«

Sein Grinsen verlosch, er wandte sich ab. Plötzlich wirkte er bekümmert, ja sogar nervös. Aber vielleicht war das nur seine professionelle Miene, die zu der Arbeit passte, die er täglich verrichtete.

Er öffnete die Box und zog nacheinander einige durchsichtige Asservatenbeutel hervor. Jeder war mit einer sechsstelligen Nummer und dem Datum beschriftet, 08-21. Eine enthielt Shorts, die andere ein Trägerhemdchen.

»Natürlich haben Sie recht«, sagte Otero. »Das Mädchen hatte tatsächlich was in der Hand.«

Er nahm den letzten Beutel aus der Box. Er enthielt ein Stückchen Papier. Gerade groß genug, dass es das Mädchen in der Hand verstecken konnte, dachte Vega. Otero zog es langsam mit den Fingerspitzen heraus.

Er gab es Vega und sagte: »Wie Sie sehen werden, beantwortet es Ihnen gleich beide Fragen.«

Vega musste die hingekritzelten Buchstaben ein paarmal lesen, schwarze Lettern, von Schweiß, Schmutz und Blut verschmiert. Danach war ihr alles klar.

Wieder saßen Otero und Vega einander gegenüber, diesmal im Konferenzzimmer in der dritten Etage. Es war hell, auch hier gab ein großes Fenster den Blick auf den strahlendblauen Himmel frei. Vega kam sich vor wie in einem Start-up-Unternehmen im Silicon Valley.

Otero sah auf sein Handy. »Einen Moment noch«, sagte er. Knappes, ungeduldiges Kopfschütteln.

Sie saßen noch ein paar Minuten schweigend da. Vega hatte einige Fragen, war allerdings sicher, dass Otero keine Antworten geben durfte. Also warteten sie.

Irgendwann öffnete sich die Tür und zwei Männer traten ein. Einer war groß, breitschultrig und blond. Sein Haar sah nass aus, er hatte es offenbar mit Gel zu einer fast ziselierten Welle gestylt.

Der andere war kleiner, nicht dick, aber breiter im Gesicht, mit kleinen Augen, braunem, etwas zu langem Haar, dem Styling offenbar völlig fremd war. Beide waren um die vierzig.

»Christian Boyce, DEA«, stellte der Blonde sich vor. »Das ist mein Kollege Mike Mackey.«

»Alice Vega.«

Die beiden Männer setzten sich links und rechts neben Otero.

»Commander Otero hat Ihnen bereits mitgeteilt, was wir über die beiden toten Mädchen wissen?«

Vega nickte.

»Letzte Woche lief ein Bericht in der Sendung 48 Hours, es ging darum, was aus ehemaligen Entführungsopfern geworden ist«, fuhr er fort. »Einer davon war der Junge aus dem Aquarium, wie hieß er noch gleich?«

Vega antwortete nicht sofort. »Ethan Moreno«, sagte Otero rasch.

»Richtig«, sagte Boyce. »Wir gehen davon aus, dass Jane zwei die Sendung gesehen hat, dann wird sie mit dem Messer gequält, versteht, dass sie sterben wird, und schreibt Ihren Namen vorher noch schnell auf einen Zettel, Ms Vega. Den finden wir dann bei ihrer Leiche. Folgende Fragen«, sagte er und begann, sie an den Fingern abzuzählen. »Kommen die Janes aus dem Ausland? Wurde die erste Jane in dem Wagen umgebracht, in dem man sie gefunden hat, oder nur dort abgelegt? Gibt es mehr von ihnen? Wenn man sie verschleppt hat und zur Prostitution zwingt, werden sie auch als Drogenkuriere missbraucht?«

Bei der letzten Frage verschränkte Boyce die Zeigefinger und musterte Vega, als wüsste sie die Antwort.

Vega fing seinen Blick auf und schwieg.

Otero sprang erneut in die Bresche. »In den Organen oder Körperöffnungen wurden keine Drogen oder relevante Rückstände gefunden.«

Obwohl er sich an Vega gewandt hatte, kam es ihr vor, als hätte Otero seinen Kollegen auf indirekte Weise zurechtgewiesen.

»Labiale und vaginale Verletzungen, korrekt?«, mischte sich Mackey ein. Seine Stimme klang ein bisschen belegt.

Vega nickte.

»Und beide hatten Pessare in der Gebärmutter«, fügte er hinzu.

Vega bemerkte, dass sich Otero seinem Handy zugewandt hatte. Was hatten die Leute eigentlich früher ohne Handy gemacht, wenn sie Konfrontationen ausweichen wollten?, fragte sie sich. Damals hatte es bestimmt eine Menge blitzsaubere Fingernägel gegeben.

»Also«, sagte Boyce, als hätte sein Kollege nichts gesagt. »Da kommen Sie ins Spiel.«

Dann grinste er. Schnurgerade Zähne, grellweiß. Vega stellte sich vor, wie man ihm die Veneers auf die obere Reihe geklebt hatte.

»Wir könnten Ihre Hilfe gebrauchen. Wie Sie sicher wissen, haben wir in diesem Teil des Landes ein großes Problem mit Tunneln. Allein dieses Jahr haben wir drei entdeckt. Schwer zu wissen, wie lange sie genutzt wurden, aber schätzungsweise wurden Meth, Kokain und Marihuana im Wert von hunderttausend Dollar pro Woche, pro Tunnel transportiert. Und mit großer Sicherheit gehören sie Eduardo Montalvo oder dem Perez-Kartell. DEA, FBI und die Polizei sind daran beteiligt, diese Sache unter Kontrolle zu kriegen. Verstehen Sie?«

Er nickte ihr zu, seine Augen etwas zu weit aufgerissen und glasig, genau wie er zu väterlich aussah, mit seinem gebügelten Hemd und der ärmellosen Fleeceweste. Ein bisschen bevormundend: Prinzesschen, putz dir schön die Zähne!

»Ich glaube schon«, erwiderte Vega. Sie faltete die Hände und beugte sich vor. »Also, sehe ich das richtig: Wenn das Mädchen Bugs Bunny auf den Zettel gekritzelt hätte, säße er jetzt hier?«

Otero blickte von seinem Handy auf. Boyce lief rosa an. Das ist der Nachteil, wenn man aussieht wie Ken, dachte Vega. Auf cremeweißer Haut sieht man jede Rötung. Sie glaubte, auf Mackeys Lippen ein kleines Grinsen zu entdecken.

»Sie sind für diesen Auftrag mehr als qualifiziert, Ms Vega«, sagte Mackey leise.

»Klar doch. Sie kennen mich, stimmt’s? Ich arbeite nicht für wohltätige Zwecke.«

»Die Bezahlung wird sicher zu Ihrer Zufriedenheit ausfallen«, sagte Boyce. »Sie würden als Assistentin für die DEA arbeiten, aber das muss geheim bleiben, die Medien dürfen es nicht erfahren. Sie berichten an Commander Otero, der an Mackey berichtet, und Mackey berichtet an mich.«

»Alle Informationen werden geteilt«, sagte Mackey.

»Ja, Informationen werden geteilt«, wiederholte Boyce.

Vega unterdrückte ein Grinsen. »Stellen Sie mir persönlich einen Scheck aus?«

»Nein, Sie bekommen Ihr Honorar in bar.«

»Huch! Verraten Sie mir gleich, wie viel, oder müssen wir noch ein paar Zettelchen hin- und herschieben?«

Boyce holte tief Luft.

»Zehntausend für zwei Wochen«, sagte er schließlich. »Dann schauen wir weiter.«

Sie sahen einander eine Weile an, dann klopfte Vega sanft auf den Tisch und sagte: »Nein, danke.«

»Wie bitte?«, fragte Boyce.

»Nein, danke«, wiederholte sie, diesmal lauter. Sie war aufgestanden.

Boyce und Mackey erhoben sich ebenfalls, genau wie Otero. Boyce war zu abgeklärt, um etwas zu stammeln, aber in seinen Augen sah sie ein winziges Zucken. Mackey fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Wie viel dann, Miss Vega?«, fragte Boyce rasch. »Was halten Sie für angemessen?«

»Es geht mir nicht ums Geld«, sagte Vega. »Selbstverständlich behandle ich unser Gespräch streng vertraulich. Es war nett, Sie kennenzulernen.«

Sie wandte sich ab und ging zügig, aber nicht zu schnell, nach unten. Die Treppe führte direkt ins Großraumbüro, Vega genoss noch einen letzten Blick durchs Panoramafenster, dann ging sie am Empfang vorbei aus dem Gebäude.

Sofort schlug ihr die Hitze entgegen, obwohl sie nicht mal direkt in der Sonne stand. Wo sie wohnte, im Norden, war es auch heiß, aber hier war das Klima sehr viel aggressiver, die Luft war schwerer, ein Gewicht, das sich auf ihre Brust zu legen schien. Sie setzte die Sonnenbrille auf und ging über den gepflasterten Weg zum Parkplatz.

Sie war schon fast am Wagen, als jemand ihren Namen rief. Zwischen anderthalb und drei Metern entfernt, in Eile, aber immer noch im gemäßigten Tempo unterwegs, denn die Schritte hallten ungefähr im selben Takt wie ihre.

Sie ging weiter zum Wagen, zog ihr Handy aus der Tasche, öffnete den Stadtplan. Die Schritte verstummten. Ein bis anderthalb Meter hinter ihr, nahm sie an. Sie wandte sich nicht um.

»Haben Sie was vergessen, Commander?«

Zuerst reagierte Otero nicht. Sie drehte sich um und sah ihn an. Er kratzte sich am Hinterkopf, blinzelte.

»Ich verstehe«, sagte er, »warum Sie den Job nicht wollen.«

»Echt?«, fragte Vega, an ihren Wagen gelehnt. »Warum ich kein Bargeld annehmen will, das die DEA mir unter dem Tisch zusteckt, um einen Sexring auffliegen zu lassen?«

Otero nickte.

»Und?«, fragte sie.

»Und es gibt Dinge, die ich Ihnen nicht sagen darf. Aber ich kann Ihnen verraten, dass Mackey jemanden darauf ansetzen will. Weil wir keine weinenden Mütter haben und auch niemand eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat, die auf die beiden Toten passt, war es bis jetzt nicht schwer, den Ball flach zu halten.«

Otero hielt inne. Seine Miene verfinsterte sich kurz.

»Ich weiß, was Sie geleistet haben. Ethan Moreno, Christy Poloñez, die Brandt-Schwestern.«

Bei dem Namen Brandt lief es Vega eiskalt über den Rücken, so war es schon seit einiger Zeit. Wenn Otero nicht weitergeredet hätte, wäre sie womöglich in einen Strudel geraten und am Ende wieder in den Wäldern gelandet, irgendwo im Nordosten Pennsylvanias, und hätte im Geiste erneut diese langen, kalten Minuten durchstehen müssen.

»Jane zwei«, fuhr er fort. »Ich glaube, sie wusste, dass sie sterben würde. Sie wollte Sie finden, damit Sie den anderen helfen.«

Vega war froh um ihre Sonnenbrille. Otero trat näher, sie blieb stocksteif stehen.

»Ich glaube, Sie können für Gerechtigkeit sorgen.«

Bei diesen Worten blieb Vega der Atem weg. Damit hatte er sie ins Mark getroffen.

»Ich kann Ihnen einen meiner Ermittler an die Seite stellen. Alle meine Kontakte, hier und in Imperial«, sagte Otero, der offenbar merkte, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte. »Ich bin mit den Tunneln beschäftigt, aber ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann.«

Vega setzte die Brille ab.

»Zahlt Boyce aus eigener Tasche?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Gut«, sagte Vega. »Richten Sie ihm aus, dass wir mit zwanzigtausend anfangen, nicht zehn. Ihr Ermittler kann die Recherchen übernehmen? Offene Fragen klären, Kleinkram erledigen?«

»Sicher.«

Vega stieg ein und ließ den Motor an, die Fahrertür stand noch offen.

»Kann ich ihm sagen, dass Sie mitmachen?«

Vega schnallte sich an.

»Das Geld, die Ressourcen, die Kontakte, alle Fotos und Berichte«, sagte sie. »In ein paar Stunden komme ich zurück.«

Otero kam ihr fast devot vor, sein Blick war butterweich. Ungewöhnlich, diese Dankbarkeit, dachte Vega. Als würde sie ihm einen persönlichen Gefallen tun. Vielleicht nahm er seinen Job genauso ernst wie sie.

»Danke«, sagte er dann.

Vega nickte erst ihm zu, dann in Richtung Tür, um ihm zu bedeuten, dass er loslassen solle. Er trat zurück, sie schloss sie und ließ das Fenster herunter.

»Eine Sache noch«, sagte sie. »Ich muss noch jemanden ins Boot holen. Er hält den Mund. Ich bezahle ihn.«

»Das muss ich mit Boyce klären.«

»Ohne ihn ist die Sache vom Tisch. Also klären Sie nur.«

Sie fuhr vom Parkplatz, ohne Otero noch eines Blickes zu würdigen, das Fenster ließ sie allerdings geöffnet, genoss den heißen Wind auf der Haut. Sie hatte einen Mordsdurst, wollte aber nicht anhalten. Irgendwie war sie auf einmal gut gelaunt. Wie wenn man in einem Laden, in dem man schon zigmal gesucht hat, auf einmal das Richtige findet.

4

Das Thermometer in Caps Wagen zeigte achtundzwanzig Grad, aber die hohe Luftfeuchtigkeit und die stickige Atmosphäre machten ihm zu schaffen. Alles klebte, sein Hemd am Rücken, die Hose an den Oberschenkeln, die Haare auf der Stirn.

Doch kaum hatte die Klimaanlage das Wageninnere etwas abgekühlt, hätte er sie am liebsten ausgemacht und alle Fenster aufgerissen. Die Luft war zwar immer noch heiß und feucht, doch er wollte sie spüren, mit allen Sinnen, seine Haut sollte triefen wie eine tropische Pflanze. Also streckte er den Kopf wie ein Hund zum Fenster raus und riss sogar den Mund auf, damit sich die feinen Tröpfchen auf seiner Zunge sammelten.

Dann surrte sein Handy.

»Ralz ruft an«, verkündete die Bluetooth-Dame.

Cap überlegte, aus welchem Grund Detective Brad Ralz bei ihm anrufen sollte. Nach der Aufklärung im Fall der entführten Brandt-Schwestern hatten sie zwar Respekt füreinander entwickelt, den sie damals als Polizeikollegen nie hatten aufbringen können, doch als Freundschaft würde Cap das nicht gerade bezeichnen. Wahrscheinlich verwählt. Er überließ den Anruf der Mailbox.

Wieder streckte er den Kopf aus dem Fenster, dachte über Vera und ihr Angebot nach und versuchte zu verstehen, warum er nicht begeistert war. Angst vor Erfolg – die Worte blitzten in seinem Hirn auf wie die Leuchtreklame eines billigen Motels. Er hatte keine Ahnung, wo er das aufgeschnappt hatte, es klang wie eine der vielen passiv-aggressiven Binsenweisheiten, die Jules so von sich gegeben hatte, oder wie der Titel eines Ratgebers, von einem berühmten Küchenpsychologen verfasst.

Angst hatte er nicht. Die letzten sechzehn Monate hatte er die Arbeit genossen, den Respekt und das Geld. Keine Nervosität, keine Schweißattacken, Alpträume. Was dann?

Wieder surrte sein Handy.

Wieder säuselte die Bluetooth-Dame »Ralz ruft an«.

»Verdammt«, murmelte Cap.

Er nahm den Anruf entgegen, auf Lautsprecher.

»Ralz«, rief er. »Ruf mich nicht ständig an.«

»Cap? Bist du das?«

»Ähm, ja«, antwortete Cap etwas verstört. Ralz hatte wohl doch nicht mit dem Hintern gewählt. »Wie geht’s?«

»Geht so. Bist du gleich zu Hause?«

»Ja, in fünf Minuten. Was ist los, Ralz?«

»Sage ich dir dann. Bis gleich.«

»Was? Wo?«, stammelte Cap, aber Ralz hatte bereits aufgelegt.

Cap startete einen Rückruf.

Gleich nach dem ersten Klingeln landete er auf der Mailbox. Cap hatte ein mulmiges Gefühl. Kopfschüttelnd gab er Gas. Als er in seine Straße einbog, sah er Ralz’ Wagen schon in der Einfahrt stehen. Es ergab keinen Sinn.

Brad Ralz war bereits ausgestiegen. Er stand mit Caps Tochter Nell vor ihrem Kombi, einer Dauerleihgabe seiner Ex-Schwiegereltern. Sie hatte die typische Teenagerpose eingenommen, Arme verschränkt, gelangweilte Miene. Doch als sie Cap heranfahren sah, stand sie Gewehr bei Fuß.

Seine plötzlich aufsteigende Panik versuchte Cap rasch zu unterdrücken. Sie steht doch direkt vor dir, sagte er sich, in Sicherheit, gesund, unverletzt. Er parkte am Straßenrand gegenüber und stieg aus. Ralz winkte ihm zu.

»Hi«, rief Cap schon beim Überqueren der Straße, »was ist los?«

Er schüttelte Ralz die Hand, den Blick aber auf Nell geheftet, die sich abgewandt hatte.

»Der Kreisverkehr am Highway 30«, sagte Ralz ohne weitere Umschweife. »Da ist jemand ein bisschen zu schnell durchgefahren, also bin ich hinterher. Auf der Lowell musste ich richtig Gas geben, um dranzubleiben, aber kurz danach hab ich den Fluchtwagen angehalten.«

Cap schnaubte, sein Puls war in die Höhe geschnellt.

»Ich hab sie am Anfang gar nicht erkannt. Das kam erst, als ich ihren Namen auf dem Führerschein gesehen habe.«

Nell wich Caps Blick immer noch aus, sie starrte konzentriert auf das Dach ihres Autos. Vor ein paar Monaten hatte sie sich die Haare abgeschnitten und schwarz gefärbt. Jetzt waren sie kurz, hingen ihr gerade noch über die Ohren und standen nach allen Seiten ab. Ihre Kleidung hatte sie auch radikal verändert. Früher war sie eher sportlich rumgelaufen, Khakihose und Kapuzenpulli, jetzt trug sie Jeans mit Löchern an den Knien und enge Trägerhemdchen oder T-Shirts mit aufgerissenen Säumen. Die Augen waren geschminkt wie die von Amy Winehouse. Cap störte es nicht, dass sie sich erwachsener anzog (wie er es nannte), aber was dieser neue Look über ihr Seelenleben aussagte, gefiel ihm gar nicht: zerrissen, haltlos.

Caps Mund war so trocken, dass er kein Wort hervorbrachte. Stattdessen rang er sich ein verkniffenes Lächeln ab und nickte.

»Ich bin nur mitgekommen, um es dir persönlich zu sagen.«

Cap schluckte ein paarmal. Endlich sagte er: »Wie hoch ist das Bußgeld?«

»Geschwindigkeitsüberschreitung? In diesem Fall hundertfünfzig.«

Nell sah immer noch weg.

»Okay, dann mal her damit«, sagte Cap.

Das entlockte Nell eine Reaktion. Sie machte einen Satz, als wäre ihr Auto siedend heiß, und sah Cap entsetzt an.

»Wie bitte?«, fragte Ralz.

»Gib ihr einen Strafzettel«, wiederholte Cap langsam.

Vater und Tochter tauschten Blicke. Dieselben Augen, nussbraun, funkelten orangefarben im Sonnenlicht.

»Dad!«

Cap hob die Hand.

»Jetzt nicht!«, sagte er.

Ralz musterte die beiden.

»Das werde ich nicht tun, Cap«, sagte er schließlich. »Nell und ich haben uns unterhalten. Diesmal bleibt es bei einer Verwarnung.«

»Danke, Detective«, sagte Nell ruhig. Als wäre sie der Vater und müsste sich für Caps Benehmen entschuldigen. »Bitte entschuldigen Sie die Umstände.«

»In Ordnung«, erwiderte Ralz mit derselben Ruhe. »Solange du in Zukunft an die Bremse denkst.«

Sie nickte eifrig, nahm ihren Rucksack und verschwand rasch im Haus.

Cap atmete tief durch und rieb sich den Schweiß von der Oberlippe.

»Ich werde ihr kein Ticket ausstellen, tut mir leid, Cap«, sagte Ralz.

Cap schüttelte den Kopf. »Das weiß ich zu schätzen. Ich wollte sie nur ein bisschen aufrütteln.«

»Sie war sehr höflich«, sagte Ralz zur Beruhigung.

»Ja, das ist sie, wenn sie will.« Cap blickte zum Haus.

Ralz streckte ihm die Hand entgegen.

»Mach’s gut, Cap«, sagte er.

»Danke.«

Ralz stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Cap ballte die Hände zu Fäusten. »Ganz ruhig!«, redete er sich zu. Als er ins Haus trat, schlug ihm kühle Luft aus der Klimaanlage entgegen.

Nell war in der Küche, kramte im Kühlschrank herum. Kurz darauf richtete sie sich auf, ein Stück kalte Pizza in der Hand. Sie warf Cap einen flüchtigen Blick zu und machte Anstalten, sich wortlos nach oben zu verdrücken.

Cap riss sich schwer zusammen, um sie nicht anzubrüllen.

»Nell«, sagte er leise.

Sie blieb stehen und wandte sich um. Ihre Miene erinnerte Cap an Jules: Scheißtag, keinen Bock auf Diskussionen.

»Würdest du mir bitte erklären, was da los war?«, fragte Cap.

Sie seufzte.

»Es war genau, wie Ralz es erzählt hat, Dad. Ich hab nicht gemerkt, wie schnell ich unterwegs war.«

»Das reicht mir nicht«, sagte Cap. »An der Lowell ist die Jonas-Mittelschule, falls du das vergessen hast.«

»Da waren aber keine Kinder, es sind Ferien«, sagte Nell.

»Darum geht es nicht.« Caps Stimme wurde lauter. »Du kannst nicht rasen. Nie! Es geht nicht nur um dich. Damit kannst du Menschen verletzen.«

»Ich habe aber niemanden verletzt.« Nell war immer noch ruhig, klang aber zunehmend defensiv.

»Genau da liegt das Problem. Du denkst, dir kann nichts passieren, du wirst niemanden verletzen …«

Zu spät bemerkte er, dass Nell ihn anstarrte, wahrscheinlich, weil seine Augen feucht geworden waren. Tränen.

»Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut«, flüsterte sie fast.

Cap hatte sich wieder etwas beruhigt, rang aber immer noch um Fassung.

»Das reicht nicht«, sagte er schließlich.

Nells Miene schaltete auf Rot.

»Was willst du denn noch, Dad? Soll ich jedem Schüler, den ich nicht umgefahren hab, eine handschriftliche Entschuldigung schicken?«

»Dein Ton gefällt mir nicht, Fräulein!«

Sie schnaubte frustriert.

»Weißt du was?«, stieß sie hervor. »Ich hab in meinem ganzen Leben erst ein halbes Bier getrunken und einen Zug von der Zigarette genommen. Nie gekifft.« Sie sah zu Boden. »Nie Sex gehabt«, fügte sie hinzu.

Ihre Offenheit beschämte Cap. Er spürte, wie sein Zorn langsam verrauchte. Es war alles in Ordnung mit ihr. Sie lebte noch. Der Abend würde friedlich verlaufen, vielleicht kuschelten sie sich ja sogar noch zusammen vor den Fernseher. Danach kämen morgen, übermorgen und so weiter. Sie würde nicht vor ihm sterben.

»Es war ein gutes Gefühl, mal richtig Gas zu geben«, sagte sie. »Vielleicht kannst du es mir einfach nachsehen und bei einer Verwarnung belassen wie Detective Ralz.«

Er wusste nicht, was er sagen sollte, also nickte er.

Nell wandte sich ab und lief nach oben. Cap kam sich vor wie ein Arschloch. Wenn einem Brad Ralz, der nicht gerade für seinen kühlen Kopf bekannt war, als Vorbild genannt wurde, sollte man vielleicht mal ein bisschen über sich nachdenken.

Cap holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und schlappte in sein Arbeitszimmer. Er kam sich vor, als hätte er nächtelang nicht mehr geschlafen.

Hier war die Klimaanlage schwächer. Um Geld zu sparen, hatte er das Zimmer von der Zentraleinheit abgehängt und benutzte ein altes Gerät am Fenster. Sein Nacken war bereits wieder schweißnass, als er den Regler auf zehn hochdrehte.

Er setzte sich an den Schreibtisch, riss sich die Krawatte vom Hals und warf sie auf einen Packen Papier. Dann öffnete er das Bier und schlürfte den Schaum ab. Er tippte auf der Tastatur herum, um seinen Computer aufzuwecken. Es war zwanzig nach drei. Der Tag war schon wieder fast gelaufen. Er wusste, dass er ein bisschen warten musste, bevor Nell wieder ansprechbar war. Um vier würde er zu ihr hochgehen. Jetzt erst mal E-Mails lesen.

Sieben neue Nachrichten waren während seiner Abwesenheit bei ihm eingegangen. Er kniff die Augen zusammen, um sie genauer zu entziffern. Keine Ahnung, wo die Lesebrille war, die er auf Nells Drängen hin endlich gekauft hatte. Aber egal, seine Augen waren noch okay. Nachdem er seinen Schreibtischstuhl ein paar Zentimeter zurückgeruckelt hatte, konnte er die Schrift auf dem Bildschirm schon viel besser lesen.

Überwiegend Spam. Eine Mail von Vera mit dem Betreff »Unser Gespräch«. Cap scrollte weiter, behielt sie aber im Hinterkopf. Eine Nachricht von Nell, offenbar geschickt, bevor man sie angehalten hatte. Ein Link zu einem Artikel aus der Denville Tribune über den deutlichen Anstieg der Hasskriminalität. Und eine Mail, die um zwei Uhr vierundfünfzig bei ihm eingegangen war. Absender: A. Vega. Betreff: Job.

Alice Vega. Mit ihr hatte er an der Brandt-Entführung gearbeitet. Die rätselhafte, undurchschaubare, hinterlistige wunderbare Alice Vega. Nachdem sie die Stadt verlassen hatte, waren über einen Monat lang regelmäßig E-Mails von ihr gekommen. Einzelheiten über den Fall, Dokumente, die noch auszufüllen waren, ein Fragenkatalog vom FBI, Bericht über Bericht. Doch danach war Funkstille eingetreten.

Hin und wieder schickte Cap ihr eine Mail, um den Kontakt irgendwie aufrechtzuerhalten, egal wie, und wenn er nur ihre Stimme im Kopf hatte, wenn er ihre Antwort las. Der Grund für seine Kontaktaufnahme war immer an den Haaren herbeigezogen, Links zu Artikeln über vermisste oder gerettete Personen, Fälle, die auf unerwartete Weise geendet waren oder Kriminalfälle, die nach vielen Jahren endlich gelöst werden konnten.

MacCaplan74 hat einen Artikel mit Ihnen geteilt. Cap wusste nie, was er ihr schreiben sollte, also fügte er meistens nur einen überflüssigen Satz hinzu: Vielleicht interessiert dich das. Cap. Ihre Antwort lautete immer gleich: Danke.

Und jetzt hatte er eine Mail von ihr im Eingang. A. Vega. Job.

Doppelklick.

Cap merkte erst, dass er die Luft angehalten hatte, als ihm schwarze Punkte vor den Augen tanzten. Er atmete tief durch und las.

Hi, hab hier in San Diego einen Job für dich. Zehntausend, erst mal. Lass mich wissen, ob du mitmachst. Vega

Cap las sie noch ein paarmal, dann stand er auf. Er lachte los, hielt sich dann rasch die Hand vor den Mund.

Erst mal einen Schluck Bier trinken.

Dann druckte er die Mail aus, schnappte sich das Papier und sauste nach oben. Er klopfte an Nells Tür. Nichts. Wahrscheinlich hatte sie sich eingestöpselt. Er schlug mit der Faust dagegen.

Als sie endlich aufmachte, wirkte sie verärgert, ein Kopfhörer hing ihr über der Schulter, in der Hand hielt sie ein Stück Pizzakruste.

»Hi«, sagte Cap. »Ich weiß, dass wir uns eigentlich gestritten haben, aber ich muss mit dir reden.«

Sie hob die Brauen, aber ihre Miene erhellte sich.

»Das hier ist gerade gekommen«, sagte er und hielt ihr den Ausdruck hin.

Nell las Vegas Mail, während sie auf der Kruste kaute. Dann wendete sie das Blatt, um zu sehen, ob noch etwas auf der Rückseite stand.

»Ich weiß nicht, ob ich das machen soll«, sagte Cap.

»Klar machst du das.« Sie schob sich die Kruste in den Mundwinkel und sah damit aus wie ein Kaninchen. »Das kommt von Alice.«

»Vera Quinn hat mir eine Festanstellung angeboten.«

Nell glotzte ihn an. »Wann?«

»Heute.«

»Warum hast du denn nichts gesagt?«

»Bin noch nicht dazu gekommen.«

Nell unterdrückte ein Grinsen. »Was willst du machen?«

Cap dachte kurz nach.

»Vera bietet mir einen guten Job an, mit einer super Krankenversicherung.«

»Nee! Echt jetzt?«

»Jep. Das Komplettpaket. Boni, Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, wahrscheinlich auch eine Art Altersvorsorgeplan.«

Nell betrachtete die Wand hinter Cap und dachte nach.

»Ich muss was trinken«, sagte sie und schob sich an Cap vorbei. »Und Alice bietet dir wie viel? Zehntausend? Wie lange?«

Cap folgte ihr nach unten.

»Hast du doch gelesen. Mit Einzelheiten hat sie es nicht so.«

Nell holte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.

»Du solltest sie anrufen und fragen.« Sie zeigte mit der Flasche auf ihn. »Und dann solltest du wahrscheinlich annehmen.«

»Ich habe keine Ahnung, wie lange ich weg sein werde.«

Nell zuckte die Achseln.

»Wie lange dauern solche Fälle normalerweise? Einen Monat?«, fragte sie.

»Ja, meist. Und was machst du so lange?«

»Ich kann bei Mom bleiben. Sie wird begeistert sein.«

Cap wusste, dass Nell das nicht nur ironisch meinte. Jules würde sich tatsächlich freuen, wenn sie mehr von ihrer Tochter hätte, ein Luxus, der ihr fehlte, wenn Nell bei ihrem Vater war.

»Von mir nicht«, sagte Cap.

»Ja, aber das ist ja nichts Neues.« Nell war wenig beeindruckt von Caps vermeintlichem Einwand. »Ich hab eine Idee: Ich kümmere mich um Mom, und vielleicht könnten wir das zu schnelle Fahren für uns behalten.«

Cap lachte.

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Wie stellst du dir das vor? Ich sag nichts, du sagst nichts, und irgendwann läuft ihr Brad Ralz zufällig über den Weg …«

»Wie sollte das bitte passieren? Das ist doch völlig aus der Luft gegriffen.«

»Egal. Stell dir vor, sie trifft ihn zufällig. Er sagt: ›Wie geht es Nell? Fährt sie immer noch zu schnell?‹«

»Total unrealistisch«, murmelte Nell. »Brad Ralz redet nicht so.«

»Ist dir klar, was mir blüht, wenn sie das irgendwie rauskriegt?« Cap raufte sich die Haare. »Davon würde ich mich nie erholen.«

Nell schwieg und kickte mit dem Zeh gegen die Frühstückstheke.

»Information verschweigen ist nicht so schlimm wie lügen«, sagte sie schließlich.

»Völlig daneben.«