Tote Puppen lügen nicht: Der sechste Fall für Marie Maas - Martina Bick - E-Book
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Tote Puppen lügen nicht: Der sechste Fall für Marie Maas E-Book

Martina Bick

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Kriminalkommissarin Marie Maas: „Tote Puppen lügen nicht“ von Martina Bick – jetzt als eBook bei dotbooks. Ein brutaler Mord versetzt Hamburg in Angst und Schrecken. Das erste Opfer, eine Boutiquebesitzerin, wird im Schaufenster des eigenen Ladens auf grausame Weise getötet. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden – der Verlobte des Opfers, Betrüger und Ex-Häftling Wilfried Tenzer. Nur Kriminalkommissarin Marie Maas ist von seiner Unschuld überzeugt und beginnt, anderen Spuren zu folgen. Doch ihr bleibt nicht viel Zeit, denn der Mörder schlägt zum zweiten Mal zu … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Tote Puppen lügen nicht – Der sechste Fall für Marie Maas“ von Martina Bick. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Ein brutaler Mord versetzt Hamburg in Angst und Schrecken. Das erste Opfer, eine Boutiquebesitzerin, wird im Schaufenster des eigenen Ladens auf grausame Weise getötet. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden – der Verlobte des Opfers, Betrüger und Ex-Häftling Wilfried Tenzer. Nur Kriminalkommissarin Marie Maas ist von seiner Unschuld überzeugt und beginnt, anderen Spuren zu folgen. Doch ihr bleibt nicht viel Zeit, denn der Mörder schlägt zum zweiten Mal zu …

Über die Autorin:

Martina Bick wurde 1956 in Bremen geboren. Sie studierte Historische Musikwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Gender Studies in Münster und Hamburg. Nach mehreren Auslandsaufenthalten lebt sie heute in Hamburg, wo sie an der Hochschule für Musik und Theater arbeitet. Martina Bick veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane, Romane und Kurzgeschichten und war auch als Herausgeberin tätig. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2001 war sie die offizielle Krimistadtschreiberin von Flensburg.

Die Krimi-Reihe rund um Hauptkommissarin Marie Maas umfasst folgende Bände:

Der Tote und das Mädchen. Der erste Fall für Marie MaasTod auf der Werft. Der zweite Fall für Marie MaasDie Tote am Kanal. Der dritte Fall für Marie MaasTödliche Prozession. Der vierte Fall für Marie MaasNordseegrab. Der fünfte Fall für Marie Maas

Tote Puppen lügen nicht. Der sechste Fall für Marie MaasTotenreise. Der siebte Fall für Marie Maas

Heute schön, morgen tot. Der achte Fall für Marie Maas

***

Neuausgabe Oktober 2014

Dieses Buch erschien bereits 1998 unter dem Titel Puppen lügen nicht bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Originalausgabe 1998 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de

Titelbildabbildung: © Thinkstock; Maria Seidel

ISBN 978-3-95520-876-9

***

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Martina Bick

Tote Puppen lügen nicht

Der sechste Fall für Marie Maas

dotbooks.

Kapitel 1

Es war kurz nach sechs Uhr und stockfinster. Ein feiner, eiskalter Regen fiel leise und beständig auf das im Lampenlicht glänzende Pflaster. Vor den Scheinwerfern der Autos glitzerten die Tropfen wie kleine Diamanten. Die Ampel vor dem Dammtor sprang auf Grün, und Wilfried Tenzer hastete vor den Lichtkegeln der auf sechs Spuren wartenden Autos über die Straße.

Du bist frei, du bist frei, du bist frei, hatte es die ganze Zugfahrt über in seinem Schädel gehämmert. Sie haben dich tatsächlich noch einmal rausgelassen, vorzeitig, hatte er sich alle paar Minuten wiederholt. Faß an, dieser Zug ist echt. Kein Traum. Der Regen, der ihm am Morgen in Butzbach ins Gesicht peitschte, als er auf das Taxi wartete, er war echt! Er kam nicht aus einer Wasserleitung in seiner Zelle. Er fiel vom Himmel, wie seine vorzeitige Entlassung. Himmel – wie oft hatte er in den Himmel gestarrt in diesen zwei Jahren. Zwei Sommer lang hatte er beim Hofgang auf dem Schotterrand gehockt, während die anderen ihre Runden drehten, und in den Himmel gestarrt. Ob er eisgrau war oder wolkenverhangen, azurblau oder voller weißer Zirruswolken. Er hatte die Spuren der Flugzeuge verfolgt und später, in seiner Zelle, Stunden damit zugebracht, die möglichen Flugrouten nachzuvollziehen. Er hatte sich einen Kompaß besorgt. Die Dinger wurden unter der Hand gehandelt für Idioten, die ausbrechen wollten und damit irgendwelche Berechnungen anstellten. Idioten, weil sie es meistens nicht schafften, aber Sprüche klopften, jahrelang, jahrzehntelang immer die gleichen Sprüche. Das ist Knast: Alles bleibt stehen. Sogar die Sprüche bleiben die gleichen. Bis man drauf kotzen kann, auf alles um einen herum. Auf alle. Auch auf sich selbst.

Wilfried Tenzer versuchte, sich an der Bushaltestelle einen trockenen Platz unter dem Glasdach zu sichern. Viel zu viele warteten auf den nächsten Bus. Er traute sich noch nicht so nah an die Menschen heran. Ihre Kleider rochen nach Regen, und die Frauen umgab ein Hauch von Parfüm oder Creme. Frauen, mein Gott, wie gut die rochen!

Er mußte sich bremsen. Er wollte nicht alles auf einmal aufnehmen. Er wollte sich Zeit lassen, Zeit nehmen. Seine Zeit gehörte jetzt wieder ihm allein. Niemand teilte sie ihm zu, er war frei, frei, frei.

Als er sah, wie die Ampel auf Grün sprang, die die Verkehrsinsel mit der Bushaltestelle in dem breiten Strom der Autos mit der anderen Straßenseite verband, lief er los in Richtung Rothenbaumchaussee. Es war ja nicht weit, er konnte ebenso gut laufen. Das bißchen Regen machte ihm nichts aus, im Gegenteil. Noch gestern Abend hätte er seine linke Hand dafür gegeben, frei im Regen herumlaufen zu können. Naß zu werden, zu frieren, vom Laufen erschöpft zu sein, seine untrainierten, schlaffen Muskeln zu spüren. Er hätte einfach alles getan, um rauszukommen. Denn man wußte doch nie, ob sie es ernst meinten mit ihrem Bewährungsbeschluß. Ehe man nicht wirklich draußen vor dem Tor stand, war alles möglich. Vor ein paar Monaten erst war seinem Zellennachbarn so etwas passiert, das Horrorszenario war Wirklichkeit geworden. Der Kumpel hatte seine Strafe abgesessen, viereinhalb Jahre an einem Stück. Er hatte auf vorzeitige Entlassung verzichtet, er wollte draußen machen können, was er wollte, und nicht irgendeinen Bewährungshelfer an den Fersen haben. Am Abend hatte er seine Sachen gepackt, Kaffee- und Tabakreste verschenkt, das Zeitungsabo gekündigt, seine Bücher verteilt, die Klamotten in der Kammer abgegeben. Eine Frau, die er per Anzeige während der Haft kennengelernt hatte, wartete gespannt auf ihn vor dem Tor – da kam um halb sieben Uhr morgens der Stationsleiter und verkündete ihm einen alten Bewährungswiderruf. Sechs Monate Zuschlag. Alles wieder auspacken. Alles wieder einsammeln. Die Frau nach Hause schicken. Gerade zehn Minuten Sonderbesuch hatte man ihnen gewährt, aber nur, weil das Mädchen so weinte vor Schreck und Enttäuschung. Der Kumpel war ohnmächtig vor Wut gewesen. Um ein Haar hätte er seine ganze Zelle auseinandergenommen. Durch solche Überraschungen sicherte sich die Justiz die Macht über die Seelen der ihr Ausgelieferten. Bis man schließlich dankbar war, wenn sie einen rausließen, bis man sich darüber freute wie ein kleines Kind. Dabei hatte man doch ein Recht darauf! Irgendwann mußten sie einen ja wieder rauslassen.

Tenzer war ein vorsichtiger Mensch. Darum hatte er Leila gestern Abend nicht informiert. Er hatte sie auch heute Morgen nicht angerufen, als er draußen vor dem Tor stand, auch nicht vom Bahnhof aus. Sie rechnete damit, daß er in den nächsten Tagen rauskam, höchstwahrscheinlich vorzeitig entlassen wurde, aber sie wußte nicht, wann. Ganz bestimmt rechnete sie heute noch nicht mit ihm.

Tenzer ging nicht, er flog. Er nahm eine Abkürzung, die diagonal die Straßenecke schnitt, seine alte Abkürzung, die er früher auch immer benutzt hatte. Der Weg war schmal und sandig, und meist standen dort große Pfützen, aber man sparte mindestens eine halbe Minute Zeit. Zeit, um zu Leila zu kommen. Ein Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde von unten angestrahlt. Ein hohes, herrschaftliches Gebäude mit einem Fachwerkgiebel aus den Gründerjahren. Alles in Hamburg war doppelt so hoch und so breit wie in Butzbach. Das hatte er ganz vergessen. Es machte ihm das Herz weit. Hamburg, die neue Heimat seiner Wahl.

Leila war immer bis halb sieben im Geschäft, oft länger. Wenn sie dekorieren mußte, wenn neue Ware gekommen war. Er hatte an Werktagen immer erst im Geschäft angerufen, wenn er vor sieben Uhr ans Telefon kam. Meistens aber war die Schlange vor den zwei Münzapparaten, die für sechshundert Häftlinge bereitstanden, viel zu lang gewesen, um so früh dranzukommen. Nach sieben Uhr probierte er, sie zu Hause in der Rutschbahn zu erreichen.

Was würde sie für ein Gesicht machen, wenn sie ihn gleich vor sich sah? Würde sie erschrecken? Hoffentlich nicht zu sehr! Sie war etwas schreckhaft. Darum war es besser, sie vorher nicht so genau zu informieren. Hinterher konnte man ihr alles erzählen, sie hielt garantiert dicht. Sie konnte jeden Bullen an der Nase herumführen. Als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan und wäre nie mit diesem Kotzbrocken von Richter verheiratet gewesen. Aber Irrtümer unterlaufen eben jedem mal im Leben.

Die nächste Abkürzung führte quer über den Uni-Campus. Rechts erhob sich dunkel und klotzig die Universitätsbibliothek. Ein riesiger Büchersilo ohne Fenster, ohne Licht. Dahinter lagen die Hochschule für Wirtschaft und Politik, die Räume des ASTA, irgendwelche Universitätsinstitute. Links die Mensa, dahinter der Philosophenturm. Ein paar Leute liefen über den Campus, hasteten unter dem Regen durch. Tenzer schien der einzige zu sein, dem das bißchen Wasser nichts ausmachte.

Dann tauchten die bunten Leuchtreklamen vom Grindelhof auf, Autolärm schallte über den Parkplatz vor dem Abaton-Kino, Hupen, lebhafter Verkehr. Tenzer ging jetzt schneller, wechselte seinen Koffer in die linke Hand, der rechte Arm schmerzte ihn bis in die Schulter. Er hatte so wenig Sachen wie möglich mitgenommen, er wollte den ganzen Mist, der sich in der Haft angesammelt hatte, in Freiheit nicht mit sich herumschleppen. Nur Pyjama, Waschzeug und ein Hemd zum Wechseln. Morgen konnte er sich neu einkleiden. Wozu brauchte er eigentlich einen Pyjama? Er war doch bei Leila. Endlich wieder eine Frau! Nach zwei Jahren Enthaltsamkeit.

Der Autostrom rauschte lückenlos an ihm vorüber. Hart am Kantstein raste ein Taxi an ihm vorbei. Tenzer wich erschrocken zurück und suchte ungeduldig mit den Augen die Schaufenster auf der gegenüberliegenden Seite ab. Welches war Leilas Geschäft? Das erste neben dem Bäcker? Das war ein Zeitungsladen. War der früher auch schon dagewesen? Er erinnerte sich nicht. Leila hatte ihre Boutique aufgemacht, nachdem er verhaftet worden war, aber sie hatte ihm hundertmal beschrieben, wo sie lag. Es war, als hätte er die Räume schon selbst gesehen, er glaubte auch, sich noch an den Töpferwarenladen, der damals dort gewesen war, zu erinnern. Aber als er hier jetzt stand, um ihn herum das Glitzern von Lichtern und Regen, überanstrengt vom ersten, aufregenden Tag in Freiheit, bedroht und bedrängt von diesen rasenden, viel zu schnell fahrenden Autos, da wußte er überhaupt nicht mehr, in welcher Richtung er suchen sollte. Er trat von einem Bein aufs andere und lief schließlich hinter einem anderen Passanten her, der waghalsig die Straße überquerte. Ein Laster bremste, und schmutziges Wasser spritzte an Tenzers Hosenbeine. Er riß seinen Koffer hoch und hielt ihn schützend vor die Brust. Er wurde angerempelt, achtlos strömten die Leute rechts und links an ihm vorbei. Der Bürgersteig war schmal, Lastminute-Käufer versuchten, noch rasch vor Ladenschluß ihre Einkäufe zu erledigen. Niemand kümmerte sich um einen wie ihn, einen Freigelassenen, einen Menschen, der ganz taumelig und taub war vor Glück.

Und dann stand er plötzlich vor der Boutique. Er preßte die Hände an die Scheibe. Die beiden Schaufenster waren matt erleuchtet. Er sah feine Pullover, elegant an die Wand drapiert, mit Nadeln in Form gezogen. Schmale, lange Röcke, die an Nylonfäden von der Decke hingen. Auf dem Boden lag wie hingegossen ein schwarzes, schmuckloses Kleid. Der Hintergrund der Boutique war dunkel.

Plötzlich fiel Licht in den Ladenraum. Ein schwacher Schein, der aus dem Hinterzimmer kommen mußte. Tenzer trat an die Eingangstür, die sich einen Meter vom Bürgersteig entfernt in einer Nische zwischen den beiden Schaufenstern befand. Die Tür war von der Decke bis zum Boden aus Glas, ohne Rahmen, wie eine Schaufensterscheibe. Sie war schon abgeschlossen. Tenzer legte die Hände auf das kalte Glas, in dem sich die Lichter der Straße spiegelten.

Plötzlich tauchte in dem Lichtkegel im Ladenraum eine Hand auf, die ziellos durch die Luft fuhr. Es war Leilas Hand, ihr schmaler, weißer Arm. Ganz sicher war es ihr Arm. Tenzer begann zu klopfen. Die Glastür war oben und unten fest verriegelt, und ihr Panzerglas schloß den Laden hermetisch von der Straße ab. Tenzer selbst hatte ihr zu dieser Tür geraten und die Prospekte geprüft, die sie ihm in den Knast geschickt hatte. Er kannte jedes Detail in ihrem Geschäft, alles hatte Leila mit ihm durchgesprochen.

Leila tauchte auf, aber sie war nicht allein. Jemand hing an ihr, eine Gestalt ganz in Schwarz. Sie hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt, nein, um den Hals, sie hielt ihren Hals umklammert, sie würgte sie! Leila schien durch den Raum zu segeln, sie ruderte mit den Armen, bis die Gestalt sie zurückriß, wieder ins Hinterzimmer zu ziehen versuchte und Leilas Arme plötzlich schlaff wurden.

Tenzer rüttelte an der Glastür. Er polterte, klopfte, die Glaswand bebte, aber sie hielt stand. Kein Mensch auf der Straße kümmerte sich um ihn. Wie konnte man noch in den Laden gelangen? Gab es einen Hintereingang? Einen Hof? Die Häuserfront schien ohne die kleinste Lücke zu sein, nirgends ein Durchgang, nicht rechts, nicht links vom Haus. Tenzer trat wieder an die Tür, dahinter regte sich nichts. Der matte Lichtschein war erloschen.

Er rannte bis zur nächsten Straßenmündung, das war die Bornstraße. Auch hier keine Lücke, alles Stein. Dann ein Baugerüst. Tenzer kletterte über den Zaun, versank in schlammigem Grund. Baumaschinen versperrten ihm den Weg. Lief da nicht jemand im Dunkeln? Bewegte sich etwas?

Der Straßenlärm wurde leiser, aber Tenzer hörte keinen Schritt, alles um ihn herum war in trübes, gelbes Licht getaucht. Er spürte, wie seine Schuhe im Matsch versanken. Nur wenige Fenster der Häuser vom Grindelhof waren erleuchtet.

Tenzer hastete über die Baustelle. Am Ende wurde sie von einer drei Meter hohen Bretterwand abgesperrt. Er riß sich Holzsplitter in die Hände, fand wie durch ein Wunder eine Tür, warf sich gegen sie. Sie war offen. Sie führte auf einen engen Hof, der nach links abknickte. Dort stolperte er über Mülltonnen und Fahrräder. Weiter ging es in den nächsten Hof, eine breite Passage führte in eine Tiefgarage. Gegenüber stand eine Tür offen.

Tenzer betrat einen gekachelten Flur. Seine Schuhe hinterließen eine dicke Schlammspur mit dem Relief seiner Schuhsohlen. Es war ihm gleichgültig. Er stieß eine Tür auf, die nur angelehnt war. Vom Hof fiel gelbes Licht ins Zimmer. Im Halbdunkel sah er ein Gesicht leuchten, es war Leilas Gesicht. Sie lag über einem Stuhl wie eine dunkle Kleiderpuppe. Ihre weißen Arme hingen bis auf den Boden herab. Ihre halblangen, blonden Haare fielen strähnig über das Gesicht. Ihre Augen waren offen. Sie war tot.

Tenzer hob die Hände. Er wollte sie berühren, aber seine Hände waren voll Lehm und Dreck. Blut tropfte von seinem Daumen. Dann sprang die Lichtanlage im Hausflur mit einem lauten Knall an und beleuchtete vom Flur her das Hinterzimmer. Von oben polterten Schritte über die Treppe, Stimmen kamen näher.

Fluchtartig verließ Tenzer das Haus.

Kapitel 2

»Jetzt ist Frau Hinz in der Leitung, guten Morgen, Frau Hinz. Was können wir für Sie tun?«

»Guten Morgen, Frau Meier-Lehnhoff, ich höre immer Ihre Sendung, und ich muß Ihnen einmal sagen, daß die mir ganz besonders gut gefällt. Das wollte ich Ihnen nur mal sagen und mich bedanken, bei Ihnen und auch bei Ihrem Team.«

»Danke, Frau Hinz, das hören wir natürlich gern. Haben wir Ihnen denn schon irgendwann helfen können?«

»Ja, das war letztes Jahr im Herbst, da suchte ich eine bestimmte Schallplatte, also, die habe ich wirklich überall gesucht, in allen An- und Verkaufsgeschäften ...«

»Und wir haben sie gefunden, freut mich, Frau Hinz. Dann ...«

»... es handelte sich dabei um die Filmmusik zu dem Film ›Mein Herz ruft immer nur nach dir‹ von neunzehnhundertvierunddreißig. Die Mutter meiner Freundin hat diesen Film so sehr geliebt, daß sie ihre Tochter, also meine Freundin, nach der Heldin des Films Marita getauft hat. Und nun wollten wir für die Beerdigung der Mutter der Freundin ...«

»Tomkin? Kannst du das nicht mal leiser stellen? Ich kann mein eigenes Wort nicht verstehen.«

Marie Maas wanderte mit dem Telefon über den Flur, aber die Schnur erlaubte ihr nicht, mit dem Apparat im Schlafzimmer zu verschwinden. Sie war fast über die ganze Länge zu hartnäckigen Schleifen und Windungen aufgedreht und dadurch von ursprünglich sechs Metern Länge auf knappe zwei Meter geschrumpft.

»Mit wem telefonierst du eigentlich?« fragte Tomkin. »Doch nicht etwa mit dem Büro?«

»Mach doch bitte das Radio leiser, mein Goldstück«, flüsterte Marie Maas, die Hand auf der Sprechmuschel.

Tomkin verschwand in der Küche, drehte das Kofferradio leiser und beugte sich mit dem Ohr ganz dicht an den Apparat. Frau Hinz war inzwischen von Frau Meier-Lehnhoff aus der Leitung katapultiert worden, und es sprach Frau Buchholz, die ein Dirndl für ihren Sohn suchte, der leidenschaftlich gern Theater spielte und Regie studieren wollte. Größe zweiundvierzig aufwärts, mit großer Oberweite. Aus Langeweile schrieb Tomkin die Telefonnummer mit: 58 32 72. Am liebsten würde er mal anrufen, nur so, aus Langeweile.

»Wollten wir nicht einkaufen gehen, heute morgen?« fragte er, als Marie in der Küche erschien.

»Was willst du denn mit einem Dirndl?«

»Vielleicht habe ich eins anzubieten?«

»Tomkin, ich muß ...«

»Das ist die beste Sendung des NDR. Hör mal ... hier, der sucht ... Schutzblechfiguren.« Tomkin sprach das Wort aus wie eine hebräische Vokabel. »Was ist das denn?«

»Tomkin, es brennt. Ich muß noch mal weg. Kannst du das verkraften?«

Tomkin stellte das Radio lauter und begann den Frühstückstisch abzuräumen. Wie üblich war er Freitagabend aus London rübergekommen, in der Hoffnung auf ein ruhiges Wochenende voller Zweisamkeit, und wie immer wurde Marie abberufen. Immerhin hatte sie ihn diesmal pünktlich vom Flughafen abholen können und war von dort aus direkt zu ihrem Lieblingsgriechen am Eppendorfer Weg kutschiert. Die Nacht hatten sie ebenfalls ungestört zusammen verbringen dürfen: Tomkin hatte eine Flasche schottischen Whisky für sich und für Marie eine Flasche Portwein aus dem Duty-free-Shop mitgebracht. Sich abwechselnd gegenseitig die Gläser füllend, hatten sie bis in die Morgenstunden geredet. Als hätten sie nicht wie immer in den Wochen ihrer räumlichen Trennung täglich miteinander telefoniert. Aber ein leibhaftiges Gespräch war eben doch etwas anderes. Schließlich hatte Tomkin ihr noch den Anfang seines ersten Hörspiels vorgelesen, wobei Marie Maas sofort eingeschlafen war. Er nahm ihr das nicht übel. Schließlich war es drei Uhr morgens, Marie hatte einen langen Arbeitstag hinter sich gehabt und er einen anstrengenden kreativen Schub. Sogar das Frühstück hatten sie noch gemeinsam geschafft: frische Hamburger Rundstücke, noch warmer Schweinebraten mit Kruste, den Marie extra für ihn vom Schlachter an der Wrangelstraße holte, und für jeden einen halben geräucherten Bückling.

Man durfte nicht unbescheiden sein, wenn man mit einer Kriminalhauptkommissarin befreundet war.

»Ich ruf dich an«, sagte Marie Maas und drückte Tomkin einen Kuß auf die unrasierte Wange. »Bis später.« Sie zeigte auf das Kofferradio, zog eine Grimasse und ließ die Haustür hinter sich ins Schloß fallen.

»Am Hörertelefon begrüßen wir jetzt Herrn Panther, der eine manuelle Schreibmaschine zu verschenken hat und gleichzeitig Videoaufzeichnungen der Serie ›Unsere kleine Farm‹ sucht.« Die Stimme von Frau Meier-Lehnhoff fesselte Tomkin aufs Neue, und er sank mit Papier und Bleistift in der Hand auf einen Küchenstuhl.

***

»Wer hat die Leiche gefunden?« fragte Marie Maas. »Und wann?«

Kriminaloberkommissar Karsten Scholz blätterte in seinen Notizen. Er hatte Bereitschaftsdienst und war darum als erster benachrichtigt worden. Nachdem er den Tatort in Augenschein genommen hatte, hatte er seine Chefin angerufen.

Das Hinterzimmer der kleinen Kleiderboutique am Grindelhof sah bis auf die schmutzigen Fußabdrücke auf dem Dielenboden und ein paar dunkle Blutstropfen neben der Tür unversehrt aus. Bis auf den Leichnam der Frau natürlich, der abgelegt wie ein leeres Kleidungsstück über einem Stuhl hing. Die Tote trug ein ärmelloses, wadenlanges schwarzes Kleid. Neben der Nähmaschine rechts von ihr lag eine kurze passende Jacke, an der eine Nadel am langen Faden hing. Offenbar war sie gerade dabei gewesen, an der Jacke zu nähen, als ihr Mörder sie überraschte. Die Tür auf der Rückseite des Zimmers führte über einen kurzen Flur auf den Hof, das Tageslicht fiel grau und milchig durch das Fenster über dem Schreibtisch. Der Hof endete an einer langen Bretterwand, die eine Baustelle verdeckte.

»Gudrun März, Studentin. Sie half Frau Rolf im Laden. Sie wartet auf uns im Café Neumann hier nebenan. Sie war gegen halb zehn Uhr hier. Um zehn sollte der Laden aufgemacht werden. Sie wunderte sich, daß Frau Rolf noch nicht da war und die Ladentür verschlossen, und ist dann hinten herumgegangen. Man kann von der Grindelallee aus durch die Tiefgarage in den Hinterhof gelangen. Die Hintertür zum Laden war nur angelehnt.«

»Ist der Dreck hier von ihr?« frage Marie Maas. »Aber nein, der sieht älter aus.«

»Der Mörder muß über die Baustelle gekommen sein. In der Tiefgarage ist es ganz sauber. Es gibt eine Tür im Bauzaun, die vom Hof auf die Baustelle führt.«

»War Dr. Salz schon hier?«

»Ja. Die Frau ist erwürgt worden. Der Kehlkopf ist eingedrückt. Todeszeitpunkt vermutlich gestern Abend zwischen siebzehn und einundzwanzig Uhr. Genaueres nach der Obduktion.«

Spurensicherung?«

»Ist unterwegs.«

»Und wer ist die Tote?«

»Frau März hat die Tote identifiziert. Es handelt sich um ihre Chefin, Frau Leila Rolf, vierunddreißig oder fünfunddreißig Jahre alt, Geschäftsinhaberin und Schneiderin. Soweit Frau März feststellen konnte, fehlt im Laden nichts.«

»Ein Verrückter«, murmelte Marie Maas.

Karsten Scholz zuckte die Achseln und ging zur Ladentür. Von innen im Schloß der Glastür steckte ein großer Schlüsselbund und klapperte, als er die Tür öffnete und die beiden Männer in den weißen Schutzanzügen der Spurensicherung eintreten ließ.

»Am besten gehen wir jetzt rüber in das Café und lassen die Kollegen in Ruhe arbeiten. Ich habe nämlich noch nicht gefrühstückt. Morgen, Herr Hillmann, Morgen, Herr Pump. Wir sind zwei Türen weiter; wenn Sie fertig sind, geben Sie uns Bescheid.«

Marie Maas ließ ihren Blick durch das Hinterzimmer schweifen. An einer Pinnwand über dem Schreibtisch, der sich unter aufgeschlagenen Aktenordnern, Prospekten und Buchhaltungsbelegen bog, hing ein kleines Foto, mit Stecknadeln an allen vier Ecken sorgfältig angepinnt. Es zeigte einen attraktiven Mann mittleren Alters mit feinen, etwas angespannten Gesichtszügen. Das volle Haar war sehr kurz geschnitten, nicht besonders modisch. Im Hintergrund sah man eine Wiese, einen Sportplatz, eine Mauer. Marie Maas nahm das Foto ab und steckte es in ihre Handtasche. So ähnlich sahen die Fotos aus, die die Häftlinge in Hamburg-Fuhlsbüttel für ihre Angehörigen machen ließen. Dies war nicht Fuhlsbüttel, das hätte sie erkannt. Aber es war ein Knastfoto, das war sicher.

Bei Café Neumann im Grindelhof standen zwei lange Schlangen. Sieben Personen warteten darauf, am Kaffee- und Frühstückstresen bedient zu werden, während die einzigen beiden Verkäuferinnen langsam und unbeholfen die noch längere Schlange am Brot- und Kuchentresen abfertigten. Marie Maas reihte sich am Kaffeetresen ein. Karsten Scholz bestellte für sich zwei belegte Brötchen und verschwand drei Stufen hoch im Gastraum. Als die Kommissarin endlich drankam, waren beide Schlangen verschwunden. Sie war die letzte Kundin, die sich im Laden befand.

»Die sind schrecklich langsam hier, heute jedenfalls«, sagte Gudrun März, als sie endlich mit ihrem Kaffee und Karstens belegten Brötchen in dem verräucherten Café erschien.

Gudrun März sah überhaupt nicht aus wie eine Studentin, stellte Marie Maas fest. Jedenfalls nicht so, wie die Studentinnen zu ihrer Zeit ausgesehen hatten. Sie war sorgfältig gekleidet. Sie trug einen kurzen, flauschigen Pulli in Apricot, der ihre schmalen Hüften betonte. Schwarze weite Hosen, schwarze Stiefeletten, Hände und Dekolleté ohne Schmuck. Ihr dunkelbraunes Haar hatte einen Stich ins Rötliche. Es sah natürlich aus, vielleicht war es aber auch nur besonders geschickt getönt.

»Frau Rolf hat auch immer über den Laden geschimpft«, fuhr sie fort. »Außer wenn Emina da ist. Die ist flink. Ansonsten wechselt die Belegschaft ständig, und die Neuen werden nie richtig eingearbeitet. So etwas könnten wir uns nicht leisten in unserem Geschäft«, konstatierte sie.

»Haben Sie auch so viel Kundschaft?« fragte die Kommissarin.

»Nein, natürlich nicht. Aber an manchen Tagen ist schon viel los. Besonders jetzt vor Weihnachten. Wir haben vor allem Stammkundschaft. Frau Rolf bietet immer an, kleine Änderungen kostenlos zu machen. Vielmehr, sie bot es an. Vor allem den älteren Kundinnen. Aber dann hat sie auch die halbe Nacht an der Nähmaschine gesessen und geflickt. Sie haßte das. Mein Gott, ich kann es noch gar nicht begreifen. Was wird denn jetzt aus dem Laden?« »Das wird sich alles finden. Wann hat Frau Rolf normalerweise abends den Laden verlassen?«

»Eigentlich um halb sieben, sieben Uhr. Um sechs Uhr machte sie zu. Und dann, je nachdem ob sie noch dekorieren oder nähen mußte, blieb sie länger. Sie wohnte ja gleich um die Ecke.«

»Wissen Sie, wann sie gestern abend Schluß machen wollte?«

»Nein. Freitag war ich nicht im Geschäft. Ich habe nur samstags ausgeholfen und Mittwoch morgens. Damit sie Besorgungen machen konnte. Manchmal bat sie mich auch zu extra Terminen, wenn sie zum Beispiel zu einer Modenschau mußte oder verreisen wollte.«

»Verreiste sie häufig?«

»Nein. Vielleicht einmal im Monat. Ich arbeite ja erst seit Februar bei ihr. Vorher hat sie den Laden ganz allein geschmissen. Nur bei der Buchhaltung hat ihr ihre ehemalige Schwägerin geholfen.«

»Wohin reiste Frau Rolf, wenn sie wegfuhr?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie hatte einen Freund, der irgendwo in Süddeutschland lebt. Sie besuchte ihn wohl am Wochenende und fuhr dann schon Freitag Abend los.«

Marie Maas nahm das Foto aus der Tasche und legte es auf den Tisch.

»Ist das vielleicht der Freund von Frau Rolf?«

»Ich glaube schon«, sagte Gudrun März und wurde ein bißchen rot. Offenbar hatte sie sich das Foto auch schon angesehen, dies aber als Eindringen in die Intimsphäre ihrer Chefin betrachtet.

»Hat Frau Rolf nie von ihm erzählt?«

»Nein. Sie war sehr diskret, was Privatsachen anging.«

»Was für ein Mensch war sie? War sie eine gute Chefin?«

»O ja, sie war sehr nett. Sehr korrekt. Vielleicht ein bißchen spröde.« Gudrun März drehte ihren leeren Kaffeebecher in den Händen. »Und jetzt ist sie tot. Warum?« »Das werden wir herausfinden. Was studieren Sie, Frau März?«

»Betriebswirtschaft. Ich bin erst im dritten Semester. Ich habe nach der Schule erst mal eine Banklehre gemacht. Sie denken vielleicht, ich bin gar nicht traurig über ihren Tod. Aber das stimmt nicht, ich kann es nur noch nicht fassen. Ich komme mir vor wie in einem Theaterstück. Es tut mir aber sehr, sehr leid. Ich habe sie gern gehabt. Sie war so unkompliziert.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie machte nicht gleich ein Problem aus allem. Und sie behielt immer die Ruhe. Egal, was passierte.«

»Was ist denn zum Beispiel passiert?«

»Nichts Besonderes, eigentlich. Aber wenn zum Beispiel Mahnungen kamen. Einmal kam auch ein Gerichtsvollzieher. Da hat sie nur einen Scheck ausgestellt und ihm Kaffee angeboten. Sie war Finnin, vielleicht sind die ja so.«

Karsten Scholz nickte.

»Kann schon sein.«

»Hatte sie oft Probleme mit ihren Rechnungen? Mit ihrem Geld?« fragte die Kommissarin.

»Ehrlich gesagt, ich glaube schon. Aber sie sprach eben nicht darüber. Machte einfach kein Problem daraus. Und irgendwie kam sie auch immer durch. Mir hat sie jedenfalls immer pünktlich meinen Lohn gezahlt.«

»Hatte sie manchmal große Geldbeträge im Laden?«

Gudrun März schüttelte den Kopf.

»Nein, nie. Die Tageseinnahmen lagen selten über tausend Mark. Wenn sie am Morgen einmal viel verkauft hatte, brachte sie das Geld in der Mittagspause weg.«

»Wohin?«

»Zur Bank, nehme ich an.«

»Die Kasse ist nicht aufgebrochen worden. Es sind knapp dreihundert Mark drin ...«, warf Karsten Scholz ein.

»Das ist das Wechselgeld. Das ließ sie jeden Abend in der Kasse«, sagte Gudrun März.

»... und in ihrem Portemonnaie in der Handtasche an der Garderobe sind etwa zweihundert Mark«, beendete Karsten Scholz seinen Bericht. »Genau habe ich noch nicht nachgezählt.«

»Könnte der Mörder etwas anderes als Geld gesucht haben?«

»Keine Ahnung«, sagte Gudrun März. »Wirklich, ich kann es mir nicht vorstellen. Vielleicht weiß Frau Rolf mehr, ihre Schwägerin. Oder ihr Exmann. Stimmt es übrigens, daß er Richter ist?«

Marie Maas stand auf.

»Das wissen wir noch nicht, Frau März. Wir sind ja zur Zeit noch weniger informiert als Sie. Bitte rufen Sie uns an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Egal, zu welcher Tageszeit. Und gehen Sie jetzt bitte nach Hause. Das Geschäft wird vorerst geschlossen und versiegelt werden.«

Die junge Frau erhob sich und verabschiedete sich von ihnen. Marie Maas trat hinter Karsten Scholz aus dem Café.

»Wir werden den Laden beobachten. Für den Fall, daß der Mörder gestört wurde und noch einmal zurückkommt. Die offene Hintertür spricht dafür. Was meinst du, Karsten?«

»Unbedingt«, sagte Karsten Scholz. Er hatte das Wochenende sowieso schon abgeschrieben. Mit Bedauern hörte er, wie das Café hinter ihnen abgeschlossen wurde.

Kapitel 3

›Dear Matthias. Big trouble. Shipment not ok. Buyer refuses to accept consignment. Vessel confined to harbour. Please advise. Dietzen informed. Captn Stuhlmann.‹