Tote tanzen keinen Walzer - Lotte Minck - E-Book

Tote tanzen keinen Walzer E-Book

Lotte Minck

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Beschreibung

Das große Finale: Bärbel und Frank heiraten! Und weil laut Frank "auf 'ne ordentliche Hochzeit" getanzt wird, muss Loretta mit ihren Freunden die Schulbank drücken – genauer: die Tanzschulbank. Wider Erwarten machen ihr die Tanzstunden Spaß – bis einer der Teilnehmer beim Foxtrott erschossen wird. Ehrensache, dass das Ermittlerdreamteam im Finale Grande noch einmal alles gibt, um zwischen eifersüchtigen Ex-Formationstänzern und vermeintlichen Erbschleicherinnen den wahren Täter zu finden …

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»Du kannst den Menschen aus dem Ruhrpott holen, aber niemals den Ruhrpott aus dem Menschen«, sagt Lotte Minck, und sie muss es ja wissen: 1960 im Schatten der Zeche General Blumenthal in Recklinghausen geboren, war sie viele Jahre in Bochums Veranstaltungs- und Medienbranche tätig. Nach 50 Jahren im turbulenten Ruhrgebiet entschied sie sich fürs andere Extrem: Heute lebt sie an der friesischen Nordseeküste, wo sieben Autos an einer Ampel bereits als Stau gelten.

Ihre Heldin Loretta Luchs und alle Personen in Lorettas Universum sind eine liebevolle Huldigung an Lotte Mincks alte Heimat.

Besuchen Sie Lotte Minck im Internet:

www.lovelybooks.de/autor/Lotte-Minck/

www.roman-manufaktur.de

www.lotteminck.de

Ruhrpott-Krimödien mit Loretta Luchs bei Droste:

Radieschen von unten

Einer gibt den Löffel ab

An der Mordseeküste

Wenn der Postmann nicht mal klingelt

Tote Hippe an der Strippe

Cool im Pool

Die Jutta saugt nicht mehr

Voll von der Rolle

Mausetot im Mausoleum

3 Zimmer, Küche, Mord

Darf’s ein bisschen Mord sein?

Ringelpietz mit Abmurksen

Schach mit toter Dame

Ein Männlein liegt im Walde

Ruhrpott-Krimödien mit Stella Albrecht bei Droste:

Planetenpolka

Venuswalzer

Sonne, Mord und Sterne

Lotte Minck

Tote tanzen keinen Walzer

Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs

Droste Verlag

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf

Umschlaggestaltung: Droste Verlag unter Verwendung

einer Illustration von Ommo Wille, Berlin

eISBN 978-3-7700-4183-1

E-Book-Konvertierung: Bookwire Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

www.droste-verlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog – einige Zeit später

Kapitel 1

Ein inniger Wunsch von Freunden, den Loretta beim besten Willen nicht abschlagen kann – Hauptsache, Dennis trägt kein transparentes Hemd

Dieser Spätsommerabend zog alle Register. Nach der Hitze des Tages herrschten endlich angenehme Temperaturen, ein laues Lüftchen ließ die farbenfrohen Lampions über uns sanft schaukeln, und es duftete nach Blumen um uns herum. Im letzten Sonnenlicht schwirrten unzählige Pollentransporter summend umher und sammelten die letzte Ernte des Tages ein. Gemeinsam mit dem Amselmann, der im Gipfel eines Baumes eine melodische Serenade tirilierte, lieferten sie den typischen Soundtrack des Sommers.

Bärbel und Frank hatten zu einem gemütlichen Beisammensein eingeladen. Bärbels Fruchtbowle, die reichlich Umdrehungen hatte, schmeckte köstlich. Bis zu meiner Wohnung waren es für Dennis und mich nur wenige Gehminuten; Doris und Erwin waren mit dem Taxi gekommen – niemand sollte noch Auto fahren müssen, hatte Bärbel gesagt.

Natürlich hatte es jede Menge Schmackofatz vom Grill und aus diversen Salatschüsseln gegeben. Mittlerweile war der Tisch auf der Terrasse bis auf unsere Gläser abgeräumt, und wir waren leicht angeschickert und pappsatt. Alle waren angenehm entspannt.

Alle bis auf Frank, der auf seinem Stuhl herumrutschte und immer wieder seine Liebste anblickte, als würde er auf etwas warten. Bereits mehrmals im Laufe des Abends hatte sie in seine Richtung kaum sichtbar den Kopf geschüttelt, aber ich hatte es dennoch bemerkt. Frank brannte darauf, uns irgendwas zu verkünden, das war sonnenklar. Ob Bärbel schwanger war? Obwohl – nein, das war unwahrscheinlich, denn sie hatte von der Bowle getrunken.

»Frank platzt gleich«, raunte Dennis mir zu.

Im nächsten Moment gab Bärbel ihrem zappeligen Liebsten ein Zeichen, und der sprang sofort auf und schoss in die Küche. Durch die Terrassentür hörten wir etwas, das nach Gläserklirren klang, dann folgte ein undefinierbares Klimpern. Unsere fragenden Blicke beantwortete Bärbel mit einem feinen Lächeln, das nicht gerade viel verriet.

Dann tauchte Frank wieder auf, und zwar im Schleichgang. In einer Hand hielt er einen mit Eiswürfeln gefüllten Sektkübel – aha, das undefinierbare Klimpern. Aus ihm ragte eine Flasche, die verdächtig nach Champagner aussah. Mit der anderen balancierte er ein Tablett, auf dem sechs filigrane, langstielige Gläser aneinanderklirrten.

Unschlüssig blieb er am Tisch stehen; offenbar war er sich unsicher, ob er die kostbare Fracht der linken oder der rechten Hand zuerst abstellen sollte.

Doris erbarmte sich. »Gib mal her, mein Junge.« Sie stand auf, nahm ihm sanft das Tablett aus der verkrampften Hand und platzierte es vor ihm auf den Tisch.

Sie setzte sich wieder, und Erwin fragte: »Champagner? Haben wir etwas zu feiern?«

Frank nickte strahlend. »Jawoll, dat hamwa!« Er riss die Flasche aus dem Kübel, was feinen, eiskalten Sprühnebel über uns verteilte. »Schampanja für alle!«

Plopp. Der Korken verließ den Flaschenhals, und kein Tröpfchen der kostbaren Flüssigkeit lief heraus. Um ehrlich zu sein: Bei Frank hätte ich eher mit einer meterhohen Schaumfontäne gerechnet. Deutlich weniger geschickt war Frank allerdings beim Füllen der Gläser. Fasziniert verfolgte die Runde am Tisch seine Bemühungen, trotz zitternder Hand möglichst wenig zu verplempern.

»Und jetzt stoßen wa an«, sagte er schließlich und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Du auch, Loretta. Auch wennde dat Prickelzeuch einklich nich leiden kannz.«

»Mit größtem Vergnügen, mein Lieber.« Ohne Widerspruch nahm ich mir wie die anderen ein Glas. »Aber worauf stoßen wir an?«

»Na, auf meine Süße und mich«, gab er in einem Ton zurück, als hätte ich die dämlichste Frage der Welt gestellt.

»Was wir jederzeit gerne tun«, sagte Doris. »Aber es gibt doch sicherlich einen bestimmten Grund, oder?«

»Was mein Freund euch sagen will«, erläuterte Bärbel lächelnd, »ist Folgendes: Frank hat mir einen Antrag gemacht, und ich habe angenommen. Wir werden heiraten.«

»Das wurde aber auch langsam mal Zeit.« Doris nickte und hob ihr Glas. »Meine herzlichsten Glückwünsche!«

Alle redeten durcheinander, gratulierten dem glücklichen Paar, stießen an und ließen sie hochleben.

»Gibt es schon einen Termin?«, fragte ich, als sich die allgemeine Aufregung wieder gelegt hatte.

Bärbel schüttelte den Kopf. »Noch keinen genauen. Wir wollen sowieso keinen großen Aufriss machen. Standesamt und dann eine kleine Feier mit Freunden.«

»Genau. Sowat wie dat hier heute Aahmd.« Frank schwenkte sein halb leeres Glas in unsere Richtung. Der Rest seines Champagners schwappte heraus und prickelte auf dem Tisch munter vor sich hin. »Schön zusammenhocken, lecker wat schnabuliern, lecker wat trinken. Nur mit unsere besten Freunde. Also ihr. Und Diana und Okko, natürlich. Vielleicht auch ’n bissken dat Tanzbein schwingen … Walzer und sowat. Dat macht man doch auf ’ne ordentliche Hochzeit, oder?«

Das Tanzbein schwingen? Walzer? An dieser Stelle war ich raus. Tanzen gehörte nicht zu meinen Kernkompetenzen. Okay, früher war ich in dunklen Discos auf der Tanzfläche herumgespackt, wenn Alkohol mich enthemmt hatte. Aber Walzer? Oder gar andere Standardtänze? Das hatte ich nie gelernt. Und ich hatte auch nicht vor, das nachzuholen.

»Oh, darauf freue ich mich. Hm-tata, hm-tata …« Mit geschlossenen Augen summte Doris eine walzerartige Melodie, zu der sie sich verzückt wiegte.

Logisch, dass sie sich freute: Ich hatte sie und ihren Erwin schon so manchen flotten Discofox aufs Parkett legen sehen. Wo und wann immer tanzbare Musik ertönte, hielt es sie nicht auf ihren Stühlen.

Dennis ging deutlich pragmatischer an die Sache heran. »Gibt es etwas, das ihr gerne hättet, euch aber nicht leisten wollt?«, fragte er Bärbel und Frank. »Wir könnten euch einen Wunsch erfüllen, egal was.«

Das glückliche Paar tauschte einen verschwörerischen Blick, dann erwiderte Bärbel mit Blick auf mich: »Wir haben tatsächlich einen Wunsch, den ihr uns keinesfalls abschlagen dürft.«

Ein kleines Alarmglöckchen bimmelte in meinem Kopf. Ein Wunsch, den wir ihnen nicht abschlagen durften, das weckte mein Misstrauen. Das klang nach etwas, das wir normalerweise nicht tun würden. Sie hatte mich dabei angesehen. Also war es etwas, das speziell ich nicht tun würde. Jedenfalls nicht freiwillig. Ein gemeinsamer Fallschirmsprung? Bergsteigen in Südtirol? Ein Rucksack-Urlaub in Alaska?

Oder ging es gar um ein kitschiges, rüschenbesetztes Kleid, das ich tragen sollte? Es sollte ja Leute geben, die sich auch fürs Standesamt nach allen Regeln der Hochzeitskunst aufdonnerten. Hilfe – gehörte Bärbel etwa zu den Frauen, die sich eine Prinzessinnen-Hochzeit wünschten? Auch im kleinen Kreis konnte die Braut ein pompöses Kleid mit einer Krinoline tragen, unter der dann im Notfall locker sämtliche Gäste Unterschlupf fanden. Falls es regnete oder so. Bisher hatte ich mich nicht mit ihr darüber ausgetauscht, also war es eine mögliche Option.

»Dürfen wir jetzt schon wissen, um welchen Wunsch es sich handelt?«, fragte Erwin.

»Das müsst ihr sogar«, sagte Bärbel, »denn es handelt sich um eine Vorbereitung für die Hochzeit.«

Vorbereitung für die Hochzeit? Es wurde immer geheimnisvoller.

»Wartet, ich geb euch ’nen Tipp«, rief Frank und sprang auf.

Staunend verfolgten wir seine Vorführung, die aus einer bizarren Mischung aus ungelenken Balletthopsern und einer Art mittelalterlichem Schreittanz bestand. Oder ahmte er einen Vogel bei der Balz nach?

Nach einer wackeligen Pirouette sah er uns gespannt an. »Na? Wisster schon?«

Allgemeines Kopfschütteln.

»Ihr seid doch sonz nich so schwer von Kapee! Wat is denn heute los mit euch? Ich sach euch, wat wir wolln: Wir gehen alle zusammen inne Tanzschule! Und da lernen wir Walzer und Tango und allet, wat man so braucht. Dat wird super! Ab demnächs ham wir eima inne Woche wat Superschönet vor! Zusammen! Na?«

»Seit der Tanzschule damals habe ich keine Standardtänze mehr praktiziert«, tirilierte Doris mit verklärtem Blick. »Bestimmt habe ich alles verlernt, ist ja schon tausend Jahre her.«

Tanzschule … Daran hatte ich nicht die allerbesten Erinnerungen. Ich war hingegangen, weil alle es getan hatten, und war in einen Kurs ganz alter Schule geraten. Soll heißen: die Mädchen auf der einen Seite, die Jungs auf der anderen. Mir erging es dort wie dem pummeligen Kind beim Sportunterricht, das bei der Mannschaftswahl immer bis zum Schluss übrig bleibt und dann in irgendein Team gehen muss, in dem dann alle demonstrativ seufzen und mit den Augen rollen.

In der Tanzschule war ich die Einzige, die sich nicht aufgedonnert hatte, um den Jungs zu gefallen – und überdies die mit der dicken Brille. Wenn also die Jungs die Mädchen auffordern sollten, entstand um mich herum ein großes Vakuum, beinahe so, als sei ich gar nicht anwesend. Ergebnis: In einer Art erzwungener Solidargemeinschaft tanzte ich stets mit dem Jungen, der bei der Damenwahl nie eine abkriegte. Tommy hieß er, und tatsächlich verstanden wir uns ziemlich gut, wenn ich mich recht erinnerte. Wie das halt so ist unter Ausgestoßenen.

»Du warst also mal in der Tanzschule?«, fragte ich Doris. »Freiwillig?«

»Kindchen, in meiner Generation machte man das automatisch. Teenager gingen zur Tanzschule, das war halt so. Die Jungs auf der einen Seite, die Mädchen auf der anderen, alle total schüchtern … Nicht wenige Ehen sind so entstanden. Wir hatten ja sonst auch kaum Möglichkeiten, uns kennenzulernen.«

»Bestimmt wollten alle Jungs nur mit dir tanzen, mein Täubchen«, schmalzte Erwin und blickte seiner Liebsten tief in die Augen.

»Darauf kannste aber einen lassen«, erwiderte Doris und hob ihr Glas. »Deshalb: vielen Dank, Bärbel und Frank, für diese tolle Idee! Prost!«

In die jubelnden Hochrufe von Doris, Erwin und Dennis konnte ich nur mit größter Überwindung einstimmen. Und das auch nur, um Bärbel und Frank nicht zu enttäuschen.

Mit meinem pseudobegeisterten Lächeln sah ich vermutlich aus wie Pennywise, der irre Horrorclown.

»Man hat es mir doch nicht angesehen?«, fragte ich Dennis später zuhause.

»Was? Dass du am liebsten schreiend weggerannt wärst?«, rief er aus der Küche. »Also, ich habe es gemerkt. Du solltest beten, dass Bärbel und Frank es nicht mitgekriegt haben.«

»O Gott.« Ich stöhnte. »Hoffentlich nicht. Ich will ihnen auf keinen Fall den Spaß verderben.«

Dennis brachte zwei Becher Kakao zum Sofa, auf dem ich mich ausgestreckt hatte. Er gab mir einen, stellte den zweiten auf dem Sofatisch ab und bückte sich nach Baghira, der neugierig herankam, um uns zu begrüßen. Dennis hievte den 7-Kilo-Kater hoch und tanzte summend mit ihm durchs Zimmer. Der überrumpelte Baghira hing wie ein nasser Sack auf Dennis’ Arm. Seine weit aufgerissenen Augen flehten um Hilfe und Erlösung von dem Übel, das ihm gerade widerfuhr. Zumindest bildete ich mir das ein.

»Wenn du nicht willst, dass er dich vollkotzt, hör lieber damit auf, du Tierquäler«, sagte ich. »Es reicht gerade, dass wir tanzen müssen. Kein Grund, den Kater da mit reinzuziehen.«

Dennis setzte Baghira ab, der sofort auf seinen Kratzbaum flüchtete. »Tanzen gehört zu den ältesten Vergnügungen der Menschheit«, erwiderte er. »Schon die Neandertaler schwoften ums Lagerfeuer.«

»Sagt wer?«, fragte ich. »Gibt es Augenzeugen? Nicht, dass ich wüsste.«

»Vielleicht nicht, aber Archäologen haben in einer Höhle im Schwabenländle eine Flöte aus Mammutelfenbein gefunden, liebste Freundin. Mammutelfenbein. Das Ding ist deutlich älter als 30.000 Jahre, stammt also aus der Eiszeit. Und warum haben die sich Flöten geschnitzt? Vielleicht aus Langeweile? Um dann sinn- und zwecklos damit herumzufiepen?« Dennis schüttelte den Kopf. »Mitnichten, denn wo Musik ist, da ist auch Tanz. Das ist ein Naturgesetz.«

»Dann ist es eines, das für mich nicht gilt«, gab ich patzig zurück.

»Rutsch mal.« Dennis ließ sich neben mich aufs Sofa fallen und griff nach seinem Becher. »Ich verstehe sowieso nicht, warum du dich so anstellst. Wochenlang hast du mich gezwungen, mit dir zusammen jede verdammte Folge von dieser Tanzshow anzugucken. Wie heißt die noch mal?«

»Let’s Dance«, brummte ich und nippte an meinem Kakao.

»Genau. Woher also kommt deine Faszination für diese Sendung, wenn du Tanzen so sehr hasst?«

»Weil ich mir schön gemütlich vom Sofa aus angucken kann, wie andere Leute sich abrackern.«

Dennis zuckte mit den Schultern. »Wenn es dir nur darum ginge, könntest du dir genauso gut ein Fußballspiel reinziehen. Oder die Tour de France, die Jungs müssen richtig ackern. Nee, nee, ich glaube, in Wirklichkeit stehst du auf diesen übertriebenen Glitzer. Und in deinen superdupergeheimen Fantasien würdest du eigentlich auch gerne so tanzen können, weil du es toll findest.«

»Mumpitz. Die Kleider finde ich total affig. Bäh, und diese halbtransparenten Hemden bei den Kerlen, schrecklich. Ich will keine Brustwarzen von Männern sehen, die durch zartes Gewebe schimmern. E-kel-haft. Du musst mir schwören, dass du niemals so ein Hemd anziehst.«

Der Blick, mit dem er mich bedachte, ließ einige Alarmglocken schrillen. Aber nein – nicht einmal Dennis würde sich trauen, mit so einem Fetzen auf der Hochzeit unserer Freunde aufzukreuzen. Trotz seiner Vorliebe für exzentrische Kleidung aus den Siebzigern.

»Und wie diese Gockel beim Pasodoble herumstolzieren!«, fuhr ich fort. »Wie durchgeknallte Stierkämpfer auf Droge. Lächerlich. Du scheinst vergessen zu haben, dass ich mich mit großer Begeisterung darüber lustig gemacht habe.«

»Immerhin weißt du offenbar, was ein Pasodoble ist«, murmelte Dennis in seine Tasse.

Himmel. Jeder, der diese Sendung guckte, wusste das. Ich wusste mittlerweile auch, was eine Samba war. Oder dieser alberne Contemporary, bei dem angeblich ›Gefühle vertanzt‹ wurden und bei dem sich die Protagonisten auf dem Boden herumrollten, und das auch noch barfuß. Es hatte also rein gar nichts zu bedeuten, dass ich es wusste.

»Ich gucke es, weil manche dieser Prominenten vollkommen talentfrei sind und wie Roboter über die Tanzfläche stampfen«, gab ich zurück. »Das amüsiert mich.«

»Dann müsstest du ja eigentlich nur so lange dabeibleiben, bis das Publikum die Roboter rausgekickt hat, denn ohne sie dürfte der Spaß für dich ja vorbei sein. Aber nein, du hast bis zur letzten Zehntelsekunde fasziniert am Bildschirm geklebt. Bis der Gewinner feststand. Und du hast immer Jury gespielt und Punkte verteilt. Ein reines Wunder, dass du nicht auch noch diese Kellen mit Zahlen drauf gebastelt hast. Ich war schon drauf und dran, für dich zehn Tischtennisschläger zu besorgen und mit Ziffern zu bemalen.«

Ach, tatsächlich? Gar keine so schlechte Idee. Dass ich darauf noch nicht selbst gekommen war …

»Keine Sorge, die nächste Staffel gucke ich ohne dich«, blaffte ich.

»Aber darum geht es mir doch gar nicht, Schatz«, erwiderte Dennis. »Es hat mir ja auch Spaß gemacht, sonst hätte ich mir schon etwas einfallen lassen, um es mir nicht angucken zu müssen. Aber ich würde mir wünschen, dass du dich auf unsere Tanzstunden freust.«

Ja, genau. Und vielleicht würde ich mich auch irgendwann über Nieselregen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt freuen. Oder über eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Ohne Narkose. »Kommt vielleicht noch.«

»Überleg doch mal, Loretta: wir beide beim Tango! Mann, das wäre sexy. Leidenschaft, Schmerz und Melancholie, die Widersprüchlichkeit zwischen Mann und Frau. Ich führe dich übers Parkett, du stößt mich heftig weg, ich reiße dich wieder an mich … wie ein erotischer Kampf. Herrlich.«

Verdutzt sah ich ihn an. »Du weißt aber gut Bescheid.«

Dennis zuckte mit den Schultern. »Ich habe halt zugehört, wenn die in der Sendung was über die Tänze erzählt haben, und nicht nur auf die Mattscheibe geglotzt und auf den nächsten Patzer gewartet. Zugegeben, Tanzstunden haben bisher nicht weit oben auf meiner Liste gestanden, aber jetzt fallen sie uns in den Schoß. Meinst du nicht, es könnte dir ein winziges bisschen Spaß machen, mit mir zusammen tanzen zu lernen?«

Immerhin würde ich mit fünf Enthusiasten zusammen diesen Kurs besuchen. Bockig zu sein brachte mich kein Stück weiter. Sollte ich mich vielleicht weigern und damit allen die Suppe versalzen? Ganz bestimmt nicht.

Kapitel 2

Eine informative Vorstellungsrunde in der Tanzschule, die Lorettas Fantasie Amok laufen lässt

Die Tanzschule Helgenberger-Lopez befand sich in einem schmucklosen, zweigeschossigen Flachbau aus den Sechzigern. Die Scheiben der großen, bodentiefen Fenster waren mit lichtdurchlässiger Folie beklebt, die den Blick ins Innere verhinderte, was mich irgendwie erleichterte. Fehlte gerade noch, dass sich während der Tanzstunde draußen auf dem Bürgersteig eine Menschenmenge versammelte, die meine stümperhaften Tanzversuche höhnisch kommentierte oder filmte und später ins Internet stellte.

Innerlich schüttelte ich den Kopf über meine Selbstüberschätzung. Das war ja schon fast wahnhaft. Als würde es irgendwen interessieren, dass ich einen Tanzkurs besuchte und ob ich dabei über meine Füße stolperte oder nicht.

Durch eine Toreinfahrt ging es auf einen gepflasterten Hinterhof mit fünf Parkplätzen, die alle belegt waren, unter anderem mit den beiden Autos unserer Freunde. Die drei Sprossenfenster an dieser Seite des Gebäudes waren nicht verklebt und gewährten – zumal ein Flügel offen stand – den Blick in einen Tanzsaal, in dem sich bereits etliche Leute versammelt hatten.

»Die anderen sind schon da«, sagte ich.

»Kein Wunder«, erwiderte Dennis und warf einen Blick auf seine Uhr, »die Stunde hat ja auch bereits vor drei Minuten begonnen.«

Ja, ja, schon verstanden, Dennis. Wie ein ungezogenes Kind hatte ich bewusst getrödelt und damit unseren Aufbruch zur Tanzstunde hinausgezögert.

Links vom Eingang unter den Sprossenfenstern umrahmten einige große, mit blühendem Buschwerk bepflanzte Betonkübel eine Sitzgruppe aus hölzernen Gartenmöbeln. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher mit ein paar ausgedrückten Kippen. Am Fahrradständer auf der anderen Seite der Tür waren zwei hochwertige Fahrräder angekettet.

Wir betraten die Tanzschule und standen in einem Vorraum, der mit einer Theke, Barhockern und kleinen Sofas mit Tischchen davor ausgestattet war. Aus einer offenen Tür drangen flotte Tanzmusik und munteres Stimmengewirr. Sechs Paare hielten sich in lockeren Grüppchen im Saal auf und blickten zum Eingang, in dem Dennis und ich nun standen.

»Da seid ihr ja endlich«, sagte Erwin, »wir waren schon kurz davor, Wetten darauf abzuschließen, ob du kneifst oder nicht, Loretta.«

Mein Gesicht wurde heiß, aber ich zuckte innerlich mit den Schultern. Sollte ich knallrot geworden sein, passte die Farbe perfekt zu meinem purpurrot und violett gestreiften Ringelshirt. Und zu den dunkelroten Wänden des Tanzsaals, aber das nur nebenbei.

Eine sehnige Frau mit tiefgebräunter Haut und wasserstoffblondem, raspelkurzem Haar glitt auf uns zu. Sie bewegte sich wie eine Balletttänzerin. »Herzlich willkommen. Loretta und Dennis, nicht wahr? Hier sind eure Namensschilder, die machen uns das Kennenlernen ein wenig leichter. Die Gruppe hat bereits entschieden, dass wir uns duzen wollen; ihr seid hoffentlich einverstanden.« Sie deutete auf ihr eigenes Schild. »Ich bin Marina. Marina Helgenberger, eure Tanzlehrerin. Und das«, sie zeigte auf einen schmalen Mann ganz in Schwarz, »ist Antonio, mein Gatte.«

Auch sie selbst war schwarz gekleidet – eng anliegendes Oberteil, das wie ein Sporttrikot wirkte, kombiniert mit einem wadenlangen Rock aus fließendem Stoff. Weder an ihr noch an ihrem Gatten konnte ich auch nur ein Gramm Fett entdecken, sie wirkten wie dürre Zweiglein. Während ich mir das Schild ansteckte, blickte Marina bekümmert auf meine ausgelatschen Segeltuch-Sneakers.

»Deine Schuhe …«, raunte sie mir leise zu, als wolle sie mich nicht vor aller Ohren beschämen, »also, die sind wirklich ungeeignet.«

Sofort schwoll mir der Kamm. »Und wieso, wenn ich fragen darf? Mir war nicht bekannt, dass es eine Kleidervorschrift gibt.«

Tatsächlich war ich die einzige Frau, die weder einen Rock noch Schuhe mit Absätzen trug. Pff.

Marina machte eine beschwichtigende Geste. »Natürlich gibt es die nicht. Aber viele Dinge bei den Tanzschritten werden dir in diesen Schuhen schwerfallen, fürchte ich. Manches wird auf den Fußballen getanzt, weißt du? Ballen, dann die Ferse absenken, wieder auf die Ballen erheben … ein kleiner Absatz entlastet dabei die Achillessehne, die bei diesen Bewegungen stark belastet wird.«

Aha, das leuchtete sogar mir ein. Es ging ihr also nicht um bestimmte Konventionen, sondern um die Gesundheit meiner Achillessehne. Damit konnte ich leben. Allerdings …

»Ich besitze leider nur flache Schuhe«, sagte ich.

»Für heute kann ich dir welche leihen«, erwiderte sie. Nach einem prüfenden Blick auf meine Füße fügte sie hinzu: »Größe 39, richtig?«

Auf mein Nicken hin schwebte sie von dannen und verschwand durch eine Tür.

Ich ging zu meinen Freunden, zu denen sich Dennis mittlerweile gesellt hatte.

»Worum ging es gerade?«, fragte er.

»Meine Schuhe. Zum Wohle meiner Achillessehne sollte ich Absätze tragen, sagt Marina.«

»Loretta und Schuhe mit Absätze!« Kichernd schüttelte Frank den Kopf. »Sowatt hat die doch gaanich. Wat kommt als Nächstet? Loretta im Blümchenkleid?«

»Frank!«, zischte Bärbel ihn an und stieß ihren Bräutigam in die Seite. Dann wandte sie sich mir zu. »Ich kann dir welche leihen, wenn du willst. Solche wie die hier.« Sie streckte den Fuß aus.

Schlicht, schwarz, kleiner Absatz, schmaler Riemen über dem Spann. Akzeptabel.

»Das Angebot nehme ich vorerst sehr gerne an.«

»Vielleicht kannst du dir dann auch gleich einen Rock ausleihen«, sagte Doris und drehte eine schwungvolle Pirouette, die ihren geblümten Rock fliegen ließ. »Der schwingt so schön beim Tanzen. Vor einer Jeans kann man das nicht gerade behaupten. Es sei denn, es ist eine von Dennis.« Amüsiert musterte sie den ausladenden Schlag seiner Hose.

Ich hob die Hände. »Immer schön eins nach dem anderen. Vorerst fühle ich mich angemessen gekleidet.«

Marina kehrte zurück und überreichte mir ein Paar güldene Pumps aus Satin oder dergleichen, die denen von Bärbel optisch ähnelten, aber über eine verblüffend biegsame Sohle verfügten. »Probier die mal. Das sind professionelle Tanzschuhe«, sagte sie.

An der Wand des Tanzsaals gab es eine lange Bank, darüber eine Hakenleiste von gleicher Länge, an der einige Taschen und Jacken hingen. Ich ging hinüber und setzte mich, um das Schuhwerk zu tauschen. Die Tanzschuhe passten perfekt und erwiesen sich als erstaunlich bequem.

Ich stöckelte zurück zu den anderen, und Dennis sagte grinsend: »Die Schuhe haben bestimmt mal Aschenputtel gehört. Goldene Pumps zu zerlumpter Jeans, das hat Stil. Solltest du öfter tragen, Schatz.«

»Ist geritzt, mein Prinz. Sobald du mir das dazu passende Diadem schenkst.«

In diesem Moment klatschte Marina in die Hände und rief: »Zeit für die Vorstellungsrunde, meine Lieben! Lasst uns einen Kreis bilden, und jeder erzählt ein bisschen von sich, damit wir uns besser kennenlernen. Immerhin werden wir uns während der nächsten Wochen alle ein wenig näherkommen und gemeinsam die Freude am Tanzen erleben.«

Was war das hier – eine Kindergartengruppe? Über diejenigen Leute im Raum, die mir wichtig waren, wusste ich bereits alles, und das reichte mir vollkommen. Der Rest der Anwesenden war mir so schnurz wie nur was. Der reine Zufall hatte uns hier und heute zusammengewürfelt, und überdies war ich schließlich nicht hier, um neue Freunde zu finden.

Wir waren sechs – mit den Tanzlehrern sieben – Paare, die sich nun zu einem lockeren Kreis formiert hatten.

Marina lächelte in die Runde und sagte: »Ich fange mal an. Also, ich bin Marina Helgenberger. Fünfzehn Jahre lang war ich Profitänzerin in einer Formationstanztruppe. Dort habe ich Antonio kennengelernt. Seit zehn Jahren sind Antonio und ich zusammen, seit sieben Jahren betreiben wir gemeinsam diese Tanzschule. Zusätzlich sind wir noch in einer Seniorentruppe aktiv, halb Profis, halb Amateure, mit der wir auch an Amateurmeisterschaften teilnehmen. Außerdem trainieren wir eine Truppe, die ausschließlich aus Amateuren besteht und den Formationstanz nur aus Spaß betreibt.«

Seniorentruppe? Ab wann man im Tanzsport wohl zu den Senioren gerechnet wurde? Vermutlich bereits mit läppischen vierzig Jahren. Ich fragte mich, wie alt Marina sein mochte. Mitte vierzig? Mitte fünfzig? Ich würde beides glauben. Ihre dunkle Gesichtshaut wirkte wie straff gespanntes Pergament, was vielleicht auf diverse Lebensjahre unter der künstlichen Sonne eines Bräunungsstudios zurückzuführen war.

Die Mitglieder dieser Formationstruppen sahen immer aus wie Klone aus der Petrischale, allesamt supergebräunt, gleiche Frisuren, gleiches Make-up, gleiches Outfit, eingefrorenes Lächeln. Irgendwie gruselig, wenn sie absolut synchron übers Parkett wirbelten. Aber auch faszinierend, wie ich zugeben musste. Wenn ich beim Zappen mal zufällig bei der Übertragung einer Meisterschaft im Formationstanz landete, blieb ich dran und fragte mich schaudernd, wie viel knallhartes Training wohl nötig war, um diesen Hochleistungssport in derartiger Perfektion auszuüben.

Ich erwachte aus meinen Gedanken. Marina hatte den Staffelstab an Antonio übergeben, und der sagte gerade: »Wir sind übrigens für unsere Truppe immer auf der Suche nach talentierten Amateuren. Keine Angst, dort werden keine Höchstleistungen verlangt. Das ist eher wie flottes Aerobic oder so. Damit treten wir auf Stadtfesten auf.«

Na, das fehlte mir gerade noch: Loretta Luchs wie ein Clown angemalt und im Paillettenfummel auf der Bühne beim Weihnachtsmarkt.

Danke, aber nein danke.

Antonio nickte seinem Nebenmann zu. »Wir machen einfach im Uhrzeigersinn weiter, schlage ich vor. Torben? Du bist dran.«

Der junge Mann – er mochte Mitte zwanzig sein – grinste. »Also, ich bin der Torben. Meine Freundin Gigi und ich studieren beide an der Uni. Wirtschaftswissenschaften. Wir sitzen so viel auf unseren Hintern, dass wir nach einem sportlichen Ausgleich gesucht haben. Allerdings konnten wir uns auf nichts einigen, das uns beiden Spaß machen würde. Ich jogge zum Beispiel gerne, aber Gigi geht lieber schwimmen, was ich wiederum schrecklich öde finde. Also haben wir uns für etwas entschieden, bei dem wir beide absolute Anfänger sind.«

Typische Hipster, dachte ich, während Gigi – »eigentlich heiße ich Giselle, aber alle nennen mich Gigi« – übernahm. Torben hatte einen Vollbart und eine kinnlange Prinz-Eisenherz-Frisur, sie trug einen gekonnt zerzausten Dutt. Beide waren aschblond. Kleidungsmäßig bewegten sie sich irgendwo zwischen Nerd- und Retro-Schick, sie im knielangen dunkelblauen Kleid mit weißen Streublümchen, er in hellbrauner Cordhose und gleichfarbigem T-Shirt, das mit einem alten VW-Bulli bedruckt war. Entweder hatte sie die Teile spottbillig im Secondhandladen geschossen, oder Unsummen dafür gezahlt, weil dieser Stil gerade mega-angesagt war.

»… aber erst nach endlosen Diskussionen konnten wir uns entscheiden«, sagte Gigi und rollte mit den Augen. »Habt ihr eine Vorstellung, wie viele Sportarten es gibt, die man auch als Paar betreiben kann? Dutzende! Nein – Hunderte! Und einer von uns hatte immer was zu meckern. Aber jetzt sind wir hier und sind total gespannt. Genau.«

Sie nickte dem Mann neben sich zu, der etwa in Erwins Alter zu sein schien. Aber während Erwin eher gemütlich wirkte, hätte ich jede Summe gewettet, dass Christian in seiner Freizeit auf Berge kletterte oder mit dem Mountainbike dieselben hinabraste. Oder beides. Und dazu noch surfte und jeden Marathon mitrannte.

Er räusperte sich umständlich und zog die junge, sehr attraktive Frau an seiner Seite eng an sich. »Meine Jenny und ich wollen tanzen lernen, damit wir auf den Bällen, die wir in Zukunft besuchen werden, eine respektable Figur machen. Ich habe meine Firma verkauft, und jetzt habe ich vor, das Leben zu genießen. Ihr wisst schon: Monte Carlo, Wien … Ich bin übrigens Christian.«

Christian strahlte Führungsqualitäten aus, das war unübersehbar. Sowohl er als auch das wallemähnige, kichernde Blondchen neben ihm trugen Designerklamotten. Klassischer Fall von einem Sugardaddy, der sich den – bestimmt wohlverdienten – Lebensabend mit einer mindestens 30 Jahre jüngeren Gefährtin versüßt, konstatierte ich. Was mochte ihr Motiv für die Verbindung sein? Geld und Luxus? Bälle in Wien und Monte Carlo? Vielleicht. Vielleicht war es aber auch einfach nur Liebe. Sollte ja vorkommen.

»Also, ich kann ja tanzen«, säuselte Jenny, »aber das sind andere Tänze, als wir hier lernen können. Und mein Chrissie meint, die Tänze, die ich kann, passen nicht so auf Bälle mit reichen Leuten.«

Prompt geriet ich ins Grübeln. Welche Tänze sie wohl meinte? Den an der Stange in einschlägigen Etablissements zum Beispiel? Oder so einen, wie ihn Dita von Teese nackt in einer überdimensionalen Sektschale aufführte? Aber vielleicht war sie auch nur eine ehemalige Cheerleaderin oder hatte jahrelang Jazzdance oder Zumba praktiziert. Ihr Körper, der in dem knallengen Schlauchkleid bestens zu sehen war, wirkte jedenfalls durchtrainiert.

Die flotte rothaarige Mittvierzigerin neben ihr ergriff das Wort. »Ich bin Helga. Mein Mann Andreas und ich feiern im Dezember Silberhochzeit – und zwar auf eim großen Kreuzfahrtschiff.«

Der Art nach, wie sie das Wort betonte, teilte sie uns gerade eine absolute Sensation mit. Erwartungsvoll blickte sie in die Runde, und wir machten brav ›Ooooh‹ und ›Aaaah‹, was sie zufrieden nicken ließ.

»Damit erfülln wir uns ’nen Lebenstraum«, fuhr sie strahlend fort. »Und wir ham vor, jeden Abend tanzen zu gehn. Ich freu mich schon drauf, mich so richtich schick zu machen!«

Lebenstraum? Ihrer vielleicht, seiner ganz sicher nicht. Andreas bemühte sich zwar redlich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber sein Traum war es vermutlich, mit ein paar Grillwürstchen zu feiern, falls überhaupt. Denn dafür musste man nicht richtich schick sein – bei diesen Worten war er kurz zusammengezuckt. Für ihn hieß das lediglich Anzug, Schlips und enger Hemdkragen, was er vielleicht schon auf der Arbeit tragen musste. Helga dagegen stellte wahrscheinlich schon seit Wochen glamouröse Outfits zusammen.

Andreas – optisch deutlich unauffälliger als seine Gattin – redete weiter. »Helga hat et ja schon gesacht – ich bin Andreas. Auf ’nem Kreuzfahrtschiff ham wa noch nie Urlaub gemacht, dat wird … äh … spannend. Sonst sind wa immer mittem Wohnmobil unterweechs.« Er lächelte schief. »Ich bin übrigens Bankbeamter in der Kundenberatung und kann auch Hochdeutsch, aber in meiner Freizeit …«

Sag ich doch: Anzug, Schlips und enger Kragen. Und nicht nur das: Auch seine Sprache musste er seinem Beruf anpassen. Dieser Mann wollte seinen Urlaub in schlabberigen Bermudashorts verbringen, eine Angel in einen gottverlassenen Tümpel halten und mit niemandem reden. Helga allerdings konnte es bestimmt kaum erwarten, endlich mal eine Reise ohne müffelndes Campingklo, Gemeinschaftsduschen von zweifelhafter Sauberkeit und nervige Regentage auf engstem Raum zu genießen.

Gleichzeitig blickte Andreas dem Horror seines Lebens entgegen: Fremde, mit denen er Smalltalk machen musste, und durch dauerfröhliche Bordanimateure verordnete Zwangsteilnahme an sportlichen Aktivitäten und an Kostümfesten, die ein bescheuertes Motto wie ›griechische Götter‹ oder dergleichen hatten.

Vor meinem geistigen Auge sah ich einen mürrischen Andreas, in weiße Bettlaken gewickelt, einen Lorbeerkranz aus Plastik im schütteren Haar, der mit dem dritten Cocktail in der Hand seiner Helga zusah, die sich als strahlende Aphrodite präsentierte. Herrje, ich hätte ein Buch über die beiden schreiben können. Hoffentlich kippte er sie nicht irgendwann über Bord, weil er es nicht mehr ertragen konnte.

Das wäre ja dann doch irgendwie schade, so zur Silberhochzeit.

Wenn auch nahe am perfekten Mord. Denn: Wer sollte in den unendlichen Weiten der Weltmeere die muntere Helga finden, die irgendwann mitten in der Nacht über die Reling entsorgt worden war, während der Ozeandampfer unbeirrt seinen Weg fortsetzte?

Eben.

Kapitel 3

Frank entgeht nur knapp der gewaltsamen Beendigung eines Monologs, und Loretta tun die Füße weh

Jemand stupste mich in die Seite, und ich schreckte aus meinen Gedanken hoch.

»Du starrst den Mann an«, wisperte Doris mir ins Ohr. »Was ist denn los mit dem?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nix. Ich hab nur nachgedacht. Mir war nicht bewusst, dass ich ihn angaffe.«

»Für Flucht ist es jetzt leider endgültig zu spät«, raunte sie grinsend. »Du weißt ja: mitgefangen, mitgehangen.«

»Tja, man sollte sich seine Freunde halt ganz genau aussuchen«, erwiderte ich und seufzte.

Sie stupste mich erneut. »Lass uns einfach Spaß haben, Loretta. Schau dir Frank an: Er strahlt wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum.«

Okay. Ich schaute ihn an, sah seine Freude – und das Herz ging mir auf. Frank war einer der liebsten – wenn auch einer der beklopptesten – Menschen, die ich kannte. Damals, als ich ihn in der Schrebergartenkolonie ›Saftiges Radieschen‹ kennengelernt hatte, war mein erster Eindruck nicht gerade positiv gewesen. Ich hatte ihn für einen selbstverliebten, aufdringlichen und oberflächlichen Schlauschwätzer gehalten, den ich am liebsten von hinten sah. Aber dann hatten sich in der Kolonie rätselhafte Todesfälle ereignet, und plötzlich waren wir ein Team gewesen. Nach und nach hatte ich Seiten an ihm entdeckt, die mich mein erstes und vorschnelles Urteil über ihn beschämt revidieren ließen.

Seither waren wir eng befreundet und hatten miteinander diverse Abenteuer erlebt – einmal waren wir sogar von Kriminellen verschleppt und in einer verfallenen Fabrikhalle gefangen gehalten worden.

Überhaupt hatte im Schrebergarten alles angefangen: mein erster Fall, die ersten Ermittlungen und meine erste Begegnung mit Kommissarin Küpper, der ich von da an immer wieder begegnen sollte.

»Ja, also, ich bin der Frank«, sagte er in diesem Moment, »und ich will auf meine Hochzeit ’ne richtich gute Figur machen, wisster?« Strahlend zog er seine Bärbel an sich. »Und dat hier, dat is meine Süße, dat is die tollste Frau auffe Welt. Ich weiß, dat sacht jeder Mann über seine Süße, aber meine Süße is wirklich die allertollste Frau auffe Welt. Könnter mich für ankucken. Also, ich hab se gefraacht, ob se mich heiraten will, und meine Süße will, stellt euch dat ma vor. Wir sind ja schon ’ne ganze Zeit zusammen, und wir ham so ’n kleinet, schnuckeliget Lebensmittelgeschäft. Allet bio, nur allerfeinstet Zeuch …«

Unauffällig musterte ich die anderen, und damit meine ich die vier Paare, die Frank nicht kannten. Er hatte zu einem seiner berühmt-berüchtigten Monologe angesetzt, an die wir – seine Freunde – längst gewöhnt waren. In ihren Mienen sah ich die Reaktionen irrlichtern, die üblicherweise bei Leuten zu beobachten waren, die sein Geplapper noch nie erlebt hatten: Ungläubigkeit und widerwillige Faszination, gepaart mit der langsam einsetzenden Erkenntnis, dass ihn nichts und niemand stoppen konnte, wenn er einmal so richtig in Fahrt war.

Und das war er gerade.

»… und weil meine Süße und ich die Hochzeit mit unsere besten Freunde feiern wollen, sind wir alle in diesen Kurs.« Er deutete auf Doris und Erwin. »Dat sind Doris und Erwin. Der Erwin war mal Bulle, isser aber nich mehr. Jetz isser Hobby-Detektiv. Wenn ihr also mal wat rauszufinden habt, könnter den Erwin fragen, der hilft euch dabei. Und seine Doris, die is sowatt Ähnlichet wie die Mutti vonne Kompanie, die hat immer wat Leckeret zu picken am Start. Wenn wir Glück haben, bringt se vielleicht mal ihre superduperleckeren Frikadellchen mit zum Tanzen, die sind legendär, echt, müsster unbedingt mal probiern …«

Ich kicherte innerlich, als ich sah, dass bei den Umstehenden mittlerweile so eine Art Trancezustand eingesetzt hatte, deutlich erkennbar an der einen oder anderen hängenden Unterlippe.

»… und dann sind da natürlich noch Loretta und Dennis«, schwatzte er unverdrossen weiter und zeigte auf Dennis und mich. Er gackerte vor sich hin und fuhr dann fort: »Also, dat die Loretta hier in goldene Stöckel rumsteht, also, dat hätt ich nie im Leben gedacht, dat ich dat mal seh, echt nich! Dat die Loretta überhaupt hier is, also, dat is für meine Süße und mich dat größte Geschenk, echt. Weil, die Loretta und Walzer tanzen … dat is ungefähr so wahrscheinlich, wie dat mitten im Sommer der Gartenteich zufriert. So, und dann wäre da noch der Dennis, dat is der Kerl in diese supercoolen Klamotten. Dat is der Liebste vonne Loretta, und dat is überhaupt die beste Geschichte, wie die beiden zusammengekommen sind. Dat war nämlich so …«

Hätte Marina nicht in diesem Moment eingegriffen, wäre ich vermutlich zu ihm gesprintet und hätte ihm meine goldenen Pumps ins Plappermaul gestopft. Beide.

Aber von Marinas erhobener Hand ließ Frank sich tatsächlich stoppen. Sie lächelte leicht gequält und sagte: »Danke, lieber Frank, das war sehr … äh … aufschlussreich. Und netterweise hast du sogar gleich die Vorstellung deiner Freunde übernommen.« Ein undefinierbarer Blick flog zu Erwin, dann fuhr sie fort: »Aber jetzt wollen wir mal allmählich mit dem Unterricht beginnen, schlage ich vor. Unser erster Tanz ist der Wiener Walzer, den Antonio und ich euch zunächst vorführen werden. Bitte tretet zurück an die Wand.«

Antonio ging mit geschmeidigen Schritten zur Musikanlage, drückte einen Knopf, und die beschwingte Melodie eines Walzers erfüllte den Tanzsaal. Antonio tänzelte zu Marina, die ihn bereits in Tanzhaltung erwartete: den Rücken nach hinten durchgebogen, den Kopf zur Seite gedreht, die Arme graziös wie eine Ballerina erhoben. Er umfing sie, einen Takt lang verharrten sie in dieser Position, dann kreiselten sie los.

Hui, das hatte Tempo, das war nichts für Schnecken. Sie wirbelten und kreisten durch den Tanzsaal, wechselten von Zeit zu Zeit die Richtung und vollführten komplizierte Figuren. Uff.

Doris und Bärbel standen Arm in Arm neben mir und wiegten sich lächelnd im Rhythmus der Musik. Und ich? Ich stand stocksteif da und wünschte mich ans andere Ende des Universums. Und schämte mich dafür. Warum konnte ich mich nicht einfach auf dieses harmlose Abenteuer einlassen? Warum vergeudete ich so viele Gedanken darauf, dass ich bestimmt bescheuert aussehen würde? Na ja, jedenfalls lange nicht so elegant wie Marina und Antonio, die ihre schwungvolle Demonstration nun beendeten und sich graziös vor uns verbeugten, was wir mit begeistertem Applaus – jawohl, auch ich klatschte – quittierten.

»Vielen Dank«, sagte Antonio, »das war also der Wiener Walzer, der recht temperamentvoll ist. Vielleicht fragt ihr euch, warum wir nicht mit dem Langsamen Walzer beginnen, der so viel einfach erscheint.«

»Aber lasst euch nicht täuschen«, übernahm Marina. »Gerade weil er so langsam ist, ist er deutlich schwieriger, weil die Tänzer in genau getakteten Pausen immer wieder in einer Position verharren müssen, bevor es weitergeht. Antonio erklärt euch jetzt die Tanzhaltung für den Wiener Walzer.«

Antonio nickte. »Die Tanzpartner stellen sich bitte voreinander auf; leicht nach links versetzt und mit geringem Abstand. Während ich euch die Haltung erkläre, geht Marina von Paar zu Paar und korrigiert, falls nötig, eure Haltung. Eure Füße platziert bitte vierspurig, das heißt leicht nach links zu denen eures Partners versetzt.«

Dennis und ich standen uns gegenüber und blickten auf unsere Füße hinunter.

»Vierspurig?«, murmelte Dennis. »Und welche davon ist die Überholspur?«

Ich prustete leise. »Die Rettungsgasse! Was ist mit der Rettungsgasse?«

»Die Tänzer blicken jeweils über die linke Schulter des Partners aneinander vorbei«, kommandierte Antonio nun.

»Leichter gesagt als getan«, raunte ich Dennis zu. »Ich bin zu klein, ich kann nicht über deine Schulter gucken.«

»Höhere Stöckel?«, flüsterte er zurück. »Stelzen?«

»Dann kippe ich um.«

Wir kicherten leise, verstummten aber abrupt, als Marina an uns vorbeiging und lächelnd den Zeigefinger an die Lippen legte.

»Nun zur Armhaltung!«, rief Antonio in die Runde. »Der Herr legt seine rechte Hand mit geschlossenen Fingern ans linke Schulterblatt der Dame … sehr gut … und die Dame legt ihre linke Hand an den Oberarm des Herrn. Aber nur ganz leicht, ohne Druck auszuüben. Also, meine Damen – ihr haltet euch nicht am Arm des Tanzpartners fest. Ihr dürft ihn nur zart berühren.«

Marina schien mit den diversen rechten Männerhänden an den jeweiligen linken Schulterblättern der Damen zufrieden zu sein, denn während ihrer erneuten Runde an den Tanzpaaren vorbei nickte sie zustimmend.

»Jetzt vervollständigen wir die Tanzhaltung«, fuhr Antonio fort, »indem der Herr mit seiner linken die rechte Hand der Dame ergreift und – vom Körper entfernt – etwa auf Augenhöhe der Dame hält.«

Nun hatte Marina doch noch zu tun: Bei jedem Paar korrigierte sie die Höhe der Ellbogen, die bei uns allen offenbar zu niedrig war. Dann ging sie zu Antonio, und sie demonstrierten uns erneut die korrekte Tanzhaltung. Sollte Antonio die Hand von ihrem Schulterblatt nehmen – dessen war ich sicher –, würde sie auf der Stelle umkippen, so weit bog sie ihren Rücken nach hinten durch.

»Das ist die Haltung für den Turniertanz«, erklärte Marina, »die ist sehr extrem, wie ihr seht.« Sie richtete sich ein wenig auf und fuhr fort: »Für uns reicht diese Haltung. Die Dame neigt sich leicht zurück, sonst wird es zu anstrengend. Und wir wollen ja nicht, dass ihr verkrampft. Wiener Walzer ist ein sehr lockerer, schwungvoller Tanz. Bevor wir gleich mit den Schritten beginnen, machen wir eine kurze Verschnaufpause. Ihr könnt gerne an der Bar im Foyer etwas trinken, unsere Fruchtcocktails sind berühmt!«

»Frische Luft«, sagte ich zu Dennis und strebte vor den anderen her nach draußen.

Im Hinterhof, der von der Lampe über der Eingangstür gut ausgeleuchtet wurde, streckte ich mich und atmete tief durch.

Dennis, der mir gefolgt war, zog mich in eine Umarmung. »War bisher gar nicht so schlimm, oder?«

»Ich komme mir so blöd vor«, murmelte ich. »Und dafür schäme ich mich.«

»Warum kommst du dir blöd vor? Weil Tanzen nicht zu deinem Image als taffe Gangsterjägerin passt? Dafür interessiert sich hier kein Schwein. Für dein Image, meine ich. Wir alle sind aus demselben Grund hier, und keiner guckt den anderen deswegen schief von der Seite an. Lass locker und hab Spaß.«

Das hatte Doris auch gesagt. Warum fiel es mir bloß so schwer? Aber mit den goldenen Pumps kam ich mir noch blöder vor als sowieso schon.

Mit der Zweisamkeit war es vorbei, als Christian nach draußen kam, sein Cocktailglas auf dem Tisch abstellte und sich auf die Bank pflanzte. Er zog ein flaches Etui aus der hinteren Jeanstasche, klappte es auf und entnahm ihm eine Zigarette, die er mit einem Einwegfeuerzeug entzündete.

Nach einem tiefen Zug schickte er eine beeindruckende Qualmwolke auf Reisen und sagte: »Endlich.«

Ich fragte mich, was er wohl damit meinte. Die Pause? Den Drink? Oder doch seine Kippe?

Prompt gestikulierte er mit der Zigarette. »Ich kann einfach nicht ohne. Ein schreckliches Laster, ich weiß. Meine Jenny hasst es.« Gleichmütig zuckte er mit den Schultern. »Keine Rose ohne Dornen.«

»Wer ist denn die Rose?«, fragte ich. »Jenny oder du?«

Christian lachte dröhnend. »Gute Frage – nächste Frage. Nee, meine Jenny ist eine wunderschöne Blume, die hat keine Dornen. Die ist ganz weich und anschmiegsam.«