Totengräberspätzle - Harald J. Marburger - E-Book

Totengräberspätzle E-Book

Harald J. Marburger

4,8

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Dorfbestatter Gottesacker bekommt Konkurrenz von einem neumodischen "Eventbestatter". Als ihm die Kunden reihenweise davonlaufen, stiehlt er dem Rivalen eine Leiche, um ihn in Verruf zu bringen. Bei dem Toten handelt es sich allerdings um einen waschechten Mafioso, der ein kiloschweres Geheimnis mit sich herumträgt. Das ruft nicht nur einen strafversetzten italienischen Ermittler auf den Plan, sondern auch allerhand Profikiller. Bald besteht das größte Problem der Beerdigungsrivalen darin, nicht in den eigenen Särgen zu landen …

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Seitenzahl: 572

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1973 im schwäbischen Sigmaringen geboren, wuchs der Autor in der benachbarten Kleinstadt Pfullendorf auf. Bereits zu Schulzeiten veröffentlichte er Horror-Kurzgeschichten bei Bastei Lübbes »Geisterjäger John Sinclair«. Neben einem Studium der Medienpsychologie und Hispanistik war er als Polizeiübersetzer, Filmemacher, Musiker, Porzellanverkäufer, Cutter, Werbetexter und Simultandolmetscher tätig. Aktuell arbeitet er als Redakteur und Autor für das ProSieben Wissensmagazin »Galileo« und wurde unter anderem nominiert für den Science Film Festival Award und den Ernst-Schneider-Preis.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.

© 2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/Edwin Remsberg/Alamy Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-214-4 Originalausgabe

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Gutmütig und tückisch– ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andere Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben!

Friedrich Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«

Screw my longboard trucks and wheels

under my coffin.

Put the board with me into my coffin.

With a nice electric wreath

into my coffin.

Dionysos, »The Coffin Song«

Das Unheil

Der beste Platz, diese Geschichte zu beginnen, ist dort, wo die meisten Geschichten enden: auf dem Friedhof.

Späht man in luftiger Höhe zwischen den beiden schweren Bronzeglocken des Kirchturms hindurch, erkennt man eine schwarze Schar, die im Dunst von Weihrauchschwenkern über den Friedhof mäandert. An ihrer Spitze schwankt ein Sarg aus Eiche mit dezenter Rosenprägung. Die Sargträger haben zu kämpfen. Der Inhalt scheint schwer zu sein. Wenigstens wiegt der Sarg selbst etwa vierzig Kilo weniger, als das normalerweise der Fall ist. Er besteht nämlich nicht aus echtem Eichenholz, sondern aus einer doppelten Lage Spanplatten, fachmännisch verleimt und mit einer dünnen Schicht Eichenholz furniert. Außer dem Bestatter weiß das allerdings niemand.

Getragen wird die Totenkiste von zwei Dorfpolizisten, Berthold Schmälzle und Max Schmähle, dem Chorleiter des Gesangsvereins, und an der rechten Spitze von dem städtischen Bestatter: Johann Gottesacker.

Von hier oben sieht man nur ein Stück seiner silbern glänzenden Haare(»Schwarzkopf Permanente Tönung Nr.5«) und seinen korrekt gebürsteten Schnurrbart.

Dem veredelten Billigsarg folgen, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, der Pfarrer, die trauernden Angehörigen, Freunde, Verwandte und Bekannte.

Hinter der stattlichen Zahl Trauernder marschiert die städtische Blaskapelle und intoniert hingebungsvoll den dritten Satz aus Gustav Mahlers 1.Sinfonie. In einer sehr eigenwilligen Bearbeitung dringen die Klänge von »Frère Jacques« in Moll unheimlich hohl nach oben.

Es ist ein warmer Sommertag Anfang September.

Jedes Jahr stirbt statistisch gesehen ein Prozent der Bevölkerung. Die schwäbische Kleinstadt, in der wir uns befinden, hat genau zwölftausendsiebenhundertneunzehn Einwohner. Davon sterben im Jahr ungefähr hundertsiebenundzwanzig. Macht im Monat potenzielle zehneinhalb Tote.

Weil die Luft hier gut ist und man beim Einkaufen seltener überfallen oder überfahren wird, schrumpft die Zahl auf überschaubare zwei bis drei monatliche Todesfälle. Davon kann man immer noch ziemlich gut leben. Vor allem wenn man das einzige Bestattungsunternehmen im Ort besitzt.

Bis auf Gottesacker sind die anderen Sargträger Neulinge im Bestattergeschäft. Der Herr des Friedhofs ist gewichtig, aber kleiner als der hagere Chorleiter neben ihm, den zudem Hämorrhoiden plagen, weswegen er immer wieder aus dem Tritt kommt. Bei der Hintermannschaft sieht’s in puncto Stabilität auch nicht besser aus. Dorfpolizist Schmälzle ist klein und stämmig, sein Kollege Schmähle lang, aufgeschossen und dünn. So kommt es, dass der Sarg in Schräglage hängt und bedrohlich hin und her schwankt.

Zusätzlich erschwert wird das Ganze vom Vizebürgermeister(hundertfünfunddreißig Kilo Lebendgewicht). Der liegt nämlich im Sarg und ist vor drei Tagen überraschend verschieden. Als langjähriges Mitglied von Gesangs- und Polizeikegelverein war es sein Wunsch, dass seine Lied- und Kegelbrüder ihn eines– wie er gehofft hatte– fernen Tages auch zu Grabe tragen.

Der Weg des Trauerzugs führt zwischen steinernen Jesusfiguren und wuchtigen Grabmälern, von denen die ältesten noch aus dem Mittelalter stammen, einen schmalen Schotterweg entlang, vorbei an Kopps, Ottos, Klims, Mauchs und Klöpfels, die diesen Weg, fachmännisch begleitet von drei Dynastien Gottesackers, alle schon früher getragen wurden.

In diesem Moment fangen die Glocken an zu läuten. Verantwortlich für den Höllenlärm ist ein schwarzhaariger, hoch aufgeschossener junger Mann mit Aknenarben im Gesicht, der einen schlecht sitzenden Anzug trägt. Fünfzehn Meter unter uns hängt er fast mit seinem ganzen Körpergewicht am Glockenseil. Es handelt sich um Anselm Gottesacker, den einzigen Sohn von Johann Gottesacker. Er läutet, als hinge sein Leben davon ab.

Als er nach oben blickt, geht ihm folgender Gedanke durch den Kopf: Wie sie da so hängen, die beiden konkav und konvex gewölbten Glocken, sehen sie irgendwie aus wie zwei riesige Titten. Schnell verscheucht der Sechsundzwanzigjährige diesen, einer Bestattung durchaus nicht angemessenen, Gedanken. Kaum dass die ganze Läutmaschinerie in Schwung ist, wetzt der junge Mann wie der Teufel aus dem Glockenhäuschen, die Treppen hinunter und durch das Obertor, einer aus dem Mittelalter stammenden, steinernen Doppeltoranlage, die an den Glockenturm gebaut wurde.

Wir riskieren einen Blick zwischen den schwingenden Metallungetümen hindurch. Neben dem Friedhof auf seiner südlichen Seite liegt das städtische Krankenhaus. Direkt dahinter erhebt sich drei Stockwerke hoch, an die alte Stadtmauer geschmiegt, das Altersheim »Zur Silberdistel«, hinter dessen Türen sich, so munkelt man, bisweilen Merkwürdiges abspielt. Von eigenartigen Festen und wilden Ausschweifungen der alten Herrschaften ist da die Rede. Aber mit Gerüchten in schwäbischen Dörfern ist es wie mit frischen Spätzle: Nichts bringt man schneller unter die Schwaben.

Folgt man der Hauptstraße vom Friedhof aus nach rechts, wächst nach ein paar hundert Metern eine hohe, mit Stacheldraht bewehrte Mauer in die Höhe. Dort liegt das städtische Polizeirevier nebst angeschlossenem Gefängnis. Dessen eine Hälfte wurde kostensparend zu einem Hotel umgebaut, in dem man »in echten Zellen« übernachten kann.

Das Rathaus liegt hangabwärts, etwa einen halben Kilometer vom Friedhof entfernt, genau im Zentrum des Dorfes, flankiert von einem großen Brunnen, auf dem bronzene Figuren wachen, Werke eines Künstlers vom Bodensee, der vermutlich absonderliche Erinnerungen mit dem Dorf verknüpft. Eine der Figuren uriniert dort mit einem überdimensionierten Stahlphallus in eine Steinschüssel. Schnurgerade zieht sich die Hauptstraße vom Glockenturm hinunter durch die Dorfmitte, vorbei am Rathaus und dem Marktplatz.

Verlässt man die kleine Innenstadt, liegt südlich des Stadtkerns ein kleiner Stadtsee mit einer winzigen Insel, die von zwei gespenstisch ineinander verschlungenen Weiden bewachsen ist. Auf dem öligen Wasser des Sees, das einmal im Jahr abgelassen wird, gleiten dicke, überfütterte Enten und weiße Schwäne dahin. Man sagt, dass in seinen Tiefen Karpfen schwimmen, die so fett sind, dass sie sogar Pudel fressen können.

Hinter dem Stadtsee, in nordöstlicher Richtung, stößt man in einer verwinkelten Gasse auf die Ladenfront des »Bestattungsinstituts Gottesacker«. Hinter dessen Schaufenster warten, hübsch, aber etwas altbacken ausstaffiert, Särge, Urnen und Kränze auf Käufer.

Drei Kilometer weiter im Osten ragen, in Gelb und Ocker, triste Mehrfamilienhäuser neben heruntergekommenen Getränkeläden und flachen, eintönigen Garagenreihen in die Luft.

Dort liegt die Katzensteige. Glaubt man der Statistik, hat dieses Viertel die höchste Kriminalitätsrate des gesamten Landkreises. Was vor allem an einigen Russen liegen dürfte, die ein paar unangenehme Angewohnheiten aus ihrem Heimatland mitgebracht haben und von der geringen Polizeipräsenz vor Ort profitieren.

Weiter weg im Norden und im Nordwesten schmiegen sich grüne Wälder und Täler an das Dorf. Im Westen funkelt das blaue Wasser eines Baggersees. Darum herum erstreckt sich, neben einer ehemaligen Kiesgrube, der städtische Vergnügungspark. Das touristische Highlight im Umkreis von sechzig Kilometern. Dorfbewohner und gestresste Großstädter spielen hier Erlebnisgolf und brausen mit bunten Wakeboards über den See. Daneben schlängelt sich die Bundesstraße entlang.

Und von da naht mit achtzig Kilometern pro Stunde das Unheil. Zumindest für Johann Gottesacker. Von oben sieht es aus wie ein Sarg mit Rädern.

Auf der schwarz lackierten Rückseite der Außenspiegel funkeln zwei weiße Passionskreuze. Träge wiederkäuende Kühe heben kurz den Kopf, als das sonderbare Gefährt an ihnen vorbeirauscht. Es passiert das Industriegebiet und die Werkshallen von »CCeberit«, einem der großen Arbeitgeber der Region. Das »CC« steht für Clean Closets. Der schwäbische Betrieb ist bis weit über die Landesgrenze bekannt für seine fortschrittlichen Sanitärinstallationen.

Bei dem sonderbaren Gefährt, das gerade am Werkstor vorbeirauscht, handelt es sich um einen schwarzen Mercedes-Kombi mit Hamburger Kennzeichen, auf dessen Dach ein überdimensionierter, bunt bemalter Sarg montiert ist. Auf dem Sarg sitzt ein großes, altmodisches Megafon.

Langsamer werdend überquert das Fahrzeug die Dorfgrenze. Auf einem Ortsschild steht in schwarzer Schrift auf gelbem Grund »Mugg_npf_l«. Mehrere Buchstaben sind abgeblättert.

Säße man jetzt in besagtem Gefährt, könnte man folgende Konversation hören: »Muggnpfl? Was ist das denn für ein bescheuerter Name?«

»Julia! Nimm bitte deine Füße vom Armaturenbrett. Das ist Muggenpfuhl, and it’s your new home.«

»Das ist kein Zuhause, das ist die Hölle.«

»Jetzt übertreib mal nicht. So schlimm wird’s schon nicht werden. Ich hab gehört, die Leute hier sollen sehr gastfreundlich sein.«

»Aha.«

Piercings klirren, als die junge Frau auf dem Beifahrersitz ihre schwarz und rot gefärbten Haare zurückwirft, die auf der rechten Seite ihres Kopfes auf die Höhe von Stoppeln rasiert sind. Skeptisch späht sie aus dem Fenster. Eine Tankstelle, ein Lidl, ein Autohaus, eine Metzgerei, ein lächerlich kleiner See.

»Unser Konzept wird sie von den Socken hauen. Du wirst schon sehen. Aber zuerst sorgen wir mal für einen standesgemäßen Einzug, okay? Es geht schließlich nichts über… mass advertising.«

»Dad, bitte. Das ist so peinlich.«

Das Megafon auf dem Sarg springt an. Unter den Klängen von AC/DCs »Highway to hell« gleitet der Wagen wie ein schwarzer Hai an der Sparkasse und am Stadtsee vorbei und schlängelt sich dann zum Marktplatz hinauf– Richtung Friedhof.

An diesem Freitagnachmittag ist im Stadtzentrum nicht viel los. Vor einer etwas heruntergekommenen Trattoria schaukelt eine dicke Italienerin in einem Schaukelstuhl, umgeben von einer Schar Kinder und drei jungen Männern, ebenfalls Italienern, die sich bemühen, gefährlich auszusehen. Das sind Salvatore, Luigi und Giovanni, die Söhne von Donna Elvira.

Die sizilianische Familie betreibt die Trattoria seit über fünfzehn Jahren und ist das Kernstück der sogenannten Spätzle-Mafia. Aber dazu später mehr.

Die drei Söhne starren dem bizarren quietschbunten Sarggefährt mit offenem Mund hinterher. Auf der Seite des Wagens funkelt unheilvoll ein grellrotes Logo in der Sonne: »Jim Blitz– Bestattungen, die Spaß machen«.

Von Spaß ist einen Kilometer weiter oben wenig zu spüren. Der Trauerzug schwenkt zum Grab ein. Anselm Gottesacker, der eben noch am Glockenseil hing, hat das Ende der Trauerschar erreicht und versucht, an die Spitze des Zuges zu kommen, ohne zu rennen. In einem merkwürdigen seitlichen Krebsgang arbeitet er sich an den Trauernden vorbei. Nachdem er einen Ministranten angerempelt hat, der daraufhin seine Weihrauchkanne verliert, hat er es geschafft. Außer Atem und mit hochrotem Gesicht erreicht er den Anfang des Trauerzugs. Sein Vater ist nicht erbaut.

»Du Schofseggel! Wo warst du denn so lang? Jetzt laufen wir schon zum dritten Mal im Kreis rum«, zischt er nach hinten und lässt seinen Sohn unter den Sarg. Gottesacker senior stehen Schweißperlen auf der Stirn. Das liegt nicht nur an der Bürde auf seinen Schultern, sondern auch daran, dass der Verstorbene das »Premium Rundum-sorglos-Paket« erworben hat, sozusagen den Mercedes unter den Bestattungen. Da hat man Anspruch auf Perfektion. Außerdem ist jetzt die beste Zeit für Kundenakquise.

Anselm Gottesacker nimmt den Platz seines Vaters ein. Als alles wieder auf schwäbischen Schultern ruht, geht der Zug weiter. Johann Gottesacker reiht sich ein und lässt sich unauffällig zurückfallen. Er sucht nach zwei ganz bestimmten Trauergästen: Myrtel und Hedwig Vögele. Zwei verwitwete Schwestern, die aus Passion zu Beerdigungen gehen und die, wie man munkelt, nicht nur steinalt, sondern auch begütert sind. Die zwei treten gerade, begleitet von einem unpassenden Duft nach Weihnachten und Frischgebackenem, aus dem Seitenausgang des Krematoriums und reihen sich, die großen Handtaschen fest vor die Brust gepresst, in den Trauerzug ein.

Die Seniorinnen sehen irgendwie ertappt aus, als sich Johann Gottesacker gleich einem schwarzen dicken Hahn mit Schnauzbart an ihre Seite balzt. Das fällt dem Bestatter natürlich nicht auf, denn er hat ganz andere Sachen im Kopf. Mit seinem weißen Schnupftuch verscheucht er einige Mücken und tupft sich den Schweiß von der Stirn.

»Grüß Gott, die Damen. Das ist doch mal eine schöne Beerdigung, nicht wahr?«

»Na ja. Es kommt immer drauf an, für wen, net?«, bemerkt Myrtel, die Größere der Schwestern, spitz und umfasst ihre Handtasche noch fester. Ihre grauen Haare sind in der Stirn gescheitelt, und sie trägt zum schwarzen Kleid eine randlose kleine Sonnenbrille mit runden Gläsern. Dahinter funkeln zwei intelligente, boshafte Augen.

»Bei Ihnen riecht’s aber gut. Haben Sie was gebacken?«, fragt Gottesacker arglos.

Die beiden werfen sich einen nervösen Blick zu.

»Die Enkel sind da«, gibt Myrtel einsilbig zurück.

»Hach ja, die Enkel. Die wollen auch noch a bissle was von der Nana haben, so lang sie noch lebt, net?« Gottesacker zwinkert ihr zu. »Haben Sie denn schon mal über mein Angebot nachgedacht?«

»Also, noch geht’s uns gut. Mir fühlen uns jeden Tag jünger«, bemerkt Hedwig und drückt mit dem Absatz ihres Rheumaschuhs eine Zigarette aus. Sie hat drei Ehemänner überlebt, ist übergewichtig und hat Haare, die wie geringelte Stahlborsten von ihrem Kopf abstehen.

»Wir können ja nach der Feier noch ein bisschen schwätzen. Es ist ein ›oll inklusive‹-Angebot. Da haben Sie Ihre Ruhe und brauchen sich um gar nix kümmern. Das ist wie Pauschalurlaub auf Mallorca.« Er blinzelt den ungleichen Schwestern noch einmal verschwörerisch zu.

Myrtel fixiert ihn über die Gläser ihrer Brille hinweg. »Wissen Sie, wir mögen Pauschalurlaube nicht. Wir haben unsere eigenen Vorstellungen, und ich glaube nicht, dass Sie uns dabei helfen können.« Die alten Damen fangen an zu kichern und lassen den verdutzten Gottesacker stehen.

Der Zug erreicht sein Ziel. Nordparzelle, Grab Nummer siebenhundertsechsunddreißig. Auch die Presse ist vertreten. Der »Südbote«, das aktuelle Blatt am Ort, hat mit Rudolf Rössle seinen besten Redakteur entsandt. Der ist fast fünfzehn Kilometer auf seinem altersschwachen Mofa hergetuckert, eingehüllt in einen dicken Ledermantel, den er weder im Winter noch im Sommer auszieht. Gerade schießt er mit gespreizten Beinen ein Bild von der Trauergesellschaft. Aus irgendeinem Grund ist seine dicke Hornbrille ständig beschlagen, obwohl es hier draußen um die fünfundzwanzig Grad haben muss.

Die städtischen Würdenträger haben sich neben der Witwe um das Grab gruppiert. Hubertus Gmähle, der Bürgermeister von Muggenpfuhl, der jetzt keinen Vize mehr hat und dem düster schwant, dass er sich um noch mehr Karnickel-Vereine kümmern muss. Daneben kerzengerade, die Brust über der stattlichen Kugel, die sich unter seiner Gala-Uniform spannt, nach vorn gedrückt, Eberhard Eisele, der Polizeikommissar, flankiert von seiner Frau. Der Pfarrer ist extra aus Stuttgart angereist. Er ist ein durchgeistigter schmaler Mann mit Glatzkopf und einer Nickelbrille, der sich bemüht, den richtigen Ton zu treffen.

»Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit und wird auferstehen in Kraft. 1.Korinther15, die Verse 42–43.«

Myrtel stupst Hedwig an. »Hast du das verstanden?«

»Ha noi, aber es klingt schön.«

Kommissar Eisele macht »Psst« in Richtung der alten Damen.

»Ist ja gut. Griffelspitzer.« Entrüstet wenden sich die beiden ab.

Es wird gehüstelt und geschnupft. Die Predigt zieht sich in die Länge.

Um das Grab hat sich die städtische Blaskapelle drapiert und wartet mit angespannten Backenmuskeln auf ihren Einsatz.

»…denn die auf den Herrn harren, bekommen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie ein Adler.«

Flüsternd wendet sich der CDU-Vorsitzende an den Bürgermeister. »Der ist doch die Treppe runtergeflogen, oder?«

»Ha jo. Dienstunfall. Sehr tragisch.«

Um genau zu sein, ist der Vizebürgermeister am vergangenen Mittwoch nach einer Ratssitzung und vierzehn Halben die Stufen zur Toilette im »Goldenen Ochsen« hinabgestürzt und hat sich das Genick gebrochen.

»Amen.« Der Pfarrer ist mit seiner Predigt zu Ende. Die Blaskapelle setzt mit »Großer Gott, wir loben dich« ein.

Anselm Gottesacker und die drei Aushilfsbestatter stehen bereits am Grabesrand in Position. Zu getragenen Trompetenklängen senkt sich der Sarg auf ein Zeichen von Gottesacker senior langsam in die Tiefe. Sogar die Vögel schweigen einen Moment andachtsvoll. In diesem Moment geballter pietätischer Anspannung ertönt Musik, die sich erst unmerklich und dann immer lauter ins Trompetensolo mischt. Es sind die Klänge von heulenden E-Gitarren und einem entfesselten Brian Johnson, der über die Grabsteine kreischt.

Hey Satan

Payin’ my dues

Playin’ in a rocking band

Hey momma

Look at me

I’m on my way to the Promised Land…

Nach und nach drehen sich pikiert die Köpfe. Die Stadtkapelle spielt noch ein, zwei Takte, dann erstickt das Lied mit einem letzten Blubbern der Zugposaune. Über der Friedhofsmauer, vor dem Grün erhabener Eichen, taucht langsam, wie eine psychedelische Erscheinung, ein riesiger himmelblauer Sarg auf. Auf seiner Seitenwand ist ein stilisierter Blitz zu erkennen, dazu ein Einhorn, das sich an eine vollbusige Blondine schmiegt, und diverse andere Gestalten, die man eher auf der Kühlerhaube eines tiefergelegten VW-Golfs als auf einem Sarg erwarten würde.

Der Bürgermeister steht ratlos am Grab, einen wagenradgroßen Trauerkranz in den Händen. »Was ist das denn jetzt?«

Seine Frau springt ein. »Das ist eine Unverschämtheit.«

Dienstbeflissen meldet sich der Polizeikommissar zu Wort. »Eindeutig eine Störung der öffentlichen Ruhe. Den geh ich jetzt gleich mal angoschen.«

Seine bessere Hälfte späht hinter ihm durch die Zweige. »Spätzle, bleib lieber da. Wer weiß, was das für Lumpen sind.«

Auf einmal erklingt eine sonore Stimme: »Haben Sie jemanden verloren? Jemanden, der Ihnen nahestand? Dann machen Sie aus seiner Bestattung etwas ganz Besonderes. Schaffen Sie eine Erinnerung über den Tod hinaus. Kommen Sie zu ›Jim Blitz– Eventbestattungen‹. Neueröffnung demnächst. Es gibt Rabatte.«

Anselm Gottesacker rutscht das Seil aus der Hand.

»Uffpasse!« Der Aufruf von seinem Vater kommt zu spät. Der Sarg sackt an einer Seite ab, kippt und verkantet sich im Grab. Der Sperrholzdeckel bricht, und der Vizebürgermeister rutscht halb aus dem Sarg. Von oben sieht es aus, als hätte er unten im Grab etwas ungemein Interessantes entdeckt.

»Jesses«, sagt seine Frau, bevor sie in Ohnmacht fällt.

»Oh, du Granaten-Dackel«, flucht Gottesacker und gibt seinem Sohn eine schallende Ohrfeige.

Wer schon einmal versucht hat, einen verkanteten Sarg aus einem zwei Meter zwanzig tiefen Loch zu bekommen, weiß, dass das eine ziemlich komplizierte Angelegenheit ist. Besonders wenn das Erdreich feucht ist. Für die Trauergäste und den Fotografen des »Südboten« ein fesselnder Anblick.

Rudolf Rössle bannt das Geschehen routiniert und hochauflösend in den Speicher seiner Olympus SP-560. Folgende zwei Artikel erscheinen einige Tage später im »Südboten« und haben weitreichende Konsequenzen.

Dreister Betrug in Muggenpfuhl Jubelte schwäbischer Bestatter Hinterbliebenen Billigsarg unter?

Trauerfeiern sind schwer. Für den letzten Abschied wünschen sich viele Angehörige einen schönen Sarg– und der ist teuer. Ob die Verstorbenen auch tatsächlich in diesem Sarg landen, können ihre Familien meist nicht beurteilen. Ein Bestatter aus Muggenpfuhl hat das scheinbar ausgenutzt. Aufgeflogen ist das Ganze bei der Bestattung des erst 53-jährigen Vizebürgermeisters, Thomas Bruns. Während der Trauerfeierlichkeiten rutschte der Sarg den Bestattern des schwäbischen Traditionshauses aus den Händen, stürzte ins Grab und brach dort auseinander. Der Grund: Er bestand aus furniertem Sperrholz, bestellt und bezahlt hatten die Angehörigen jedoch einen Eichensarg für 2800,–Euro. Der Bestatter streitet die Vorwürfe ab. Es sei zu einer »bedauerlichen Verwechslung« gekommen, und »natürlich würde der Verstorbene jetzt korrekt bestattet werden«. Sarg und Vizebürgermeister konnten erst am späten Nachmittag mit Hilfe der freiwilligen Feuerwehr geborgen werden. Der Zwischenfall löste im Rathaus und bei langjährigen Wegbegleitern große Betroffenheit aus. »Ich bin erschüttert«, sagte derCDU-Abgeordnete Maierling. »Mein Mitgefühl gilt seiner Familie, die sich das ansehen musste. Wir werden diese Sache aufklären.«

Auch der neue Bestatter kommt zu Wort.

Frischer Wind auf dem Friedhof

Henning Lindhorst, Chef des Bestattungsunternehmens »Jim Blitz– Eventbestattungen«, will zusammen mit seiner Tochter Julia Lindhorst demnächst in Muggenpfuhl ein Geschäft eröffnen. Der Progressivbestatter hat sein Handwerk vor allem in denUSA

Das Elend des Bestatters

Gebückt, den Blick auf den Boden gerichtet, irrt Johann Gottesacker ein Jahr später zwischen angestaubten Sargmodellen durch sein Geschäft, in dem sich seit Monaten nichts getan hat. Einzig eine Armenbestattung, die von der Stadt bezahlt wurde, und die halb anonyme Urnenbeisetzung eines englischen Motorradfahrers haben dafür gesorgt, dass bei Gottesackers der Strom noch brennt.

»Was mach ich bloß? Was mach ich bloß?«, murmelt er vor sich hin. Dazu schaut er immer wieder zwanghaft auf die goldene Taschenuhr, die ihm sein Vater(Luxussarg– Nussbaum, gekehlt) hinterlassen hat.

Es ist genau neun Uhr fünf.

Seit wir ihn das letzte Mal gesehen haben, scheint der Bestatter um Jahre gealtert. Er ist schlecht rasiert, seine einst silbergraue Haarpracht glänzt speckig. Hektisch irren seine rot geäderten Augen umher. Von den Wänden starren vorwurfsvoll die Gesichter seiner Vorfahren zurück: sein Vater, Anton Gottesacker, Großvater Ludwig und Urgroßvater Ignatius. Alle ziemlich dick. Alle mit Schnurrbart und in schwarzem Edelzwirn gekleidet. Alle Bestatter.

»Gestorben wird immer«, flüstert es im Chor von der Wand.

»Gestorben wird dahoim«, kommt es vorwurfsvoll von seinem Urgroßvater, der boshaft unter seinen langen weißen Haaren hervorlinst.

Das »Bestattungsinstitut Gottesacker« hat drei Generationen von Bestattern hervorgebracht und gut genährt. Bis jetzt. Der Grund dafür befindet sich direkt auf der anderen Straßenseite.

Gottesacker betritt die Kundentoilette und späht– wie schon so oft– zwischen den plissierten gelben Gardinen hinaus. Das letzte Vierteljahr hat er mit einer dümmlichen Verständnislosigkeit beobachtet, wie Handwerker und Möbelspediteure in dem leer stehenden Haus gegenüber ein und aus gegangen sind. Zwei Jahre zuvor war dort noch der serbo-schwäbische Traditionsmetzger Bubanovic beheimatet. Dem hat die Lage kein Glück gebracht. Er ist eines Nachts sang- und klanglos verschwunden. Niemand wusste genau, warum.

Vielleicht Familienzwist, vielleicht der Großhandel, der die kleinen Händler kaputtmacht, vielleicht hatte er auch einfach, wie man hier recht herzlos sagt, »Pech an der Hose«.

Johann Gottesacker enthielt sich jeglichen Kommentars. Obwohl er zu den Gründen der Geschäftsaufgabe noch eine ganze Menge mehr hätte sagen können. Dass der Metzger dem Teufel Tür und Tor öffnet, damit hat Gottesacker damals freilich nicht gerechnet. Vor dem ehemaligen Fleischerfachgeschäft ist mit affenartiger Geschwindigkeit ein kleiner runder Glaspavillon emporgewachsen, auf dessen Giebelgauben noch der letzte Schnee liegt. Erst als in großen Lettern das Firmenlogo– ein großes, verschnörkeltes »J« und ein »B« mit einem stilisierten Blitz– über dem Schaufenster stand, ist ihm die Dimension des ganzen Schlamassels aufgegangen. Da macht sich tatsächlich die Konkurrenz direkt vor seiner Nase breit.

»Schere’schleifer, liederlicher!«

Nach dem Zwischenfall auf dem Friedhof sind Gottesacker reihenweise die Kunden abgesprungen, während auf der anderen Straßenseite das Geschäft florierte. Es hat harmlos angefangen. Die ersten Kunden in Lindhorsts neu eröffnetem Bestattungsinstitut: ein Lehrerehepaar. Sie Erzieherin, er Englischlehrer mit langem Jesus-Bart und Sandalen. Beide Vegetarier. Und was wollten sie? Eine Hippiebestattung für Großmutter. Irgendwann in grauer Vorzeit war Großmama nämlich selbst Hippie und, wie es hieß, sogar in Woodstock gewesen. Was Gottesacker nur so weit in Erinnerung hatte, dass sich dort langhaarige Menschen im Schlamm wälzten. Zu jener Zeit hat er bereits in Vollzeit Tote unter die Erde gebracht. Anton Gottesacker hat immer dafür gesorgt, dass sein Sohn wusste, was »anständige Arbeit« war.

»Besser an Tote im Sack als eine Feder uff’em Huat«, pflegte er zu sagen.

Die Hippie-Oma wurde im Gitarrenkoffer beerdigt, und eine halb nackte Sängerin intonierte lasziv über den Grabstein geräkelt »Stairway to heaven«.

In Muggenpfuhl! Auf seinem Friedhof! Unvorstellbar!

Die Beerdigung schaffte es sogar ins Lokalprogramm von Südwest3. Der Nächste, der zum Feind überlief, war der Senior-Apotheker. Das nahm Gottesacker persönlich. Der alte Apotheker litt seit zwei Jahren an Prostatakrebs, und jetzt ging es dem Ende zu. Gespräche hatten stattgefunden, Verträge waren besprochen. Gottesacker war zuversichtlich, hatte er doch mit dem Sohn des Apothekers die Schulbank gedrückt. Es wäre böswillig zu behaupten, dass er den Tod des alten Herrn geradezu herbeigesehnt hat. Nicht von der Hand zu weisen war allerdings: Sein Ableben würde zumindest einige Gas- und Elektrizitätsrechnungen decken. Nach einem Gespräch mit dem neuen Bestatter entschied sich der alte Herr, ein Chemiker mit Leib und Seele, sich zum Diamanten brennen zu lassen.

Dann folgten die Großeltern des Dorfbäckers. Ihnen hatte es das »Explorer-Setting« angetan. Ein lappländischer Schneeschlitten, inklusive zwei Paar Ski, auf dem die Leiche, eingewickelt in roten Fallschirm und zusammengeschnürt mit weißem Kletterseil, verbrannt wurde. Die rüstigen Rentner waren nämlich nicht hinter dem Brotofen alt geworden, sondern erfolgreiche Weltumsegler. Auch wenn Schlitten und Ladung recht schnell den Aggregatzustand wechselten, war das Ganze doch ein ziemliches Spektakel. Gut vorstellbar, dass die Bäckereltern jetzt wieder Ski fahren. Wenn auch vermutlich auf Paradieswolken. Und so weiter… und so weiter…

Mittlerweile hat Gottesacker den Preis für sein All-inclusive-Angebot bereits zweimal nach unten korrigiert. Trotz »Einmaliges Sonderangebot– nur gültig bis März« fehlt es den Leuten dummerweise an der Lust zum Sterben.

Gottesacker steigt über eine Urne und betritt sein Büro.

Es ist neun Uhr fünfzehn.

Die Jalousien sind heruntergelassen. Ein riesiger alter Sekretär, der noch aus Urgroßvaters Zeiten stammt, kauert vor dem Fenster. Dahinter steht ein ebenso alter schwarzer Ledersessel. Ein Sonnenstrahl stiehlt sich durch den Spalt in der Jalousie und wandert über drei unbequeme Holzstühle mit Armlehnen und braunem Polster, die in einer Reihe vor dem Schreibtisch aufgestellt sind. An der Wand hängen Schwarz-Weiß-Fotos und ein Diplom, das ihn als amtlich zugelassenen Bestatter ausweist. Es riecht muffig.

Über der Ablage mit der Aufschrift »Aufträge« auf dem Schreibtisch liegt eine feine Staubschicht. Neben dem Schreibtisch stehen zwei schwarze ausklappbare Metallkoffer. Sie sind für den Außeneinsatz oder um eine Leiche vor der Aufbahrung nachzuschminken. Einer der Koffer ist umgekippt. Eine Packung »Tripur-Sargstreu« ist aufgerissen, und das gräuliche Pulver hat einen unschönen Fleck auf dem Parkettboden hinterlassen. Kinnstützen, Augenschalen, Einmalhandschuhe, Haarbürsten und Pipetten mit Schnellhautkleber sind herausgefallen oder liegen unordentlich in den Fächern herum. Die Koffer waren jetzt seit drei Monaten nicht mehr im Einsatz.

Es ist neun Uhr neunzehn.

Gottesacker fällt auf, dass eines der Kofferfächer leer ist. »Anselm!«, schreit er nach oben.

Es rührt sich nichts. Gottesacker und sein Sohn wohnen über dem Geschäft im ersten Stock. Missmutig stapft der Bestatter die Treppe hinauf, die hinter einem schwarzen Vorhang verborgen zu seiner Privatwohnung führt. Oben bewacht ein vielarmiger Garderobenständer einen düsteren, kahlen Flur, von dem links und rechts mehrere weiß gestrichene Holztüren abgehen. Das Zimmer von Anselm liegt ganz am Ende.

In der Küche steht ein Topf mit kalter Maultaschensuppe auf dem Herd. Früher hat Frau Mergele, Gottesackers Haushälterin, jeden Tag gekocht. Aber seit sich die Dinge zum Schlechteren gewendet haben, kommt sie nur noch einmal die Woche, um den gröbsten Hausputz zu erledigen.

Neben der Küche liegt das Schlafzimmer, in dem der Bestatter allein schläft. Seine Frau ist vor Jahren mit dem Chef des hiesigen Reisebüros durchgebrannt. Sein Arbeitszimmer auf der anderen Seite betritt er kaum noch, seit sich auf seinem Schreibtisch immer mehr unbezahlte Rechnungen und Mahnschreiben sammeln.

Vor der letzten Tür bleibt Gottesacker stehen. Neben »Keep out«-Schildern klebt dort ein großes Poster von George Romeros »Night of the Living Dead«, auf dem übel mitgenommene Leichen über harmlose Passanten herfallen. Es ist die Tür eines ganz normalen Teenagers. Das Problem ist: Sein Sohn ist längst kein Teenager mehr.

Hinter der Tür dringen dumpfe, wummernde Klänge hervor, die ein Sachkundiger als »Death Metal« erkannt hätte. Für Gottesacker fällt das Ganze eher in die Kategorie »gottloser Lärm«. Er rüttelt an der Türklinke. Natürlich ist abgeschlossen, um ebensolche Überraschungsbesuche zu vermeiden.

»Anselm! Machst du jetzt die Tür auf!« Gottesacker hämmert auf das Bild eines Zombies ein.

Die Musik verstummt. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Ein Gesicht schaut missmutig heraus. Anselm Gottesackers Haare sind, seitdem wir ihn das letzte Mal gesehen haben, noch länger geworden. Ungekämmt hängen sie ihm über die Stirn, und es ist nicht ganz klar, wem er im Aussehen nacheifert: Ozzy Osbourne oder dem Krümelmonster.

»Was ist denn?« Trotzig schiebt der junge Mann das Kinn unter dem schmalen Mund nach vorn und streicht sich die Haare aus der Stirn. Er trägt eine schwarze Jogginghose, dazu ein T-Shirt mit Totenkopf und der mit Nägeln gespickten Aufschrift »Five Finger Death Punch«. Irgendwie sieht der Bestatterspross ertappt aus.

Misstrauisch späht Gottesacker an seinem Sohn vorbei. Die Frühlingssonne scheint durchs offene Fenster. Ein würziger Duft liegt in der Luft. »Hast du wieder geraucht?«

»Ha noi! Ich doch nicht. Das sind bloß Duftkerzen.«

»Die stinken ganz schön.« Gottesacker rümpft die Nase und sieht sich um.

Ein nicht gemachtes Bett, ein laufender Fernseher, eine ebenfalls laufende Playstation, ein angeschalteter Computer auf einem kleinen überfüllten Schreibtisch– und neben dem Bett: ein Sarg. Das mit dunklem Mahagoni verkleidete Prachtstück hat sich Anselm in seinen Mußestunden aus Ersatzteilen selbst zusammengebastelt. Weiß Gott, was heutzutage mit dem Nachwuchs los ist.

»Was machst du gerade?«

Sein Sohn fläzt sich wieder hinter seinen Rechner. »Das Gleiche wie immer. Bewerbungen schreiben.«

»Ich hab’s dir schon hundert Mal gesagt. Lass dir deine Haare schneiden. Sonst wird das nie was.«

Anselms lange Haare sind Bestatter Gottesacker schon seit jeher ein Dorn im Auge. Nachdem sich sein Sohn seiner Ansicht nach gänzlich unnötige fünf Semester mit Theaterwissenschaften und Literatur in Stuttgart vergnügt hatte, kam er völlig pleite zurück. Das Einzige, was gewachsen war, waren sein Dispokredit und seine Haare.

»Du könntest dir mal ein anständiges Hemd anziehen. Dann klappt’s auch mit der Freundin.«

Es ist kein Geheimnis, dass Anselm so seine Schwierigkeiten mit Frauen hat. Allerdings ist der Letzte, mit dem er darüber reden will, sein Vater.

»Ja, ja, vor allem weil du dich mit Frauen so gut auskennst«, murmelt er, während er auf seiner Tastatur herumtippt.

»Was willst du denn damit sagen?«

»Frag doch deine Ex-Frau.«

»Werd bloß nicht frech, Bürschle!«

Gottesackers Plan, seinen Bestatterbetrieb einmal in die Hände seines Sohnes zu geben, stand schon immer auf wackligen Füßen. Anselm mag Tote nämlich nur in Zombiefilmen.

»Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich um die Koffer kümmern? Die sehen aus wie Sau. Und das Desinfektionsmittel ist leer.«

»Ist ja gut. Ich wollte nachher eh bei der Apotheke vorbei.«

»Noi! Du gehst jetzt gleich. Bloß weil mir im Moment keine Kunden haben, heißt das noch lange nicht, dass wir alles schleifen lassen.«

»Wenn du meinst…« Resigniert zieht Anselm seine dunklen Augenbrauen in die Höhe und rollt die Augen Richtung Decke.

»Und wie sieht’s hier überhaupt aus? Du könntest dein Zimmer auch mal wieder aufräumen. Was soll denn die Frau Mergele denken?«

»Wieso? Die kommt doch zum Putzen.«

Aus dem Fernseher ertönt zu besinnlicher Bestattungsmusik eine angenehm sonore Stimme. Wir haben sie schon zweimal gehört. Einmal auf dem Friedhof und einmal in einem schwarzen Mercedes Kombi.

Ein gut aussehender, drahtiger Mann mittleren Alters schreitet durch ein helles und geschmackvoll eingerichtetes Bestattergeschäft. Die blonden Haare sind kurz geschnitten, ebenso die Koteletten. Eine Brille mit viereckigen Gläsern auf der Adlernase, darunter ein energischer, schmaler Mund und ein Lächeln, das zwei Reihen blendend weißer Zähne sehen lässt.

»Mein Name ist Henning Lindhorst– und ich bin…«(bedeutungsvolle Pause) »…Progressivbestatter!«

»Das ist ja nicht zum Aushalten. Jetzt wohnt der gottsakrische Doigaff schon über die Straße, muss der jetzt auch noch in der Glotze kommen?« Gottesacker stemmt die Fäuste in die Hüften und verfolgt wütend den Werbespot.

»Angst vor Bestattungen?«

Ein Zeichentrick-Frankenstein mit einem klappernden Sarg in den Händen wankt zu entsprechend düsterer Musik hinter einer kreischenden Seniorin her.

»Das muss nicht sein!«

Ein kleines, lustiges Männchen in schwarzem Anzug, das entfernt an einen Kobold erinnert, taucht auf. Auf seinem Kopf sitzt ein Zylinder, auf dem die Initialen »J« und »B« stehen. Es schubst den Zeichentrick-Frankenstein, sodass er rückwärts in ein offenes Grab fällt.

»Kommen Sie einfach zu uns. Kommen Sie zu ›Jim Blitz– Eventbestattungen‹. In unseren neu eröffneten Räumlichkeiten in der Stutengasse31 machen wir Sie gern mit unserem Angebot vertraut. Individualbestattungen für wirklich jeden Geschmack. Das ist unser Versprechen!«

Es folgen in rascher Schnittfolge: eine »Raumschiff Enterprise«-Urne, ein Sarg in Form eines überdimensionierten Smartphones, eine Sargrakete(!) und ein Grabstein mit Digitalanzeige.

»Jim Blitz– Ihr Fachgeschäft fürs Grab und darüber hinaus. Bleiben Sie in Erinnerung!«

Der kleine Kobold lüpft den Zylinder und verneigt sich.

Gottesacker schüttelt ratlos den Kopf. »Ich versteh nicht, warum die Leite so einen Blödsinn kaufen. Das ist so… pietätlos.«

Anselm tippt weiter desinteressiert auf seinem Computer herum.

»Das interessiert dich wohl nicht? Was glaubst du denn, wer dir die Stromrechnung zahlt? Der liebe Gott? Oder deine Mutter?«

»Lass gefälligst die Mutter da raus. Die hat schon gewusst, warum sie gegangen ist.«

»Was willst du denn damit sagen?«

»Nix. Ach, ist mir doch egal.«

»Was verstehst du denn schon? Du gehst jetzt zur Apotheke und damit basta!«

Anselm

Anselm wartet noch einen Moment, bis er die schweren Schritte seines Vaters die Treppe hinunterpoltern hört, schließt das Word-Dokument auf seinem Rechner und öffnet stattdessen ein Chat-Fenster, das er vorher gerade noch rechtzeitig minimiert hat. Der Cursor blinkt auf Schwarz. Dann erscheint eine Schriftzeile.

Plätzlemacher: »Nächste Lieferung bitte auf drittem Backblech, Platz15.«

Anselm wartet. Unter der Zeile erscheint der Name »Morpheus«. Das ist das Pseudonym, unter dem er eingeloggt ist. Er tippt.

Morpheus: »Wie viel?«

Die Antwort kommt prompt.

Plätzlemacher: »40Gramm Teigwaren.«

Anselm rechnet kurz nach. Er schreibt:

Morpheus: »Benötige 800Kokosflocken. Gleiche Stelle. Abholung Mittwoch möglich?«

Plätzlemacher: »Okay.«

Anselm zögert einen Moment.

Morpheus: »Brauche Zeit, um Zutaten zu besorgen. Lieferung der Teigwaren am Freitag.«

Plätzlemacher: »Einverstanden.«

Anselm zieht einen Aschenbecher unter dem Bett hervor und zündet den halb gerauchten Joint wieder an. Langsam nimmt er zwei Züge, behält den Rauch lange in der Lunge und bläst ihn dann zum Fenster hinaus. Der gute schwarze Afghane.

Als er zu Ende geraucht hat, greift er unter die Bettdecke und schält vorsichtig einen Zeichenblock und ein »Celestron SkyMaster Zoom« aus dem Bettzeug. Das Präzisionsfernglas für den Profi. Siebzig- bis hundertfache Vergrößerung, hochwertige BaK4-Linsen für hohen Kontrast, auch bei schlechten Lichtverhältnissen, ideal für die astronomische Erforschung des Sternenhimmels oder um die neuen Nachbarn zu beobachten.

Anselm stellt sich im Schatten des Fenstererkers in Position. Von hier aus liegt die Fensterfront der gegenüberliegenden Straßenseite wie ein offenes Buch vor ihm. Aber eigentlich interessiert er sich nur für ein einziges Haus. Das, in dem bis vor zwei Jahren noch Würste und Schweinehälften verkauft wurden.

Jetzt steht ein schmucker ovaler Glaspavillon mit Pyramidendach und karminroten Alustreben davor. Das Ganze erinnert entfernt an einen Wintergarten. Nur dass es hier keine Blumen gibt. »Jim Blitz– Eventbestattungen« blinkt auf einer Leuchtreklame darüber. Daneben reckt ein schwarz gewandeter Bestatterkobold seinen Daumen in die Höhe.

Im vorderen Bereich des Pavillons sind, neben Elementen aus japanischen Zen-Gärten, Särge und Urnen in allen erdenklichen Farben und Formen ausgestellt. Schwere dunkelblaue Samtvorhänge mit aufgedruckten Sternen laufen von hinten bis etwa zur Mitte. Der rückwärtige Bereich liegt im Schatten. Von Anselms Warte aus kann man gerade noch die Ecke eines Schreibtischs erahnen.

Im Erdgeschoss hat Lindhorst seine Sargwerkstatt eingerichtet. Anselm weiß, dass sich im Keller, ähnlich wie bei ihnen, ein Kühlraum befindet. Und zwar im ehemaligen Kühlhaus der Metzgerei. Anselm findet das praktisch, sein Vater dagegen ist empört.

»Das muss man sich mal bildlich vorstellen: die Leiche herrichten, wo sie früher die Wurst gemacht haben. Vielleicht hängt er sie zum Schminken auch noch an die Fleischerhaken.«

Anselm schwenkt mit dem Fernglas leicht nach oben.

Erster Stock: Wohnzimmer und Küche. Das Bad geht nach hinten, zur anderen Seite. Neben dem Wohnzimmerfenster befindet sich ein kleiner Balkon mit gestreifter Markise und einem kunstvollen Geländer aus Schmiedeeisen. Dort pflegt »der Feind« morgens Kaffee zu trinken.

Zweiter Stock: Schlafzimmer des Bestatters und daneben, ebenfalls mit vorgelagertem Balkon, das Zimmer seiner Tochter. Schwarz-weiße Gardinen mit abgebundenen Falten verwehren Anselm den Blick, aber er weiß, dass dort das hübscheste Mädchen wohnt, das er je gesehen hat. Ihren Namen kennt er aus der Zeitung:

Julia.

Sie ist in seinem Alter. Vielleicht ein bisschen jünger. Wie er das sieht, hat sie keinen Freund. Allerdings ist seine Position auch nicht die beste, das herauszufinden. Es gäbe natürlich noch andere Arten, sie kennenzulernen, als ihr mit einem hochauflösenden Feldstecher nachzuspionieren. Aber bereits beim Gedanken daran bricht Anselm der Schweiß aus. Seine Schüchternheit steigt proportional zu seinem Interesse.

Die Meinungen über die Bestattertochter im Dorf sind geteilt. Das Spektrum reicht von »extravagant, aber sexy« über »pietätlos« bis hin zu »Bestattungspunk«. Stilistisch ist sie vermutlich das, was man einen »Grufti« nennt, oder, um mit Myrtel und Hedwig Vögele zu sprechen: »Die sieht aus wie eine lebendige Leich.«

Was einem sofort ins Auge fällt, sind ihre schwarz und dunkelrot gefärbten Haare. Sie trägt sie nach links gekämmt und nach oben geföhnt, die rechte Hälfte ihres Kopfes ist rasiert. Sie hat die Angewohnheit, ihre Haare mit einer energischen Kopfbewegung nach hinten zu werfen, wenn sie lacht. Ihre grünen, mit dunklem Kajal nachgezogenen Augen funkeln dann wie die Sterne ferner Galaxien. Wenn sie nicht gerade arbeitet, trägt sie meist schwarze Jeans und ein Träger-Top, unter dem man ihre apfelförmigen Brüste erahnen kann. Dazu eine Lederjacke mit Fransen und hohe schwarze Schnürstiefel.

Anselm beobachtet sie schon seit Monaten. Morgens geht sie gegen acht Uhr in die Innenstadt hinunter und holt frische Brötchen. Danach hilft sie ihrem Vater in der Werkstatt. Freitags verlässt sie das Haus gegen vierzehn Uhr mit einer schwarzen Mappe unter dem Arm und geht durch das Obertor Richtung Stadtzentrum. Was sie dort macht, hat Anselm bis jetzt allerdings noch nicht herausgefunden. Samstags und sonntags schläft sie lange. Dienstags geht sie gewöhnlich eine Stunde auf den Feldern hinter dem Friedhof joggen. Ist das Wetter schön, frühstückt sie mit ihrem Vater auf dem Balkon im ersten Stock.

Anselm liebt diese Momente, denn dann kann er sie in Ruhe beobachten. Und jedes Mal entdeckt er ein weiteres Detail. Zum Beispiel hat sie unter dem rechten Auge ein winziges Tattoo. Es hat eine Weile gebraucht, bis Anselm herausgefunden hat, dass es sich dabei um eine tätowierte Träne handelt.

Auf dem Arm hat sie ein Inka-Kreuz tätowiert. Manchmal zupft sie gedankenverloren an den Piercings in ihrem Ohr. Eines davon ist besonders auffallend. Es ist ein etwa zehn Zentimeter langer Stift, der in Form eines gefiederten Pfeils die äußere Ohrmuschel durchsticht. Doch unter all den Piercings, den Tattoos und der Schminke glaubt Anselm jemanden zu erkennen, der genauso verletzlich ist wie er selbst.

Der Vorhang bewegt sich. Anselm hält den Atem an und justiert die Schärfe nach. Im Moment sitzt Julia vor ihrem Schreibtisch. Durch den Vorhangspalt kann er nur ihren Rücken sehen, trotzdem hat er sie mit ein paar Zeichenstrichen skizziert. Schlank und durchgedrückt wie ein gespannter Bogen. Sie scheint an etwas zu arbeiten. Was das ist, kann er nicht erkennen. Das Fenster ist leicht beschlagen. Muss warm sein da drinnen. Anselm hat schon herausgefunden, dass sie mehrere Käfige im Zimmer stehen hat. Vielleicht hält sie sich ja Hamster? Nein, das passt nicht zu ihr.

Julia hebt den Kopf, als hätte sie etwas bemerkt. Schnell zieht sich Anselm in den Schatten des Vorhangs zurück und hält die Luft an. Sein Herz klopft heftig. Hat sie etwas gemerkt? Doch dann steht sie auf, und er verliert sie aus den Augen.

Langsam atmet Anselm aus. Kurze Zeit später taucht Julia im ersten Stock wieder auf. Durch die offene Balkontür sieht Anselm sie einen Moment mit ihrem Vater sprechen. Dann verschwinden beide im Innern der Wohnung.

Hastig packt Anselm das Fernglas wieder unters Bett, zu einem Stapel mit Bleistiftzeichnungen. Sie zeigen Julia von hinten, Julia im Profil und Julia von vorn.

Der Konkurrent

Vorsichtig steigt Julia hinter ihrem Vater die immer etwas glitschige Treppe in den Keller hinab und verscheucht ein paar Mücken. Es riecht modrig. Die Feuchtigkeit hängt mit den geografischen Gegebenheiten von Muggenpfuhl zusammen.

»Pfuhl« kommt aus dem Westgermanischen und bedeutet so viel wie »große Pfütze, Sumpf, Morast«. Der Beiname rührt daher, dass das hier früher eine einzige große Sumpflandschaft war. Ein paar Kilometer vor der Stadt gibt es immer noch Moorgebiete. Deshalb wird es ab einer bestimmten Tiefe feucht. »Mugge« ist schwäbisch und heißt so viel wie Mücke. Von denen gibt’s gerade im Sommer reichlich, was wiederum der ständigen Feuchtigkeit geschuldet ist. Da helfen auch die zwei großen Umlüfter nichts, die Henning Lindhorst hat installieren lassen.

Unten verläuft ein schmaler, von einer Glühbirne notdürftig erhellter Gang. Er führt etwa sieben Meter geradeaus, dann gabelt er sich. Geradeaus geht’s weiter in den Keller, in dem ihr Vater Sargrohlinge, Sargdeckel und Kisten, Ölfolie und Bretter sowie große Packungen mit Sägespänen lagert. Rechts führt der Weg zu einer mächtigen Stahltür, die mit einem gelben Kipphebel verriegelt ist. Große Fleischerhaken an einem Stahllauf oberhalb der Wand erinnern daran, dass das hier früher eine Metzgerei war.

Lindhorst ist der Einzige, den das nicht zu stören scheint.

Für den Rest des Städtchens gilt das leider nicht.

Als er den Hebel umlegt, schlägt ihnen ein Schwall kalter Luft entgegen. Fröhlich pfeifend bückt sich Julias Vater und sucht den Lichtschalter. Grelle Neonröhren springen an, und Julia kneift wegen der plötzlichen Helligkeit die Augen zusammen. Sie befinden sich in einem schmalen, gefliesten Vorraum. An der Wand hängen zwei weiße Einweganzüge.

»Zu wenig geschlafen, Prinzessin?« Lindhorst zwinkert seiner Tochter zu. »Early to bed and early to rise makes a man healthy, wealthy and wise.«

Julia rollt mit den Augen und streift sich den Einweganzug über. »Gestern hat die ganze Nacht ein Hund gebellt. Ich glaub, gegen zwei hat ihn dann jemand erschossen.«

»Na, so ist das halt auf dem Land. Every dog has its day.«

Lindhorst spricht gern Englisch. So wie sie. Immerhin hat sie die letzten zweiundzwanzig Jahre in den USA verbracht. Julia ist Halbamerikanerin. Ihr Vater hatte ihre Mutter im Rahmen einer Hospitanz bei einem sehr progressiven texanischen Bestattungsunternehmen kennengelernt– und ein paar Jahre später geheiratet. Die Spezialität der Bestatter dort war alkalische Hydrolyse. Dabei wird ein Leichnam mehr oder weniger gekocht, und zwar in einem Bad aus Lauge. Bis zur völligen Auflösung. »Don’t burn it, boil it!« war der Slogan für diese ganz spezielle Bestattungsmethode. Das schien ihrem Vater dann aber für die Provinz doch nicht ganz geeignet.

Sie denkt kurz an den Grund, der sie in dieses gottverlassene kleine Dorf am Ende der zivilisierten Welt geführt hat. Wie immer, wenn sie an ihre Mutter denkt, verspürt sie einen schmerzhaften Stich in der Brust. Besser auf die Arbeit konzentrieren.

Aus einem Handschuhspender zieht Julia ein paar Einweghandschuhe, bläst sie kurz auf, um sie elastisch zu machen, und schlüpft hinein. Dann setzt sie einen Mundschutz auf, zieht sich Überschuhe an und folgt ihrem Vater in den nächsten Raum, den drei Halogenstrahler in klinisch-kaltes Licht tauchen.

Drinnen sieht’s ein bisschen aus wie in einem OP-Saal. Weiß gefliester Boden und geflieste Wände. In der Mitte ein großer glänzender Metalltisch auf Rollen mit einer höhenverstellbaren Hydraulik und Abflussrinnen an der Seite. Hinten an der Wand sind übereinander zwei Kühlkammern in einen großen stählernen Block eingelassen. Ein stetiges Brummen ist zu hören.

Links an der Wand, neben einem Desinfektionsmittelspender, steht ein blauer Metallschrank. Darin befindet sich akkurat geordnet das Werkzeug, das man braucht, um eine Leiche wieder hübsch zu machen: Augenschalen, Seife, Lippenstift, Rasierer, hartes und weiches Wachs, Gebisseinlagen aus Plastik, Bühnenschminke, Perückenteile, spezielle organische Nähfäden, Halfcurl-Nadeln und so weiter.

Rechts auf der anderen Seite führt eine etwa zwei Meter hohe und drei Meter tiefe Nische in die Wand. Dort war vermutlich irgendwann mal ein Gang, der zugemauert wurde. Ganz hinten in der Nische steht ein riesiger grüner Metallschrank. Der war, soweit Julia sich erinnern kann, schon hier, als sie eingezogen sind.

An der Stirnseite des Kühlraums hängt über einem einfachen Schreibtisch aus Metall eine große Uhr. Ihre Zeiger stehen auf neun Uhr achtundvierzig. Darunter ein Poster mit den Agenten Scully und Mulder und der Überschrift »The truth is out there«. Darauf hat Julia bestanden, und ihr Vater hat ihr ihren Willen gelassen.

Ihr Klient wartet in der oberen Kühlzelle. Ihr Vater schiebt den Metalltisch an die Kühleinheit und kurbelt ihn ein Stück in die Höhe. Dann öffnet er den Kippverschluss der Zelle und fährt den Verstorbenen auf einer Rollschiene langsam nach draußen.

Das Erste, was auffällt, sind seine Schuhe. Er hat Schuhgröße sechsundvierzig und offensichtlich Designerschuhe an. »Fratelli Rossetti« steht auf der Sohle. Was nach den Schuhen ans Neonlicht kommt, ist ziemlich lang und dünn.

»Auf drei«, sagt ihr Vater, und gemeinsam heben sie den Mann auf den Metalltisch.

Julia atmet durch den Mund. Von dem Toten geht ein unangenehm süßlicher Geruch aus. Merkwürdig verkrümmt liegt er in seinem dunklen Anzug auf dem Tisch. Seine Haut hat bereits die typische Wachsfarbe angenommen. Grau melierte Schläfen und ein schmaler Schnauzbart über einem runden Kinn.

Julia kennt den Mann. Er hat ihr ein Paar Schnürstiefel verkauft. Es ist– war– der Senior-Besitzer des einzigen Schuhgeschäfts im Ort. Abgeholt haben sie ihn gestern Abend im Haus seiner Familie. Seine Tochter hat ihn selbst angekleidet. Verstorben ist er bereits am Vormittag. Probeweise hebt Julia einen Arm in die Höhe. Er lässt sich leicht bewegen. Die rigor mortis, die Totenstarre, ist bereits wieder abgeklungen. Die hält nur etwa vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden an. Verursacht wird sie durch den Mangel an ATP, einem Phosphat, das normalerweise für die Entspannung der Muskeln sorgt. Setzt der Stoffwechsel aus, kann sich der Muskel nicht mehr entspannen und verkrampft. Sobald die Autolyse einsetzt, löst sich die Starre wieder. Dann tickt für den Bestatter die Uhr, denn dann fängt der Körper an, sich selbst zu zersetzen.

An der Unterseite der Hand sieht Julia bereits zwei hässliche blauviolette Verfärbungen. Das sind sogenannte livores, Leichenflecken. Sie entstehen dadurch, dass das Blut nicht mehr zirkuliert, sondern schwerkraftbedingt absinkt.

An der Stirn klafft eine hässliche Platzwunde. Die würden sie zwar nähen müssen, die eigentliche Todesursache war sie jedoch nicht. Soweit Julia weiß, erlitt der Schuhverkäufer einen Herzinfarkt, als er gerade die neueste G-Star-Raw-Sneaker-Kollektion mit Hilfe einer Klappleiter ganz oben auf einen Berg von Schuhkartons drapieren wollte. Im Alter von siebenundachtzig Jahren kann so was schon mal die letzte Idee sein.

Normalerweise kennt Julia nur ein paar Eckdaten aus dem Leben ihrer Kunden. Aber in so einem kleinen Dorf ist das anders. Sie weiß nicht, ob ihr das gefällt.

Als Erstes müssen sie den Leichnam in eine gerade Position bringen. Lindhorst fasst ihn unter den Schultern, und Julia hält die Beine fest.

»One, two, three…«

Mit einem Ruck strecken sie den Körper durch. Es knirscht einmal vernehmlich, dann sind alle Knochen wieder am Platz. Finger für Finger streckt Julia die Hände des Toten. Dann kommt der unangenehmste Teil. Die hygienische Grundversorgung. Dazu müssen sie den Toten ausziehen.

Julia und ihr Vater sind ein eingespieltes Team, deshalb geht das relativ schnell. Sie schälen den Toten aus dem Anzug, indem sie ihn wechselseitig anheben. Schließlich liegt er völlig nackt auf dem Tisch.

Julia schafft es nicht, dieses Bild mit dem agilen freundlichen Herrn zusammenzubringen, der ihr Schnürstiefel verkauft hat.

»Wanna have a break?«, fragt ihr Vater.

»Nein, geht schon.«

Julia holt drei etwa einen halben Meter lange und zwanzig Zentimeter breite, gelochte Metallschwellen aus dem blauen Schrank, während ihr Vater die Leiche in eine sitzende Position bringt. Dann schiebt sie eine Schwelle nach der anderen unter den Körper, sodass der Leichnam jetzt erhöht liegt. Mit einem Desinfektionsspray sprüht sie den ganzen Körper ein. Ihr Vater wäscht mit Seife nach und spritzt schließlich alles mit kaltem Wasser wieder ab. Das Wasser fließt durch die Löcher in den Schwellen und gurgelt den Ausguss im Boden hinunter. Als Nächstes verschließt ihr Vater die Körperöffnungen sorgsam mit Verbandsmull. Damit wird verhindert, dass nach dem Tod Körperflüssigkeit austritt.

Am Anfang hat sich Julia vor Leichen geekelt, aber gleichzeitig üben diese toten Körper eine morbide Faszination auf sie aus. Es scheint ihr immer wieder aufs Neue wie ein Wunder, dass dieses Ding, dieser leblose, kalte Körper, noch vor Stunden ein atmender Mensch war.

Nachdem der Leichnam trocken ist und die Fuß- und Handnägel geschnitten sind, gönnen sie sich eine kurze Pause. Julia lehnt sich an die kühlen Fliesen und starrt Agent Scully an als wüsste die, wo der Geist des Schuhverkäufers jetzt ist.

»Übernimmst du den Kopf?«, fragt ihr Vater. Er weiß, dass sie gern näht.

»Ja, mach ich.« Julia nimmt einen Faden und eine bogenförmige Halfcurf-Nadel aus dem Schrank und beginnt, die Wunde am Kopf mit kleinen Stichen zu nähen. Ihr Vater überschminkt unterdessen die fleckigen Stellen am Handgelenk.

»Und was macht die Kunst?«, fragt er.

»Mhmm«, nuschelt Julia abwesend.

»Mhmm-gut oder mhmm-schlecht?«

»Mittelprächtig. Hab schon wieder zwei Absagen bekommen.«

Julia bewirbt sich eifrig um einen Platz an diversen Kunstakademien. Aber bis jetzt: nur Absagen. Konzentriert zieht sie den Faden stramm, sodass sich die Wundränder schließen.

»Und wie läuft’s mit deinen classmates an der Volkshochschule?«

»Zumindest behandeln sie mich jetzt nicht mehr so, als ob ich vom Mars bin.«

»Das wird schon. Wenn sie dich erst mal ein bisschen näher kennenlernen.«

Julia hat an der städtischen VHS einen Kurs in Kalligrafie belegt. Neben ihr besuchen den noch zwei frustrierte Hausfrauen, die nie aus dem Dorf herausgekommen sind, zwei ältere Damen und ein pickliger Teenager mit Zahnspange.

Was Julia nicht erwähnt, weil das Väter(insbesondere ihrer, mit seiner Neigung zum überschwänglichen Hedonismus) sowieso nicht verstehen würden, ist, dass sie seit ihrer Ankunft keinen(aber auch wirklich keinen) Kontakt zu irgendwelchen Gleichaltrigen herstellen konnte. Beam me up, Scotty. Keine interessanten Lebensformen in Sicht. Schon gar keine in ihrem Alter.

Das führt dazu, dass sie sich ziemlich alt fühlt. Mit vierundzwanzig leicht übertrieben, aber trotzdem ein Grund zur Besorgnis. Herrgott, wie sie ihre Freunde aus Texas vermisst. Die unbeschwerten Jahre an der Highschool. Die Sommertage am Strand. Die Garagenpartys. Das alles kommt ihr vor, als wäre es schon tausend Jahre her.

Es ist ein harter Neustart gewesen. Nicht wegen der Aufträge. Da hat ihr Vater ausnahmsweise richtiggelegen. Ein bisschen Glück und gutes Timing waren auch dabei. Der einzige örtliche Bestatter hat sich dabei erwischen lassen, wie er seinen Kunden Billigsärge andrehte. Julia hat ihn und seinen langhaarigen Sohn erst ein paarmal gesehen. Das ist allerdings schon eine Weile her. Vermutlich gefällt es ihnen nicht, dass die meisten ihrer Kunden jetzt zu ihnen kommen.

Tja, freie Marktwirtschaft, Baby! Geschieht ihnen recht.

Die Leute rennen ihnen, salopp gesagt, die Bude ein. Was aber noch lang nicht heißt, dass die Dorfbewohner sie akzeptieren.

Julia hat sich den Zeitungsausschnitt mit der Überschrift »Wo bleibt Gott? Bizarre Bestattungsrituale und ihre Folgen« aufgehoben. Als der Sargpavillon gerade zur Hälfte fertig war, haben ihnen Unbekannte mehrere Scheiben eingeworfen. Auf den Backsteinen stand: »Haut ab!« Nicht gerade ein Grund zum Wohlfühlen.

Wie gut es hier einige mit ihnen meinen, sieht man daran, dass sie nicht nur das Gesundheitsamt, sondern auch schon die Steuerbehörde zu Besuch gehabt haben. So viel zur schwäbischen Gastfreundschaft.

Irgendwie bezeichnend, dass im Heimat- und Handwerksmuseum das Handwerkszeug der stolzen Familie ausgestellt ist, deren Vorfahren im 16.Jahrhundert als Scharfrichter für zehn Gulden Tagesgage vierunddreißig Menschen hingerichtet haben. Das Gute ist, dass Hexenverbrennungen heutzutage verboten sind, sonst wären sie wohl auf irgendeinem Scheiterhaufen gelandet. Der letzte Hexenprozess hat übrigens vor läppischen zweihundertzwanzig Jahren nur hundert Kilometer von hier entfernt stattgefunden. Das hat Julia recherchiert. Die Dienstmagd Maria Anna Schwegelin aus Kempten wurde zwar nicht hingerichtet, aber lebenslang eingesperrt.

All das schreckte Julias Vater natürlich nicht ab. Für ihn war die leer stehende Metzgerei ein Glücksfall, denn der große Kühlraum im Keller ist ideal für die Herrichtung und Lagerung ihrer »Klienten«.

Henning Lindhorst ging mit dem ihm eigenen, völlig unangebrachten amerikanischen Optimismus ans Werk. Wider Erwarten brachte ihnen das kaputte Schaufenster Sympathien und ihre erste Leiche ein. Vielleicht liegt es aber auch an ihrer Tiefpreis-Offensive. Egal, welche Vorurteile Schwaben haben mochten: Wenn etwas nur noch die Hälfte kostet, ist das ein unschlagbares Argument.

Julia ist fertig mit der Naht und schneidet den Faden ab. Dann setzt sie der Leiche Augenschalen ein. Das sind kontaktlinsenähnliche Plastikhalbmonde, die direkt auf den Augapfel unter die Lider kommen. Das ist notwendig, denn die Augen fallen, sobald die Flüssigkeit darin trocknet, ein.

Der große Traum des alten Schuhverkäufers war es, »Spuren zu hinterlassen«. Deshalb soll er morgen in einem Sarg beerdigt werden, der die Form eines gigantischen Schuhs hat.

Der Sarg soll heute am frühen Abend geliefert werden.

Die Uhr steht auf vierzehn Uhr fünfundvierzig, als der Schuhverkäufer fertig ist. Julia und ihr Vater reinigen den Edelstahltisch, desinfizieren Instrumente und Arbeitsflächen, wechseln die Kleidung, gehen einige Schritte vors Haus und inhalieren frische Luft.

Lindhorst ahnt noch nicht, dass die Beerdigung einen katastrophalen Verlauf nehmen wird. Schuld wird Johann Gottesacker sein. Der hat ähnliche Angewohnheiten wie sein Sohn. Allerdings kniet er dazu auf dem Kundenklo seines Bestattungsinstituts, und seine Absichten sind alles andere als romantisch. Dem Traditionsbestatter ist eine Idee gekommen, was er gegen seinen Konkurrenten unternehmen kann.

Der Don

So ein kleines Dorf ist wie ein stiller See. Still ist es aber nur an der Oberfläche. Wirft man einen Stein hinein, erfassen die Erschütterungen nach und nach das ganze Gewässer. Dieser Stein ist bereits unterwegs. Und er kommt aus Italien. Genauer gesagt aus dem zweiunddreißig Kilometer westlich von Palermo gelegenen sizilianischen Dörfchen Borgetto.

Die ehrenwerte Gesellschaft hat sich vollzählig eingefunden. Man sitzt draußen auf großen Korbstühlen um einen weißen Marmortisch herum. Der makellose Himmel über der »Villa Messina« spiegelt sich in den Sektgläsern. Hier wohnt Don Vincenzo di Matteo Sorentino, Oberhaupt der südsizilianischen Cosa Nostra.

Alles ist hergerichtet für eine große festa vor einer Kulisse, wie man sie in keiner »Raffaelo«- oder »Giotto«-Werbung hätte authentischer nachstellen können.

Reinste italienische Idylle.

Bis auf das Kokain.

Neben jedem Sektglas steht ein Teller, in den eine Glasrinne eingelassen ist. Und darin schimmert jeweils eine zehn Zentimeter lange Line fast reinen Kokains. Don Sorentino hat diese Teller machen lassen, nachdem ihm bei ähnlicher Gelegenheit ein heftiger Windstoß Koks im Wert von zehntausend Euro in den Garten geweht hat.

Das Ganze wird sich in Kürze in ein wahrhaft sizilianisches Drama verwandeln. Und das ist die Schuld des Postboten.

Giuseppe Monti.

Der macht sich gerade für seine alltägliche Tour zurecht und belädt seine Mofatasche mit der Post, die er heute im Laufe des Vormittags noch ausliefern muss. Ein Auto war dem ministero delle comunicazioni zu teuer und schien nicht lohnenswert bei gerade mal siebentausend Einwohnern. Guiseppe Monti ist also viel an der frischen Luft. Abgesehen davon, dass ihm der Hintern wehtut, weil ihm an der Via Mirelli gestern ein Reifen geplatzt ist und er mitsamt motorino im Straßengraben gelandet ist, deutet nichts auf eine größere Katastrophe hin.

Noch nicht.

In der »Villa Messina« wird heute ein wichtiger Geschäftsabschluss gefeiert. An der Stirnseite des Tischs thront, ganz in Weiß gekleidet, der Don. In seinem breiten, von spektakulären Ausschweifungen und dem Alter teigig gewordenen Gesicht sitzt eine Sonnenbrille auf der fleischigen Nase. Rechts und links der Ohren sprießen Büschel von grauen Haaren. Der Rest seines Kopfes ist kahl, nur gesprenkelt mit braunen Altersflecken. Seine schmalen, nach unten gezogenen Lippen verleihen ihm etwas Froschartiges, und sein kantiges Kinn verrät den Hang zur Gewalttätigkeit. Er wiegt ungefähr hundertvierzig Kilo.

Neben ihm sitzen seine zwei Söhne, Gaetano und Pasquale, unverschämt gut aussehende Bilderbuch-Mafiosi mit verspiegelten Sonnenbrillen und schwarzen Locken. Zwischen ihnen eingezwängt Cousin Enzo, der gerade nervös an seinem Schulterhalfter herumspielt. Er ist leicht dicklich, hat weiche, fast feminine Lippen und ein fliehendes Kinn, das er in der vergeblichen Hoffnung, männlicher zu wirken, mit einem Henri-Quatre-Bart zu verdecken sucht. Seine schwarzen Haare trägt er an der Seite kurz und in der Stirn aufgeföhnt zu einer Tolle. Die Söhne des Don nennen ihn occhio cisposo, zu Deutsch »Triefauge«. Der Grund: Er leidet von Geburt an unter einem Schlapplid. Sein linkes Augenlid hängt nach unten, was seinem Gesicht einen verschlagenen Ausdruck verleiht.

Eine Zeit lang hat sich Enzo Extensions machen lassen, aber nur so lang, bis seine beiden Onkel das herausgekriegt haben. Die Haarverlängerungen aus original indischem Haupthaar haben das Leben von mindestens drei unbescholtenen Bürgern gekostet. So lange hatte Enzo zu tun, bis sein ramponierter Ruf wenigstens einigermaßen wiederhergestellt war. Tatkräftig geholfen hat ihm dabei seine rechte Hand, Romeo Zingarelli, besser bekannt unter seinem Spitznamen: Engelsgesicht.

Viso d’angelo steht scheinbar unbeteiligt an der Verandatür, ein Cocktailglas lässig in der Hand. Ihm hat die Natur all das geschenkt, was sie Enzo vorenthalten hat. Er ist sehr groß und schlank, trägt trotz der Hitze einen dunklen Rollkragenpullover und ein weißes Sakko, das sich an der Schulter ausbeult. An den Füßen hat er Cowboystiefel aus Krokodilleder mit Sporen, die bei jedem seiner Schritte leise klirren. Es geht das Gerücht, dass der Klang dieser Sporen das Letzte ist, was man hört, wenn Romeo zu Besuch kommt.

Was es aber so schwer macht, den Blick von ihm zu wenden, ist sein Gesicht. Umschmeichelt von langen blonden Haaren ist es von einer fast beängstigenden Symmetrie. Seine Gesichtszüge sind so ebenmäßig wie die einer griechischen Statue. Man könnte ihn schön nennen, wären da nicht die steinkalten eisblauen Augen.

Berüchtigt ist nicht nur Romeos Aussehen. Bekannt sind auch seine Grausamkeit, seine Zielgenauigkeit und sein Hang zu düsterer Poesie. Vor allem Dantes dunklere Lyrik hat ihm schon seit seiner, gelinde gesagt, problematischen Adoleszenz gefallen.

Ein Stück weiter den Tisch hinunter sitzt eine Gruppe finster dreinblickender Mexikaner um ihren ganz in Weiß gekleideten Anführer herum. Die Mexikaner, Angehörige des Sinaloa-Kartells, sind ein bisschen paranoid. Abgesehen von dem ansehnlichen Waffenarsenal, das sie am Leib tragen, ist einer von ihnen gerade mit grimmigem Gesicht und einem schwarzen Scanner an allen Festgästen entlangmarschiert und hat sie auf Wanzen untersucht. Der Don hat nur gelacht.

»Das ist mein Dorf. Wenn hier einer Wanzen anbringt und ich das nicht weiß, dann müsste ich es selbst gemacht und wieder vergessen haben.« Die ausländischen Gäste fanden das nur bedingt witzig.

»Abren los ojos, chicos! Este culazo italiano apesta!«

Auf dem Rasen machen sich hübsche, spärlich bekleidete Damen kichernd an einem Grill zu schaffen.

Der Grund zum Feiern ist ein schwarzer Koffer, der in der Mitte des weißen Marmortischs steht. Er enthält Kokain im Wert von einer Million Euro. Don Sorentino klopft mit einem Silberlöffel an sein Sektglas.

»Famiglia! Ich will keine langen Worte machen: In diesem Koffer sind die ersten Früchte der Zusammenarbeit mit unseren mexikanischen Freunden. Sie haben einen neuen, innovativen Weg gefunden, uns weißes Gold ins Land zu bringen. Ich sage nur: Es lebe das mexikanische pollo!«

Vereinzeltes Gelächter. Die Italiener heben die Gläser und stoßen an. Die Mexikaner starren ausdruckslos durch sie hindurch. Zum einen verstehen sie nicht besonders gut Italienisch, und pollo in süditalienischem Dialekt klingt irgendwie nach polla, was im Spanischen ein Schimpfwort ist und einen wichtigen Teil der männlichen Physiognomie bezeichnet. Zum anderen wollen sie so schnell wie möglich wieder weg. Jede Minute, die sie weiter in diesem überkontrollierten Europa verbringen, bedeutet ein Risiko für sie.

In der Tat hat die mexikanische connection, inspiriert von einer US-Serie, einen innovativen Weg entdeckt, um ihren Exportschlager unbemerkt ins Land zu bringen. Und zwar im Hintern von gefrorenen Broilern. Heute sind die ersten fünfundzwanzig Kilo angekommen. Und jetzt warten die drei Mexikaner auf ihre Bezahlung.

Don Sorentino wedelt gönnerhaft mit seiner dicken Hand, an der ein protziger Siegelring prangt. »Dass das Ganze so reibungslos geklappt hat, liegt vor allem an Gaetano und Pasquale. Ihr sollt wissen: Ich bin stolz auf euch.« Er beugt sich zu seinen Söhnen hinüber und gibt ihnen jeweils einen Kuss auf die Stirn. Dabei muss er sich halb über Enzo legen, der sich vorkommt wie das fünfte Rad am Wagen.

»Mille grazie, padre.«

Schleimer!

Enzo, der die ganze Organisation abgewickelt, die Zollbeamten bestochen und die Flüge klargemacht hat, ballt unter dem Tisch die Faust.

Seit er in die ehrenwerte Gesellschaft aufgenommen wurde, sucht er einen Weg, um weiter nach oben zu kommen. Bislang ohne größeren Erfolg.

Der Don hebt das Glas und winkt die Frauen heran. »Salute, amici. Lasst uns ein bisschen feiern, bevor wir zum Geschäft kommen.«

***

Briefträger Guiseppe Monti ahnt von all diesen Dingen natürlich nichts. Er hat ungefähr die Hälfte seines Pensums geschafft, und vor ihm ragt die Via Monte Grappa auf, die einzige Straße im Dorf, die steil bergauf führt und die ihm noch in schmerzhafter Erinnerung ist. Ganz oben liegt die »Villa Messina«, und dummerweise ist heute ein Paket für den Don dabei. Es kommt aus Deutschland, hat viele Stempel, und irgendwas klappert darin.