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Drea Summer

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Beschreibung

Für alle sichtbar soll das Branding sein. Jeder soll es sehen!

Chefinspektor Oliver Johnson eilt durch das kleine Dörfchen Eyam. Schreie einer jungen Frau ertönen immer wieder. Als er das Mädchen erblickt, um das sich schon eine Menschentraube gebildet hat, kann er seinen Augen nicht trauen. Will ihnen nicht trauen! Nackt, verdreckt und blutverschmiert. Ein Brandzeichen am Körper. Genau wie vor 15 Jahren. Die Bestie ist zurück und der Albtraum soll erst beginnen.

Temporeich, raffiniert und überraschend.

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Drea Summer

Totennektar

 

 

Drea Summer

Totennektar

 

 

 

ROMAN

Januar 2021 © 2021 Empire-Verlag Empire-Verlag OG, Lofer 335, 5090 Lofer 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Peter Wolf

Covergestaltung: Chris Gilcher für Buchcoverdesign.de https://buchcoverdesign.de

Coverabbildungen: Adobe Stock ID 8522542002, Adobe Stock ID 27223242745 und freepik.com

Texturen Designed by Freepik.com

Satz: Werneburg Internet Marketing und Publikations-Service https://werneburg-im-ps.de

 

Über die Autorin:

Drea Summer, gebürtige Österreicherin, lebte im schönen Südburgenland. Sie begann ihre Schreibkarriere mit der Auswanderung nach Gran Canaria vor mehr als vier Jahren. Die „Insel des ewigen Frühlings“ inspiriert sie, schaurige und blutige Geschichten, die in ihrem Kopf herumspuken, niederzuschreiben.

 

Veröffentlichungen:

„Mit leisen Flügeln“ – ein Krimi mit Thrillerelementen 

„Sie sind nichts wert“ – Gran-Canaria-Thriller Trilogie Teil 1

„Tu, was ich dir sage“ – Gran-Canaria-Thriller Trilogie Teil 2

„Du bist mein Besitz“ – Gran-Canaria-Thriller Trilogie Teil 3

„Ungerecht“ – Thriller

„ABgehackt“ – Team Gran Canaria Teil 1

„ANgefasst“ – Team Gran Canaria Teil 2

„ANvisiert" – Team Gran Canaria Teil 3

„Dein Tod ist mein Freund“ – Psychothriller

„Du gehörst bestraft“ – Krimi

„Morgen bist du Vergangenheit“ – Thriller-Kurzgeschichte

„Komm, wir fliegen nach Gran Canaria“ – Humor

 

 

„Totennektar“ – Thriller

Empire-Verlag

1

Ein Schrei ertönte und hallte an den unverputzten Steinwänden der Parish Church wider. Oliver Johnson rannte über die grüne Fläche, vorbei an den mehr als 400 Jahre alten Grabsteinen, die an eine schlimme Zeit erinnerten. Eine Zeit, in der es keine Hoffnung mehr für die Einwohner von Eyam gegeben hatte. Die Sonne streckte ihre letzten Strahlen noch über den Turm der Kirche aus. Bald würde es dunkel werden in Eyam. Wieder ertönte ein Schrei, diesmal intensiver als zuvor. Oliver bog um die linke Ecke und sah die Menschenansammlung, die sich rund um den abgesperrten Bereich um das keltische Kreuz gebildet hatte.

Einige Leute wichen zurück, und er erspähte einen Augenaufschlag lang eine Frau, die wild gestikulierte. Doch schon im nächsten Moment war sie verschwunden.

»Gehen Sie zur Seite! Polizei!«, rief er, noch bevor er bei der dicken Eisenkette ankam, die das keltische Kreuz einzäunte. Unter dem aus Stein gemeißelten Kreuz befand sich kein Grab, sondern es wurden damit zumindest nach den vielen Überlieferungen besondere Plätze markiert. Oliver bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen. Er kreuzte für wenige Sekunden seine Finger. Ihm stockte der Atem, als er die nackte blutverschmierte Frau sah. Sie war höchstens 25 Jahre alt. Ihre blonden kurzen Haare standen wie Antennen von ihrem Kopf ab. Die blauen Augen waren weit aufgerissen und gerötet. Ein Skorpion prangte dunkelrot auf ihrem rechten Oberschenkel. Das Brandzeichen, schoss es Oliver durch sein Hirn. Es war genauso wie damals, doch diese Frau lebte. 

Die Bestie war also wieder zurückgekehrt nach all den langen Jahren. In Olivers Körper tobte ein Kampf, und für einen kurzen Moment übermannte ihn Traurigkeit. Er schüttelte den Kopf, um die aufkommenden Gedanken aus seinem Hirn zu verbannen. Dann rannte er auf die Unbekannte zu und packte sie fest am Oberarm. Sie fauchte wie ein wild gewordenes Tier und fletschte dabei die Zähne. Kleine Speicheltröpfchen landeten auf seiner Haut. Wieder schrie sie, bäumte sich auf und versuchte mit aller Gewalt, sich aus seinem Griff zu befreien, doch im selben Moment packte Olivers Kollege Ian die Frau und riss sie zu Boden. Einen Augenaufschlag später klickten die Handschellen.

Ian rannen einige Schweißperlen seine Glatze hinab, und er stand auf. Seine Hand umfasste den Oberarm der Frau, und mithilfe eines weiteren Uniformierten zog er sie in die Höhe. Oliver sah die wunden Stellen an ihren Handgelenken. Eindeutig Fesselspuren, dachte er. Eine Decke wurde über die Schultern der Frau gelegt, um sie vor den neugierigen Blicken zu schützen. 

»Wer hat uns angerufen?«, fragte Oliver in die Zuschauermenge, die von den beiden anderen Kollegen einige Meter vom Einsatzort zurückgedrängt worden waren.

Zögerlich hob ein älterer Mann mit Stock seine Hand.

Oliver ging auf den Mann zu und nahm ihn zur Seite. »Ich bin Chefinspektor Johnson. Was haben Sie gesehen?«

Der ältere Mann zögerte einen Moment. »Sie hat geschrien. Ganz laut. Das habe ich in meiner Wohnung da drüben gehört.« Er zeigte auf das Haus gegenüber mit den hellen Backsteinen und den Verzierungen rund ums Fenster, ein Haus, wie es damals im 14. Jahrhundert üblich war. »Dann habe ich Sie angerufen und bin hierhergekommen, so schnell ich konnte.«

»Haben Sie sonst noch jemanden hier gesehen?«

Der ältere Mann verneinte.

»Sie kommen dann zu mir auf die Dienststelle, ja?« Mit diesen Worten drehte er sich zu Ian um, der ihm entgegenkam. Obwohl Ian die stattliche Größe von einem Meter achtzig aufwies, musste er zu Oliver aufschauen.

»Habt ihr ihre Kleidung gefunden?«, fragte Oliver, doch Ian schüttelte den Kopf.

»Wir suchen noch, aber bisher erfolglos. Hast du das … ich meine …«, setzte Ian an und stoppte sich selbst mitten im Satz. Es war ein fragender Blick, der Oliver traf.

»Ja, ich sah das Brandzeichen. Wir fahren jetzt auf die Dienststelle und suchen die Akte über den alten Fall heraus.«

»Und sie nehmen wir gleich mit, oder?«, fragte Ian. Er deutete auf die Frau, die sich nach wie vor heftig gegen ihre Festnahme wehrte. »Obwohl sie mir nicht ganz bei Sinnen zu sein scheint.«

Drei Polizeibeamte versuchten, sie unter Kontrolle zu bringen, ohne dass die Frau oder sie selbst dabei Schaden nahmen.

»Ahh!« Es war der Schrei eines Beamten, der gleich darauf die Hand auf seinen Unterarm legte.

Oliver vermutete, dass ihn die Unbekannte gebissen hatte. Das auch noch!»Ich werde meinen Bruder Arthur anrufen. Er soll auf die Polizeistation kommen und sie dort untersuchen. Dann sehen wir weiter, okay? Lass hier bitte alles absperren, und die Leute sollen alle verschwinden.« Oliver wartete nicht auf Ians Reaktion, sondern zückte sofort sein Telefon.  

»Ja?«, klang es aus der Leitung.

»Hallo Arthur! Oliver hier. Kannst du bitte zu mir aufs Revier kommen? Ich brauche deine fachliche Meinung als Psychologe zu der Frau, die wir soeben aufgegriffen haben.« Oliver überlegte einen Moment, ob er Arthur die Informationen und den möglichen Zusammenhang zu diesem alten Fall weitergeben sollte, doch vorerst entschied er sich dagegen. Das wollte er nicht am Telefon besprechen. Blut ist dicker als Wasser, auch wenn Arthur und er nur Halbbrüder waren. In den letzten fünf Jahren waren die beiden zusammengewachsen, so als hätten sie auch ihre Kindheit miteinander verbracht.

»Natürlich. Was ist passiert? Soll ich etwas mitbringen?«

»Wir haben eine nackte Frau gefunden, die geistig verwirrt ist. Sie hat sogar einen Kollegen gebissen. Beeil dich, ja?«

»Klar. Bis gleich.«

Obwohl Arthur das Gespräch schon beendet hatte, hielt Oliver das Handy noch immer an sein Ohr. Er starrte ins Leere. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. Wenn es derselbe Täter wie vor 15 Jahren ist, warum ist er jetzt wieder aufgetaucht? Hat es vielleicht etwas mit Arthur zu tun, der selbst erst seit einem Jahr wieder hier ist? Oder vielleicht sogar mit ihm selbst?  

»Kommst du?« Es war Ian, der ihn wieder ins Hier und Jetzt zurückholte.

Oliver nickte.

2

»Verflucht!«, flüsterte ich leise und konnte kaum glauben, was meine Augen da sahen. »Sie ist entkommen.« Scharf sog ich die Luft ein. Das Tablett mit dem Essen hielt ich noch in meiner Hand. Der Duft von dem in Teig gebackenen Fisch vermischte sich mit einer penetranten Urinnote und abgestandener Luft. Ich starrte auf die unverputzten Wände, die von einer schummrigen Glühbirne beleuchtet wurden, die in der Mitte des kleinen Raumes fröhlich hin und her baumelte. Die massiven Handfesseln, die mittels Eisenhalterungen in die Mauer gedübelt worden waren, hingen an den Eisenketten hinunter. Leer. Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. Mühsam schluckte ich mehrmals, doch ich wurde den Kloß nicht los.

Am liebsten hätte ich mir mit der flachen Hand auf die Stirn geschlagen. Wie doof bin ich eigentlich? Bevor ich vor wenigen Minuten aus dem Raum gegangen bin, hätte ich ihre Fesseln kontrollieren müssen. Das gibt jetzt eindeutig Ärger. Scheiße! Wie soll ich das bloß erklären? 

Ich drehte mich um und rannte, so schnell ich konnte, die Stufen hinauf. Ich musste sie wiederfinden, bevor sie für immer verschwand.

 

3

Arthur griff nach seinem dunkelblauen Mantel, der auf dem Beifahrersitz lag, und zog ihn an. Dann richtete er den Kragen seines Hemdes und streifte dieses mit seiner flachen Hand glatt, bevor er den Mantel zuknöpfte. Schon als kleiner Junge war es für ihn immer wichtig gewesen, dass die Kleidung korrekt saß. Und das war bis heute so geblieben.

Der Tag war anstrengend gewesen – viele Patienten, die über ihre Probleme klagten. Manche Geschichten hörte er schon zum gefühlt tausendsten Mal, doch auch heute war es ihm wieder gelungen, seine – wie er es nannte – Schützlinge mit einer positiven Einstellung wieder auf ihre Zimmer zu schicken. Arthur atmete aus, und ein weißer Nebel bildete sich. Obwohl es erst Ende September war, waren die Abende, sobald die Sonne untergegangen war, kühl. Er nahm seine vorsorglich gepackte Arzttasche und warf die Autotür zu. Eine nackte Frau!, wiederholte er in Gedanken Olivers Worte, und in seiner Magengegend kam ein flaues Gefühl hoch. Er beugte seinen Oberkörper ein wenig nach unten und betrachtete sich im Seitenspiegel des Wagens. Aus Gewohnheit strich er über seinen präzis gezogenen Scheitel, der wie auch schon bei seinem Vater links saß, und ordnete jede einzelne Haarpartie neu an. Dadurch, dass er dies mehrmals am Tag machte, war er einen Augenaufschlag später mit seinem Aussehen zufrieden.  

Er schritt dem dunklen Cottage entgegen. Auf der Steinmauer sah er die blaue Laterne, die sich perfekt in das altertümliche Gesamtbild einfügte. »Police« war auf dem Glas zu lesen. Er sprang die drei Stufen hinauf und öffnete die schwere Eingangstür zur Polizeistation. Drinnen angekommen, empfing ihn der typische Geruch eines uralten Gebäudes, den man auch mittels Lüften nie wieder aus dem Gemäuer bekam: muffig und abgestanden. Die Polizeistation in Eyam war eine der kleinsten in ganz England und doch war sie zumindest von innen die modernste. Er umrundete die weiße Theke und nickte den drei Beamten zu, die mit ihren Kaffeebechern in einer Ecke standen und sich unterhielten.  

»Da bist du ja endlich!«, sagte Oliver, der auf ihn zukam und sich hektisch durch seine schwarzen Haare fuhr, sodass diese kreuz und quer von seinem Kopf abstanden. Die Stoppeln seines Bartes ließen Arthur darauf schließen, dass er sich – wie so oft – nicht die Zeit genommen hatte, sich zu rasieren. Dabei war gerade das äußere Erscheinungsbild das Wichtigste. »Ich bring dich gleich zu ihr, doch ich muss dir noch etwas dazu sagen.«

Arthur blieb stehen, und um seine Augenpartie bildeten sich kleine Falten. Ein sorgenvoller Blick traf ihn. Oliver, sein großer Bruder, zu dem Arthur seit knapp fünf Jahren aufblickte, und dem er, zumindest was Mut betraf, stets nacheiferte, sah von einem Moment auf den anderen noch älter aus als mit seinen knapp 50 Jahren. »Was ist denn los? Was musst du mir sagen?«

Oliver legte seine Hände auf Arthurs Schultern. Oliver war nur einen Zentimeter größer als Arthur, und somit schauten sich die beiden direkt in die Augen. Es hatte fast den Anschein, als müsse Oliver seinen Bruder bei den Worten, die er ihm nun sagen würde, stützen. »Sie war blutverschmiert und hat ein Brandzeichen auf ihrem Oberschenkel.«

»Okay. Dann lass mich zu ihr.«

»Was heißt okay? Hast du verstanden, was ich dir soeben erzählt habe?«

Arthur wurde von einer Sekunde auf die andere heiß, und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er räusperte sich. »Du meinst …«, Arthur unterbrach sich.

»Ja, das meine ich. Du hast diesen Schock bis heute nicht überwunden, das weiß ich genau. Schließlich hast du sie gefunden. Es ist die gleiche Brandmarke wie damals. Ich habe mir soeben die Fotos angesehen.«

»Du hast dir die Fotos kommen lassen?«

»Ja, natürlich. Er ist wieder da. Verstehst du? Aber warum nach dieser langen Zeit? Ich verstehe das nicht!«

»Habt ihr schon Proben von dem Blut genommen? War ein Arzt bei ihr?«

»Ja, Proben haben wir. Aber du musst sie ruhigstellen, verstehst du, was ich meine? Ich habe schon den Arzt aus Stoney Middleton bestellt, aber der braucht eine Stunde, bis er hier ist. Solange können wir nicht warten.«

»Warum? Ich verstehe nicht.«

Oliver antwortete nicht, sondern zeigte Arthur mittels Handbewegung an, dass er ihm folgen sollte. Sie gingen den Flur entlang, und immer wieder hörte man Schreie gepaart mit Flüchen in einer anderen Sprache. Als Oliver die Tür zum Arrestraum öffnete, sah Arthur die nackte Frau, die an den Gitterstäben ihrer Zelle rüttelte. Sie erstarrte in ihrer Bewegung, und ihre Augen weiteten sich. Sie steckte ihre Nase zwischen die Gitterstäbe und schnüffelte hörbar. Diese Geste erinnerte Arthur an ein wildes Tier, das zuerst den Geruch seines Gegenübers wahrnehmen musste, um dann blitzschnell zu entscheiden, ob dies nun Freund oder Feind war.

»Du!« Die Unbekannte zeigte anklagend mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Arthur. Ihr Gesicht verzog sie zu einer Fratze. Dann senkte sie ihren Arm und lachte hysterisch.

»Okay«, sagte Arthur und stellte seine Tasche auf den kahlen Boden. »Du hältst ihren Arm fest, und ich injiziere ihr ein Beruhigungsmittel. Dann lassen wir sie in die Klinik bringen. Hier ist es für sie eindeutig zu gefährlich. Wir können sie hier nirgendwo fixieren.«

Oliver wartete, bis Arthur die Flüssigkeit in die Spritze gezogen hatte. Beide traten näher an die Gitter. Die Frau lachte noch und beugte sich leicht vornüber. Alles spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab: Oliver griff beherzt ihren Arm und zog ihn durch die Gitterstäbe, Arthur injizierte ihr das Beruhigungsmittel. Mit aller Kraft stemmte sich die Unbekannte gegen ihr Gefängnis, aber wenige Augenblicke später ließ ihr Widerstand nach, und sie wankte.

»Los, sperr auf! Wir müssen sie auffangen, bevor sie umkippt.« Oliver drückte auf den Schalter, der auf der gegenüberliegenden Wand in einen kleinen Kasten eingebaut war. Mit einem leisen Surren sprang die Tür auf, und Arthur hetzte in die Zelle. Im letzten Moment schaffte er es, die Frau aufzufangen, bevor sie mit ihrem Kopf auf den Boden geknallt wäre.

Arthur schaute in ihr Gesicht, auf dem sich ein Lächeln gebildet hatte. Es schien aber nahezu eingefroren zu sein. Speichel rann ihr aus dem Mundwinkel und tropfte auf seine Schuhspitze. »Pack an!«, forderte er Oliver auf und deutete mit dem Kopf in Richtung ihrer Füße. Gemeinsam legten sie sie auf die Liege.

Oliver holte noch die Wolldecke, die sie achtlos in eine Ecke der Zelle geworfen hatte, und legte diese über sie. »Wann kann ich sie befragen? Ich benötige alle Informationen so schnell wie möglich.«

»Du musst warten, bis ich sie untersucht habe. Ich muss zuerst wissen, welche Drogen ihr verabreicht worden sind.«

Oliver packte Arthur hart an seinem Unterarm. »Ich muss wissen, was sie weiß.«

Arthur nickte.

4

15 Jahre zuvor

 

Arthurs Schulrucksack rutschte von seiner Schulter und fiel augenblicklich zu Boden. Vor seinen Füßen lag seine Mutter. Zusammengekrümmt, nackt, blutverschmiert auf dem grünen saftigen Rasen. Ihre leblosen Augen durchbohrten ihn. Sein Körper war wie eingefroren. Sein Herz schlug gegen den Brustkorb, so als würde es jeden Moment herausspringen. Nicht einen klaren Gedanken konnte er fassen, wusste nicht, was er tun sollte, konnte, musste. Dann endlich glitt der schrille Schmerzensschrei aus seinem Mund, und er sank augenblicklich auf dem grünen Rasen vor dem Wohnhaus nieder. Die Tränen rannen wie Sturzbäche seine Wangen hinab, und er legte sich ganz nah zu ihr, fühlte unter seinen Händen ihre kalte Haut.

»Mama«, flüsterte er, und das Schluchzen erstickte die Worte, die er ihr noch sagen wollte. Er wollte ihre braunen Haare sanft aus dem Gesicht streichen, doch ihr Kopf rollte zur Seite und offenbarte Einblicke auf das abgetrennte Fleisch. Arthur erstarrte. Er war unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Plötzlich packten ihn kräftige Hände an den Schultern und zogen ihn nach oben. Worte drangen wie durch Wattebäuschchen in seinen Gehörgang.

»Arthur!«, sagte sein Vater und drückte den Teenager fest an seine Brust. Doch Arthur wehrte sich gegen seinen Vater und stemmte sich mit seiner gesamten Kraft gegen ihn. Und doch half ihm das nichts, denn sein Vater ließ ihn nicht los.

»Dad! Lass mich los! Ich muss Mama helfen. Du musst ihr helfen.« Er drehte seinen Kopf in ihre Richtung, sah aber nur ihre Füße. Ihre nackten, schmutzigen Füße.

»Du kannst ihr nicht mehr helfen. Deine Mutter ist tot.«

»Nein!«, schrie er, ballte seine Hände zu Fäusten und schlug auf den Brustkorb seines Vaters ein. »Nein!« Wieder und wieder wiederholte er sich. Vor seinen Augen bildete sich eine Art Nebel, und er nahm seine Umgebung nur noch schemenhaft wahr. Eine warme Hand legte sich um seinen Oberarm und zog ihn ins Haus hinein. Beruhigende Worte strömten auf ihn ein, und doch nahm er diese kaum wahr.

Es musste mehrere Stunden gedauert haben, die er auf dem Familiensofa im Wohnzimmer seines Elternhauses gesessen hatte, bis er seine Umgebung wieder vollständig wahrgenommen hatte. Das Erste, was er sah, war der Polizist, der ihm gegenübersaß. Arthur schaute ihn an und ließ seinen Blick ein Stück nach oben schweifen. Zu dem Ölgemälde oberhalb des Kaminsimses, auf dem seine Mutter ihn anlächelte. Für einen Augenaufschlag sah es so aus, als strahle über ihrem Haupt eine Art Heiligenschein. Doch schon im nächsten Augenblick verschwand dieser wieder.  

»Meine Mama ist tot«, stammelte er.

»Ja!«, sagte der Polizist und schaute gen Boden. »Ich hol deinen Dad, okay?« Der Beamte stand auf und verschwand durch die Schiebetür, die er sofort hinter sich wieder schloss. Arthur blieb allein und doch hörte er ihre Stimme.

»Ich liebe dich, mein Liebling!«

5

»In frühestens vierundzwanzig Stunden haben wir ein Ergebnis.« Oliver wandte sich Ian zu, der seinen Schreibtisch im selben Büro hatte. »Konntest du herausfinden, wer diese Frau ist?«

»Bisher nicht. Ich habe auch noch keine Ahnung, woher sie kam und was sie dort wollte. Wir haben keinen Anhaltspunkt. Auch die Spurensuche vor Ort ergab nichts.«

Oliver starrte auf seinen Bildschirm. Ein blondgelockter Mann mittleren Alters schaute in die Kamera. »Kann es nicht sein, dass dieser Scheißkerl doch etwas damit zu tun hat?«

»Wen meinst du? Joshua Harris? Er hat ein gültiges Alibi. Er hatte in der Klinik bis acht Uhr in der Früh Dienst. Das wurde auch von mehreren Leuten bestätigt.«

»Die hat er alle gekauft. Alle!« Oliver donnerte mit der Faust auf den Tisch.

»Oliver, bitte! Du hast dich schon damals in diesen Fall verbissen. Bitte mach nicht wieder den gleichen Fehler.«

»Ich habe es dir versprochen. Und ich stehe zu meinem Wort. Allerdings will ich nochmals mit Harris reden.«

»Das halte ich für keine gute Idee.«

»Weswegen? Weil ich ihn damals vor der psychiatrischen Klinik halb totgeprügelt habe? Das war vor fünfzehn Jahren. Der Dreckskerl hat etwas damit zu tun! Ich weiß das.«

»Oliver, sei vernünftig! Er hatte ein hieb- und stichfestes Alibi. Aber ich lass ihn überprüfen, wenn du das möchtest. Doch du machst nichts! Du bist befangen.«

»Ach ja? Warum? Weil es meine leibliche Mutter war? Doch ich wusste nichts davon. Erst nach ihrem Tod haben es mir meine Adoptiveltern erzählt. Verstehst du? Wegen dieses Dreckskerls durfte ich sie niemals kennenlernen. Ich werde nie erfahren, woher ich komme.« Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und raubte ihm kurz den Atem.

»Weißt du was? Wieso machst du für heute nicht Schluss mit Arbeit und gehst … nach Hause?«

»Wieso betonst du die letzten beiden Worte so? Hast du Angst, ich fang wieder mit dem Trinken an? Ist es das, was dir Sorgen bereitet? Mir bereitet eher Sorgen, dass dieses Monster da draußen noch frei umherläuft, und das seit mehr als fünfzehn Jahren. Und meine Mutter war nicht seine Erste. Ein Jahr zuvor wurde die kopflose Leiche einer Frau im Wald gefunden. Auch sie trug das gleiche Brandmal. Und jetzt … Jetzt ist er wieder da. Es muss mit Harris zusammenhängen. Der kam erst vor einem halben Jahr zurück von sonst irgendwo.« Oliver fuhr aus seinem Schreibtischsessel hoch und stemmte seine Handflächen auf den Tisch. Der Kaffee in seiner Tasse schwappte gefährlich. Oliver spürte, wie seine Halsschlagader pulsierte. Wut kroch ihm in seine Adern und loderte wie ein Buschfeuer, das alles niederzubrennen drohte.

»Du solltest wieder zur Therapie gehen. Meinst du nicht?«, sagte Ian und stand ebenso auf.

»Was bildest du dir ein, mir zu sagen, was ich tun soll? Es geht dich überhaupt nichts an!«, spie er ihm entgegen.

»Oliver! Sei vernünftig! Weißt du, was es mich gekostet hat, dass ich dich da wieder rausgeboxt habe? Dass dein Vater und ich Harris von hier weggeschafft haben? Ich will das nicht nochmals erleben. Verstehst du das nicht? Du machst dir dein ganzes Leben kaputt, alles, was du dir aufgebaut hast.«

Olivers Finger ballten sich zur Faust, und die Knöchel wurden weiß. Er wollte etwas erwidern, wollte Ian alles an den Kopf werfen, was er in diesem Moment dachte. Er musste den innerlichen Druck loswerden, und doch hielt ihn etwas davon ab. Er konnte nicht genau sagen, was es war, doch tief in seinem Inneren fühlte er ein unsichtbares Band zu seinem Kollegen, seinem besten Freund. Die Worte, die Ian gesagt hatte, waren wie ein Schlag mitten in die Magengrube. Oliver atmete durch und entspannte seine Muskeln. Dann nahm er wieder auf seinem Sessel Platz. Auch Ian setzte sich wieder und durchbohrte ihn mit seinem Blick.

»Es tut mir leid«, murmelte Oliver kaum verständlich. »Ich fühle mich um Jahre zurückversetzt. Als ich heute die Fotos sah …« Die restlichen Worte erstickten in seinem Hals.

»Ja, ich verstehe dich. Es war ein Schock für dich, den du bis heute noch nicht verkraftet hast. Doch du musst dich zusammenreißen! Was hältst du davon, wenn wir beide noch auf ein Bierchen gehen, also alkoholfrei natürlich? Ich rufe Sue an und sag ihr, dass ich später nach Hause komme. Oder du kommst mit zum Abendessen? Was meinst du?«

Oliver zögerte einen Moment lang. Er schaute nochmals auf seinen Bildschirm, auf das Foto des Mannes, der seine Mutter getötet hatte und der noch immer nicht hinter Schloss und Riegel saß. Doch dann drückte er den Ausschaltknopf seines Computers ‒ ein kurzes Flackern, und der Bildschirm war schwarz.

»Das ist eine gute Idee.«

 

***

 

 

Nur zwei Querstraßen von dem Polizeirevier entfernt lag das Miners Arms, ein typisch englisches Pub, in einer etwas abgelegenen Gegend außerhalb des Dorfes. Mit Weitblick über die saftigen Wiesen und dichten Wälder. Das Haus selbst war im Stil eines viktorianischen Herrenhauses gehalten, allerdings weit weniger protzig. Es versprühte von außen schon die Gemütlichkeit, die es innen besaß. Die Massivholztheke war traditionell in Weiß gehalten, alle anderen Möbel waren dunkel. Man verspürte einfach einen gewissen Charme, ein Gefühl von Zuhause. Oliver und Ian setzten sich an ihren Stammplatz in der hintersten Ecke des Raumes. Wie immer nahm Oliver auf der rotgestreiften dunklen Bank Platz und Ian auf dem Sessel ihm gegenüber.  

Cath, die vollbusige Kellnerin, stellte den beiden keine Minute später zwei Bier auf den dunkelbraunen Tisch. So schnell wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder und bediente schon die nächsten Gäste. Heute war das Lokal gut gefüllt. Ein Geruch von Kartoffeln, Eiern und gebratenem Speck drang in Olivers Nase, und sein Magen begann zu knurren. Ein Blick auf die schwarze Tafel oberhalb der Theke bestätigte seine Vermutung, dass es heute als Tagesgericht geriebene, knusprig gebratene Kartoffeln mit Spiegelei und Speck gab.

»Willst du darüber reden?«, fragte Ian nach Minuten des Schweigens und unterbrach Olivers Gedanken ans Essen.

»Nein, ich denke nicht«, antwortete Oliver und trank einen Schluck Bier aus seinem Glas. »Wie geht es Sue?«

»Ihr geht es gut. Also, soweit ich das eben beurteilen kann. Ich muss ja nicht mit dem Baby im Bauch herumlaufen. Aber ich unterstütze sie, wo ich kann, und dadurch, dass wir bei meinen Eltern eingezogen sind, ist natürlich auch meine Mutter immer zur Stelle. Was manchmal allerdings auch ein wenig nerven kann.« Ian lachte, und Oliver stimmte mit ein.

»Wie lange habt ihr noch?«

»Gut einen Monat noch.« Ian drehte seine Flasche im Stand herum. »Oliver? Willst du der Taufpate von Craig werden?«

Oliver wusste im ersten Moment gar nicht, was er sagen sollte. Und das kam sehr selten vor, da er sonst immer eine Antwort auf alles hatte, und wenn es nur ein dummer Spruch war. »Ich?«, fragte er und deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Brustkorb. »Ich habe keine Ahnung von Kindern. Das müsstest du wissen.«

»Du sollst ihn auch nicht bei dir aufnehmen und ihn umsorgen, sondern für Craig einfach nur ein liebevoller Freund sein.«

»Ehrlich? Ich fühle mich gerade ein wenig überfordert! Warum fragst du nicht deine Schwester? Wäre sie nicht eher dafür geeignet?«

»Nein, ich frage dich, es sollte doch ein Mann sein. Denk drüber nach, okay?«

»Ja, darüber muss ich einmal schlafen.« Im Geiste fragte er sich, welche Aufgabe ein Taufpate wohl hatte, und wie er – Oliver – dem Baby ein guter Freund sein konnte. Er notierte sich im Geiste, dass er dies dringend im Internet nachschauen musste. Auf keinen Fall wollte er Ian vor den Kopf stoßen.

Plötzlich schwang die Tür auf, und ein betrunkener Mann polterte herein. Sekunden zuvor war der Raum mit Gesprächen erfüllt gewesen, doch jetzt konnte man die berühmte Stecknadel fallen hören.

Die Kleidung des Mannes bestand aus alten Lumpen. Der Mantel war rissig und hatte faustgroße Löcher. Der Hut auf seinem Kopf hatte auch schon seine besten Tage hinter sich gebracht, und ganze Bündel von Fäden hingen wie ein Schleier von ihm herab. In seiner rechten Hand hielt der Mann, gut verpackt in einer braunen Papiertüte, eine Flasche fest. Wein oder Schnaps, mutmaßte Oliver, stand auf und machte einen Schritt auf den Obdachlosen zu. 

Aber Ian hielt ihn an seinem Unterarm fest. »Nicht! Lass ihn. Er hat nichts getan.«

Für einen kurzen Moment war Oliver verwirrt. Wer hatte was nicht getan? Was meinte Ian damit? Und dann sah er die blonden Locken, die unter dem Hut hervorquollen. Für einen kurzen Moment schloss Oliver seine Augen und hatte wieder das Bild des damals 52-Jährigen vor sich, der wimmernd vor ihm auf dem asphaltierten Boden gelegen und um sein Leben gebettelt hatte. Das Blut war ihm gleichzeitig aus Mund und Nase geschossen, als Oliver ihm einen Kinnhaken verpasst hatte, der ihn im wahrsten Sinne des Wortes die Schuhe auszog. Oliver war an diesem Abend, sieben Tage nach dem Tod seiner leiblichen Mutter, an dem ihm seine Eltern gestanden hatten, ihn damals als Baby adoptiert zu haben, gut eine halbe Stunde von Peak Forest nach Eyam gefahren und hatte den vermeintlichen Mörder nach seinem Dienst auf dem Mitarbeiterparkplatz abgepasst. Damals vor 15 Jahren war Oliver 33 gewesen und in die Fußstapfen seines Adoptivvaters getreten. Roland Johnson war Polizeichef in Peak Forest, und nichts lag für ihn näher, als dass sein Sohn in seinem Revier arbeitete. Doch der Fall »Nancy Wright« war in allen Medien zu verfolgen gewesen, natürlich auch der einzige Tatverdächtige, der immer mit einem spitzbübischen Lächeln in die Kamera geschaut hatte. So kam es, dass Roland mit seiner Ehefrau Caro ihrem Adoptivsohn die ganze Wahrheit erzählen mussten. Das schlechte Gewissen, das sie schon Jahrzehnte belastete, war seelisch für die beiden einfach nicht mehr zu ertragen gewesen. Damals am Tag der Geburt von Oliver war Nancy erst 17 Jahre alt gewesen. Ihre Eltern waren streng katholisch, und natürlich musste man den guten Ruf wahren. Somit kam der ungewünschte Nachwuchs still und heimlich unter vorgehaltener Hand zu den Johnsons.

Oliver schluckte kräftig, und schon ballte sich die Hand wieder zu einer Faust. Dieser ekelhafte Dreckskerl!, schoss es ihm wie ein Torpedo durch den Kopf. 

Doch Ian hielt ihn noch immer am Unterarm fest. Er stand auf und versperrte Oliver den Weg zwischen den Tischen zu Joshua Harris, der Oliver direkt anstarrte.

Joshua Harris kam einen Schritt auf die beiden zu, hob seine Flasche in die Höhe und lallte: »Prost! Auf dich und deine hübsche Mutter!« Ein zahnloses Lachen folgte.

Oliver dachte in diesem Moment nichts mehr. Alle Gedanken, alle Vorsätze, alle Versprechen waren ausgelöscht, verbrannt in dem Buschfeuer, das sich in Windeseile in ihm ausbreitete und alles zerstörte, was sich ihm in den Weg stellte. Er fixierte Joshua Harris mit seinen Augen und schob seinen Oberkörper nach vorne. Er war bereit für den Kampf. Mittlerweile waren auch schon andere Gäste aufgesprungen und versuchten, den Obdachlosen aus dem Raum zu schieben. Wieder andere unterstützen Ian, der sich mit all seiner Kraft gegen Oliver stemmte. Auf Ians Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet.

»Du Mörder!«, schrie Oliver und presste sich gegen die abwehrende Menge, sodass der Tisch mit einem lauten Poltern umfiel und sich das Bier über den Boden verteilte.  

»Hör auf jetzt!«, herrschte Ian ihn an. Er keuchte mehr als er sprach.

Endlich schaffte es die Menge, den Obdachlosen aus dem Lokal zu befördern, aber Olivers Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.

»Setz dich wieder hin!«, befahl Ian und deutete auf die Bank, die durch das umgeschüttete Bier zwar einige Spritzer abbekommen hatte, aber ansonsten trocken geblieben war. »Setz dich!«, wiederholte Ian und schubste ihn leicht.

Oliver gab nach. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, entspannte sich aber gleich wieder. Er dachte an die aufwendige Vertuschungsaktion, die sein Vater gemeinsam mit Ian veranstaltet hatte, nur um ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren. Und an die Unmengen von Alkohol, die er sich später reingezogen hatte, einfach an all das, was dann gekommen war, das sein Leben fast zerstört hätte.

Oliver setzte sich auf die Bank, und Ian stellte den Tisch wieder auf. Cath stand bereits hinter ihm und wischte den Boden nass auf. Es roch nach Zitrone. Der Geruch blieb auch noch, als Cath mit ihrem Eimer längst verschwunden war.

»Was will dieser Scheißkerl hier? Wusstest du davon, dass er hier ist?«, fragte Oliver und schaute Ian fragend an.

»Nein. Woher sollte ich das wissen? Du weißt doch selbst, dass wir Joshua aus dem Ort gebracht haben, an dem Abend … Ja, er war der Liebhaber deiner Mutter, und ja, er hatte ein Motiv. Ich gebe dir Recht. Doch er kann es nicht gewesen sein. Versteh das endlich! Tu nicht so, als hättest du das alles vergessen.«

»Was macht er dann wieder hier? Was soll das? Will er mir zeigen, wer der Stärkere ist?«

»Oliver, wir werden das herausfinden. Gemeinsam. Und keine Alleingänge!«

Oliver seufzte.

6

5 Jahre zuvor

 

Oliver wippte mit seinem Fuß unter dem sechseckigen Tisch. Nervös rutschte er mit seinem Hinterteil auf dem lederbezogenen Stuhl hin und her. Außer ihm war nur noch ein Pärchen in dem kleinen Kaffeehaus. Arthur hatte den Treffpunkt ausgesucht, mitten in der Innenstadt von Liverpool. Oliver schaute, wie schon mehrere Male zuvor, auf seine Armbanduhr. Gleich war es so weit, und er würde zum ersten Mal in seinem Leben seinen Bruder sehen. Wobei, wenn man es genau nahm, Arthur war sein Halbbruder. Der Tod der gemeinsamen Mutter war schon zehn Jahre her, doch es hatte knapp zwei Jahre gedauert, bis sich Oliver auf die Suche nach Arthur gemacht hatte, und weitere acht Jahre, bis er den Mut dazu gefunden hatte, mit ihm in Kontakt zu treten, wusste er doch nicht, wie sein knapp 15 Jahre jüngerer Halbbruder auf ihn reagieren würde. Oliver war ansonsten nicht so zimperlich, doch schien es in diesem Fall so, dass er über seinen eigenen Schatten springen müsste.

Er hatte sich für das Treffen extra fein gemacht und trug ein kurzärmliges Hemd sowie eine dunkle Jeans. Als er sich vor wenigen Stunden noch im Spiegel betrachtet hatte, hatte er im ersten Moment tatsächlich darüber nachgedacht, ob er nicht doch lieber eine Krawatte umbinden sollte, doch diesen Gedanken hatte er gleich wieder verworfen. Er öffnete erneut die beiden obersten Knöpfe des Hemdes. Auch die schönen schwarzen Schuhe hatte er aus dem Schrank gekramt. Die für besondere Anlässe, die ja doch viel zu selten vorkamen. Alles in allem war es so, als hätte er gleich ein Date mit einer Frau. Sogar die Zeit fürs Rasieren hatte er sich heute genommen. Nun strich er sich über sein ungewohntes unbehaartes Kinn. Wieder blickte er auf seine Uhr. Es waren erst 20 Sekunden vergangen, seit er das letzte Mal darauf geschaut hatte. Oliver seufzte. Sein Kaffee, den er vor mindestens 15 Minuten bestellt hatte, stand unberührt auf dem hellen Holztisch. Natürlich war er bereits kalt, doch Oliver nahm einen Schluck.

»Oliver?«

Er schaute auf. Vor ihm stand Arthur. Hochgewachsen, bekleidet mit Anzug und Krawatte, und lächelte ihn an.

»Hallo Arthur!« Auch Oliver stand auf und reichte seinem Halbbruder die Hand.

Arthur erwiderte die Geste. »Schön dich endlich mal persönlich zu treffen!«

»Ja, das finde ich auch. Wo hast du übernachtet?«

»Ich bin erst heute in Edinburgh losgefahren. Sind ja nur vier Stunden Autofahrt.«

»Aha, also um fünf Uhr in der Früh«, antwortete Arthur. »Ich schlafe auch in Hotelbetten sehr schlecht. Da haben wir definitiv etwas gemeinsam.«

Das Eis war gebrochen zwischen den beiden, denn sie lachten.

»Weißt du«, sagte Oliver und stockte einen Moment. »Ich hatte echt ein wenig Angst vor unserem ersten Gespräch.«

»Warum denn? Wir haben doch schon des Öfteren miteinander telefoniert. Und nun erzähl! Du willst die Stelle in Eyam wirklich annehmen? Bist du dir da sicher?«

»Ja, das will ich. Ich habe die letzten Jahre damit verbracht, jedes kleinste Detail über den Mord an unserer Mutter herauszufinden. Ich denke, wenn ich direkt vor Ort bin, dann habe ich da mehr Chancen auf Antworten.«

»Was glaubst du, wieso ich Psychologie studiert habe? Okay, das wollte ich vorher schon, habe ich doch meine Berufswahl schon in jungen Jahren getroffen. Ich wollte in die Psyche eines Menschen blicken können. Ihn verstehen, was in ihm vorgeht, und warum manche Menschen böse sind. Verstehst du?«

»Hast du jemals darüber nachgedacht, zurück nach Eyam zu gehen?«

»Ich weiß nicht. Ich denke, die Zeit ist noch nicht dafür gekommen. Wobei ich das nicht ausschließen möchte. Doch zuerst möchte ich mein Studium fertigmachen. Stecke doch noch mittendrin. Und wenn ich darüber nachdenke, dass wir uns – du als Polizist und ich als Psychologe – doch gegenseitig unterstützen könnten …«

»Moment.« Oliver unterbrach ihn. »Nur weil ich den Posten als Chefinspektor angenommen habe, weil der alte Polizeichef gestorben ist, heißt das noch lange nicht, dass du mich unterstützen kannst. Polizeiarbeit ist ein anderes Ding als nur zu quatschen.« Er zwinkerte Arthur zu.

7

Ihre Augen waren noch geschlossen. Selig schlummerte sie in ihrem Bett, mit Ketten an Füßen und Händen, die an der Innenseite gepolstert waren, damit sich die Patienten nicht selbst verletzen konnten, wenn sie daran rissen. Ihre Augenlider zuckten. Sie träumte. Ein monotones Piepen aus dem Überwachungsgerät unterstrich die drückende Stimmung, die wie eine schwarze Wolke über Arthur schwebte.

»Es tut mir leid«, flüsterte er und strich ihr sanft über das blonde kurze Haar. »Ich musste es tun. Du darfst nicht mit Oliver sprechen. Auf keinen Fall!« Den einzigen Stuhl im Krankenzimmer der Psychiatrie hatte er ganz nah an ihr Bett gestellt. Er fühlte sich schuldig. War er ja auch. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als er ihr erneut eine Dosis des Beruhigungsmittels durch ihren peripheren Venenkatheter spritzte. Er packte die Spritze wieder in die Tasche seines weißen Mantels und fasste nach ihrer Hand. Ihre Haut war eiskalt, und er steckte die Hand unter die wohlig warme Decke. 

Niemals darf Oliver erfahren, was ich gemacht habe, ging es Arthur durch den Kopf. Niemals! Ich weiß nicht, ob er mir das jemals verzeihen könnte. Noch einmal betrachtete er die schlafende Frau, dann erhob er sich und schlich aus dem Zimmer. 

8

Schweißgebadet wachte Oliver auf. In seinem Schädel pochte es wie die unerbittlichen Schläge der Kirchenglocke gegen das Metall, als er seine Augen öffnete. Die Leuchtziffern seines Weckers spiegelten sich an der Decke: 5:41 Uhr. Er schloss wieder seine Augen und massierte mit den Zeigefingern die Schläfen, doch die erhoffte Entspannung trat nicht ein. Mühsam quälte er sich aus dem Bett und schlurfte durch seine dunkle Wohnung, bis er am kleinen Esstisch Platz nahm. Er goss Wasser von der Karaffe ins Glas und trank es in einem Zug leer. Dann starrte er aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit. Was war das für ein beschissener Traum gewesen? 

Die höhnische Fratze von Joshua, die sich über den leblosen Körper seiner leiblichen Mutter gebeugt hatte, war ihm untergekommen. Oliver wollte ihn wegdrängen, doch seine Füße waren wie festgewurzelt stehen geblieben. Joshua hatte nur gelacht und war dann in den Körper seiner Mutter geschlüpft.

Dann war er – Gott sei Dank – endlich aufgewacht.

Die Kopfschmerzen ließen allmählich nach, doch Oliver beschloss, eine Schmerztablette einzunehmen. Nur für den Fall der Fälle. Er griff zu seinem Telefon und wählte Ians Nummer. Dreimal hintereinander musste er anrufen, bevor sich eine verschlafene Stimme am anderen Ende meldete.

»Was ist los?«, flüsterte Ian und räusperte sich.

»Ich frage mich noch immer, warum dieser Scheißkerl wieder hier ist.«

»Hast du jetzt die ganze Nacht darüber nachgedacht?

---ENDE DER LESEPROBE---