Totenspiel - Michael Trommer - E-Book
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Michael Trommer

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Beschreibung

Wenn dir die Vergangenheit auf der Spur ist, kannst du nicht schnell genug rennen …
Ein packender Kriminalroman für Fans von Alexander Hartung

Stadttheater Aachen, 1997: Als der Schauspieler Franz Wolf erschossen in seiner Garderobe aufgefunden wird, übernimmt Kriminalkommissar Gerd Mehrwald die Ermittlungen. Die Hinweise führen ihn weit in das Leben des erfolgreichen Schauspielers und Frauenhelds hinein. Wolfs Vergangenheit wirft jedoch einige Fragen auf und die Ermittler müssen tief graben, um den Geschehnissen im Theater auf den Grund zu gehen. Hat Wolfs Tod womöglich etwas mit seiner Flucht aus der DDR zu tun oder war es eine Tat aus Eifersucht? Und kann Mehrwald den Täter finden, bevor er für immer in der Dunkelheit verschwindet?

Erste Leserstimmen
„Die sympathischen und authentischen Ermittler haben das Lesen zu einem wahren Genuss gemacht. Klare Empfehlung!“
„Die geschichtlichen Hintergründe rund um die DDR waren perfekt in den Krimi eingearbeitet.“
„Ein sehr spannender Krimi und ein Twist, mit dem ich nicht gerechnet habe!“
„Ich war von der ersten Seite an gefesselt und konnte es nicht erwarten zu erfahren wer der Täter ist.“
„Die Verflechtung der Zeitebenen ist super gelungen. Spannend und unterhaltsam bis zum Schluss!“

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Seitenzahl: 286

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Über dieses E-Book

Stadttheater Aachen, 1997: Als der Schauspieler Franz Wolf erschossen in seiner Garderobe aufgefunden wird, übernimmt Kriminalkommissar Gerd Mehrwald die Ermittlungen. Die Hinweise führen ihn weit in das Leben des erfolgreichen Schauspielers und Frauenhelds hinein. Wolfs Vergangenheit wirft jedoch einige Fragen auf und die Ermittler müssen tief graben, um den Geschehnissen im Theater auf den Grund zu gehen. Hat Wolfs Tod womöglich etwas mit seiner Flucht aus der DDR zu tun oder war es eine Tat aus Eifersucht? Und kann Mehrwald den Täter finden, bevor er für immer in der Dunkelheit verschwindet?

Impressum

Erstausgabe Juni 2020

Copyright © 2021 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-963-3 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-060-2

Covergestaltung: KÖPKE COVERDESIGN unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © nani888, © Steve Collender, © STOCKMAMBAdotCOM, © photoagent Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Totenspiel

Für meinen Vater, der die ersten Seiten gerne gelesen hat

und die letzten leider nicht mehr lesen konnte.

Stadttheater Aachen, Premiere Julius Caesar, 6. September 1997

Es goss wie aus Eimern. Der für einen Spätsommerabend ungewöhnlich starke Wind trieb den Regen seitwärts. Erste Pfützen bildeten sich auf dem Platz vor dem Aachener Stadttheater. Taxis fuhren vor. Ehemänner ließen ihre in Schale geworfenen Begleiterinnen an den Stufen zum Eingang des Theaters aus dem Wagen steigen und machten sich auf, um einen der letzten halbwegs fußläufig erreichbaren Parkplätze zu ergattern. Niemand warf bei diesem Sauwetter einen Blick auf die von Scheinwerfern angestrahlte weiße, klassizistische Fassade des Gebäudes mit seinen acht ionischen Säulen. Die Besucher freuten sich stattdessen, wenn sie das hell erleuchtete Foyer mit einigermaßen trockener Garderobe erreichten.

Armin Gollertz, der Intendant des Stadttheaters, klein und rundlich, Ende vierzig und grau meliert, stand etwas abseits in einer Nische der Eingangshalle und beobachtete zufrieden das Treiben. Ein dunkler Anzug mit einer nachtblauen Fliege und weißem Hemd gaben ihm einen festlichen Anstrich. Samstagabend, kurz vor halb acht. An der Abendkasse hatte sich eine beachtliche Schlange gebildet. Vorbestellte Karten wurden abgeholt. Anfragen unverbesserlicher Optimisten nach Restkarten mussten – trotz des unübersehbaren orangefarbenen Schilds Ausverkauft – von der Kassiererin persönlich verneint werden.

Die Karten waren auch an jedem anderen Premierenabend im Handumdrehen vergriffen, doch an diesem Tag wäre eine Karte an der Abendkasse so wahrscheinlich gewesen wie ein Sechser im Lotto.

Wenn ein Name wie Franz Wolf im Spielplan einer deutschen Bühne auftauchte, sah man hin, das war Gollertz klar gewesen, bevor er ihn in Aachen unter Vertrag nehmen konnte. Kulturbeflissener Theaterbesucher oder Fernsehzuschauer: Wer mochte ihn nicht einmal live gesehen haben! Zwar kam er von der Bühne, damals in den Siebzigerjahren in der DDR, aber erst, nachdem er sich 1984 in den Westen abgesetzt hatte, startete er im Fernsehen durch. Seit Mitte der Achtziger gab es ihn in den unterschiedlichsten Sparten zu sehen: Von der Familienserie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bis zu Neuverfilmungen von Klassikern reichte sein Spektrum. Zurzeit war er als Tatort-Kommissar im Gespräch. Und er sorgte auch heute für volle Kassen und Ränge. Die Titelrolle in Julius Caesar – das zog. Zurück zu den Wurzeln, so der Tenor dem Intendanten gegenüber und in den zahlreichen Interviews der letzten Wochen.

„Man darf nie vergessen, woher man gekommen ist“, hatte Wolf nach der gestrigen Generalprobe den Aachener Nachrichten verraten.

Die Zuschauer füllten langsam die Eingangshalle. Stimmengewirr, Schlangen vor den Garderoben, zum Trocknen aufgespannte Regenschirme zwischen den Mänteln. An der Sektbar kamen erste kleine Gruppen zusammen. Einzelne Personen waren nur selten zu sehen. Gollertz nickte freundlich einigen bekannten Gesichtern zu, die er in der Menge ausmachen konnte. Er kannte sein Theaterpublikum, seien es langjährige Abonnenten oder mehr oder weniger prominente Ortsgrößen. Bei solchen Gelegenheiten zeigte man sich gerne in der Öffentlichkeit, auch weil man sich sicher sein konnte, dass heute nicht nur regionale Presse anwesend war. Um Viertel vor acht tönte das erste elektronisch samtweiche Ding-Dang-Dong, das auf den baldigen Beginn der Vorstellung aufmerksam machte. Armin Gollertz zog sich in seine Intendantenloge im ersten Rang zurück. Ein volles Haus, was konnte er mehr erwarten?

Eine attraktive Dame Anfang vierzig lehnte mit einem Glas Weißwein in der Hand an der Säule neben dem Eingang. Alles an ihr atmete Stil, die blonde, vom Regen zerzauste Kurzhaarfrisur, die ein intelligentes Gesicht mit markanten Zügen umrahmte, das maßgeschneiderte schwarze Kostüm, die knallrote Handtasche unter ihrem Arm und das Ensemble aus Diamanthalskette, passenden Ohrsteckern und Ring. Mittelgroß und schlank war sich Claudia Berning ihrer Wirkung durchaus bewusst. Die Blicke einzelner Herren erwiderte sie nicht. Sie schien auf keinen Begleiter zu warten, und doch strahlte sie trotz ihrer Selbstsicherheit eine gewisse Unruhe aus.

Die meisten Zuschauer hatten inzwischen ihre Sitzplätze im großen Saal und den oberen Rängen eingenommen und studierten das Programmheft. Man grüßte bekannte Gesichter um sich herum, schüttelte Hände, tauschte die letzten Neuigkeiten aus. Vereinzelt herzliche Umarmungen. Die Spannung stieg.

In den Minuten, bevor sich der Premierenvorhang eines Theaters hob, glich die Welt dahinter einem Bienenschwarm. Bei der Inszenierung eines Julius Caesar traf das alte Rom auf moderne Bühnentechnik der Neunzigerjahre. Ein Bühnenarbeiter in grauem Overall drängte sich an fünf alten, weißhaarigen römischen Senatoren in Toga vorbei und ordnete einige umgefallene Amphoren aus Styropor auf der linken Seite der Bühne neu. Ein Beleuchter daneben gab seinem Kollegen auf dem Gerüst in zehn Metern Höhe ein Handzeichen, der daraufhin einen großen Scheinwerfer in letztem Feinschliff um eine knappe Handbreit zur Seite justierte. Jetzt befand sich der Mann unten im vollen Licht, war damit offensichtlich zufrieden, nickte und formte die Finger zu einem Okay. Hinter ihm trugen zwei kräftige junge Männer eine römische Säule auf die Bühne und stellten sie als Letzte einer Reihe ab. Jeder war sich bewusst, dass das Publikum auf der anderen Seite des Vorhangs langsam den Saal füllte. Und auch wenn der dicke rote Stoff anderes vermuten ließ, nicht alle Geräusche zum Zuschauerraum wurden davon geschluckt. Daher war Ruhe angesagt.

Walter Moger, achtundvierzig Jahre alt und leicht ergraut, war Inspizient und Respektsperson in einem. Dazu verhalfen ihm seine stattliche Größe von einem Meter neunundachtzig und der gewichtige Körperbau. Genügte dieses Erscheinungsbild bei Anweisungen nicht, verschaffte er sich mit seiner Bassstimme Gehör. Er war die gedankliche und technische Steuerungszentrale der Vorstellung und ging an seinem Pult neben der Bühne noch einmal die technischen Abläufe durch. Mehrere Reihen von beschrifteten Kipp- und Drehschaltern, ein Mikro, Bildschirme und Schieberegler ließen ihn Vorhänge öffnen und schließen, Lichtwechsel per Scheinwerfer einleiten, Toneinspielungen starten und wechselnde Bühnenbilder mit den dazu passenden Kulissen erscheinen. Die Auftritte der Schauspieler mit den richtigen Requisiten – alles wurde von ihm an seinem Schaltpult persönlich gelenkt oder über Monitore überwacht. So hatte er über verschiedene Kameras die Bühne, den Zuschauerraum mit seinen siebenhundert Sitzplätzen und das Foyer im Blick. Leise gab er in die Garderoben der Schauspieler per Mikro den Ruf „Zehn Minuten bis Vorhang auf. Mitwirkende des ersten Bildes bitte zur Bühne“. Rot aufblinkende Signalleuchten leiteten die Info gleichzeitig an die Beleuchter hoch über und die Techniker hinter der Bühne weiter.

Hinter den Kulissen in den Gängen und Künstlergarderoben abseits der Bühne war es deutlich lauter. Die Anspannung und das aufkommende Lampenfieber waren greifbar. Ein Stimmengewirr von Sklaven, Römern, Soldaten und Marktweibern, die nun ihre eigenen Probleme entdeckten. Monologe wurden ein letztes Mal laut und gestenreich deklamiert. Ein stämmiger Gladiator in silberfarbenem Brustharnisch, Helm und Ledersandalen pflügte durch die Menge der umherstehenden Darsteller und suchte sein Schwert.

„Wü kann mmm denn so idiotiff sein, süch aufn Lorbeerkranz zu setzem! Wü sühht’n ds aus!“, schimpfte die Kostümbildnerin. Sie kniete mit einigen Stecknadeln im Mund vor einer leicht bekleideten Sklavin und kürzte deren Umhang.

Eine weiße Tür, auf der mit schwarzen Folienbuchstaben Künstlergarderobe Franz Wolf geschrieben stand, war geschlossen. Der Star des Abends hatte mit seinem Auftritt Zeit bis zum zweiten Bild, und so musste er sich von der Hektik nicht unnötig anstecken lassen.

Der Gong im Foyer erklang mahnend, die letzten Zuschauer eilten in den Saal. Claudia Berning hatte in der Mitte der achten Parkettreihe Platz genommen. Die Platzanweiserinnen schlossen die Türen. Zwei Minuten später verdunkelte sich das Licht der Kronleuchter langsam.

Daniel Stürner, der Regisseur des Julius Caesar, war kein Fan davon, Klassiker in irgendeinen Teil der Neuzeit zu transportieren. Shakespeare durfte Shakespeare sein.

Anders als sein Vorgänger, ein übereifriger Kreativer, der geglaubt hatte, die Szenerie des Fliegenden Holländers „zum besseren Verständnis durch Adaption“ unbedingt in das einundzwanzigste Jahrhundert transferieren und seine Protagonisten in Raumschiffen und fliegenden Untertassen anstelle von Segelschiffen über eine Bühne voller Planeten rauschen lassen zu müssen.

Er hatte damit im wahrsten Sinne des Wortes Schiffbruch erlitten. Es war seine erste und gleichzeitig letzte Inszenierung an der Aachener Bühne gewesen, was Richard Wagner posthum gefreut haben dürfte.

Die Aachener Presse hatte mit seinem totalen Verriss reagiert: Beam me up, Wagner! oder Holländer flog unterm Radar durch, so die Headlines der Kritiker. Kündigungen Dutzender Abonnenten zeugten von einem Publikum, das sich nicht mehr abgeholt fühlte. Um ein eindeutiges Zeichen zu setzen, hatte Gollertz den Vertrag mit sofortiger Wirkung beendet.

Nichts dergleichen würde heute auf die Bühne kommen. Rom blieb das Rom vor der Geburt Christi. Senatoren kamen in Toga, Legionäre in Uniform, und der Blick auf die sieben Hügel der Stadt über das Forum Romanum verleitete den Zuschauer, sich durch liebevoll gemalte Details in den Kulissen vom Geschehen ablenken zu lassen. Der Vorhang öffnete sich. Eine römische Straßenszene wurde sichtbar, und erleichtertes Raunen ging durch den Saal.

Erster Akt, erstes Bild, die Vorstellung lief. Das Lampenfieber aller Schauspieler auf der Bühne war wie weggeblasen. Sobald sie den Scheinwerfer auf sich fühlten und die ersten Worte gesagt waren, war dafür kein Raum mehr. Walter Moger bereitete an seinem Pult den Wechsel zum zweiten Bild vor und rief die Mitwirkenden per Mikro aus ihren Garderoben, obwohl das an diesem Abend nicht nötig war, alle waren äußerst aufmerksam. Drei Bühnenarbeiter hielten sich für einen kurzen Umbau bereit. Brutus, Cassius und andere Herren warteten auf ihren Auftritt. Bei Premieren waren die Abläufe zwischen den Bildern, obwohl zigmal geprobt, immer noch holperig. Mal klemmte ein Ständer beim Aufbau einer Kulisse, mal fehlte ein Obstkorb als Requisite. Erst nach der fünften Vorstellung kam meist so etwas wie Routine auf.

Caesar fehlte. Der hat die Ruhe weg, dachte Moger und schickte einen Arbeiter zur Garderobe. Es wurde Zeit!

Ahmet Aslan, ein junger Hilfsarbeiter, lief, um Franz Wolf zu holen. Er mochte ihn, den er die letzten Monate im Fernsehen und jetzt live, quasi zum Anfassen, auf der Bühne erlebt hatte. Ahmet wollte ebenfalls Schauspieler werden, allerdings hatte ihm sein Vater begreiflich gemacht, dass er davon nicht viel hielt.

„Lern erst mal was Vernünftiges, dann sehen wir weiter.“

Und etwas Vernünftiges, das war aus Sicht des Vaters die Mitarbeit im familieneigenen Obst- und Gemüseladen. Mit Mühe hatte Ahmet ihm abringen können, dass er wenigstens abends ab und zu im Theater aushelfen durfte, wenn dort Not am Mann war. So wie an diesem Tag, als zwei Bühnenarbeiter kurzfristig wegen Grippe ausgefallen waren. Ein bisschen Atmosphäre schnuppern, das war ja auch etwas. Und ab und zu lernte er, als Vorbereitung für später, einen berühmten Schauspieler kennen.

Ahmet stand vor der geschlossenen Garderobentür und klopfte dreimal. Drinnen rührte sich nichts.

Er klopfte erneut. „Herr Wolf, es ist Zeit!“

Ahmed hörte keine Antwort, öffnete zaghaft die Tür und sah ins Zimmer.

Er kannte die Garderoben der meisten Schauspieler. Schon öfter war er herbeigerufen worden, um Hilfe zu leisten oder einen Kaffee aus der Kantine zu besorgen. Ungemütliche Räume mit Spiegeln vor den Sitzplätzen und einem Geruch aus Schweiß, Creme und Haarspray in der Luft.

In diesem Zimmer war er nie zuvor gewesen. Es war nicht sonderlich groß, keine zehn Quadratmeter. Der Tür gegenüber neben einem Sessel ein Kleiderständer mit privaten Habseligkeiten von Franz Wolf. Ein abgetragener Ledermantel, ein breitkrempiger Hut und eine Jeans, davor eine Reisetasche aus Leder zum Umhängen, ein zum Trocknen aufgespannter Regenschirm, rechts daneben eine zweite Tür. Es war schummerig. Das einzige Licht rührte von dem beleuchteten Garderobenspiegel, vor dem Caesar in wenig imposanter Haltung saß. Sein Kopf ruhte auf dem Garderobentisch. Er schlief anscheinend. Das durfte doch nicht wahr sein!

„Herr Wolf? – Herr Wolf!“

Keine Reaktion.

Wolfs Arme waren nicht wie bei einem Schlafenden unter dem Kopf verschränkt, sondern hingen rechts und links herab.

Ahmet ging zögerlich auf Wolf zu. Ihm stockte der Atem. Diesem Mann fehlte der halbe Hinterkopf. Er blickte in den offenen Schädel eines Menschen. Jetzt erst fielen ihm die Fetzen von Gewebe, Knochen und Hirnmasse auf, die zusammen mit Blutspritzern überall im Raum verteilt waren.

Caesar war tot. Allerdings zwei Akte zu früh.

Stadttheater Aachen, 6. September 1997

Als sich Kriminalhauptkommissar Gerd Mehrwald mit der vollen braunen Papiertüte auf den Heimweg machte, fielen die ersten dicken Tropfen. Das fehlte noch, dass ihm alles aus einer durchweichten Tüte auf den Bürgersteig kullerte, dachte er und beschleunigte seine Schritte. Die paar Hundert Meter bis zu seiner Wohnung trabte er in Vorfreude auf das Essen. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren war seine Figur nach wie vor sportlich – trotz Bauchansatz, ein Quell steten Missfallens beim morgendlichen Blick in den Spiegel. Auch die Haare zeigten seit Kurzem leichte Ausfallerscheinungen, was ihn ziemlich fuchste. Er war nicht eitel, aber so etwas musste nicht sein! Gerade rechtzeitig vor dem ersten schweren Regenguss öffnete er die Haustür und stieg die ausgetretenen Steinstufen des Treppenhauses hoch in den zweiten Stock des Altbaus auf der Oppenhoffallee, in dem er eine gemütliche Dreizimmerwohnung mit Balkon bewohnte.

Entspannung pur. Und was lenkte besser ab vom täglichen Wahnsinn des Jobs, als in Ruhe zu kochen? Auf der großen Marmorarbeitsplatte seiner Küche baute Mehrwald alles auf, was zum Gelingen eines griechischen Salats beitrug.

Die Tomaten waren das Wichtigste. Keine geruchs- und geschmacklosen holländischen Riesenkugeln vom Discounter, sondern kleinere, feste Exemplare, die einen Geruch zum Anbeißen verströmten. Die frischen Zutaten hatte er bei seinem türkischen Gemüsehändler drei Straßen weiter erstanden. Zwei große Gemüsezwiebeln, eine Schlangengurke, ein Bund glatter Petersilie, grüne Oliven aus Mehmets Theke mit den Plastikschüsseln, in denen sich ebenfalls die in Salzlake eingelegte Scheibe Feta gefunden hatte. Das Olivenöl hatte Mehmet ihm in einer Probeflasche gratis dazugegeben. Es sei gut, hatte er gemeint, und der Kommissar solle ihm morgen sagen, wie er es finde.

Einige Flaschen Retsina hatte Mehrwald als Griechenlandfan sowieso immer im Haus. Der Geschmack war nicht jedermanns Sache, und viele seiner Bekannten hatten schon oft abschätzig über die „geharzte Brühe“ hergezogen, doch ihm schmeckte der trockene Tafelwein. Kalt und im Sommer auf dem Balkon passte er einfach. Und wenn es unbedingt ein anderer Wein zum Essen sein sollte, gab es für Gäste genug Alternativen in seinem Weinregal.

Um das Abendessen hellenisch abzurunden, startete er eine CD mit Georges-Moustaki-Liedern. Gerade wollte er sich einen eiskalten Ouzo aus dem Kühlschrank holen, als das Telefon an der Garderobe neben der Wohnungstür klingelte.

Unwillig schloss er die Kühlschranktür, schaute auf seine Armbanduhr und seufzte. Kurz vor halb neun. Wenn um diese Zeit das Telefon ging, war es meistens dienstlich.

„Mehrwald.“

„Man verlangt nach uns.“ Kälbchen war am anderen Ende. „Es gibt einen Toten im Theater. Soll ich dich unterwegs aufsammeln?“

Er besann sich kurz darauf, dass er seinen Dienst-BMW gestern am Polizeipräsidium hatte stehen lassen, weil er mit einem Kollegen noch einen Wein beim Italiener am Bahnhof hatte trinken wollen. Wegen des bevorstehenden Wochenendes waren es nach der exzellenten Saltimbocca eine Flasche Chianti und zwei Grappa geworden.

„Ja bitte. Wo bist du?“

„In fünf Minuten bei dir.“

„Okay, ich stehe dann unten.“

Erneutes Seufzen. Mehrwalds Blick glitt über die Zutaten. Er packte den Käse in den Kühlschrank, stellte das Bund Petersilie in ein Glas Wasser, riss ein Stück Fladenbrot ab und stellte die Musik aus. Dann schnappte er sich seine Dienstwaffe aus dem Tresor im Dielenschrank und den feuchten Regenmantel vom Haken und zog die Wohnungstür hinter sich zu.

Eleonore Kalb, genannt Kälbchen, war einunddreißig Jahre alt, schlank, blond, ihres Zeichens Kriminaloberkommissarin und der Schwarm aller männlichen Kollegen. Vor einem halben Jahr war sie Mehrwald zugeteilt worden. Kälbchen hörte man immer schon, bevor man sie sah. Sie hatte eine Vorliebe für schnelle Autos und ihre artgerechte Nutzung. Das zeigte sich leider in einer stetig wachsenden Anzahl von Protokollen wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen. Oft schaffte sie es, bei den Kollegen, die sie wegen des zu rasanten Fahrstils anhielten, mit Charme zielsicher zur Entschärfung der Lage beizutragen. Augenaufschlag, bereuende Worte. Ausreden wie die in den Presswehen wartende Freundin, deren Mann sich vom Acker gemacht habe – „Der Schuft soll mir unter die Augen kommen!“ – oder ähnliche Storys setzte sie gerne ein.

Was die schnellen Autos betraf, so erschien sie öfter privat mit PS-Boliden auf der Bildfläche, die man ihrer Besoldungsstufe bei der Mordkommission absolut nicht zutraute. Irgendwann hatte sie Mehrwald in der Mittagspause an einer Dönerbude erzählt, dass einer ihrer Bekannten einen Gebrauchtwagenhandel betriebe und sie sich öfter mal ein Fahrzeug „zur Probe“ leihen dürfte.

So problematisch ihr Verhältnis zu Geschwindigkeitsbegrenzungen, so bewundernswert war allerdings ihre Art, mit Computern umzugehen. Eine Fähigkeit, die sie in Mehrwalds Augen sofort zu einem wertvollen Mitglied der Abteilung machte. Und auch sonst hatte sie sich mit ihrer blitzgescheiten Art bei Verhören und logischem Denken bei ihm beliebt gemacht.

Kaum stand Mehrwald, einen Rest Fladenbrot kauend, bei inzwischen strömendem Regen draußen im Hauseingang, bog ein betagter schwarzer Ford Granada Kombi mit quietschenden Reifen um die Ecke. Der Wagen stoppte mit laufenden Scheibenwischern neben Mehrwald in einer Pfütze. Sie saß in Hosenanzug und Mantel am Lenkrad.

Mehrwald überquerte den Bürgersteig, ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und zog schnell die Tür zu. Kälbchen trat das Gaspedal durch, und der Wagen schoss los. Mehrwald staunte, was seine junge Dienstpartnerin dem alten Kasten noch an Lebenskraft entlocken konnte.

„Immerhin – ich habe gehört, dass man Schwarz wohl in den Radarfallen nicht so gut erkennt …“

„Tatsächlich?“ Sie schien interessiert.

„Vergiss es, das war ein Scherz! Und von was hat man dich weggeholt?“

„Ich hatte Karten reserviert fürs Kino. Die Brücken am Fluss. Meryl Streep und Clint Eastwood. Stürmt im Moment alle Charts. Zwei ein viertel Stunden heile Welt zum Mitheulen. Eine Schande.“

„Tja, das ist eben kein Job für Verheiratete von acht bis fünf mit festen Kegelabenden. War dir aber klar, oder? Was wissen wir?“ Ohne Übergang war er mit seinen Gedanken bei ihrem Fall gelandet.

„Ein Mitarbeiter des Theaters rief die Eins-eins-null an, ich glaube, der Pförtner. Man hat einen Schauspieler tot in seiner Garderobe gefunden. Einen Herrn Wolf.“

„Wolf?“

„Kennst du ihn?“

„Wenn es der Franz Wolf ist, kennst du ihn sicher auch. Wahrscheinlich eher aus dem Fernsehen, vermute ich. Es sollte heute Abend die Premiere von Julius Caesar sein, mit ihm in der Titelrolle. Hatte ich mir eventuell ansehen wollen. Na ja, hätte wohl so oder so nicht geklappt, nicht? Ist die Spusi verständigt?“

Als sie am Theater eintrafen, hatte sich der Platzregen in ein sanftes Nieseln verwandelt. Mehrwald dirigierte seine Partnerin zum Künstlereingang an der linken Seite des Gebäudes. Kälbchen parkte den Wagen halb auf dem Bürgersteig, sie stiegen aus. Einige uniformierte Kollegen vom Wachdienst aus der Kasernenstraße hatten ein rot-weißes Flatterband angebracht und hielten eine Traube von Schaulustigen vom Eingang fern. Ein älterer Mann in Jeans und Jackett unterhielt sich mit einem Polizisten auf den Stufen.

„Ach, Sie sind’s“, grüßte Polizeiobermeister Lange. Er hielt das Absperrband hoch.

Mehrwald bückte sich mit Kälbchen darunter durch und begrüßte ihn mit einem Nicken.

Schon standen sie im Blitzlicht eines Fotografen, der sich für die ersten Bilder weit zu ihnen hinüberbeugte. „Herr Kommissar, wissen Sie, ob es Mord war?“

Mehrwald drehte sich ungehalten zu dem Journalisten um und raunzte: „Mensch, Winkler! Wenn Sie gestatten, komme ich erst mal an, ja? Schönen Dank auch!“ Er ließ den alten Bekannten vom Nachtjournal stehen und wandte sich Kälbchen zu. „Weiß der Teufel, welche Buschtrommel den wieder informiert hat …“

Sie nickte.

„Und wen haben wir da?“ Er wandte sich einem weiteren Uniformierten zu, der ihnen daraufhin den Portier vorstellte.

„Herr Podbielski hat die Polizei verständigt“, fügte der Mann hinzu.

„Aha. Na, dann lassen Sie uns erst mal reingehen und alles ansehen“, sagte Mehrwald. „Lange, ich verlass mich auf Sie, dass hier erst mal keiner raus- und reinkommt, in Ordnung?“, bat er den Polizeiobermeister.

Sie gelangten in den Vorraum der Pförtnerloge und trafen auf den sichtbar erregten Intendanten, den Mehrwald bereits bei anderen Anlässen getroffen hatte. Er eilte ihnen entgegen und überfiel sie mit einem Wortschwall und weit ausholenden Gesten.

„Herr Kommissar, das ist eine Tragödie! In meinem Theater solch ein Vorkommnis, schrecklich! Franz Wolf ist ein … war ein Schauspieler von solcher Qualität! Und als Mensch und Kollege ebenfalls wunderbar! Was soll ich sagen? Dann ausgerechnet die Premiere … volles Haus … die Presse … Was mach ich nur mit dem Publikum?“ Die Angelegenheit schien ihn zu überfordern.

„Herr Gollertz, eine unangenehme Sache, ohne Zweifel“, meinte Mehrwald mitfühlend, „aber lassen Sie meine Partnerin und mich erst einmal zum Ort des Geschehens.“

Ein uniformierter Beamter in der Nähe führte sie durch einen langen Gang an offen stehenden Türen und diskutierenden Grüppchen von Schauspielern vorbei bis zur Garderobe von Franz Wolf.

Gollertz war ihnen gefolgt.

„So, ab hier schaffen wir es allein, vielen Dank“, sagte Kälbchen. „Wir kommen nachher wieder auf Sie zu.“

„Eine Bitte hätte ich noch“, meinte der Intendant. „Das Publikum haben wir bislang nicht gehen lassen, weil wir ja nicht wussten …“ E zuckte mit den Schultern und sah sie fragend an. „Es sind immerhin über siebenhundert Zuschauer, die langsam ungehalten werden, da sie nicht nach Hause dürfen. Wäre das möglich?“

Kälbchen warf Mehrwald einen Seitenblick zu. „Ja, aber sämtliche Personen auf und hinter der Bühne, Schauspieler, Techniker, Pförtner, die Bedienung in der Kantine, alle halten sich zu unserer Verfügung.“

Sichtlich erleichtert trat Gollertz den Rückzug in Richtung Bühne an.

Mehrwald überlegte, ob die Entscheidung richtig war, kam jedoch schnell zu der Überzeugung, dass die Vernehmung einer solchen Masse Menschen nicht zielführend sein konnte und den Polizeiapparat unnötig lange blockieren würde.

„Ah, bonsoir, Madame!“ Er begrüßte die Rechtsmedizinerin Dr. Henriette Morel, die in einem weißen Ganzkörperanzug mit Kapuze neben dem Stuhl mit dem Toten stand und Kälbchen und ihm zwei Paar Einwegüberzieher für die Schuhe reichte.

„Bonsoir, Madame et Monsieur le Commissaire!“ Sie nickte ihnen freundlich zu. „Und wiedär wurde ’ier ein ’eller Stern vom Firmament der Kunst gewischt“, meinte sie in französischem Akzent mit Blick auf den Toten bedauernd.

Dr. Morel, Anfang sechzig, Französin aus Leidenschaft, war eine der längsten Begleiterinnen von Mehrwald in seiner bisherigen Polizeikarriere. Ab dem ersten Tag arbeitete sie bei jedem Fall eng mit Mehrwald zusammen. Mit den Jahren war eine Freundschaft entstanden, bei der es trotz aller gemeinsamen Kochabende mit Coq au vin und Creme brûlée nach wie vor beim „Sie“ und der Anrede mit dem Vornamen geblieben war.

Mehrwald trat auf die andere Seite des Stuhls und schaute sich um. Er hatte in seiner Schulzeit manchmal als Statist gearbeitet, um sein Taschengeld aufzubessern. Daher kannte er Garderoben als Räume, die im leeren Zustand keinen Charme versprühten, dazu waren sie zu nüchtern. Und gerade stellte er fest, dass sich seit damals nichts daran geändert hatte. Sie bekamen nur zeitweise einen persönlichen Touch, solange die Schauspieler oder Sänger sie nutzten und einige ihrer persönlichen Dinge verteilten. Den Rest der Zeit herrschte zweckdienliche Pflegeleichtigkeit, wovon der fleckige und abgenutzte dunkelgraue Teppichboden zeugte. Ein weißer Resopaltisch mit einer Schublade stand vor einem großen, mit mattierten Glühbirnen versehenen Spiegel, in den man nur blicken konnte, wenn man auf dem Plastikstuhl davorsaß. Bis hierher war das die Grundversion einer Garderobe. Wolf als Hauptdarsteller hatte die Luxusvariante: Rechts neben dem Garderobentisch ging es durch eine Tür in ein eigenes Bad mit Toilette, Dusche und einem Waschbecken. Ansonsten gab es dort einen braunen Sessel mit einem abgewetzten Cordbezug, einen Garderobenständer mit ein paar Kleidungsstücken, ein Paar schwarzer Halbschuhe, davor aufgespannt ein noch feuchter Regenschirm mit einem Werbeaufdruck der Stadtsparkasse Aachen. Gleichmäßig verteilt auf allen Gegenständen, der Wand und dem Fußboden erkannte Mehrwald mehr oder weniger große Flecken aus Blut, Hautgewebe und Fleischfetzen. Ein unschönes Bild, besonders auf leeren Magen.

Ein seltsames Gefühl beschlich Mehrwald. Einen bekannten Schauspieler persönlich zu treffen, war eine Sache. Hier jedoch war Wolf beziehungsweise das, was von ihm übrig war, dazu als Caesar zurechtgemacht und ohne Zweifel mausetot. Quasi eine Doppelrolle. Die Augen waren weit geöffnet, ein entsetzter Ausdruck lag darin. Der komplette hintere Teil des Schädels hatte sich durch die Wucht des Schusses, der ihn von vorne getroffen haben musste, hinter ihm im Raum verteilt und diese Riesensauerei hinterlassen.

Wolf trug eine knielange weiße Toga, die von einem breiten Lederriemen um die Taille zusammengehalten wurde. Eine Schlaufe des Gewands lag über der linken Schulter, die rechte war, wie beide Arme, nackt. Alle sichtbaren Hautpartien – Gesicht, Arme, Beine und Oberkörper – hatte die Maskenbildnerin mit einem leicht dunklen Farbton abgepudert, damit Caesar als Römer im grellen Scheinwerferlicht nicht allzu kalkweiß auftreten musste. An den Füßen entdeckte Mehrwald zwei schwarzbraune Ledersandalen.

Rechts neben dem Kopf des Toten auf dem Schreibtisch lag ein blauer DIN-A4-Schnellhefter. Das Textbuch für seine Rolle mit ein paar handschriftlich markierten Passagen auf der aufgeschlagenen Seite. Mehrwald meinte, die Zeile Auch du, mein Sohn, Brutus? entdeckt zu haben. Zur Linken ein benutztes Glas mit einer kleinen, halb geleerten Flasche Mineralwasser, daneben eine Uhr mit einem dicken schwarzen Lederarmband. Eine der teuren Marken mit einigen Tausend D-Mark Neupreis.

„Und, Henriette?“, fragte Mehrwald Dr. Morel. „Können Sie schon etwas Näheres sagen?“

„Mais oui! Isch kann sagen, es war diesmal nischt der Brutus mit dem Messer.“

Sie nahm Wolfs Kopf in die behandschuhten Hände und hob ihn etwas an, sodass Mehrwald das Gesicht von vorne sehen konnte. An der Stirn entdeckte er ein Einschussloch.

„Man wird vielleischt mehr erkennen, wenn isch ihn auf dem Tisch ’abe.“

„Das muss aber mächtig geknallt haben“, dachte Mehrwald laut. „Vielleicht ein Schalldämpfer?“

Kälbchen kam dazu. „Selbst dann muss etwas zu hören gewesen sein. Dass es nur ein hartes Plopp gibt, wenn jemand mit Schalldämpfer schießt, das Märchen können wir getrost vergessen.“

„Nun, die Tür war geschlossen, und draußen auf dem Gang war ein ziemlich hoher Geräuschpegel, könnte ich mir vorstellen. Mit etwas Glück hat man nicht beachtet, dass es einen lauten Schlag gegeben hat“, erwiderte Mehrwald. „Den Todeszeitpunkt können wir wahrscheinlich genau eingrenzen, nicht, Henriette?“

„Oui, isch tippe auf Viertel vor acht, plus minus ein’ Viertelstunde.“

Mehrwald wandte sich ab. „Hol doch bitte mal die Person, die den Toten gefunden hat, Eleonore.“ Er trat mit einem „’n Abend“ durch die Tür um die Ecke ins Bad. Dabei stolperte er beinahe über einen aufgeklappten Aluminiumkoffer. „Bernd, alter Fährtensucher, bist du auch schon da?“

„Hm, hm.“ Eine sonore Stimme kam vom Badezimmerfenster.

Bernd Jäger von der Spurensicherung kniete davor und bearbeitete den Drehgriff mit einem Pinsel.

„Was Interessantes gefunden?“

Jäger wog den Kopf hin und her. „Der Mörder hat mit Sicherheit Handschuhe getragen. Und du kannst davon ausgehen, dass er da raus ist.“ Er deutete mit dem Kinn auf das halb geöffnete Fenster und anschließend auf den Toilettendeckel. „Er hat sich wahrscheinlich auf den Deckel gestellt, um besser rausklettern zu können.“

Auf dem weißen Deckel zeichneten sich Abdrücke von feuchten Schuhsohlen ab.

„Und solche ähnlichen Abdrücke haben wir hier noch mal.“ Jäger ging zur Dusche, schob den Vorhang zur Seite und sah in die Duschtasse. „Vermutlich derselbe.“

„Was treibt einen Mörder in die Dusche?“, fragte sich Mehrwald selbst. Er schüttelte den Kopf und beugte sich durchs Fenster.

Es zeigte auf einen schummrigen Innenhof, von dem aus man durch eine überdachte Einfahrt auf die Straße gelangte. Im Hof gestapelte Bierkästen mit leeren Flaschen und fahrbare Müllcontainer. Die Kantine musste dort ihren Lieferanteneingang haben. Vom Fenstersims konnte man sicher leicht springen, da das Bad im Hochparterre war und unter dem Fenster außer einem Container nur Betonplatten lagen. Keine zwei Meter Höhe – das war selbst für einen Ungeübten durchaus zu schaffen.

„Reingekommen ist er da nicht, denke ich. Er muss also die Tür genommen haben“, sinnierte Mehrwald laut.

„Es sei denn, er hätte sich solch einen Blechcontainer unter das offene Fenster geschoben“, erwiderte Jäger. „Das prüfen wir noch.“

„Sieh bitte zu, dass wir morgen die persönlichen Sachen von Wolf aus der Garderobe im Präsidium zur Verfügung haben. Hast du die Kugel gefunden?“

„Jou“, antwortete Jäger, „komm mal mit.“ Er erhob sich und ging in die Garderobe. „Hier muss der Täter gewesen sein, als er geschossen hat. Stell dir vor, Wolf hat aufrecht mit Blick zum Spiegel gesessen. Der Schuss hat ihn direkt von vorne aus diesem Winkel getroffen.“ Er stand nun im Türrahmen des Badezimmers und hielt den Arm auf Höhe von Wolfs Kopf, bevor der Mörder ihn getötet hatte. „Wenn du den Schusswinkel verlängerst, landest du genau da hinten in der Fußleiste.“ Er deutete auf das andere Ende des Raums knapp vier Meter entfernt.

Mehrwald nickte stumm.

„Und da haben wir auch die Kugel gefunden.“ Aus seinem Alukoffer zog Jäger einen Beweismittelbeutel mit einem Metallstück.

„Gab es eine Patronenhülse dazu?“

Jäger zeigte unter den Schminktisch. „Die lag da. Wahrscheinlich war der Täter in Panik und wollte schnell verschwinden. Sonst hätte er sie mitgenommen. Alles Weitere dann morgen, aber es ist eine Neunmillimeter.“

Kälbchen erschien mit einem jungen Mann von ungefähr siebzehn Jahren in einem grauen Arbeitskittel und Turnschuhen an der Tür. „Das ist Ahmet, Ahmet Aslan. Er hat den Toten entdeckt.“

Mehrwald schob sie durch die Garderobe hindurch auf den Gang hinaus. Ein Polizeifotograf war dabei, Schilder mit Nummern aufzustellen und unterschiedliche Ansichten des Tatorts aufzunehmen.

„Ahmet Aslan … Ahmet, ich kenne dich. Sag mir doch bitte, woher.“

Ahmet nickte. „Sie kaufen manchmal bei uns ein, Herr Kommissar.“

Mehrwald tippte sich an die Stirn. „Natürlich, dein Vater hat den Lebensmittelladen bei mir um die Ecke! Was machst du dann hier?“

Der Junge war verstört. Der Anblick der Leiche hatte ihm zugesetzt. Andererseits freute er sich offensichtlich, helfen zu können. „Ich will Schauspieler werden und darf manchmal im Theater arbeiten, wenn Mann in Not ist.“

Mehrwald konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Soso, wenn Not am Mann ist. War das an diesem Abend so?“

„Ja, zwei Bühnenarbeiter sind krank, und weil heute Premiere war, hat Vater mir erlaubt zu helfen.“

„Dann erzähl uns jetzt bitte ausführlich, wann und wie du den Toten gefunden hast. Versuch, dich an Details zu erinnern. Lass nichts aus, es könnte alles wichtig sein.“

Ahmet nickte erneut. „Es war kurz vor dem Beginn des zweiten Bilds. Alle Schauspieler waren schon vorne in der Bühnengasse und haben gewartet – alle, bis auf Franz Wolf. Da meinte Herr Moger, ich solle schnell laufen und ihn aus der Garderobe holen, und …“

Mehrwald unterbrach ihn. „Herr Moger? Das ist wer?“

„Der Inspizient. Ich bin sofort los und habe an die Tür geklopft.“

„Sie war also geschlossen?“, hakte Mehrwald nach.

„Ja.“

„Und was ist dann passiert?“

„Gar nichts, ich habe erneut geklopft und gerufen. Als sich immer noch nichts getan hat, habe ich die Tür aufgemacht und bin hinein. Und da habe ich Herrn Wolf tot daliegen gesehen.“

„Hast du irgendetwas angefasst?“

Ahmet schüttelte heftig den Kopf. „Nein, gar nichts.“

„Ist dir sonst etwas aufgefallen? Gab es vielleicht Geräusche, oder waren Personen auf dem Gang, die du nicht kanntest?“

Wieder Kopfschütteln.

„Und weiter?“

„Ich bin schnell zurück zu Herrn Moger und hab ihm Bescheid gesagt.“

„Danke dir, Ahmet. Du hast uns sehr geholfen. Wenn dir noch was einfällt, ruf uns bitte unter der Nummer an.“ Mehrwald zog eine Visitenkarte aus der Manteltasche und reichte sie dem Jungen. „Du kannst gehen – und grüß deinen Vater von mir.“

Ahmet verschwand.

„So, sprechen wir mal mit dem Inspizienten“, entschied Mehrwald. „Ich schlage vor, wir nehmen uns eine der freien Garderoben. Alle Personen, die mit Franz Wolf direkten Kontakt hatten. Ich vermute, die Maskenbildnerin, die Requisite möglicherweise, dann – dringend – der Pförtner, eventuell andere Kollegen und so weiter. Und lass vom Intendanten bitte eine vollständige Liste aller Mitwirkenden des Stücks und Beschäftigten des Theaters zusammenstellen, die heute Abend anwesend waren.“

Kälbchen nickte und wollte gerade zur Tür hinaus, als sie mit dem Inspizienten zusammenstieß. „Herr Moger? Das trifft sich gut. Kommen Sie, Sie unterhalten sich mit dem Kriminalhauptkommissar nebenan.“

Während zwei Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts eintrafen und den Toten in einen Leichensack packten, gingen sie hinaus und fanden eine freie Garderobe eine Tür weiter. Mehrwald nahm auf dem Stuhl vor dem Spiegel Platz, zog ein Notizbuch aus der Manteltasche, schlug es auf und nahm einen weiß-blau gestreiften Werbekuli in die Hand.

ταβέρνα με τον Κώστα stand darauf. Eine Erinnerung an seine Besuche bei Kostas, dem Besitzer einer griechischen Taverne am Strand von Thessaloniki. Bei seinen zahlreichen Griechenlandaufenthalten war der Besuch dieses Restaurants immer der Urlaubsauftakt, sobald er aus dem Flieger stieg. Kostas’ Gigantes als Vorspeise waren unübertroffen: dicke Saubohnen in einer würzigen Tomatensauce, überbacken und mit Oregano bestreut. Den Stift hatte Kostas ihm nach seinem letzten Abendessen dort mitgegeben. Seitdem führte der ein dienstliches Leben als ständige Erinnerung, dass es etwas anderes neben dem Job gab.

Er seufzte leise, als er den Stift in die Hand nahm, und hörte seinen Magen knurren. Kein Wunder, er hatte seit dem Morgen nichts Vernünftiges gegessen. Moger bot er den Sessel gegenüber an, den der Inspizient komplett füllte und Mehrwald um einige Zentimeter überragte.

„Herr Moger, ich bin Kriminalhauptkommissar Mehrwald, Kripo Aachen. Meine Partnerin, Kriminaloberkommisssarin Kalb, haben Sie ja bereits kennengelernt. Sie sind der Inspizient des Hauses, richtig?“

Sein Gegenüber nickte.

„Eine kurze Aufführung heute“, begann Mehrwald. Moger wirkte auf ihn wie eine Respektsperson. Im Theaterbetrieb tat man gewiss besser daran, sich gut mit ihm zu stellen.

„Ein Abend, wie man ihn sich nicht jeden Tag wünscht, wenn man sein Haus voll haben möchte.“ Seine Bassstimme dröhnte durch die Garderobe. „Ich bin zwar schon über fünfundzwanzig Jahre am Theater, aber so was …“ Sein Kopfschütteln beendete den Satz.

„Herr Moger, wenn mich meine sparsamen Kenntnisse vom Theaterbetrieb nicht im Stich lassen, sind Sie so etwas wie die gute technische Seele der Vorstellung.“

Moger nickte. „Und wenn man den Job nicht nur als Pflicht sieht, ist man mehr als das.“ Er machte es sich in seinem Sessel bequem.

Mehrwald hatte das Gefühl, dass der Mann zu einem Monolog ausholen würde.