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Im beschaulichen, lieblichen Klützer Winkel gedeihen schreckliche Strukturen. Eine unheimliche Macht scheint alle Fäden in der Hand zu haben. Nazis versuchen ihr Süppchen zu kochen, Stasi-Akten tauchen auf, und jetzt mischt auch noch die Mafia mit. Hauptwachtmeister Pannwit will Ordnung in seinem Heimatort schaffen, ist aber ganz alleine. Annika und Alexander suchen dort ihr Glück. Da taucht zu allem Unglück ein Toter auf. Was weiß die Hexe? Ist der Apotheker schuldig? Hat der Fischer die Finger im Spiel? Oder gar Annikas Mann? Der Polizist und die junge Frau ermitteln einzeln, lösen den Fall schließlich aber gemeinsam, und erleben Ungeahntes.
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Seitenzahl: 279
Veröffentlichungsjahr: 2023
Für alle Mecklenburger Freunde, die dieses Buch angeregt, und, durch Ihre Hilfe, wirklich werden haben lassen.
Michael Odo Hauck
Toter Biber, Wilde Maus.
Dunkle Ecken im Klützer Winkel
© 2023 Michael Odo Hauck
Druck und Distribution im Auftrag des Autors
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Softcover
978-3-347-89959-9
Hardcover
978-3-347-89960-5
E-Book
978-3-347-89961-2
Großschrift
978-3-347-89962-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Vorweg…
Die kleine Schlossstadt Klütz, die wunderbare Wohlenberger Wiek, das klassische Seebad Boltenhagen, prominente Bauten und besondere Landschaften, alles findet der Leser, wie beschrieben, im beschaulichen Klützer Winkel an der mecklenburgischen Ostseeküste. Die friedliche Revolution in Deutschland, das Ende des Ministeriums für Staatssicherheit, der Bauboom an der Ostsee, sind zeitgeschichtliche Tatsachen. Ebenso bestehen selbstverständlich öffentliche Einrichtungen, Ämter und Amtspersonen.
In diesem Umfeld gab und gibt es Skandale und Geschichten, die man aus den Medien erfahren kann. Alle weiteren Orte, Handlungen und Personen entstammen allerdings meiner Phantasie, Ähnlichkeiten wären rein zufällig und sind jedenfalls unbeabsichtigt.
M.O. Hauck
Wo?
Woher?
https://www.mdr.de/geschichte/ddr/mauergrenze/boltenhagen-westlicher-strand-ddr-100.html
https://www.boltenhagener-einblicke.de/wp-content/uploads/2017/03/2003-01-10_boltenhagener-einblicke.pdf
https://www.welt.de/reise/nah/article132152546/Von-der-Waffenschmiede-zum-Ostsee-Urlaubsparadies.html
https://www.stadte-gemeinden.de/gemeinde-boltenhagen.html
https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/archiv/standorte/rostock/
Wer?
Annika Martens,
Personal Trainerin
Roswitha, ihre Mutter
Alexander Berger,
Unternehmer
Ronny Herzog,
Schwarm
Henrik Pannwit,
Polizist
Helga, seine Frau
Nicole Slupski,
Polizistin
Mats, Bauernlümmel
Greta Lollmann-Luccinetti,
Bürgermeisterin
Riccarda Remmers,
Angestellte
Ihr Ehemann
Marga,
Hexe
Der Apotheker
Elke, seine Hilfe
Sven, Ole, Jonny, Fritz, Jan,
Einheimische
Luigi, Danu, Abdul,
Zuwanderer
Marlon, Maik, Mandy, Marileen,
Urlauberfamilie
Marley, Chaka,
Tagesgäste
Cover
Widmung
Titelblatt
Urheberrechte
I: Dunkle Wolken
II: Personal Training
III: Geschäftsidee
IV: Einführung
V: Geschäftsleben
VI: Neue Geschäftsidee
VII: Heimatkunde
VIII: Geschäftsentwicklung
IX: Geschäftsabschluss
X: Fehlschlag
XI: Anfang
XII: Rückendeckung
XIII: Fühlungnahme
XIV: Nachsuche
XV: Geschichten
XVI: Ortstermin
XVII: Geschichten
XVIII: Geschichten
IXX: Wandlungen
XX: Treffen
XXI: Ehrgeiz
XXII: Zuhause
XXIII: Weite Kreise
XXIV: Eingriff
XXV: Vorstellung
XXVI: Aufräumen
XXVII: Warten
XXVIII: Rundgang
XXIX: Furcht
XXX: Freude
XXXI: Planung
XXXII: Hausbesuch
XXXIII: Bewältigung
XXXIV: Fahrtbeginn
XXXV: Schweigen im Walde
XXXVI: Geschäftsbesuch
XXXVII: Auswärtstermin
XXXVIII: Heimsuchung
XXXIX: Beichte
XL: Spurensuche
XLI: Endkampf
XLII: Letzte Runde
XLIII: Meldungen
XLIV: Aufschluss
XLV: Abschluss
Cover
Widmung
Titelblatt
Urheberrechte
I: Dunkle Wolken
XLV: Abschluss
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I
Dunkle Wolken
Maik hatte schlechte Laune. Seit Tagen, aber heute besonders. Alles hatte damit angefangen, dass er mit seiner Familie ausgerechnet in der Hauptsaison an die Ostsee fahren musste. Aber für Mandy musste es immer wieder Boltenhagen sein. Maik bildete sich ein, weil sie sich hier kennengelernt hatten. Maik als Einheimischer, der unbedingt wegwollte, Mandy als Urlauberin, die die Ostsee schon vor der Wende durch die rosarote Brille sah. Und nun dieser Trubel in Boltenhagen, Berliner, die unvermeidlichen Sachsen, aber auch viele Westdeutsche, die das alte Seebad mittlerweile auch entdeckt hatten. Nicht nur, dass sie den Dauerstau auf der Ostseeallee, der einzigen durchgehenden Straße, mit ihren dicken Karren noch verschlimmerten. Im Kontrast zu diesen sah sein Mercedes-SUV aus, wie das, was er war: Eine uralte, abgewrackte, schwarze Karre mit lächerlich breiten, geschmacklosen Rädern. Er hatte vor dem Urlaub einen Kredit dafür aufgenommen und ärgerte sich jetzt über jedes Klappern, jeden wackeligen Schalter und jede lockere Verkleidung.
Mandy wäre sogar lieber, wie immer, zu Fuß gegangen, oder mit den Leihfahrrädern zum Strand gefahren, aber da hatte Maik sich durchgesetzt, hatte sie und die Kinder standesgemäß zum Strand gebracht, und war dann eine halbe Stunde die Ostseeallee auf und ab gefahren, bis er eine Lücke im Parkverbot entdeckt hatte. Zum Familienstrandkorb war es fast weiter, als wenn sie direkt von der Karl-Liebknecht-Straße gelaufen wären. Nach einer Viertelstunde hatte er schwitzend und schnaufend seine Lieben erreicht, die Cargohose gegen Badeshorts getauscht, sich anschließend „Zur Düne“ in den Schatten verzogen, und den Tag dem Bier geweiht. Gegen Mittag gesellte sich Ole, sein Gesinnungsgenosse, noch aus DDR-Tagen, dazu, der mit seinem Schifferklavier vor der Seebrücke offensichtlich genug zusammengedudelt hatte, um sich ebenfalls eine Pilskur zu gönnen. Bald wurde das Gelaber, die Floskeln und Parolen den anderen Gästen zu unangenehm, sodass Maik und Ole allein an der Bar saßen. Es wurde immer schwüler, der Bierschweiß klebrig, erst windstill, dann dunkle Wolken und Böen, und schließlich stand Mandy neben ihrem Mann.
„Komm, wir wollen noch im Trockenen nach Hause.“
Maik ließ sich vom Barhocker rutschen und trottete seiner Familie hinterher. Mandy schleppte die Strandsachen. Marileen bewegte sich selbst. Marlon zockte. Die ersten dicken Tropfen fielen, als sie am Mercedes ankamen. Im Wind flatterte der Strafzettel.
„30 Euro. Diese Gauner! Sollen sich lieber um die Bagaluten kümmern.“
„Wir hätten ja zu Fuß gehen können.“
„Halt’s Maul.“ Mandy tat’s, sonst würde es noch unangenehmer werden.
Sie kletterten ins Auto, Mandy musste fahren, alkoholbedingt. In dem Mercedes war es ihre Premiere. Mühselig schob, hebelte und schraubte sie am Fahrersitz herum, bis sie ans Lenkrad und an die Pedale kam. Dann war der Gurt außer Reichweite.
„Marlon, kannst Du mir mal von hinten den Gurt anreichen?“
Marlon hatte die Kopfhörer auf. „Häh?“ Der ausgeleierte Gurt war eingeklemmt. Mandy öffnete die Tür
*
Zu sechst waren sie morgens in Berlin losgefahren, um an der Ostsee zu surfen. Den ganzen Tag lang gab es weder Wind noch Welle, erst jetzt, als sie wieder zurück mussten, briste es etwas auf. So war der Tag dann mit Musik, Cocktails und Rauchwaren vergangen. Vier lümmelten sich hinten im VW-Bus auf der Zweier-Sitzbank und zwischen den Surfboards und Luftmatratzen. Vorne rechts schlief Marley, der Chaka geschwängert hatte, weil sie es so wollte. Nun musste sie fahren.
„Könnt Ihr nicht mal ein bisschen ruhiger sein, die Kiste leiser drehen und still sitzen, wenigstens hier im Ort!“ Chaka hatte sich nach hinten gedreht und gegen die Boom-Box angebrüllt. Als sie wieder nach vorne sah, war da plötzlich diese Tür. Mit ganzer Kraft sprang sie auf das Bremspedal. Mangels Antiblockiersystems standen sofort alle vier Räder. Die zwanzig Jahre alten Reifen hatten nicht mehr genug Leben, um noch quietschen zu können. Mit einem schabenden Geräusch rutschte der Bus, wie in Zeitlupe, gegen die Tür des Mercedes, die sich sofort aus den altersschwachen Scharnieren verabschiedete und über die Straße polterte. Der VW-Bus verlor den rechten Scheinwerfer und der Kühler die Kontinenz. Schräg vor dem Mercedes kam der Bus zum Stehen.
*
„Pass‘ doch auf, Du dusselige Kuh!“
„Halt die Fresse, Du fetter, vollgesoffener Schlappschwanz!“
Marileen fing an, so zu tun, als müsse sie hyperventilieren, wie sie es in den TV-Serien gelernt hatte. Marlon begann mit dem Mobiltelefon zu filmen und wiederholte kichernd ständig: „fetter, vollgesoffener Schlappschwanz“. Maik tauchte ab, um im Handschuhfach nach den Papieren zu suchen. Am liebsten wäre er ganz hineingekrochen. Mandy aber hüpfte vom Fahrersitz und stapfte zum VW-Bus.
Marley hatte sich den Kopf gestoßen, hing schief im Sitz und stöhnte. Die Vier waren ordentlich durcheinander gepurzelt, was zu verstärkter Heiterkeit führte. Chaka sagte ganz ruhig: „Kacke“, stieg dann aus und reckte sich zu ihrer ganzen Länge, was den Kugelbauch noch mehr hervorspringen ließ. In diesem Moment bog Mandy um das Heck des Busses und stürmte auf Chaka zu.
„Du verfickte Öko-Schnalle mit Deinem Scheißkübel! Unser neuer Mercedes! Das wird Dir noch leidtun. Los, Papiere her!“ keifte sie Chaka von unten her an.
„Das ist noch nicht raus, was hier die größere Scheißkarre ist.“ konterte Chaka mit einem Seitenblick auf den schwarzen Altwagen. „Du bist doch selbst schuld.“
Das war zu viel für Mandy. Sie versuchte Chaka im Gesicht zu treffen, zu watschen oder zu kratzen. Chaka blieb ruhig und wich geschickt aus. Wie Mandy auf und ab hupfte, mit ihrem kugelrunden Leib in dem zu engen, zu kurzen, zu bunten Strandkleid, aus dem die Gliedmaßen wie weiße Rübchen hervorlugten, das ließ die Vier im Bus endgültig vor Lachen kollabieren. Marlon filmte das Video seines Lebens. Marley lehnte am Bus und drehte sich eine, Blut tropfte aus der vordersten seiner Rastalocken. Passanten schritten ein, der Verkehr brach zusammen und staute sich auf der Ostseeallee bald über die ganzen drei Kilometer Länge. Es donnerte.
*
Hauptwachtmeister Henrik Pannwit saß im Polizeiposten Boltenhagen. Eigentlich war er dort nur noch Kontaktbeamter für wenige Stunden in der Woche, abwechselnd mit der Kollegin Nicole Slupski. Dazu sollten in der Saison, wenn die Einwohnerzahl von Boltenhagen von zwei- auf fünfzehntausend wuchs, noch zwei Kollegen vom Bäderdienst kommen, aber es herrschte Personalnot, und da blieb’s bei zwei. Immerhin waren dabei zwei alte VW-Passat Streifenwagen abgefallen. Die beiden Polizisten versuchten alles, die Ordnung aufrecht zu erhalten, nahmen jede Gelegenheit wahr, sich vom Polizeirevier Grevesmühlen zu entfernen. Nicole war allein zu einem Nachbarschaftsstreit beim Grillen nach Groß Schwansee gefahren. Das Telefon klingelte.
„Nein, ich kann hier nicht weg, ich bin allein. Sollen doch die Kollegen von der Inspektion aus Wismar kommen. - Die haben Schwedenfest? Na, gut. Aber dann ist hier niemand mehr. Melde mich ab.“
Henrik setzte sich in den Streifenwagen, fuhr zum Kreisverkehr und dann unter Blaulicht und Sirene auf der Gegenfahrbahn bis zum Unfallort. Offensichtlich keine schwer Verletzten. Erstmal Ordnung schaffen. Er winkte ein paar PKW durch, gebot zwei anderen, über den Bürgersteig weiterzufahren. Alle wollten rechtzeitig nach Hause. Es regnete stärker, Blitze schlugen über der See ein.
“Ich brauche jetzt mal ein paar Leute, die mit anpacken!“
Marlon zwinkerte ihm zu: „Soll ich helfen?“
„Nee, lass‘ mal.“ Er griff sich zwei Passanten, die den Verkehr regeln sollten, vier weitere, die den Bus beiseite schoben. Dann begann er mit den Formalitäten. Die Kameraden von der Feuerwehr trafen ein, streuten großzügig ab, und endlich bekam Marley einen Verband. Henriks Mobiltelefon brummte.
„Ja, Pannwit? Ein Toter am Anleger von Wohlenberg? – Nein, das kann ich nicht auch noch machen. – Wie? Nicole hat sich am Grill verbrannt und krankgemeldet? Dann muss halt die Armee aushelfen. – Jawohl, heute Bundeswehr und keine Polizeigewalt. Aber hört mal, Kollegen, der Klützer Winkel hat zweihundert Quadratkilometer, und ich bin der Einzige, der hier noch Dienst schiebt. Zu Erichs Zeiten wimmelte es hier von Uniformen, vom VEB Horch, Guck und Greif ganz zu schweigen. Ich will ja nix sagen, aber so geht es doch nun wirklich nicht. - Jawohl, ich fahre hin. - Das geht vor. Ja. Ende.“
Er übergab den Unfallort an die Kameraden von der Feuerwehr und setzte sich in sein Auto. Es gab kein Durchkommen. Also fuhr er in den nächsten Weg Richtung See, durch den Küstenwald, auf die Strandpromenade, und schaltete wieder die Sirene ein. Radfahrer, Fußgänger, Mütter mit Kinderwagen und Rentner an Rollatoren wurden in die Büsche gedrängt. Matsch spritzte, wenn er durch die Pfützen pflügte. In Tarnewitz, hinter der Klinik, fuhr er wieder auf die Straße und war nach fünf Minuten in Wohlenberg.
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Henrik war gerade abgefahren, die Feuerwehr kehrte noch etwas, der Verkehr begann abzufließen, da hielt ein alter Lada Niva, dessen dunkelroter Lack den großen Rostflecken schmeichelte, mit zwei gelben Rundumleuchten und einem Schild PRESSE auf dem Dach, in zweiter Reihe, sodass der Verkehr erneut zum Erliegen kam. Ein Männlein stieg aus, kaum einssechzig groß, sechzig Kilo schwer, dafür mindestens sechzig Jahre alt. Sein zu großes, kariertes Sakko roch nach altem Rauch. Gegen den Regen hatte er eine dünne neongelbe Plastikjacke mit der Kapuze über seinen Kopf gehängt. Vor seinem Bauch baumelte eine nutzlose, analoge Spiegelreflexkamera, und eine billige Digitalknipse, die er vor seine dicke Brille hob. Der Wehrführer ging auf ihn zu und rief:
„Jonny,“ wobei er das „J“ wie in Jochen aussprach, „Fahr Deinen Schrotthaufen da weg. Sofort!“ Jonny zog einen Presseausweis, von dem niemand wusste, woher er den hatte.
„Ich mache jetzt hier Pressebilder. Das ist ein freies Land. Ich bin die freie Presse und meine Berichterstattung hat Vorrang vor dem Verkehr. Da lasse ich mich von den Schergen der Macht nicht abhalten!“
„Jonny! Sofort! Sonst nehm‘ ich Deine Karre an den Haken und stell‘ sie auf den Hof beim TÜV. Die siehst Du dann nie wieder.“ Jonny fuhr weg. Als er verschwitzt zu Fuß wiederkam, konnte er nur noch zwei beschädigte Altwagen fotografieren. Die Besitzer saßen gegenüber im Café und hatten sich bei caffè corretto auf einen gemeinsamen Unfallbericht geeinigt. Sie hatten keine Lust, mit Jonny zu reden.
„Wieso ist denn keine Polizei hier?“
„Der is ssuh eim Toten nach Wohlenberg gefahn.“ – „Scheiße, wieder zu spät.“
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Wohlenberg, das sind drei Dutzend Häuser, manche noch reetgedeckt, schön gelegen, hoch auf dem Rücken der letzten Endmoräne. Dort stand im frühen Mittelalter auch die slawische Wohlenburg, deren Burghügel immer noch sichtbar ist. Das Dorf ist einer der ganz seltenen Orte, wo die Hügellandschaft bis an die Küste stößt, man einen Seeblick ungehindert von Dünen oder Küstenwald hat. Ein Feriendorf mit Hotel und kleinen Bungalows und ein abseits gelegenes Gebiet mit fünfzig Ferienhäusern prägen heute das Ortsbild. Von der erhöhten Warte sieht man auf die Wiek, eine weite, flache, hufeisenförmige Bucht, mit einem kilometerlangen, sehr sanft abfallenden Naturstrand. Im Süden der Wiek liegt am Hang der schon zur Zeit der DDR sehr beliebte Campingplatz, mit dem schönen Namen „Liebeslaube“. An beiden Seiten aber gibt es Steilküsten, die nicht so leicht zu erreichen sind. Dort war an der westlichen Landspitze, der Tarnewitzer Huk, die riesige Hotelanlage „Weiße Wiek“, am östlichen Pendant, der Wieschendorfer Huk, ein Golfplatz entstanden.
Der kleine Strandbereich von Wohlenberg wird durch die Ruine eines dreihundert Meter langen Anlegers geteilt, die eigentlich schon seit langer Zeit abgerissen oder saniert sein sollte, aber die Naturschützer, die Stadt und der Investor blockierten einander und versteckten sich hinter Formalien. Trotz Betretungsverbots wurde der gefährliche Klotz aus Beton und rostigem Stahl intensiv von Anglern genutzt. Die Wiek war vor langer Zeit bis zum Anleger ausgebaggert worden, sodass das Wasser dort immer noch tiefer war als im Rest der Bucht. Im Sommer sprangen die Burschen vom Rand, obwohl die schartigen Spundwände unter Wasser lebensgefährlich waren. Jetzt hatten sich dort noch mehr Menschen versammelt, halbkreisförmig, in einem ängstlichen Abstand um die leeseitige Spundwand. Auf dem Wasser standen drei Stand-up-Paddler, die vor dem Gewitter an den Wohlenberger Strand geflüchtet waren, und nun den beschwerlichen Weg zurück zur Liebeslaube vor sich hatten, und gafften. Jemand hatte die Absperrschranke geöffnet, sodass Henrik direkt durchfahren konnte. Hier war der Schauer schon durchgezogen, das Pflaster war nass, im Osten wurde es schon wieder heller.
„Und, wo ist der Tote – oder die?“, fragte er den ersten Besten.
„Da, im Wasser.“
Henrik trat an die Kante. Im Wasser schwamm etwas Graues, zwei Angler befanden sich in der Nähe. Er ging zu ihnen und sah genauer hin. Ja, das war zweifellos ein Mensch, der da in den Wellen schaukelte. Mit dem Gesicht nach unten, das bleiche, angefressene Gesäß nach oben, die Glieder baumelnd. Ein rotes Seil war nach Art eines Rollbratens um den Rumpf geschlungen, der in Fetzen einer graugrünen Plane gewickelt war. Offensichtlich hatte der Leichnam Kontakt mit den scharfen Spundblechen gehabt. Die Angler hatten ihre Ruten mit starken Sehnen und großen Drilling-Haken benutzt, um die Leiche festzuhalten.
„Wo kommt die denn her?“
„Die war plötzlich da“, antwortete einer.
„Na, da habt Ihr wohl gepooft. An so einem Tag gibt es hier doch eh nichts zu fangen. Da habt Ihr bloß geschnackt und geschluckt.“
Das Rote Kreuz war unterdessen auch eingetroffen. „Bekommt Ihr die Leiche aus dem Wasser?“
„Nee, das ist nichts mehr für uns. Frag doch mal beim Tauchclub.“
Die hatten zwar ein Boot, das musste aber erst aufgepumpt werden, und die Taucher wollten nicht zu der Leiche ins Wasser steigen. Der Wind war immer noch böig, dunkle Wolken nahmen die Hälfte des Himmels ein, ein Gewittersturm drohte. Wenn man die Leiche nicht bergen würde, könnte sie von den Wellen an die rostigen, schartigen Stahlprofile getrieben werden, dann bliebe nicht mehr viel davon übrig. Henrik rief noch zwei weitere Angler hinzu, die ebenfalls die Leiche an ihre Haken nahmen, und so bugsierten sie das Paket zum Strand, wo direkt neben dem Anleger eine kleine, geschützte, flache Stelle war, an der man den Leichnam anlanden konnte. Henrik rief die Feuerwehr – sollten die doch die Drecksarbeit machen – und die Kripo in Wismar an.
Als der Korpus an Land war, zog Henrik Einmalhandschuhe über und drehte ihn auf den Rücken. Ein Gesicht fehlte fast vollständig, die Schädelknochen lagen blank, alle weichen Körperteile waren kaum noch vorhanden, Fetzen von halblangen Haaren. Mann oder Frau, wer, wie alt, woher, das würde schwierig werden zu klären. Henrik wusste, dass der Anblick des aufgedunsenen, verunstalteten Körpers ihn für Wochen verfolgen würde. Immerhin roch der Kadaver nicht – noch nicht. Mit spitzen Fingern blätterte er in den Resten der Kleidung und der Plane, suchte nach persönlichen Gegenständen, Papieren, einem Telefon. Nichts. Nur, in einer Falte, aufgeweicht und fast durchsichtig, aber unbeschädigt, ein Fetzen Folie oder Papier, darauf mit fettem Permanentmarker: BIBER.
Henrik ging zu seinem Kombi und holte eine Rolle mit rotweißem Plastikband und der Aufschrift „Polizeiabsperrung“. Er zog das Band aus dem Gebüsch einmal quer über den Anleger und forderte alle Gaffer auf, hinter die Absperrung zu treten.
Die Feuerwehr kam, auch die studierten Kollegen in Zivil aus Wismar. Zeit für Henrik, sich zu verdrücken. Es war ohnehin kurz vor Schichtwechsel – wobei, mangels Personals, dies und Dienstschluss dasselbe waren.
*
Annika hatte Feierabend gemacht. Nach dem Regen saß sie in ihrem alten Hausanzug auf der Terrasse des gelben Hauses, genoss den einmaligen Blick auf die Bucht, trank und rauchte. Die Woche war anstrengend gewesen, alles lief zäh und mühsam. Alles blieb an ihr hängen. Auf dem Weg, der direkt an ihrem Grundstück vorbeiführte, liefen die Kinder der Urlauber auf und ab und riefen sich gegenseitig die sensationelle Neuigkeit zu: Im Wasser der Wiek trieb eine Wasserleiche. Annika trank schneller, sog den Rauch tiefer ein und weinte leise. Sie wusste nicht, ob sie hinuntergehen sollte, ob sie wissen wollte, wer die Leiche war.
Das Gewitter war weitergezogen, die Luft wurde angenehm frisch, ein bisschen Wind kam auf. In ihrem Rücken teilten sich die Wolken, und die Abendsonne schien hindurch auf die sandige Steilküste gegenüber an der Huk, ließ sie orangerot leuchten, und die Fenster der Datschen und Wohnwagen vom Campingplatz durch die Baumkronen blitzen. Darüber der Himmel noch dunkelgrau, fast violett, die See dagegen moosgrün mit einem smaragdfarbigen Saum am Strand. Langsam tat der Wein seine Wirkung. Sie wurde ruhiger, fast schläfrig. Schön war es hier. Sie seufzte und ihre Gedanken kreisten, drifteten ab.
Eine Achterbahn, ihr Leben war wie eine Achterbahn. Beim Besuch eines Vergnügungsparks in ihrer Kindheit hatte sich ihr das Erlebnis eingeprägt. „Wilde Maus“ hieß das historische Fahrgeschäft. Wie man aus einem Gewusel am Boden sich plötzlich in einem der Wagen findet, festgeschnallt wird, und stetig und unwiderstehlich nach oben transportiert wird. Man kennt nur eine Richtung: Aufwärts, vorwärts. Die anderen bleiben zurück, man fühlt sich erhaben. Die Wilde Maus fährt ein paar Schleifen in der Höhe, mit ruckartigen Richtungswechseln, immer andere Ausblicke, das Gefühl der Höhe, aber auch pausenlos durchgerüttelt zu werden, im Bewusstsein des Augenblicks, schon mit dem Wissen, dass der Höhenflug von begrenzter Dauer ist, dass es wieder bergab geht, Fahrt aufnimmt. Für viele beginnt dann erst der Spaß, wenn es richtig rundgeht. Weil es ungefährlich ist, und weil man sich jederzeit wieder nach oben ziehen lassen kann. Sie spürte schon, wie sich ihr Magen zusammenzog, konnte schon über die Kante gucken, und hätte doch alles dafür gegeben, noch eine genussvolle Runde in der Höhe drehen zu können. Aber wenn es jetzt losgehen sollte, dann wäre sie unerschrocken, mit dabei in der ersten Reihe, im Gefühl, den Sturz selbst steuern zu können. Ein letzter Blick zurück auf den Einstieg, der vor vier Jahren noch ziemlich verstolpert gewesen war.
II
Personal Training
Sie hatte alles gegeben, hatte jede Körperhaltung, jeden Move, jede Bewegung versucht, die bisher so erfolgreich und eindrucksvoll gewesen war. Sie schwitzte, seufzte, stöhnte. Sie blickte in Alexanders blaue Augen und munterte ihn auf, wie ein Trainer seinen Boxer. Alexander nickte, aber in seinem Blick lagen Selbstzweifel. Annika feuerte ihn an, wie sich zwei Tennisspieler beim Doppel gegenseitig heiß machen, wenn es um den entscheidenden Punkt geht. Sie kommandierte wie der Steuermann einer Jolle, damit die Segelmanöver abgestimmt ablaufen. Alexander bewegte sich wie ein Gehörloser beim Paso Doble, lächelte wie ein Blinder auf einem Aussichtspunkt. Er betrachtete Annika freundlich interessiert, wo doch allein der Anblick ihres wippenden Körpers andere in Ekstase versetzt hätten. Annika ließ nicht nach, bis Alexander ein stiller Schauder durchfuhr.
Annika ging duschen, Alexander danach. Sie sammelte ihre ebenso sündhafte wie teure Wäsche ein, griff sich ein ganz normales Höschen und ein Shirt aus ihrer Gucci-Tasche. Das war der Zeitpunkt, zu dem Annika sich normalerweise verabschiedet hätte, aber sie blieb, bis Alexander aus dem Bad kam. Sie wollte mehr über Alexander wissen.
„Wollen wir noch ein Gläschen Sekt trinken?“
Annika nickte und setzte sich auf das Sofa. Alexander hatte nur ein Hemd und Boxershorts angezogen. Annika betrachtete ihn mit Wohlgefallen. Er hatte sich gemacht, sah richtig gut aus. Das Gesicht markant, glattrasiert und nicht zu schön, halblange blonde Haare, sein Körper sportlich schlank, ohne Muskelberge, über einsneunzig groß. Alexander strahlte Souveränität und Ruhe aus, bewegte sich geschmeidig und sicher. Er ging in die Küche um die Flasche aus dem Kühlschrank zu holen. Sie ließ den Blick noch einmal durch die Wohnung schweifen. Modern, aber nicht sehr aufwändig oder auffällig war die Einrichtung, wenig Persönliches oder Deko. Ein großes CD-Regal war das einzig Außergewöhnliche. Alexander kam wieder und setzte sich neben sie. Er füllte ihre Gläser, sie prosteten sich zu, saßen nebeneinander, eng, und sahen an die Wand. Annika nahm seine Hand.
„Lass uns mal an was anderes denken: Erzähl mir doch mal, wieso Du eigentlich wieder an der Ostsee bist.“
Alexander sah Annika mit großen, ruhigen Augen an. „Das kann ein längerer Abend werden, aber wenn Du willst. Ich mach‘ mal ein bisschen Musik. Magst Du Clueso? Sitzt Du bequem? Willst Du eine Decke?“
Alexander stand auf und wählte eine CD. „Einen bestimmten Wunsch? Ich habe alle seine Alben.“ Er holte eine Wolldecke aus dem Schrank, machte es sich in der gegenüberliegenden Ecke des Sofas bequem, zog die Beine an, legte sie auf die Sitzfläche und die Decke darüber. Annika schob ihre Füße auch darunter, sodass sich ihre Zehen eben berührten. Er rieb sich das Ohrläppchen und sann.
„Wo soll ich anfangen? Du weißt ja, dass wir ursprünglich aus dem Westen, aus Hildesheim, kommen. Nach der Wende hat mein Vater die Leitung dieses Baumarkts in Grevesmühlen angeboten bekommen, und wir sind alle hier her. Ich bin dann in Klütz in die Schule gekommen – und von da her kennen wir beide uns ja.“
„Ja, ich erinnere mich, Du warst der Wessi, immer anders angezogen. Lang, dünn, immer schick frisiert, aber voller Pickel. Ich war eine Klasse unter Dir.“
„Und Du warst die Unnahbare, ein Kopf größer als die dicken Blonden. Ich glaube, wir haben damals keine fünf Worte gewechselt. Na ja, nach der Schule musste ich eine Lehre in einem Sanitärbetrieb in Lübeck machen. Ich bin durch die Prüfung gefallen und hab danach umgesattelt auf Tischler. Inzwischen hatten wir ja glücklicherweise dieses Grundstück an der Wohlenberger Wiek gefunden und das Haus gebaut. Kurz danach ist mein Vater an einem Herzinfarkt gestorben, und meine Mutter wollte unbedingt nach Celle, wo ihre Familie gelebt hatte. Ich habe dann mit ihr und meiner kleinen Schwester Julia dort im alten Haus von Oma und Opa gewohnt, die Immobilie hier in Wohlenberg haben wir umgebaut und als Ferienhaus vermietet. Und dann hat meine Mutter sich tot gesoffen, hat meiner Schwester das Gebäude in Celle vermacht und mir das in Wohlenberg. Julia will irgendwann heiraten und dann in ihrem Haus leben, und vor einem halben Jahr bin ich deshalb wieder hierher gekommen. War ja gar nicht so einfach, hier in Boltenhagen eine Wohnung zu finden. Viele vermieten ja nur noch an Feriengäste, weil sich das mehr lohnt. Obwohl sie das nicht dürfen, das ist ja eigentlich streng getrennt, in welchen Straßen man Ferienwohnungen anbieten darf, und wo nur Dauerwohnen gestattet ist.“
„Soll ich Dir mal erzählen, was putzig ist? – Ich kenne dieses Haus hier seit langem. Es hat mal meiner Mutter gehört. Sie hatte es kurz vor der Wende gekauft. Damals hat das niemand verstanden, aber wenn man Verbindungen hatte und richtig in die Zukunft denken konnte. Das war bestimmt billig zu haben, damals. Und jetzt wohnst Du hier. Komisch, oder?“
„Ja, Zufälle gibt es. Dieses Haus ist zum Beispiel als Ferienimmobilie eingestuft; ich dürfte hier eigentlich gar nicht dauerhaft wohnen, aber die Vermietungsgesellschaft sieht das nicht so eng. Hier im Haus wohnt dann noch meine Nachbarin. Von der hört und sieht man aber kaum etwas. Und unten die beiden Wohnungen werden an Urlauber vermietet, oder an Saisonkräfte. Wenn ich eins hier schon gelernt habe: Es gibt unendlich viele Vorschriften, aber niemand, der sie kontrolliert. Ich fühle mich hier sehr wohl. Mehr als drei Zimmer brauche ich nicht. Dass in der Saison unten jedes Wochenende Umzugslärm ist, das merke ich kaum. Nur eine Familie, die stammen irgendwo aus Sachsen-Anhalt, die sind ein paar Mal im Jahr hier und streiten sich dauernd. Der Alte säuft und schreit seine Kinder an, die Tochter macht laute Musik, der Sohn baut Scheiße, aber meistens ist es hier ruhig. Ich habe mich eingelebt.“
„Ja, schön und gut, aber etwas wüsste ich schon noch gerne: Warum hast Du mich angerufen?“
„Ach, ich kenne ja noch ein paar Jungs von früher.“ Alexander rieb sein Ohrläppchen. „Mit Sven habe ich damals Karate angefangen. Er macht jetzt den Bauhof in Boltenhagen, und als wir bei der Fahrt zum Training mal so ins Quatschen gekommen sind, da hat er erwähnt, dass Du… also, dass Du so Dienstleistungen anbietest. Ganz speziellen Service, nicht nur das Übliche.“
„Dass ich eine Spitzenhure bin, meinst Du?“
„Ja, wenn Du so willst.“
„Da ist doch nichts Schlimmes dabei. Das hat es doch immer schon gegeben. Ich stelle mich nicht an die Straße, setz mich nicht in den Puff, ich mache keine Reklame im Netz, nur Mundpropaganda. Aber ich mach‘s schon beruflich, nebenberuflich, stundenweise. Will sagen, mir ist nichts fremd, was mit Sex zu tun hat. Und ich kann schweigen.“
Annika schob ihre Füße tiefer unter die Decke, sodass sie seinen Oberschenkel mit den Ballen berührte. Dabei wandte sie sich ihm direkt zu, schaute ihn aufmunternd an. „Aber eigentlich interessiert mich mehr, was mit Dir los ist. So ein Mann wie Du muss doch nicht fürs Poppen bezahlen. Wenn Du Dich in der Weißen Wiek an die Hotelbar setzt, dann kannst Du doch drei am Abend haben. Warum hast Du mich also angerufen? Was hast Du von mir erwartet? Ich muss ja sagen, so richtig toll war das eben doch nicht.“
Alexander zögerte, nippte an seinem Glas.
„Komm. Mir kannst Du es erzählen.“
„Ja, weißt Du. Wo soll ich anfangen? Also auf der Schule, als wir so fünfzehn, sechzehn waren, da fing das an, dass die Jungs immer mehr, schließlich fast nur noch, an Weibern interessiert waren. Es wurde nur noch vom Ficken geredet, obwohl die Wenigsten das wohl schon mal gemacht hatten. Ich verstand das nicht. Ein paar Jahre später sind wir dann zur Tat übergegangen, die anderen mit Leidenschaft, ich, weil ich mitmachen wollte. Aber Spaß hat es mir nicht gemacht, keine Lust.
Ich hab‘ mir immer die Stars und Models angesehen, und dann habe ich mir gedacht, dass die Mädels in Mecklenburg eben anders aussahen, und dass es daran liegen würde. Dabei war ich immer gerne mit Frauen zusammen. Die sind so weich, sanft, glatt. Und die meisten riechen auch gut.“
Und ja, ich hatte nie Probleme, Frauen zu finden. Aber wenn es dann weitergehen sollte als kuscheln und streicheln, dann wurde es unerfreulich. In Celle, also genau in Hannover, habe ich es dann auch mal mit Männern probiert, aber das war ganz schlimm. Wenn die geil wurden, dann habe ich das auf mich, auf mein Verhalten gespiegelt, und habe mich regelrecht geekelt.
Ich war beim Psychiater und habe viel gelesen: ich bin wahrscheinlich asexuell. Ein bisschen ungewöhnlich, aber nichts, womit man nicht klarkommen würde. Wenn nicht: Wenn nicht Frauen von mir ein anderes Verhalten erwarten würden.
In Celle wurde das immer schlimmer. Nachdem die Damenwelt, unter Führung meiner Mutter und meiner Schwester, sich einig war, dass ich nicht schwul war, da galt ich dann ganz schnell als arrogant. Das Gerücht wurde verbreitet, ich wäre impotent. Wenn ich durch die Stadt ging, guckten sich alle nach mir um. Und hier ging das dann schon wieder genauso los. Da habe ich mir gedacht, ich versuche es mal mit professioneller Hilfe.“ Alexander grinste halb verlegen, halb spitzbübisch.
„Und das war dann auch nix! Ich sage mal so: Eigentlich funktioniert ja alles bei Dir ganz normal. Du müsstest vielleicht Schauspielunterricht nehmen.“ Annika blieb ernst.
„Ich habe ja schon mal versucht, mir in Pornos etwas abzugucken, aber da sieht man immer nur Frauen, die scheinbar ganz wild sind. Die Männer sind nur dumpfe Stecher.“
„Na ja, schau’n mer mal. Da wird sich sicher etwas machen lassen. Ich mach’ mich erstmal schlau, und dann üben wir ein bisschen.“
„Nach dem Flopp heute habe ich meine Zweifel. Und allzu viele Übungsstunden kann ich mir auch nicht erlauben.“
Annika angelte ihre Handtasche vom Tisch und holte die Scheine heraus, zwei gelbe Zweihunderter und einen grünen Hunderter, die Alexander ihr gegeben hatte. Sie schaute darauf, dann ihn an, und musste ein wenig verschämt lächeln. „Ach, komm. Das ist ja doch etwas anderes hier. Ich bin ja eigentlich, also für die Öffentlichkeit, bin ich Personal-Trainer. Da rechne ich jetzt mal eine Stunde ab.“
Damit nahm sie sich den Hunderter mit zwei spitzen Fingern und steckte ihn zurück in ihre Handtasche. Vierhundert Euro legte sie auf den Tisch. Was hältst du davon, wenn wir einfach mal spazieren gehen? An der frischen Luft, an der Wohlenberger Wiek oder im Leonorenwald, wo nichts los ist. Da können wir in Ruhe quatschen, vielleicht kommen uns ja noch ein paar Ideen. Ich denke da schon an etwas, das wir zusammen machen könnten.“
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