Toter Frühling - Ossip Schubin - E-Book

Toter Frühling E-Book

Ossip Schubin

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Beschreibung

Ein Gesellschaftsbild aus dem 19. Jahrhundert. Ossip Schubins richtiger Name war Aloisia Kirschner. Sie war eine deutschsprachige böhmische Schriftstellerin, die bevorzugt das Salon- und Gesellschaftsleben ihrer Zeit schilderte.

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Seitenzahl: 356

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Toter Frühling

Ossip Schubin

Inhalt:

Ossip Schubin – Biografie und Bibliografie

Toter Frühling

Erstes Buch

Zweites Buch

Toter Frühling, O. Schubin

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849635800

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Ossip Schubin – Biografie und Bibliografie

Eigentlich Aloysia (Lola) Kirschner, bekannte Romanschriftstellerin, geb. 17. Juni 1854 in Prag, verstorben am 10. Februar 1934 auf Schloß Kosatek im heutigen Tschechien. Verlebte ihre erste Jugend auf einem Gut ihrer Eltern (Lochkow) und brachte später verschiedene Winter in Brüssel, Paris und Rom zu; jetzt lebt sie auf Schloß Bonrepos bei Lissa in Böhmen. Sie veröffentlichte unter dem erwähnten Pseudonym, das sie einem Roman Turgenjews (»Helena«) entnommen hat, eine lange Reihe von Romanen und Novellen, die meist in wiederholten Auflagen erschienen sind. Wir nennen davon: »Ehre« (Dresd. 1882, 10. Aufl. 1902); »Mal' occhio und andre Novellen« (Berl. 1884); »Bravo rechts! Eine lustige Sommergeschichte« (Jena 1885); die Novelle »Ein Frühlingstraum« (Augsb. 1884); »Die Geschichte eines Genies. Die Galbrizzi« (Berl. 1884); »Unter uns« (das. 1884, 2 Bde.); »Gloria victis« (das. 1885, 3 Bde.); »Erinnerungen eines alten Österreichers«, drei Erzählungen (Jena 1886); »Erlachhof« (Stuttg. 1887, 2 Bde.); »Etiquette«, eine Rokoko-Arabeske (Berl. 1889); »Dolorata« (das. 1888); »Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht« (das. 1888); »Asbein, aus dem Leben eines Virtuosen« (Braunschw. 1888), dessen Fortsetzung: »Boris Lensky« (Berl. 1889, 3 Bde.; 3. Aufl. 1897), das bedeutendste Werk der Dichterin; »Unheimliche Geschichten« (Dresd. 1889); »Bludička«, Erzählung aus dem slawischen Volksleben (Braunschw. 1890); »O du mein Österreich!« (Stuttg. 1890, 3 Bde.); »Heil Dir im Siegerkranz!« (Braunschweig 1891); »Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre« (das. 1892, 3 Bde.); »Thorschlußpanik« (Dresd. 1892); »Ein müdes Herz« (Stuttg. 1892); »Finis Poloniae«, Roman (Dresd. 1893); »Toter Frühling« (Braunschw. 1893, 2 Bde.); »Woher tönt dieser Mißklang durch die Welt« (das. 1894, 3 Bde.); »Gebrochene Flügel« (Stuttg. 1894); »Maximum«, Roman aus Monte Carlo (das. 1896); »Die Heimkehr« (das. 1897); »Con fiocchi« (Dresd. 1897); »Vollmondzauber« (Stuttg. 1899); »Peterl«, eine Hundegeschichte (Berl. 1900, 10. Aufl. 1902); »Slawische Liebe« (Braunschw. 1900); »Im gewohnten Gleis« (Stuttg. 1901); »Marška« (das. 1902); »Refugium peccatorum

Toter Frühling

Erstes Buch

»Ruiniert!« Sein Bruder hatte es ihm soeben kurz und bündig mitgeteilt, daß er ruiniert sei! Er wiederholte das Wort mechanisch, es wollte keinen rechten Sinn für ihn annehmen. »Ruiniert!«

Er lächelte, während er es aussprach, als ob es sich um etwas Komisches handle.

»Ja, vollständig ruiniert!« wiederholte der Bruder, jedoch in ganz anderem, strengem, zurechtweisendem Ton – einem Ton, der in das kurze Wörtchen »ruiniert« eine vorwurfsvolle Strafpredigt zusammenfaßte – »vollständig ruiniert! Wir haben gestern mit Hunter zwei Stunden lang hin und her gerechnet. Nach Begleichung deiner Schulden bleibt dir bei sehr sorgfältiger Anlage deines Restchens Kapital ein Einkommen von dreihundert Pfund!«

»Dreihundert Pfund!« sprach der Ruinierte langsam vor sich hin, »dreihundert Pfund!« wiederholte er, »und davon soll ich leben!«

»Es ist alles, was du übrigbehältst,« wiederholte der Bruder mit einer Art grausamer Genugtuung, als ob er hätte sagen wollen: Da hast du's, ich hab' dir's immer gesagt!

»So! Ah, du vergißt doch etwas,« entgegnete ihm der Jüngere phlegmatisch, »den Kredit, mein Lieber, den treuesten Freund schwungvoller Verschwender, den Marechal Bertrand, der ruinierte Taugenichtse nach St. Helena begleitet!«

Das Gesicht des älteren Bruders wurde ernst, ja, es nahm einen geradezu bestürzten Ausdruck an.

In London war es, wo dieses inhaltreiche Zwiegespräch stattfand, und zwar an einem regnerischen Maitag – welcher Maitag in London wäre nicht regnerisch! – in einer vornehmen Junggesellenwohnung im zweiten Stock eines Hauses in Berkley square.

Das Haus war von außen schokoladenfarbig, rauchgeschwärzt, kahl und häßlich, wie fast alle Londoner Häuser, aber das Zimmer, in welchem sich die beiden Brüder aufhielten, war ein kleines Meisterstück von geschmackvoll organisierter Wohnlichkeit. Schöne geschnitzte alte Holzmöbel drängten sich zwischen tiefe niedrige Lehnsessel, mit persischen Teppichen bedeckte Ottomanen und allerhand künstlerisch wertvollen Raritätenkrimskrams; in den Geruch von türkischem Tabak wehte der Duft frischer Blumen. Alles, was die Saison an Treibhausblumen Malerisches und Wohlriechendes zu bieten hatte, stand in Fayencekrügen, hoch aufgeschossenen Kelchgläsern oder auch in kleinen, mit Goldarabesken ausgeschmückten Vasen aus venezianischem Glase umher. Der Farbeneffekt war überall berücksichtigt.

Durch die offenen Fenster strömte die feuchte Regenluft, im Kamin flackerte ein gemütliches Holzfeuer.

An den Wänden des für seine Dimensionen ziemlich niedrigen Gemachs hingen statt der bei Junggesellen üblichen Odalisken und Tänzerinnen Bilder von wirklichem Wert, ein Corot mit von Wind gepeitschtem Frühlingslaub und irrsinnig durcheinandertanzenden Luftgeistern, ein Old Crome usw. und verschiedene Landschaften von Claude Monet. Das kleine Gemach war offenbar das Nest eines Epikureers, dessen Sinne durch ihren Kontakt mit einer sehr idealistischen Seele geadelt worden waren.

Man fühlte unwillkürlich Sympathie mit dem geschmackvollen Menschen, der sich diese Umgebung geschaffen, in welche er übrigens vortrefflich hineinpaßte.

Er war ein Engländer, und vom Kopf bis zu den Füßen Engländer; aber er gehörte zu jenem aus dem genußlästernden Pharisäertum der englischen Durchschnittsmenschen kühn hervorragenden Typ, den der alles ausgleichende Widerspruchsgeist in England gezeugt hat.

Seine Genußfähigkeiten ließen nichts zu wünschen übrig, und seiner Genußsucht legte er wenig Beschränkung auf. Nebenbei war er impulsiv heftig, eigensinnig, aber sehr weichherzig und von fast frauenhaftem Zartgefühl.

Seine äußerliche Erscheinung entsprach dem inneren Menschen. Er war groß, schlank, mit einem Körper, der durch allerhand ritterliche Übungen zugleich gestählt und geschmeidig gemacht worden war, die Füße lang und schmal, eher groß als klein, die Hände sehr schön, dabei gebräunt und kräftig mit schlanken Fingern, aber etwas zu stark ausgearbeiteten Ballen. Der Kopf hatte eine in England keineswegs seltene Ähnlichkeit mit Lord Byron, krauses, kurz gehaltenes hellbraunes Haar, eine breite, gerade Stirn, kurze Nase, Mund und Kinn ungewöhnlich schön geschnitten, die Oberlippe etwas kurz. Daß er die Augen nicht beständig in dem konventionellen Begeisterungsausdruck weit aufgerissen und emporgerichtet hielt, wie Lord Byron auf seinen zahlreichen Büsten und Bildern, versteht sich von selbst.

Man konnte es nicht leugnen, Jack Ferrars war ein sympathisches Menschenexemplar, aber er hatte auch seine Fehler. Er war leichtsinnig und besaß einen tadelnswerten Hang, Schulden zu machen.

Infolgedessen hatte Jacks Ausspruch über den Kredit seinen älteren Bruder nicht wenig aufgeregt.

»Kredit!« rief er, »Kredit! Begreifst du es denn nicht, daß es eine Gewissenssache ist, einen Kredit anzustrengen, der keine Berechtigung mehr hat zu existieren! Wer soll denn deine Verpflichtungen decken?«

Jack steckte die Hände sehr tief in die Taschen. »Du wahrscheinlich!« sagte er träge und schob die Augenbrauen in die Stirn.

»Ich? Ja, wie komme ich dazu, für deinen Leichtsinn zu büßen!«

Sir Bryan Ferrars bildete einen fast komischen Gegensatz zu seinem Bruder. Er war in jeder Beziehung der englische Durchschnittsmensch, sagen wir lieber, um jeglicher Kränkung seiner werten Persönlichkeit vorzubeugen, der englische Durchschnittsgentleman. Seine Großmutter väterlicherseits war zwar eine Wäscherin gewesen, und sein Großvater hatte sich vom Arbeiter zum reichen Fabrikanten hinaufgearbeitet, aber ersteres hatte er vergessen und das zweite glaubte er nicht mehr. Daß sein Großvater mütterlicherseits ein Earl gewesen, hörte im Gegenteil nie auf, ihm gegenwärtig zu sein. Er war mittelgroß, kahlköpfig, tadellos rasiert, tadellos gekleidet, blaß, korrekt, ohne eine andere Individualität außer der allgemeinen seines Standes und seiner Nation, und machte den Eindruck einer farb- und geschmacklosen Frucht, die ohne Sonnenschein gereift ist.

»Wie komme ich dazu, für deinen Leichtsinn zu büßen?« ereiferte sich dieser Musterengländer.

»Die Unterstützung armer Verwandten ist eine Steuer, die ein Mensch wie du für seine Vornehmheit zahlt!« entgegnete ihm Jack, und dabei blies er, bequem in seinem Polsterstuhl zurückgelehnt, Rauchringe an den Plafond.

»Du hast kein Verständnis für die Eigenschaft, welche die Zivilisation zusammenhält, das heißt für Pflichtgefühl!« ereiferte sich der Baronet, welcher unter den anderen für die Menschenkategorie, der er angehörte, charakteristischen Eigenschaften auch diejenige besaß, keinen Spaß zu verstehen.

Jack blinzelte durch den bläulichen Rauchvorhang, welcher ihn von seinem Bruder trennte, mit einem sehr humoristischen Gesichtsausdruck zu ihm hinüber. »Aber mein Lieber, wie soll ich's denn anfangen, um zu existieren? Von dreihundert Pfund kann ich nicht leben, nicht einmal in Boulogne. Hm! Ich könnte mich allenfalls mit meinem chinesischen Freund Ten ar hae ins Einvernehmen setzen und eine Teehandlung eröffnen in Bondstreet, falls du dich entschließt, mir das nötige Kapital vorzustrecken!«

»Ich verfüge über kein bares Geld,« erwidert der Baronet eisig; »im übrigen muß ich aufrichtig sagen, daß mich's dünkt, du könntest etwas anderes unternehmen, als ... was ... was schließlich unsere Familie diskreditieren müßte.«

»Ja, aber was soll ich denn tun?« und Jack schob die Brauen fragend in die Stirn.

»Vor allem kannst du deine Kunstschätze verkaufen!« rief der Baronet unwirsch, indem er den Blick über die mit Bildern geschmückten Wände gleiten ließ. »Deine Ausgaben in dieser Richtung standen ohnehin nie im Einklang mit deinen Verhältnissen.«

»Ah! mich von meinen Lieblingen trennen, hm! Hast du vielleicht die Absicht, mir sie abzukaufen zu ermäßigten Preisen, Bryan?«

»Ich wäre nicht abgeneigt.«

»So, so! Das ist ja sehr schön! Nun, wir können gleich den Überschlag machen. Meinen Old Crome – dreihundert Pfund.«

»Zweihundertfünfzig Pfund wäre wirklich schon ein sehr schöner Preis,« fiel der Baronet lebhaft ein. »Bei der letzten Auktion bei Christie verzeichnete man entschiedene Baisse der alten englischen Landschafter.«

»So, dann will ich die nächste Hausse abwarten!« entgegnete Jack phlegmatisch. »Den Corot tausend Pfund.«

»Jack! Bist du verrückt?« rief Sir Bryan, welcher dieses Angebot als ein direktes Mordattentat auf seine Börse zu betrachten schien, »fünfhundert Pfund wäre reichlich bezahlt!«

»Meinungsverschiedenheit zwischen zwei gleich kompetenten Kunstrichtern!« erwiderte Jack und zog die Schultern in die Höhe. »Ich schätze meinen Corot auf tausend Pfund.«

»Hm! Soll ich dir einen Sachverständigen schicken, der dir die Bilder abschätzt?« fragte Sir Bryan nach einem Weilchen.

»Nein, danke, das besorge ich selbst, aber nach weiterer Überlegung habe ich den Gedanken aufgegeben, mich von meinen Bildern zu trennen.«

»Wie willst du denn deine Existenz einrichten?«

»Ich will von meinen Renten leben,« versicherte Jack mir Humor.

»Das ist nicht möglich!« entschied Sir Bryan, »aber du weißt, wie sehr ich mich stets bemüht habe, dir beizustehen. Es ist mir nie auf eine Kleinigkeit angekommen!«

»Du warst immer großmütig gegen mich, dieses Tintenfaß verdanke ich dir!« bemerkte Jack und deutete auf ein riesiges Unding, das seinen Schreibtisch verunstaltete und auf dem zwei Graburnen, von zwei Sphinxen bewacht, aus einer schwarzen Marmorplatte hervorragten. »Also, was hast du mir für einen Vorschlag zu machen?«

»Deine Universitätserziehung berechtigt dich zu einer Stellung in der Kirche. Ich habe eine Pfarrei zu vergeben, sie steht zu deiner Disposition.«

»Hm! Fünfhundert Pfund jährlich, und, wenn es hoch hergeht, zweimal des Monats eine Einladung zu Tisch im Herrenhaus! Etwas Lockenderes weißt du für mich nicht?« fragte Jack gedehnt.

»Nein!« sagte Sir Bryan kurz, fast ungeduldig. Der leichtsinnige Ton seines Bruders verdroß ihn. »Überlege dir die Angelegenheit – komm morgen zum Essen zu uns, nein, lieber zum Lunch, es fällt mir soeben ein, zum Essen haben wir ein paar Menschen eingeladen, und die Londoner Speisezimmer sind so unbequem klein!«

»Entschuldige dich nicht weiter, 's ist nicht der Rede wert!« Jack lachte gutmütig.

»Hm! – natürlich, unter Verwandten kann man offen sein!« Der Baronet zog seine Uhr. »Meine Zeit ist um,« rief er, »ich muß ins Haus! Also adieu, Jack – auf morgen. Überleg' dir meinen Vorschlag – es ist ein schöner Garten bei der Pfarrei!« Damit verschwand dieses Muster eines tugendhaften Briten und liebevollen Bruders.

Die Hände tief in den Taschen, die Achseln bis zu den Ohren hinaufgezogen, blieb Jack inmitten des Zimmers stehen und blickte mit einem sehr kuriosen Lächeln vor sich hin. Da öffnete sich die Tür, hinter welcher der Baronet verschwunden war, noch einmal.

»Hast du etwas vergessen, Bryan?« frug Jack.

»Ja, meinen Regenschirm – da ist er, danke,« und dann, auf den knorrigen Griff des Regenschirms gestützt, blickte der Baronet seinen jüngeren Bruder gedankenvoll an. »Es ist mir etwas eingefallen!« meinte er.

»Nun was?«

»Du könntest heiraten.«

»Ich?« fuhr Jack etwas erstaunt auf. »Wie fällt dir denn das ein? So gut ich mich erinnere, habe ich letzterer Zeit keine junge Dame durch besondere Aufmerksamkeiten kompromittiert, verdiene also in dieser Richtung keine Strafe.«

»Ach was, es handelt sich nicht um schlechte Witze, sondern um die Befestigung deiner Verhältnisse.«

»Ergo! – Verlob' dich so schnell als möglich mit einem wehrlosen jungen Ding, das eine Million im Sack und – unglücklicherweise für sie – ein unbeschäftigtes Herz in der Brust hat, und mach' dir dann vor dir selber weis, daß du dich in sie verliebt hast, damit du doch eine anständige Entschuldigung dafür bei der Hand hast, dich recht faul in der Wolle auszustrecken!« sagte Jack.

»Du bist ein Schwatzbold – wie andere Leute Trunkenbolde sind!« predigte ihn der Baronet an.

»Ja, infolgedessen wolltest du mich auf deiner Kanzel verwenden!« rief Jack, »aber – hm! – wenn ich schon meine Schwatzsucht überhaupt berufsmäßig ausbeuten soll, so möchte ich es lieber mit dem Parlament versuchen! Apropos! Könntest du mir nicht zu einer politischen Karriere verhelfen? – Oder fürchtest du meine Rivalität?«

»Ah! Laß mich zufrieden!« ärgerte sich der Baronet, »ich habe keine Zeit mehr zu verlieren! – Es war nur so ein Vorschlag!«

»Hast du an eine bestimmte Persönlichkeit gedacht?« fragte Jack.

»Natürlich!«

»An wen?«

»An Mary Winter!« sagte der Baronet ruhig. »Ich sehe gar nicht ein, warum du nicht Mary Winter heiraten solltest?«

»Warum solltest du nicht Mary Winter heiraten?«

Von seinem langen Gespräch mit dem Bruder war Jack nichts im Gedächtnis geblieben als der eine Satz. Er sah sich in dem behaglichen Gemache um. Ein sonderbares Gefühl beschlich ihn – das Gefühl eines Menschen, der eine Hotelrechnung auflaufen sieht, die er nicht mehr bezahlen kann. »Ich werde kündigen müssen,« murmelte er vor sich hin. Zum erstenmal begriff er, welche vollständige Veränderung seiner Lebenslage, welches Abbrechen all seiner bequemen Gewohnheiten mit der Einbuße seines Vermögens verbunden war! »Hm! von dreihundert Pfund Sterling jährlich leben oder Schulden machen!« murmelte er vor sich hin.

Bisher hatte es ihn sehr wenig geniert, Schulden zu machen. Von seinen bequemen, kostspieligen Gewohnheiten war das einfach die bequemste und kostspieligste gewesen. In der festen Hoffnung, daß sich das alles sehr schnell in Ordnung würde bringen lassen nach dem Tode einer alten Tante, die ihn zu ihrem Erben einzusetzen versprochen, hatte er mit dem vollendetsten Gleichmut seine drei, vier, ja unter Umständen fünf per mese gezahlt. Aber – aber –

Es gibt drei Anlässe, bei denen auch die gutmütigsten Frauenzimmer sinnlos grausam werden: wenn ihre Eitelkeit beleidigt, ihre Eifersucht gereizt oder ihr Anstandsgefühl verletzt wird. Dies letztere Verbrechen (manchmal ist es nur eine Taktlosigkeit) hatte er seiner Tante Jessamy gegenüber auf sein Gewissen geladen.

Die Tante Jessamy war eine achtzigjährige unverheiratete Dame gewesen, der nur drei Dinge warm am Herzen gelegen hatten: ihre Religion – ihre Prüderie – und ihr Vetter Jack. Sie ging mit einem Paar so mächtig großer Scheuleder bewaffnet durch das Leben, daß es ihr wirklich gelungen war, achtzig Jahre alt zu werden, ohne eine Ahnung von der Sündhaftigkeit der Welt und der sie bevölkernden jungen Männer zu gewinnen.

Einmal bei einem Wettrennen, wo Jack sie nicht erwartet hatte, erblickte sie ihn in Gesellschaft mehrerer anderer sehr heiterer junger Leute auf einem Drag, eine hübsche junge Person neben sich. Sie machte ihm von weitem Zeichen. Er wurde dunkelrot. Ein guter Freund von ihr, der Jack nicht wohlwollte, klärte sie auf über die Situation. Die Folge davon war, daß sie eine schlaflose Nacht verbrachte, den nächsten Tag aber ihren Anwalt zu sich berufen ließ, mit dessen Hilfe sie ihr Testament vollständig umstürzte. Sie starb, ehe sie Zeit gefunden, sich mit Jack zu versöhnen und ihre Übereilung zu bereuen.

Bei Eröffnung ihres Testaments stellte es sich heraus, daß sie ihr ganzes Vermögen der Errichtung eines Hospizes für unverdorbene christliche Jünglinge im Ostend von London, einem Young men's home auf frömmster Basis, gewidmet hatte.

Es war eine unangenehme Überraschung für Jack, und die Folge davon, das eingehende Prüfen seiner Verhältnisse, bei dem sich die merkwürdige Schmälerung seines Vermögens herausstellte, war noch unangenehmer.

»Nicht mehr Schulden machen zu dürfen!« grübelte er vor sich hin, »nicht mehr Schulden machen zu dürfen!«

Dreihundert Pfund Sterling – nichts als dreihundert Pfund Sterling jährlich, und die bezog er von zwei Häusern in einer entlegenen Vorstadt von London. Freilich waren Baugründe damit verbunden – Baugründe, die, wie sie sonst auch aussehen mögen, immer einen glänzenden Tummelplatz für die Hoffnungen von Menschen abgeben, welche momentan in Geldnöten sind. – Ja, die Baugründe würden einmal eine runde Summe abwerfen – aber wann? – und indessen ... Er fing an, sich die Sache ernstlich zu überlegen. Plötzlich blieben seine Gedanken vor einem Hindernis stehen, das ihm Mißtrauen erregte, obgleich sich dahinter eine sehr annehmbare Zukunft ausbreitete. »Nun –« er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, »nun – hm –« diesmal nahmen seine Gedanken das ihm Mißtrauen erregende Hindernis, »nun, es ist schließlich recht töricht, einen klugen Rat nur deshalb nicht zu befolgen, weil er uns von einem dummen Menschen erteilt worden ist. Warum sollte ich denn Mary Winter nicht heiraten? – eigentlich –«

Er streckte die langen Arme aus, dehnte und reckte sich wie ein Schuljunge, ehe er sich entschließt, an die Ausarbeitung eines besonders langweiligen Pensums zu gehen, dann sprang er auf, nahm Hut und Stock, eilte die Treppe hinab auf die Straße, bestieg den ersten Hansom, der ihm begegnete, rief ihm zu: »Ivylodge, Putney,« worauf er todesmutig der weiteren Entwicklung seines Lebensschicksals entgegenrollte.

Mary Winter war eine Stiefkusine Jacks, eine Tante von ihm Marys Stiefmutter; infolgedessen hatten sie so beiläufig denselben Großvater, sonst hatten sie freilich sehr wenig miteinander gemein.

Ein auf Kinder und Kindeskinder hinab die Menschheit einengendes Kastensystem gibt es nicht in England. In keinem Lande von Europa wird dem menschlichen Ehrgeiz eine freiere, individuellere Entwicklung gegönnt als dort. Mit Hilfe einer Universitätserziehung kann es dort ein jeder zu dem Höchsten bringen, was das Land – unter der Krone – zu bieten hat, d. h. zum Hosenbandorden und zur Aufnahme in den Klub White – siehe Lord Beaconsfield.

Aber wenn es keine undurchdringliche Exklusivität in England gibt, gibt es hingegen zwei streng geschiedene Menschenklassen – die Klasse, die sich amüsiert, und die Klasse, die sich langweilt. Natürlich ist hier nur von den gebildeten Klassen die Rede.

Daneben gibt es freilich noch eine dritte Klasse – die große Klasse des Volks; die aber hat weder Zeit, sich zu unterhalten, noch Zeit, sich zu langweilen. Außerdem, daß sie die harte Arbeit für die Nation besorgt, dient sie derselben zu einem Objekt für nationalökonomische Betrachtungen, ebenso wie zu allerhand humanen oder inhumanen Experimenten, und bildet sozusagen den Hintergrund für die beiden anderen Klassen – einen sehr düsteren Hintergrund, von dem sich die eine Klasse in bunter Farbenfreudigkeit, die andere in schlichtem Grau abhebt.

Die Klasse, die sich amüsiert, besteht aus dem glänzendsten Teil der Aristokratie und allem, was zu dem intimen Verkehr dieses Teils derselben gehört – der ganze Rest der Gebildeten, alles, was in den blendenden Zauberkreis nicht aufgenommen ist, gehört zu der Klasse, in der man sich langweilt.

In der Klasse, die sich amüsiert, bildet der Genuß, zu einer Kunst veredelt, ja beinahe zu einer Wissenschaft ausgearbeitet, die einzige ernstliche Lebensaufgabe der Menschen. In der zweiten Klasse wehrt man ihn als ein Blendwerk des Teufels von sich ab, und wird derselbe als ein kontrebander Artikel an der Grenze der tugendhaften Gemeinde konfisziert. Die menschliche Natur fordert natürlich ihr Recht – manchmal in recht ungebärdiger Weise, aber – davon vorläufig nichts Näheres.

Obgleich Jack Ferrars eigentlich Marys Vetter war, gehörte er doch zu der Klasse, in der man sich amüsiert – und Mary gehörte zu der Klasse, in der man sich langweilt.

Das kam so. Jacks Großvater war, wie bereits erwähnt, ein intelligenter Arbeiter gewesen, der sich durch langes, beharrliches Streben, durch die Erfindung eingreifender Webstuhlverbesserungen, durch scharfsinnige Kombinationen und unvorhergesehene Glückszufälle erst zum Kompagnon seines Chefs, dann zum selbständigen Inhaber einer der bedeutendsten Firmen in Manchester emporgeschwungen hatte. Mit sechzig Jahren war er ein steinreicher Mann, der außer weitläufigen Webereien und Spinnereien noch verschiedentliches andere sein eigen nannte – einen ausgedehnten Landbesitz in Oxfordshire, mit einem Park, der für sich allein größer war als manches deutsche Rittergut, mit einem Glashaus, in dem er jahraus, jahrein Weintrauben pflücken konnte, die an kolossalen Dimensionen mit den Trauben Josuahs, biblischen Angedenkens, zu wetteifern vermocht hätten, und mit einem Herrenhaus, das er nach eigenem Geschmack – manche Menschen bedauerten es – aus einer malerischen Ruine elisabethanischen Stils in ein etwas nüchternes, modernes Gebäude hatte umbauen lassen, in dem die Zimmer so groß waren, daß in jedem einzelnen eine Dorfkirche samt ihrem Glockenturm Platz gefunden hätte, und aus dessen Erdgeschoß man durch zwei Klafter hohe Spiegelscheiben auf einen Lawn hinaussah, der sich wie ein grüner Plüschteppich zwischen mächtigen Rhododendronhecken und hochstämmigen Eschen hinzog.

Außer dem allem besaß er zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Erziehung der Tochter, welche um mehrere Jahre älter war als der Sohn, fiel noch in ein verhältnismäßig unentwickeltes Stadium des Ferrarsschen Familienehrgeizes hinein. Sehr begabt, sich mit allerhand interessanter Lektüre beschäftigend, mit einem dringenden Wunsch nach künstlerischer Schönheit behaftet, hatte Jane Ferrars das gedrückte, von beängstigenden religiösen Schimären verfinsterte Leben in den wohlhabenden, aber beschränkten Kreisen, denen die Ferrars damals angehörten, nicht zum Aushalten gefunden. Sie hatte sich nach einem weiteren Ausblick in die Welt gesehnt und hatte es schließlich durchgesetzt, daß ihr Vater sie behufs der Ausbildung ihres Malertalentes nach Paris gesandt hatte. Dort verbrachte sie zwei Jahre. Ein Roman, so hieß es, hatte sich während dieser zwei Jahre abgespielt. Sie hatte sich in einen jungen französischen Maler verliebt. Nach einer kurzen Verlobung hatte sich das Verhältnis gelöst. Der alte Ferrars hatte die Verbindung nicht zugeben wollen, und der junge Maler, Armand Sylvains hieß er, hatte ohne Einwilligung desselben, das heißt ohne eine starke pekuniäre Unterstützung, nicht heiraten können. Man war auseinandergegangen ohne Groll, das heißt Armand Sylvains hatte seine Feigheit und verhältnismäßige Gleichgültigkeit in die Form einer auf den ritterlichsten Gründen beruhenden Entsagung zu kleiden gewußt, und Jane Ferrars war zu stolz gewesen, die ritterlichen Gründe des näheren zu prüfen. Kurze Zeit darauf kehrte sie nach Manchester zurück. Alles in ihr war gebrochen außer ihrer Selbstachtung. Ihre Stellung im Hause ihres Vaters gestaltete sich in der Folge peinlich, und zwar als ihr ehrgeiziger Bruder nach einem glänzenden Debüt im Parlament sich mit der Tochter des Earls von Fenniston, Lady Emily St. Clair, vermählt hatte.

Lady Emily St. Clair zeigte ihrer Schwägerin zwar die wärmsten Sympathien, Janes Bruder aber wurde immer ehrgeiziger und ungemütlicher.

Der alte Ferrars hatte sich nun gänzlich von seinen Geschäften und auf das von ihm erstandene großartige Landgut Westburne zurückgezogen. Hier machte Lady Emily die Wirtin; die arme Jane wurde mehr und mehr gegen die Wand gedrängt. Schließlich, nur um sich aus dem Wege zu räumen, heiratete sie den ersten besten achtbaren Mann, der ihr seine Hand anbot, einen Witwer, Vater von zwei Kindern, an denen sie Mutterstelle vertrat. Er hieß James Winter, war seines Zeichens Solicitor und ein durchaus anständiger, uninteressanter Repräsentant der ewig bedrückten, ewig sich vor irgend etwas schämenden, ewig nach irgend etwas strebenden und zugleich vor Angst, bei diesem Streben ertappt zu werden, vergehenden englischen Mittelklasse, welche Jane unsympathisch war und vor der sie um wenige Jahre früher nach Paris zu flüchten versucht hatte.

Sie hatte nie einen gemeinschaftlichen Gedanken mit ihrem Manne, sie redete fast nie mit ihm, aber sie hielt ihm sein Haus ordentlich, sah, daß seine Mahlzeiten pünktlich auf den Tisch kamen, und bekümmerte sich, so gut es ging, um die Erziehung seiner Kinder.

Jane, die einst so lebenslustige, lebensmutige Jane Ferrars, gehörte durch ihre Heirat nun ein für allemal zu der Welt, in der man sich langweilt.

Immer mehr schied sich ihr Leben von dem des Bruders. Alljährlich aber verbrachten beide Geschwister doch ein paar Wochen unter demselben Dach, dem Dach des neu umgebauten alten Herrenhauses in South-Oxfordshire.

So kam es, daß Jack mit seiner kleinen Stiefkusine Mary Winter auf dem Rasenplatz vor den großen Spiegelfenstern Krocket gespielt hatte.

Während er nun in seinem Hansom an einer Endlosigkeit von schokoladefarbiger Architektur vorbei dem Wohnsitz seiner Tante Jane in Putney entgegenrollte, dachte er an die alten Zeiten zurück.

Er sah seinen Großvater vor sich, genau, er hätte nach ihm greifen können, einen grobknochigen, hageren alten Mann mit tiefgefurchtem rotem Gesicht, gegen das seine buschigen weißen Brauen und sein kurz gestutzter weißer Backenbart – seine Oberlippe trug er natürlich glattrasiert – seltsam abstachen. Er hatte kurze schwielige Hände, an denen immer etwas schwarz blieb, so sehr er sie auch waschen mochte; er lernte es nie, den Buchstaben H angemessen zu verwenden, und steckte beim Essen das Messer in den Mund.

Jeder Diener im Hause paßte besser hinein als der alte Herr, dem das Haus gehörte. Er machte immer den Eindruck eines zufällig hineingeratenen Fremden – er fühlte sich auch stets als solchen. Er war unvertraut mit seinen Dienern, mit seinen Gästen, ja selbst mit seinen eigenen Kindern, und obgleich er das dringende Bedürfnis fühlte, dieselben so oft und viel wie möglich unter seinem Dache zu beherbergen, wich er ihnen aus, wo er konnte. Den Kopf vorgebeugt, die Hände auf dem Rücken und beständig vor sich hinmurmelnd, pflegte er häufig in irgendeiner entlegenen Allee seines Parkes auf und nieder zu gehen, wobei er darüber nachzugrübeln schien, warum ihm sein sauer erworbener Reichtum durchaus den Genuß nicht bieten wollte, den er sich davon versprochen. Wenn er überhaupt dazu kam, mit seinen Angehörigen zu reden, war seine Art zugleich despotisch und gereizt, dabei hatte er etwas Scheues und Mißtrauisches in seinem Blick.

Wenn der kleine Jack, von Spielen und Jauchzen müde, des Abends in seinem kühlen weißen Bettchen lag, so passierte es ihm nicht selten, sich mit dem Problem der Sonderbarkeiten seines Großvaters zu beschäftigen. Warum war der Großvater ganz anders als Jacks zweiter Großvater, Lord Fenniston?

Dennoch schloß er eines Tags Freundschaft mit diesem kuriosen Großvater, der den Buchstaben H mißbrauchte und immer mit dem Messer aß.

Der alte Herr hatte eine ausgesprochene Vorliebe für den munteren braunlockigen Jungen gefaßt, eine Vorliebe, die mit allerhand linkischen Ängstlichkeiten recht rührend gepaart war. Von Zeit zu Zeit machte er dem Buben kleine Geschenke, drückte ihm mit wichtiger Miene einen Schilling in die Hand und sah dann eilig von ihm weg.

Wenn Jackie mit seinem Bruder und seinen Kusinen Krocket spielte, so blieb der Alte neben dem Spielplatz stehen, mit ausgespreizten Beinen, das Gesicht voll Runzeln und Sorgen, und sah ihnen zu, wobei sein Blick sich jedoch immer wieder auf Jack richtete. Einmal näherte sich ihm Jack freundlich und fragte ihn, ob er nicht mitspielen wolle. Der alte Herr schien dermaßen überrascht von der unerwarteten Liebenswürdigkeit des Kindes, daß ihm die Hände davon zitterten. »No – no ... thank you, my boy, thank you, dear!« stotterte er und ging seiner Wege.

Ein andermal sah Jack den alten Herrn einsam unter einer alten Ulme auf einer Bank sitzen, eine schwere Hand auf jedem Knie. Jack schmeichelte sich an ihn heran und sagte ihm etwas Nettes, Zutunliches, setzte sich neben ihn und plauderte ihm allerhand vor, um ihn zu zerstreuen. Plötzlich aber, mit der naiven Unzartheit der Kinder, deutete er auf die Hände des alten Herrn und fragte halblaut und fast feierlich beklommen, als ob es sich um die Aufklärung eines unheimlichen Geheimnisses handle: »Großpapa! Warum hast du immer schwarze Hände?«

Der alte Mann zuckte zusammen, blickte aufmerksam und als ob ihm etwas ganz Neues daran auffiele, auf die Hand herab, die der Kleine gerade betrachtete, und verbarg sie beschämt in seiner Tasche. Als aber Jackie, welcher sofort merkte, daß er eine Dummheit gemacht, auf seine Knie kletterte und ihn umarmte, zuckte es in seinem roten, derbgeschnittenen Gesicht. Er zog die große Hand, die er soeben versteckt, nur weil er sich geschämt, daß dieselbe bis zur Stunde ihrer endgültigen Verwesung den Stempel harter Arbeit tragen sollte, von neuem hervor. Dann die kleine, zarte Hand des Knaben auf seiner schwieligen Rechten ausbreitend, sagte er: »Ich hab' mir die Hände schwarz gemacht, damit du die deinen recht weiß behalten kannst, Jackie!«

Jackie verstand die Worte damals noch nicht ganz, aber sie prägten sich ihm tief ins Herz hinein, und von Stund' an war er des Großvaters geschworener Freund.

Leider ertrug der alte Herr das Nichtstun nur kurze Zeit. Kaum ein halb Dutzend Jahre, nachdem er sich von seinen Geschäften zurückgezogen, starb er, ohne daß der Arzt eine andere Krankheit an ihm festzustellen vermocht als vollständige Abnahme aller seiner Kräfte.

Und nun war Jacks Vater der unumschränkte Herr in dem großen Hause mit den zwei Klafter hohen Spiegelscheiben im Erdgeschoß. Allerhand geschmackvolle Veränderungen wurden an dem prächtigen Gebäude vollzogen; es wurde mit ebendemselben Eifer alt gemacht, mit dem es Jeremiah Ferrars früher neu gemacht hatte. Es wurde dadurch zweifelsohne viel hübscher, und die Gäste, die sich nach der anstandshalber eingehaltenen Trauerzeit einfanden, um den Komfort von Westburne-Hall mitzugenießen und seine neuerworbenen Kunstschätze zu bewundern, waren alle viel lustiger und angenehmer als die, welche den Großvater Ferrars besucht. Aber Jackie dachte doch noch oft mit Rührung an den armen alten Mann zurück, und manchmal sagte er sich: Er hat sich die Hände schwarz gemacht, damit wir die unseren weiß behalten können.

Und einmal, da es besonders lustig zuging und der große Platz vor dem Schloß ganz rot war von Jägern auf feurigen Voll- und Halbblutpferden, die wie Atlas glänzten, wurde Jackie plötzlich so entsetzlich zumute, daß er Mühe hatte, die Tränen zurückzudrängen. Ihm war's, als ob sich all die glänzenden Herrschaften darüber freuten, daß sein armer, reicher Großvater tot war.

Infolge seiner glänzenden politischen Tätigkeit, die sich gegen den Hintergrund des von seinem Vater erworbenen Geldes gut ausnahm, wurde der Gatte Lady Emily St. Clairs zur Würde eines Baronets erhoben.

Er hieß nun Sir John Ferrars und betraute einen berühmten Heraldiker mit der Mission, ihm einen authentischen Stammbaum zu liefern. Der Heraldiker förderte die merkwürdigsten Dinge über die Vergangenheit der Familie Ferrars ans Tageslicht.

Jack wurde in ausschließlich aristokratischen Kreisen erzogen. Nichtsdestoweniger behielt er seine Beziehungen zu seiner Tante Jane stets aufrecht. Er schrieb ihr lange Briefe aus Eton, und als er später in Oxford, natürlich in dem exklusiven Christchurch college, die Universität besuchte, machte er seiner Tante und seinen Kusinen sogar einmal zwei Tage lang die Honneurs der malerischen alten Universitätsstadt. Aber was er auch dagegen tun mochte, den Mädchen gegenüber fühlte er sich bei jedem Wiedersehen fremder. Mit seiner Tante war das anders, an der hing er immer mit der warmen Sympathie, welche verwandte Seelen über jede räumliche oder zeitliche Trennung hinaus füreinander bewahren. Wenn er sie wiedersah, freute er sich jedesmal und begegnete ihr mit der Zärtlichkeit eines Sohnes. Aber er sah sie seltener, immer seltener, und um ihre beiden Stieftöchter hatte er sich in den letzten Jahren so wenig bekümmert, daß er heute, wo er mit der Absicht, Brautschau zu halten, nach Ivylodge fuhr, nicht mehr genau wußte, welche von beiden Mary und welche Sarah war.

Ein lauter Streit, in den Jacks Kutscher mit einem anderen Kutscher geraten und der sich um ein falsches Ausweichen drehte, weckte ihn aus seinen Träumereien. Er blickte auf und bemerkte, daß London, das eigentliche London, bereits hinter ihm lag. Anstatt durch lange Reihen brauner Eintönigkeit, zeichnete sich die Architektur hier durch allerhand malerische Launen aus.

Die Häuser schlossen sich nicht mehr eng aneinander. Meist aus Rohbau ausgeführt, standen sie vereinzelt in frischen, grünen Gärten. Hohe Eschen und Ulmen ragten über die altväterischen ebenso wie über die nur altväterisch tuenden Giebeldächer hinaus in die feuchtgraue Luft empor. Große Rhododendronhecken mit eigentümlich durchsichtig erscheinenden blaßlila Blütenklumpen wuchsen dazwischen. An der einen Straßenseite streckte sich ein Stück unbebauter Hutweide hin, dann kam eine gotische Kirche mit starren, ernsten Spitzbögen, dann Gärten, immer wieder Gärten, und mehr launenhafte Architektur, meist elisabethanischen Stils.

Krr! Der Wagen hielt vor Ivylodge, dem Hause, das Mrs. Winter seit dem vor einem Jahre erfolgten Tode ihres Gatten bewohnte.

»Also das ist Putney?« (der Name des Vororts, in welchem die Villa belegen war) murmelte Jack vor sich hin, indem er seinen Blick über die Gärten und hohen, meist mit Hohlziegeln eingedeckten Dächer schweifen ließ. »Höchst unfashionabel, aber hübsch. Ich habe große Sympathien für Putney!« Und er nickte aufmunternd mit dem Kopf, als fordre er ganz Putney auf, sich nicht vor ihm zu genieren, überhaupt nicht in Verlegenheit darüber zu geraten, weil sich einmal ein so großer Herr bis hier heraus verirrt hatte. Er betrachtete alles mit der Neugier eines Touristen. Paris, Kalkutta und San Franzisko kannte er genau, in Putney war er nie gewesen, Wimbledoncommon war für ihn eine Entdeckung. Er hatte seine Tante noch nie hier besucht.

Ein griesgrämiger alter Diener öffnete ihm die Tür des Hall. Ein Geruch von heißem Wachstuch und Hammelbrühe schwebte ihm entgegen. Seine Vorliebe für Putney nahm etwas ab. Er hatte eine Abneigung gegen Hammelbrühe und Wachsleinwand. Auf seine Frage, ob sich die Damen zu Hause befänden, zögerte der Diener mit der Antwort. Endlich murmelte er: »Ja ... aber ...«

Jack gab ihm eine Karte mit der Weisung, selbe vorzuzeigen und ihm dann Bescheid zu sagen, ob er empfangen werden würde. Er hatte keinen Zweifel daran.

Was jedoch hatte das »Aber ...« des Dieners bedeutet? Hatte sich vielleicht eine seiner beiden Kusinen verlobt? War der Bräutigam anwesend? – Er fing eben an, sich zu ärgern, als sich die Tür öffnete und der Diener ihn bat, in das Drawingroom zu treten.

Das Drawingroom war ein langes, verhältnismäßig niedriges Gemach mit einer sehr hellen Wandtapete und ebenfalls in hellen Farben gehaltenen Möbeln. Die Fenster reichten bis auf den Boden herab und blickten auf einen sammetweichen Lawn hinaus, der, freilich in sehr verkleinertem Maßstab, Jack an den Rasenplatz vor dem Manorhouse erinnerte, auf dem er seinerzeit mit seinen Kusinen Krocket gespielt. Eine Traueresche, deren Äste sich lang über den Boden hinschleppten und einen breiten, beständig im Winde zitternden Schatten über das zarte, kurze Gras warfen, stand auf dem Lawn.

Vor dem Kamin, in dem ein leichtes Holzfeuer brannte, saß eine alte Dame mit langen, ihre Ohren verdeckenden Scheiteln und einem mit Weiß verbrämten schwarzen Häubchen, der kleidsamen Witwentracht der Engländerinnen. Ihr mit Krepp besetztes faltiges schwarzes Kleid floß in harmonischen Falten an ihren Gliedern hin. Ein niedriges Teetischchen stand neben ihr. Hinter ihr breitete sich ein japanischer Schirm aus. Welch reizendes Bild! dachte Jack bei sich. Er empfand aufrichtige Freude, die Tante wiederzusehen. Trotz ihrer weiblichen Anmut, der stillen, anspruchslosen Anmut einer alten Frau, die das Fieber des Lebens vergessen hat und für die selbstsüchtige Eitelkeiten nicht mehr existieren, erinnerte sie ihn an den Großvater mit den schwarzen Händen. Ihre Hände waren sehr weiß, und ihr Gesicht war viel zarter und schöner als das des alten Herrn, aber etwas von der scharfen, schlichten Intelligenz, mit welcher sich der Alte seinen Lebensweg gebahnt – etwas von der ungebrochenen Gefühlskraft, die ihm bis zum Schluß angehaftet, sprach aus ihren Zügen. Nur blitzte aus ihren dunkelblauen Augen ein fast übermütiger Sinn für Humor, der dem alten Ferrars gänzlich gefehlt und den sie wohl von ihrer schönen irländischen Mutter geerbt haben mochte, die bekanntlich nur eine Wäscherin gewesen war.

Als Jack eintrat, blickte sie freundlich auf. Eine leichte Röte trat auf ihre Wangen, die Röte schneller Erregung bei schwächlichen alten Frauen.

»Du, wirklich!« rief sie. »Ich traute meinen Augen kaum, als ich deinen Namen auf der Karte las, die mir Smith hereinbrachte. Ich dachte, es müßte ein anderer Jack Ferrars sein!« Ihre Stimme war heiser und zitterte ein wenig, aber sie drückte eine rührende, ängstlich verhaltene Freude aus. Er eilte auf sie zu und zog ihre Hand an seine Lippen.

»Was fällt dir denn ein, dich unserer plötzlich wieder zu erinnern, you young scapegrace (du junger Bösewicht)!« rief sie.

Jack, dem der Gedanke, was ihn eigentlich zu diesem Besuche veranlaßt, daß er nämlich mehr oder weniger auf Brautschau nach Ivylodge gekommen war, plötzlich schwer aufs Herz fiel, wurde etwas verlegen – dann vergaß er alle seine bösen Absichten und rief, sich in einem niedrigen Stuhl zu Füßen der alten Dame niederkauernd:

»Ach, auntie! frag' mich nicht, freu' dich lieber ein wenig, daß ich da bin!«

»Das tu' ich auch!« versicherte die alte Frau. Dabei legte sie dem jungen Menschen ihre beiden Hände auf die Schultern und betrachtete ihn freudig stolz, mit der Freude, mit der ein alter, bereits erkaltender Mensch sich an einem jungen blühenden Leben freut, und mit dem Stolz, den wir für unser eigen Fleisch und Blut fühlen, wenn es uns in einer verklärten, veredelten Form begegnet.

Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände, küßte ihn auf beide Augen und streichelte ihm die Wangen.

Diese warmen, spontanen Liebkosungen hatten für ihn einen eigentümlichen Reiz – etwas, fast tierisch Instinktives sprach aus ihnen – die naive Zärtlichkeit des Volks.

»Und ob ich mich freue, du böser Mensch du! – Weißt du, daß du noch viel schöner geworden bist, seit ich dich das letztemal gesehen habe!«

»Verdirb mich doch nicht, Tante Jane!« verwies er ihr ernsthaft.

»Als ob das nicht längst geschehen wäre, wenn die Gefahr überhaupt naheläge!« lachte die alte Frau. »Aber jetzt erzähl' mir hübsch, was du alles getan hast die ganze Zeit. – Nimmst du eine Tasse Tee, mein Junge?«

»Mit Vergnügen, Tante!«

»Ich will frischen machen für dich.«

Als er protestieren wollte, fiel sie ihm ins Wort und meinte: »Laß mich nur, du sollst dich recht wohl fühlen bei mir – einen Menschen, den man liebhat, nach Herzenslust zu verwöhnen, das ist das größte Vergnügen, das uns alten Leuten noch zu Gebote steht!« Sie klingelte, ließ die Flamme unter dem Teekessel frisch anzünden und aus einem geheimen Fach ihres Vorratsschranks eine ganz besondere Sorte von Tee hervorholen, die ein Verwandter persönlich aus China mitgebracht und die sie nur bei feierlichen Gelegenheiten ans Tageslicht zog.

Er plauderte und lachte mit der alten Frau, erzählte hier und da eine kleine Anekdote, die an Schlüpfrigkeit grenzte, für die sie ihm einen kleinen Schlag versetzte und an der sie sich doch besonders freute.

Mit einemmal hatte Jack einen sonderbaren Einfall. »Willst du ein klein wenig stillsitzen – so – genau so wie jetzt, Tante, ich möchte dich gern abzeichnen, genau so, wie du sitzest – und mit den fliegenden japanischen Störchen im Hintergrund.«

Sie war zu allem bereit. Nach einigem Suchen und mit der Nachhilfe Smiths fand er endlich eine Feder und einen Bogen Papier, die sich zur Ausführung seines Planes schickten. Er machte sich ans Werk. Die alte Frau sah ihm zu, wohlwollend, lachend.

»Es ist seltsam, wie du auf mich wirkst, mein Junge!« sagte sie. »Hast du einmal aufgemerkt im Frühling, wie's da zuweilen in dem ältesten Holzwerk kracht und pocht? Etwas von der großen Bewegung, die zu der Zeit draußen die Blätter aus den Bäumen heraustreibt, schleicht sich durch das tote Holz, und es träumt vom Leben. Wenn du bei mir bist, so ist's mir auch, als schliche der Frühling an mir vorbei und ich träumte vom Leben. – 's ist recht schade, daß du nicht mein Sohn bist!« murmelte sie.

»Nun, wer weiß – was nicht ist, kann werden!« meinte er, von seiner Zeichnung aufblickend, und lachte gezwungen.

»Nein,« sagte sie, »das täte kein gut! Meine Stieftöchter sind beide brave Mädchen, aber für dich taugen sie nicht. Ein Sonnenstrahl in einem Keller eingesperrt, das wäre so beiläufig dein Zustand in der Ehe mit Sarah oder Mary. Du bist ein Tageskind und ein Sommerkind – die beiden Mädchen sind Nacht- und Winterkinder. Punkt zwölf Uhr mittags schlug's, als du deine blauen Augen zum erstenmal öffnetest – anstatt zu weinen, lachtest du. Mir hast du ins Gesicht gelacht, du Schlingel, ich war's, die dein kleines Leben zuerst in Empfang nahm. Sarah und Mary sind beide Nacht- und Winterkinder. Ich war ja nicht anwesend, als sie zur Welt kamen, aber ich will wetten, daß sie beide damals dem Leben aufs kläglichste entgegengeheult haben.«

Jack seufzte nachdenklich vor sich hin. »Das Profil ein klein wenig dem Kamin zuwenden, Tante,« bat er; dann nach einem Weilchen setzte er hinzu: »Wo bleiben denn eigentlich meine Kusinen?«

»Ich erwarte sie von einem Moment zum anderen,« sagte Mrs. Winter. »Mary ist in die Stadt gefahren, um bei Lady Byng einem Meeting beizuwohnen, welches zugunsten des Wahlrechtes der Frauen in England gehalten werden soll – und Sarah hat irgend etwas Wichtiges im Distrikt zu tun.«

»Sie führen beide ein sehr ernstes Leben,« meinte Jack.

Die alte Frau zuckte mit den Achseln. »Was willst du!« rief sie. »Sie haben beide sehr viel Geld und sehr viel Zeit. Sarah hat einen Lebenszweck, und Mary sucht ihn. 's ist in der Umgebung, in der sie aufgewachsen sind, nicht einmal ein Wunder. Ich selber war viel zu müde, um den drückenden Einflüssen, von denen sie von Jugend an umgeben waren, entgegenzuarbeiten. Und so sind sie geworden, wie sie sind, zwei ausgezeichnete Mädchen, traurig wie englisches Novemberwetter, ohne ein Fünkchen Lebensfreudigkeit im Leib. Sie sind, glaube ich, überzeugt davon, daß die Lebensfreudigkeit unter allen Umständen ein Verbrechen ist! – Deine Lebensfreudigkeit ist noch nicht in Verlust geraten – was, mein Junge?«

»Bis dato nicht,« sagte Jack etwas kleinlaut.

»Bewahre sie dir so lange als möglich!« rief die alte Frau. »Siehst du – sie mögen sagen, was sie wollen, eine ehrliche, frische Lebensfreudigkeit ist der Weihrauch, der Gott im Himmel am sichersten zusagen muß. Sie tun mir einfach leid, die traurigen Schwärmer, die unter Heulen und Zähneklappern die Gottheit feiern! Sie singen alle falsch, und ich bin fest überzeugt, der liebe Gott hält sich zu ihren Serenaden die Ohren zu!«

»Was ist denn Sarahs Lebenszweck?« fragte nicht ohne Neugierde Jack.

»Sarahs Lebenszweck,« begann sie – sie konnte nicht ausreden, da im selben Augenblick ein junges Frauenzimmer in einem salvation bonnet, das heißt einem schwarzen Hut von besonders unkleidsamer Form, wie sie speziell für die weiblichen Mitglieder der salvation army fabriziert werden, die Tür aufriß und mit den Worten »Endlich ist es mir gelungen, mit dem Polizeichef des Distrikts selbst zu sprechen, er wird mir für den nächsten Sonntag einen Konstabler zur Verfügung stellen!« auf das Paar vor dem Kamin zutrat. Dieses anziehende Wesen war Jacks älteste Kusine Sarah.