Totschlag hinterm Deich - Gisa Pauly - E-Book

Totschlag hinterm Deich E-Book

Gisa Pauly

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Weihnachtskrimis regional – 12 mörderische Geschichten aus dem hohen Norden für die schauerlich-schönste Zeit des Jahres An der Ostsee findet man nicht nur Bernstein am Strand... Neben Gisa Pauly, Jean Bagnol und Linda Conrads erzählen Alexandra Richter, Christiane Franke, Helga Beyersdörfer, Jan Schröter, Karen Kieback, Nina George und Regine Kölpin in ihren Kurzkrimis von üblen Gesellen in Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein. In dieser Reihe sind außerdem erschienen: "Alpenland in Mörderhand", "Mordlust an der Leine", "Mord-Mord-Ost", "Blutiger Rhein" und "Spätzlemorde".

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Seitenzahl: 222

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Totschlag hinterm Deich

12 Weihnachtskrimis aus dem hohen Norden

Gisa Pauly, Jean Bagnol, Linda Conrads u.a.

Alexandra Richter, Christiane Franke, Gisa Pauly,Jean Bagnol, Helga Beyersdörfer, Jan Schröter, Karen Kieback, Linda Conrads, Nina Georgeund Regine Kölpin

Knaur e-books

Über dieses Buch

Weihnachtskrimis regional – 12 mörderische Geschichten aus dem hohen Norden für die schauerlich-schönste Zeit des Jahres!

An der Ostsee findet man nicht nur Bernstein am Strand … Neben Gisa Pauly, Jean Bagnol und Linda Conrads erzählen Alexandra Richter, Christiane Franke, Helga Beyersdörfer, Jan Schröter, Karen Kieback, Nina George und Regine Kölpin in ihren Kurzkrimis von üblen Gesellen in Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein.

In dieser Reihe sind außerdem erschienen: »Alpenland in Mörderhand«, »Mordlust an der Leine«, »Mord-Mord-Ost«, »Blutiger Rhein« und »Spätzlemorde«.

Inhaltsübersicht

Alexandra Richter: Eine schaurige AdventsgeschichteChristiane Franke: Die Heiligen drei Könige und das WerdertrikotGisa Pauly: Die gute SeeleJean Bagnol: Alarm im Gänsestall. Ein tierisches WeihnachtenHelga Beyersdörfer: Die Spur des BussardsJan Schröter: Weihnachten kann man sich schenkenJean Bagnol: Eine schöne BescherungKaren Kieback: Der rote SchalGisa Pauly: Der dümmste Weihnachtskarpfen von SyltLinda Conrads und Alexandra Richter: WrantepottNina George: Der perfekte MannRegine Kölpin: Die WeihnachtskräheÜber die Autoren
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Alexandra Richter

Eine schaurige Adventsgeschichte

 

 

 

Der Atemhauch des Scharfrichters dampft in der kalten Luft. Er sieht auf und bittet Gott um seinen Segen. Wolkenlos ist der Himmel über dem Hof des Untersuchungsgefängnisses am Holstenglacis. In der Ferne hört er die Glocke von St. Michaelis läuten. Es ist acht Uhr am 2. Februar 1905, als er die Stahlstange dreht und die Sperre löst. Nicht einmal eine Sekunde später trennt das Fallbeil den Kopf vom Körper der Elisabeth Wiese.

* * *

Vierzig Meter ragt das Gerüst in die Höhe. In zwei Jahren zum Nikolaustag soll der zentrale Hamburger Hauptbahnhof endlich fertig sein. Auf den angrenzenden Straßen staut sich Droschke an Droschke. Auch immer mehr Automobile sorgen für Lärm in der Stadt. Die Straßenbahn fährt am Deutschen Schauspielhaus vorbei die Kirchenallee hinunter und biegt dann rechts ein auf die Lange Reihe. Es quietscht fürchterlich in der Kurve. Gretchen Krämer schließt die Augen. Müde, unendlich müde ist sie. Das Leben war schon einmal schöner. Seinen letzten Brief hat er aus Sansibar abgesendet. Sie weiß nicht, wo er jetzt ist und wie es ihm geht. Und er weiß nicht, dass sie seine Tochter geboren hat. Gretchen will nicht länger auf ihn warten. Aber viel schlimmer ist, dass das Geld nicht für zwei reicht. Und niemand ist da, der auf Luise aufpasst, wenn Gretchen arbeiten muss. Sie kann nicht immerzu ihre Freundin Klara darum bitten. An der Haltestelle Gurlittstraße steigt sie aus. Auf dem Kopfsteinpflaster hat sich eine Eisschicht gebildet. Sie spürt den kalten Nebel auf ihren Wangen, und sie riecht den Qualm, der aus den Schornsteinen aufsteigt und die Luft verpestet. Gretchen hustet. Ihre Zunge ist belegt. Im Hals kratzt es. Hinsetzen. Ausruhen. Füße hoch und sich bedienen lassen. Eine gute Partie machen. Mit einem Kind? Aussichtslos. Nichts wünscht sie sich mehr, als in geordneten Verhältnissen zu leben – und schlafen, endlich wieder ausschlafen. Sanft drückt sie den Säugling an sich. Aus der Wolldecke schaut nur das Mützchen hervor. Gretchens Augen brennen. Nu bloß nich wedder anfangen zu flennen!

Ein alter Mann zieht eine Holzkarre hinter sich her, auf der er Tannengrün transportiert. In ein paar Tagen ist der erste Advent. Nun laufen die Tränen doch über. Vom Selbstmitleid wird man nicht satt. Seit Luise da ist, ist Gretchen andauernd zu spät dran. Auch zur Arbeit ist sie diese Woche schon wieder zu spät gekommen. Die Frau Oberin hat mit dem Finger gedroht: »Bis tief inne Nacht aufn Swutsch gehen und morgens nich aus den Federn kommen.« Sie weiß nichts von Luise. Gretchen hat gelogen, bevor die Schande rund geworden ist unter den Röcken. Die Frau Oberin glaubt, Gretchen habe einer einsamen Verwandten auf Amrum beim Sterben beigestanden. Auch Notlügen haben kurze Beine. Irgendwann komme alles heraus, und dann werde Gretchen in der Gosse landen, sagt Klara.

Erstmalig im Angebot – Adventskalender! Öffnen Sie 24 Türchen und lassen Sie sich überraschen. Gretchen reißt sich los vom Schaufenster der Buchhandlung Anna Kirschbaum. Die Geschäfte, der Trubel, die Cafés auf dem Jungfernstieg oder das Hansa-Theater auf dem Steindamm, dort sollen Clowns, Muskelmänner, musizierende Tiere und die wunderschöne Tänzerin Cléo de Mérode auftreten. Gretchen hat sie auf einem Plakat gesehen. Herrje, es gibt so viel zu entdecken. Da vorne, endlich, da wartet die Freundin und winkt. Gretchen hebt den Arm. »Klara!« Vor der Fleischerei Lange Reihe Nummer 71 sind sie verabredet. Klara sagt, der Mann von ihrer Chefin heiße überall einfach nur »Der schöne Wilhelm«. Ein komischer Name für einen Schlachtermeister, findet Gretchen.

»Gib mal Luischen her.« Klara streckt Gretchen die Arme entgegen. »Die Decke ist doch viel zu dünn!«

Aber Gretchen schüttelt den Kopf. »Gleich kannst du sie halten. Gleich.«

»Schau, die Anzeige hat mir die Chefin aus dem Generalanzeiger ausgeschnitten. Elisabeth Wiese vermittelt Kinder an Leute, die sich mit der Pflegschaft etwas dazuverdienen.« Klara nimmt Gretchens Hand. »Komm. Wilhelminenstraße 23, Parterre links auf St. Pauli. Da müssen wir hin.«

* * *

Das Treppenhaus ist duster. Es mieft nach Kohlsuppe. Klara klopft an die Wohnungstür der Wiese. Sofort öffnet sie, als habe sie die ganze Zeit dahintergestanden und durch das Guckloch gespäht. Wie eine Hexe sieht sie aus. Die dunklen Haare in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem Dutt aufgesteckt, fleischige Ohrläppchen, durchbohrt von goldenen Ohrsteckern. Die Warze auf der Oberlippe ist groß wie eine Erbse. »Haben Sie Geld?« Gichthände greifen nach der Börse.

Gretchen weiß, dass es die Gicht ist. Sie ist Schwesternschülerin im Polizeikrankenhaus an der Seewartenstraße.

»Haben Sie Geld?«

Klara öffnet die Börse und gibt Elisabeth Wiese hundert Mark. »Bitte sehr, das ist für die Vermittlung. Und das«, Klara holt einen weiteren Geldschein hervor. »Das ist das Kostgeld für Dezember.«

Gretchen presst die Lippen zusammen. So lange gespart und nu ist alles futsch.

»Wohin werden Sie Luischen geben?«

Wenigstens Klara hat noch alle Tassen im Oberstübchen beisammen. Gretchen bringt kein Wort heraus. Sobald sie den Mund aufmachen würde, müsste sie Galle spucken.

»Buxtehude. Ich brauche dann noch die Geburtsurkunde und die Abmeldung nach Buxtehude.«

Klara dreht sich zu Gretchen um. »Hast du die Geburtsurkunde dabei?«

Gretchen schüttelt den Kopf. Klara wendet sich wieder der Wiese zu. »Die Geburtsurkunde reiche ich Ihnen morgen nach.«

»Dann ist genug palavert. Geben Sie mir das Kind. Mir pressiert’s.«

* * *

Im Stadthaus, dem Sitz der Hamburger Polizeibehörde, reibt Kriminaloberkommissar Janne Bärwolff die Handflächen aneinander. Er friert, obwohl er eine warme Weste unter der Uniformjacke trägt. Die erste Adventskerze brennt. Janne hat es gerne gemütlich. »Nu mal sutje mit den jungen Gäulen. In der Weihnachtszeit steht die Stadt koppeister«, hat Janne zu Staatsanwalt Dr. Hollender gesagt in der morgendlichen Besprechung, doch der kann über niveaulose Späße nicht lachen. Pfeffersack! Janne runzelt die Stirn und zwirbelt an seinem Schnurrbart, während er in der Ermittlungsakte von Elisabeth Wiese die Seiten noch einmal von vorne liest. Den Fall hat er vom Kollegen Schubert geerbt. Schubert ist krank zu Hause wie immer, wenn die Temperaturen unter null Grad sinken. Janne nimmt einen Schluck Pfefferminztee und schiebt sich ein Stück Weihnachtsklöben in den Mund. Nach dem Bärwolffschen Familienrezept mit viel Butter, Zucker und dicken Rosinen selbst gebacken. Schmeckt ganz passabel. Noch hat Janne keine Frau gefunden, die besser backen und kochen kann als seine Mutter. Gott hab sie selig.

Dammi noch mol. Konzentration! So dann, Elisabeth Wiese ist also 49 Jahre alt. Sie darf ihren Beruf als Hebamme nicht mehr ausüben, weil sie nachweislich Abtreibungen vorgenommen hat. Mit der Stricknadel. Janne atmet aus. Das Kerzenlicht flackert. Aber ist es ihr zuzutrauen, unschuldige Kinder ermordet zu haben? Ihre eigene Tochter namens Paula Berkelfeldt, außerehelich, Alter zwanzig Jahre, soll sie auf St. Pauli zur Straßenprostitution gezwungen haben. Paula befindet sich im Polizeikrankenhaus auf der geschlossenen Abteilung zu ihrer eigenen Sicherheit. Sie hat eine Selbsttötung versucht. Erstaunlich, einen Ehemann hat die Wiese auch abbekommen. Schubert hat das in der Akte mit einem Ausrufezeichen versehen. Es ist der Kesselschmied Heinrich Wiese. Den hat sie vergeblich versucht zu vergiften. Herrschaftszeiten! Eine solche üble Schauergeschichte ist Janne in seinen zehn Dienstjahren nicht untergekommen.

* * *

Die Frau Oberin hat Gretchen beauftragt, sich um das arme Püppi zu kümmern. Gretchen stellt einen Teller heiße Hühnersuppe auf das Tablett und geht den Flur hinunter zum Krankenzimmer des Fräulein Berkelfeldt. Wie Cléo, die Tänzerin, sieht sie aus. Gretchen bleibt der Mund offen stehen. Das schmale Gesicht ist umrahmt von langen Haaren, blass und unendlich traurig sieht das Fräulein aus. Gretchen ist auch traurig. Es tut gut, nicht alleine traurig zu sein. »Ich bin Schwester Gretchen und bringe Ihnen das Mittagessen.« Gretchen stellt das Tablett auf den Tisch.

Das Fräulein schlingt die Suppe hinunter. Brühe tropft vom Kinn auf das Nachthemd. Die Beine sind nackt, und unter der Haut kann Gretchen die blauen Adern sehen. »Wie geht es Ihnen?«

Das Fräulein erstarrt. Nur der Löffel bebt. »Nicht so gut.« Der Löffel taucht wieder in die Suppe und von da in den Mund und so fort.

»Möchten Sie ein Stück Klöben zum Nachmittagstee?«

Sie schüttelt den Kopf. An der Tür klopft es. Das Fräulein versteckt sich ängstlich hinter Gretchen. »Ja, bitte.« Gretchens Hand drückt hinter dem Rücken die Hand des Fräulein Berkelfeldt.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung.« Ein stattlicher Mann Anfang dreißig in einer schicken Polizeiuniform betritt das Krankenzimmer. »Mein Name ist Janne Bärwolff. Ich bin Kriminaloberkommissar im Stadthaus und würde Fräulein Berkelfeldt gerne einige Fragen stellen. Ist das möglich?«

»Da muss ich erst die Frau Oberin fragen.« Gretchen ist erstaunt, wie streng ihre Stimme klingt. Widerworte wird sie nicht dulden.

»Das habe ich bereits getan, Schwester …«

»Gretchen.«

»Schwester Gretchen. Aber wenn Sie meinen, dass es jetzt ungünstig ist, dann komme ich in einer Stunde wieder.«

Er hat grüne Augen mit bernsteinfarbenen Sprenkeln in der Iris. Gretchen wird es ganz blümerant im Magen.

* * *

Vom Polizeikrankenhaus sind es nur wenige Minuten zu Fuß bis zum Viertel um St. Michaelis. Eine steife Brise pfeift auf der Brücke. Janne Bärwolff stellt den Kragen der Uniformjacke hoch. Er kann die Schwimmdocks von Blohm & Voss sehen, hört die dumpfen Schläge der Nietenhämmer. Schneeflocken setzen sich auf Jannes Haarschopf und den Schnurrbart nieder. Janne senkt die Stimme. »Von draußen, vom Walde komm ich her!« Die lütten Bangbüxen rennen kreischend davon. Staatsanwalt Dr. Hollender hat ihn beauftragt, Elisabeth Wieses Ehemann ausfindig zu machen. Der Kesselschmied trieb sich bekanntermaßen in den Spelunken am Hafen herum.

»Nu bringen Sie mol Licht in das Kuddelmuddel in Schuberts Akte.« Mit diesen Worten hat ihn der Staatsanwalt hinaus in die Kälte entlassen. Janne hasst es, herumkommandiert zu werden. Unter seinen Schuhen knirscht der graue Neuschnee. Die Flocken haben die Luft blitzsauber gewaschen. Eine Wohltat für die Lungen, da muss man einfach laut singen: »Oh du mein Lutsch-bon-bon, Pfef-fer-minz eins a, al-le, die so la-chen, ma-chen sit-ta-ta!« In Gedanken ist er ganz woanders. Das Fräulein Gretchen gefällt ihm. Sehr sogar. Seine Schritte werden schneller. Sich in den engen Gassen am Hafen herumzudrücken ist Jannes Sache nicht. Sein großer Bruder hat sich in einer der heruntergekommenen Kneipen im Eichholz mit dem Kommabazillus angesteckt. Eine halbe Ewigkeit ist Harri jetzt schon tot. Mutter ist am Heiligen Abend darauf an gebrochenem Herzen gestorben, und Vater folgte ihr im Februar 1894. Er kam ums Leben, als bei der Probefahrt des Linienschiffes SMS Brandenburg im Maschinenraum ein Dampfrohr platzte. Jannes Augen tränen. Vom Wind.

Dammi noch mol!

Es ist sein Recht, glücklich sein zu dürfen. Mit ausgebreiteten Armen nimmt er Anlauf und glitscht den Kuhberg hinunter. »Sit-ta-ta-ti-ral-la-la.«

* * *

Staatsanwalt Dr. Hollender ist ein strebsamer Jungspund. Obwohl er fast zwei Meter vom Scheitel bis zur Sohle misst, leidet er an Minderwertigkeitskomplexen. Mit seinem Pferdegebiss will fürwahr niemand tauschen. Janne klopft an und steht gleich darauf im Büro des Staatsanwalts, ohne sein »Herein« abzuwarten. Mürrisch blickt der von seiner Lektüre auf und deutet mit der Hand an, dass Janne sich setzen möge. Dr. Hollender verschränkt die Arme und lehnt sich zurück. »Nun, was haben Sie von dem Gatten der Elisabeth Wiese herausgefunden, Kriminalkommissar Bärwolff?«

»Oberkommissar. Der Mann ist ein Säufer.«

»Na, na, keine vorschnellen Konklusionen, wenn ich bitten darf.«

»Heinrich Wiese war ziemlich angetütert, und das am frühen Nachmittage.« Janne denkt an Schwester Gretchen. Ob er es wagen soll, sie ins Hansa-Theater einzuladen?

»Was gibt es zum Amüsieren?«

»Nichts. Seine Angetraute beschreibt er als mannstolles Weibsbild ohne Charakter. Am meisten täten ihm die armen Würmchen leid, die sie an lichtscheues Pack verscheuere.«

»Namen?«

»Keine, die wir nicht schon kennen.«

Staatsanwalt Dr. Hollender blättert in der Akte. »Wilhelm Karl Klotsche, geboren am 19. Oktober 1902, Franz Sommer, geboren vor nun schon fast genau zwei Jahren am 23. Dezember 1902, Bertha Blanck, geboren am 26. Februar 1903, Peter Schultheiß, geboren am 1. Juli 1903.«

»Jawohl. Heinrich Wiese beschuldigt seine Frau, den unehelichen Sohn ihrer Tochter Paula Berkelfeldt gleich nach der Geburt erstickt und im Küchenofen verbrannt zu haben.«

»Gütiger Gott im Himmel! Hat er Anzeige erstattet?«

»Nein. Er wollte, hat es sich aber anders überlegt aus Angst.«

»Aus Angst?«

»Vor seiner Frau.«

»Was kann ein Weib – und sei es ein noch so abscheuliches Exemplar wie Elisabeth Wiese – denn bitte schön gegen ein gestandenes Mannsbild ausrichten?«

»Elisabeth Wiese ist auch mir wenig sympathisch, trotzdem lasse ich mich nicht dazu herab, voreilig zu verurteilen, bevor alle sachdienlichen Hinweise gesammelt und auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft worden sind.«

»Was erlauben Sie sich!« Dr. Hollender springt auf. Die Hände auf dem Rücken gefaltet, schreitet er auf und ab, bleibt schließlich am Fenster stehen und sieht hinaus. Große Schneeflocken taumeln vom Himmel. Das Licht der Gaslaternen dringt kaum noch durch.

Ein Ruck geht durch die Bohnenstange. »Haftbefehl ist beantragt. Ich gehe davon aus, dass der Richter meinem Ansinnen nachkommen wird. Dieses gemeingefährliche Weibsbild darf nicht länger ihr blutrünstiges Unwesen treiben. Nicht unter meinen Augen! Morgen in aller Frühe lassen Sie sich den Ofen zeigen.«

Janne ist schon fast zur Tür hinaus, als der Staatsanwalt ihm hinterherruft: »Wie geht es dem Fräulein Berkelfeldt?«

»Sie war noch nicht vernehmungsfähig.«

»Dann versuchen Sie es noch mal. Und kommen Sie mir nicht mit dumm Tüch.«

* * *

Paula Berkelfeldt hat Gretchen das Herz ausgeschüttet. Fieberphantasien? Vorsichtshalber hat Gretchen gemessen, aber die Quecksilbersäule hat nicht einmal erhöhte Temperatur angezeigt. Paulas Neugeborenes ist angeblich von seiner Großmutter ertränkt worden. Das ist unfassbar grausam. So etwas würde eine Großmutter doch niemals tun.

Gretchens Luise lebt. Gretchen weiß nicht, wo und nicht bei wem, aber Luise lebt, daran glaubt Gretchen fest, fester geht nicht. Sie will Luise zurückhaben. Eine Rabenmutter sei sie, hat Klara Gretchen vorgeworfen, weil sie Luise weggegeben hat. Klara hat die Wahrheit ausgesprochen, es gibt kein Vertun, Gretchen ist eine Rabenmutter von der allerschlimmsten Sorte! Es geschieht ihr recht, dass der Schnee hoch liegt. Sie fühlt die Zehen nicht mehr. Ihre Beine wollen sich ausruhen. Nicht jetzt. Später. Weiter.

Es ist wie verhext. Sie findet die Wilhelminenstraße nicht mehr. Ganz bregenklöterig ist sie schon. Im Schneegestöber sieht alles gleich aus. Furchtbar unsittlich geht es auf St. Pauli zu. Blaugefrorene Frauen lehnen in den Hauseingängen. Ihre Mäntel sind aufgeknöpft, und darunter sieht Gretchen … nackte Schenkel. Allen Mut nimmt sie zusammen. »Wilhelminenstraße?«

Die Frau neigt den Kopf. »Da rechts rein.« Ihr heiseres Gelächter wird vom Husten erstickt.

Nummer 23 war es. Im Treppenhaus ist wieder der Kohlsuppenmief. Und noch ein anderer, widerlicher Gestank. Die Tür im Parterre steht sperrangelweit offen. Stimmen kommen aus der Wohnung. Gretchen nähert sich auf Zehenspitzen. Gepolter – huch! Mit der Stiefelspitze ist sie gegen eine leere Milchkanne getreten.

»Schwester Gretchen!«

»Herr Kriminaloberkommissar!«

Janne Bärwolff fühlt, wie er rot wird. Oha, oha! »Was führt Sie hierher, Schwester Gretchen?«

»Ist die Frau Wiese zu sprechen? Ich will meine Luise zurückhaben.«

Hinter Janne rülpst einer, dem Gretchen im Dunkeln lieber nicht begegnen möchte. »Die hat sich aus dem Staub gemacht, Frollein, bevor der Udl sie ins Untersuchungsgefängnis stecken konnte. Fürchtet euch, sie wird das Morden nicht lassen, ich schwöre, so wahr ich Heinrich Wiese heiße.«

»Das tut jetzt patuh nichts zur Sache, Herr Wiese. Melden Sie sich morgen in der Polizeibehörde im Stadthaus bei mir. Sie müssen das Protokoll noch unterschreiben.« Janne schiebt Gretchen aus der Wohnung hinaus.

»Was … Was hat das zu bedeuten?« Vor Gretchens Augen wird es schwarze Nacht.

* * *

Eine Wolldecke um die Schultern gewickelt, sitzt Gretchen im Schwesternzimmer. An nichts Gescheites kann sie mehr denken. Seit Tagen ist nur Schmerz überall. An jenem Abend, den fürchterlichen Gestank im Treppenhaus in der Wilhelminenstraße 23 auf St. Pauli hat Gretchen immer noch in der Nase, ist sie in die Arme von Kriminaloberkommissar Janne Bärwolff gestürzt. So sagt er. Sie sei einfach umgekippt. Wie unschicklich! An nichts erinnert sich Gretchen, an gar nichts, nur an den Gestank. Der Notarzt sei gekommen und habe ihr Beruhigungsmittel eingeflößt. Gretchen würde den Kriminaloberkommissar zu gerne fragen, ob es etwas Neues von Luise gibt, aber sie traut sich nicht. Die Ungewissheit wird jede Stunde weniger. Gretchen hat keinen Funken Hoffnung mehr. Wieso hat Klara sich nicht mehr blicken lassen? Klara findet, der Herr Kommissar gucke Gretchen immer so komisch an, als ob er verliebt in sie wäre, so gucke er, hat Klara gesagt. Gretchens Unschuld sei ja nun schon verloren, und deswegen werde sie kein Ehrenmann mehr wollen, also als anständige Gattin nicht mehr wollen, sondern nur, um die Wollust zu befriedigen. Gretchen ist es völlig schnuppe, wie der Kriminaloberkommissar guckt. Soll er. Gott hat ihr Luise anvertraut, und Gretchen hat Luises Leben auf dem Gewissen. Geldnot. Das ist nicht der Grund gewesen. In Wahrheit wollte Gretchen endlich wieder ausschlafen.

* * *

Noch in der Nacht, als Gretchen in Ohnmacht gefallen ist, hat Kriminaloberkommissar Janne Bärwolff den Staatsanwalt Dr. Hollender aus dem Bett klingeln lassen von einem Polizeiwachtmeister in der Telefonzentrale, die im Keller des Stadthauses rund um die Uhr besetzt ist. Eine Stunde später treffen sich der Staatsanwalt und der Kriminaloberkommissar in Jannes Büro. Weder der eine noch der andere hat den Mantel abgelegt. Das Thermometer, am Außenrahmen des Fensters windgeschützt angebracht, zeigt minus 15 Grad Celsius an. Das große Stadthaus liegt im Dunkeln. Die Adventskerze spendet Schummerlicht. Der Rosinenklöben in der Dose auf dem Schreibtisch bleibt unberührt. Die Männer schweigen, warten, warten wohl auf ein Wunder, warten wie kleine Buttjes auf den Weihnachtsmann, der ihnen den Glauben zurückgibt an das Gute im Menschen, das am Ende über das Böse siegen wird. Sämtliche Indizien, alle Vernehmungsprotokolle sind sie noch einmal durchgegangen. Paula Berkelfeldt hat die Aussage ihres Stiefvaters Heinrich Wiese im Wesentlichen bestätigt. Am Ofen fehlen Schamottsteine oder weisen aufgrund großer Hitzeentwicklung tiefe Risse auf. Davon hat Janne sich persönlich überzeugt. Nachbarn berichten von einem eigentümlichen Gestank wie nach verbrannten Haaren und verbrannter Haut, der seit mindestens zwei Jahren immer wieder aus der Wohnung der Wiese käme. Janne hat es auch gerochen. Jetzt macht er sich Vorwürfe. Den Fall Wiese hat er unterschätzt.

»Das wird Ihnen nie wieder passieren, Kriminaloberkommissar Bärwolff. Nur unsere Besten dürfen auch mal Fehler machen.«

Janne spürt, wie die Tränen aufsteigen. Er kann sie nicht zurückhalten. Den weichlichen Wesenszug hat er seiner Mutter zu verdanken. Dr. Hollender reicht ihm ein Taschentuch.

»Danke.«

»Kopf hoch, mein Freund.«

Janne nickt. Die Worte des Staatsanwalts sind ihm ein Trost, aber gleichzeitig fühlt Janne sich wie das allerletzte Dreckschwein. »Entschuldigen Sie mein schlechtes Benehmen.«

»Frieden.« Dr. Hollender reicht Janne die Hand, und Janne schlägt ein. »Frieden.«

Keiner der Männer, die in diesem Moment beim Licht der fast heruntergebrannten Adventskerze im Stadthaus zusammensitzen, hat es ausgesprochen. Doch der furchtbare Verdacht steht im Raum wie der leibhaftige Satan persönlich. Ist Luise Krämer das sechste Opfer der mutmaßlichen Serienmörderin Elisabeth Wiese? Und wohin ist die Wiese so spurlos verschwunden? Als es klopft, fahren sie beide hoch von ihren Stühlen.

»Herein!«, ruft Dr. Hollender.

Die Tür öffnet sich, das Scharnier quiekt. Eine Hutkrempe. Das Gesicht darunter versinkt in einem Schal, der nur die rotgefrorene Nase freigibt und die geschwollenen Tränensäcke. Klara spürt einen sanften Schubs, und drin steht sie im Büro. Hinter ihr ihre Chefin.

»Wen haben wir denn da?« Dr. Hollender neigt den Kopf. »Bitte treten Sie ein, die Damen.«

»Guten Morgen. Entschuldigen Sie bitte, dass wir ohne Termin kommen. Albers, Johanna Albers, mein Name. Meine Angestellte Fräulein Klara Kruse möchte eine Aussage machen.«

Klara spricht leise. »Ich habe nach und nach insgesamt hundertfünfzig Mark aus der Ladenkasse entwendet und damit Luischen von Elisabeth Wiese zurückgekauft, heimlich …« Klara verstummt.

»An der prekären Geschichte fühle ich mich nicht ganz unschuldig.« Johanna Albers legt Klara die Hand auf die Schulter. »Schließlich war ich es, die Klara auf die Anzeige von Elisabeth Wiese aufmerksam gemacht hat.«

»Warum haben Sie Fräulein Krämer nicht eingeweiht, Sie sind doch Freundinnen?« Janne Bärwolff schaut Klara tief ins schlechte Gewissen.

»Ich … ich bin eifersüchtig gewesen, als Gretchen mir beichtete, sie sei in anderen Umständen. Es ist ungerecht!«

* * *

Die Sonne geht auf, Luischen schläft ein. Die halbe Nacht hat Janne den süßen Schreihals durch die Wohnung getragen und an die vergangenen Wochen zurückgedacht. Am zweiten Advent hat er Gretchen den Adventskalender aus dem Buchladen von Anna Kirschbaum geschenkt und um ihre Hand angehalten. Statt einer Antwort gibt Gretchen ihm einen Brief, abgestempelt am Kap der Guten Hoffnung. »Willst du mich immer noch heiraten, Janne Bärwolff?«

»Ich will.«

Gretchen hat den Brief zerrissen und dann hat sie »Ich will dich auch heiraten« gesagt und ihn geküsst. Oha, oha! An Heiligabend ist sie mit Luise und einer Weihnachtsgans von Frau Albers bei ihm eingezogen. Janne überquert mit dem Kinderwagen den Rademachergang. Seefahrer aus Sandstein schmücken die Rotklinkerfassaden der Häuser. In der dritten Etage öffnet Gretchen das Küchenfenster und wirft ihm eine Kusshand hinunter. Sein Gretchen! Die Glocken von St. Michaelis läuten. Es ist acht Uhr. Vom Holstenglacis fliegt krächzend eine Krähe über die Dächer. Das Kalenderblatt in Gretchens Händen nimmt ein Windzug mit auf Reisen. Donnerstag. 2. Februar 1905. Scheint zu Lichtmess die Sonne heiß, gibt’s noch sehr viel Schnee und Eis.

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Christiane Franke

Die Heiligen Drei Könige und das Werdertrikot

 

 

 

Für die Namen meiner Söhne kann ich nichts. Dafür war Reinhard verantwortlich, dieser Sausack. Und meine Schwiegermutter. Während der Schwangerschaft haben Reinhard und ich uns lang und breit über die Namen beraten. Das war wirklich nicht so einfach. Ich meine, klar, frau freut sich über das Pluszeichen im Schwangerschaftstest und jubiliert und tanzt, macht dem Männe ein Bier auf und sich selbst, weil verantwortungsbewusst, nur einen alkoholfreien Piccolo. Aber wenn aus einem einfachen Plus nach der Ultraschalluntersuchung beim Frauenarzt ein Triple-Plus wird, dann verpasst einem das schon einen Dämpfer. Das muss ich der Ehrlichkeit halber sagen. Ich hab ja erst gedacht, mein Arzt will mich veräppeln oder bräuchte eine neue Brille, doch dann hat er es mir auf dem Ultraschallbild gezeigt. Drei kleine Fruchthöhlen. Bingo.

Mit dem Ultraschallbildchen sind wir runter zu meiner Schwiegermutter, die das riesige Erdgeschoss des Hauses nach dem Tod meines Schwiegervaters ganz allein bewohnte. Uns hatte sie die kleine Dreizimmerwohnung im Obergeschoss überlassen, natürlich gegen Miete. Sie war nämlich nicht nur sehr katholisch, sondern auch überaus geizig. Jedenfalls saßen wir zusammen im Wohnzimmer, und Reinhard hatte seiner Mutter die frohe Botschaft verkündet. »Du wirst Oma«, hat er gesagt, und dabei ein Gesicht gemacht, als sei das was ganz Schlimmes. Mit leidender Miene hielt er ihr das Ultraschallbild hin.

»Was ist das? Eine Aufnahme von dem Kind?«, fragte sie, nahm es und betrachtete es neugierig.

»Ja.« Reinhard litt immer noch. Gut, ich konnte ja verstehen, dass die Vorstellung, gleich für drei Kinder Verantwortung zu übernehmen, auch für ihn nicht leicht war. Zumal der Job, den er in der Firma seiner Mutter machte, nicht übermäßig viel Geld abwarf. Aber ich hatte das Gefühl, er gab mir die Schuld daran, dass es gleich drei Babys wurden, und das fand ich einfach ungerecht.

»Weiß man schon, was es wird?«, fragte meine Schwiegermutter.

Wir nickten.

»Und?«

»Guck mal genau hin.« Reinhards Stimme war kaum zu hören.

»Es werden Drillinge, Ingelore«, sagte ich und strahlte sie an.

»Drillinge.« Sie sah aus, als würde ihr Herzkammerflimmern zu einem Herzkammerstakkato.

»Drillinge«, wiederholte ich fest.

»Hättet ihr denn nicht aufpassen können?«

 

Der dicke Neuschnee glitzerte im Sonnenlicht, als meine Söhne am 6. Dezember zur Welt kamen. Per Kaiserschnitt, das war den Ärzten lieber und mir auch. Dreimal dieses Pressen, von dem ich mir hab sagen lassen, das sei nicht so nett, und dann die Schmerzen, nö. Okay, Schmerzen hatte ich hinterher trotzdem, aber, das steht ja schon in der Bibel, hat meine Schwiegermutter gesagt, dass das Weib unter Schmerzen gebären soll. Und wer sich da mit einem Kaiserschnitt drücken will, bei dem tut es eben hinterher weh.

Reinhard und ich hatten uns für die Namen Niklas, Lukas und Jonas entschieden, weil alle drei auf »as« endeten, was die Verbundenheit zwischen ihnen deutlich machte. Durch die unterschiedlichen Anfangssilben wurde aber gleichzeitig klar, dass es eigenständige Menschen sind. Das war uns wichtig. Reinhard und mir.

Ingelore, die sich, seitdem sie wusste, dass ihr Sohn dreifacher Papa wurde, immer mehr in unsere Ehe einmischte, gefielen die Namen nicht. Das hat sie jedoch geschickt verborgen gehalten bis zu dem Tag, an dem ich wehrlos, von drei Säuglingen umgeben, im Krankenhaus lag. Nachdem sie meine Söhne kurz begutachtet hatte, rauschte sie von dannen, Reinhard im Schlepptau. Als der am nächsten Tag ins Krankenhaus kam, hatte er unser Stammbuch dabei.

»Wir haben uns umentschieden«, sagte er unbehaglich und drückte mir das Buch in die Hand. Ich verstand kein Wort. Bis ich die Urkunden sah. Wo Jonas, Niklas und Lukas stehen sollten, standen: Caspar, Melchior und Balthasar.

Mir fiel die Kinnlade runter. Ich schluckte und starrte auf die Buchstaben, die mir irgendwie nicht in den Schädel wollten: Jonas, Niklas und Lukas schrieb man doch komplett anders. Dann sah ich meinen Mann an.

»Was soll das?«, fragte ich.

»Mutter sagt, unsere Namen wären zu neumodisch. Zu ähnlich. Und da die Drillinge kurz vor Weihnachten geboren sind, wären die Namen der Heiligen Drei Könige angemessen.«