Touch of Dust and Decay – Schattenseele - Freya Dawn - E-Book
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Touch of Dust and Decay – Schattenseele E-Book

Freya Dawn

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Beschreibung

Wenn er dich berührt, bist du tot! Düstere, packende Urban Fantasy in Londons dunklen Ecken für Fans von Laura Kneidl und Sarah J. Maas  »Die Macht der Liebe kann Monster erschaffen oder das Einzige sein, was sie besiegt.«  Wenn die Schatten sich erheben, lauf! Die junge Willow hätte die Warnungen besser beherzigen sollen, als sie den Job in dem verstaubten Buchladen in der hintersten Ecke Londons annahm. Denn offensichtlich hat Mr. Hunt, der merkwürdige alte Ladenbesitzer, ein Geheimnis. Etwas Hungriges lauert in dem abgesperrten Antiquariat, und es ist eng verwoben mit dem mysteriösen Clay, der sie immer wieder aus dem Dunkel heraus beobachtet. Nun soll Willow mit der Hilfe einer bunten Gruppe an Sonderlingen jemanden finden, der nicht in ihre Welt gehört. Und der mit einer einzigen Berührung töten kann. Auf seinen Spuren zieht das ungewöhnliche Gespann durch Londons Schatten, in denen Willow einer flammenden verbotenen Liebe und dem eiskalten Tod begegnet und sich der tiefsten Dunkelheit ihrer eigenen Seele stellen muss ...  »Freya Dawn hatte mich schon auf der ersten Seite vollständig in ihrem Bann. Ganz großes Lesekino voller Spannung, Magie und Herzklopfen!« – Sarah Stankewitz

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Maike Mergler

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Inhaltswarnung

1. WILLOW

2. WILLOW

3. WILLOW

4. WILLOW

5. WILLOW

6. WILLOW

7. WACHTWART SCALDEN/SILBERINSEL

8. WILLOW

9. WILLOW

10. WILLOW

11. CLAY

12. WILLOW

13. WILLOW

14. WILLOW

15. MELIO

16. KAJA

17. WILLOW

18. CLAY

19. WILLOW

20. WILLOW

21. WILLOW

22. WILLOW

23. CLAY

24. WILLOW

25. WILLOW

26. WILLOW

27. DWARIK

28. WILLOW

29. CLAY

30. WILLOW

31. WILLOW

32. CLAY

33. WILLOW

34. WILLOW

35. WILLOW

36. KAJA

37. WILLOW

38. WILLOW

39. CLAY

40. WILLOW

41. WILLOW

42. WILLOW

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Dieses Buch enthält Themen, die triggernd wirken können:

explizite erotische Szenen

traumatische Kindheitserfahrungen

Alkoholkonsum, Alkoholmissbrauch naherAngehöriger

physische und psychische Gewalt, Mord

Tod nahestehender Personen

Wir wünschen ein bestmögliches Leseerlebnis.

1. WILLOW

Ich folgte dieser Ratte jetzt bereits seit geschlagenen dreißig Minuten. Immer, wenn ich stehenblieb, drehte sie sich zu mir um und blickte mich aus ihren schwarzen Knopfaugen auf eine fast schon hypnotische Art an. Für mich gab es quasi keine andere Option als ihr zu folgen, denn sobald ich mich erdreistete, einen anderen Weg einzuschlagen, ging sie nahtlos dazu über, mir zu folgen.

Ja, okay, normale Leute liefen vielleicht netten Katzen nach oder maximal noch einem klugen Raben, aber ich war Willow Bailey und normal war nicht unbedingt mein Ding. Also lief ich diesem struppigen Nagetier hinterher, bis wir irgendwann dort ankamen, wo es mich haben wollte.

»Was für ein Blödsinn, Willow«, tadelte ich mich selbst, weil diese Situation einfach zu bescheuert war. Alles, dieser ganze Wahnsinn, der sich mein Leben nannte, war bescheuert.

Wahrscheinlich stellte es einfach den traurigen Höhepunkt meines bisherigen Daseins dar, einer Ratte in London den schmutzigen Bordstein entlangzufolgen.

Du bist echt unten angekommen, Willow Bailey, verdammt weit unten.

Fast schon empört stellte sich das wohlgenährte Nagetier auf die Hinterbeine, fixierte mich und wackelte mit den Schnurrhaaren.

»Ja, ich weiß.« Seufzend zuckte ich die Achseln. »Ist ja nicht alles schlecht.« Immerhin konnte ich mich jetzt offiziell Bachelor of Arts nennen. Oder hieß das Bachelorette? Kurz musste ich an den Kerl mit den Rosen und Verehrerinnen denken … Ich hatte keine Verehrer, ich war nur Willow.

Und dieser Abschluss war wie ein Neubeginn für mich. Ein Neubeginn zwischen den schmutzigen Rinnsteinen Londons.

Leider war es immer so eine Sache mit diesen Anfängen … Viel zu selten gab es leuchtende Pfeile am Boden, die einem vorgaben, welche Abzweigung es zu nehmen galt. Das Leben bestand aus einer Aneinanderreihung von Enden und Anfängen und man wusste zu Beginn nie, wo man letztlich stehen würde.

»Also, was ist? Gehen wir jetzt weiter?« War mein neuer kleiner Kumpel vielleicht einer dieser leuchtenden Pfeile? Oder wurde ich langsam einfach nur verrückt, weil ich noch nicht wusste, was ich mit meiner Chance anfangen sollte? Wenn es denn eine war.

Wo stand ich inzwischen?

Ich besaß einen druckfrischen Universitätsabschluss in Literatur und sonst kaum etwas. Ich trug immer noch abgewetzte Jeans, staubige Chucks und einen Haarschnitt, der dringend mal wieder eine Auffrischung brauchte. Keine Ahnung, ob man als Professorin an einer Uni mit krummem Pony und violetten Strähnen so gut ankam. Wohl eher nicht. Denn genau das war während des Studiums immer mein Wunsch gewesen: Selbst zu lehren, den Studierenden all die Welten zu zeigen, die mir einmal eröffnet worden waren. Geschichten hatten mich gerettet, aber nach all den magischen Reisen zu anderen Orten und Zeiten war ich doch wieder nur zu Willow Bailey geworden. Bücher mochten eine Flucht vor der Realität ermöglichen, aber man konnte nicht auf ewig vor seinen Problemen davonlaufen. Wenn ich mir all die Menschen hier in meiner Stadt so ansah, wie sie in ihrem Hamsterrad aus Büro, Smartphone und kurzem Feierabend strampelten, begann ich daran zu zweifeln, dass auch nur irgendetwas auf dieser Erde magisch sein sollte. Sie waren verloren, ich war verloren, wahrscheinlich waren wir es alle.

Ich hatte jetzt meinen Abschluss, toll. War wohl auch nur der Startschuss dafür, mir mein Hamsterrad in diesem System zu suchen.

Die Ratte starrte mich noch immer an, als wollte sie sagen: Gott, hör endlich auf mit dieser Melodramatik!, dann quiekte sie und schob ihren – eindeutig zu dicken – Bauch um eine Straßenecke in eine verlassene Seitengasse hinein. Und ich? Folgte ihr natürlich.

»Willst du mich hier hinten ausrauben?« Skeptisch blickte ich mich um. Dampfende Gullydeckel, ein paar vereinzelt gepflanzte Bäume und sonst nichts als graue Hauswände. Ich hatte ja ursprünglich vorgehabt, meinem haarigen Fremdenführer ein Stück Keks aus meiner Tasche abzugeben, aber wenn er jetzt einen auf Messerstecher machte, würde ich mir das ernsthaft nochmal überlegen müssen.

Er – eigentlich wusste ich überhaupt nicht, ob es ein Er oder eine Sie war, wie stellte man das bei Ratten überhaupt fest, ohne ihnen zu nahe zu treten – erhob sich auf die rosafarbenen Hinterpfoten und verschwand dann einfach so in einem der Gullydeckel.

»Hey!« Hilflos warf ich die Arme in die Luft. »Nicht dein Ernst, Kumpel! Was soll ich jetzt hier? Hallo?«

Ach, ich war doch selbst schuld. Wer folgte schon eine halbe Ewigkeit einer Ratte? Diese Tiere lebten in der Kanalisation, war doch klar, dass sie irgendwann auch wieder dorthin zurückkehrten. Was hatte ich bitte erwartet? Dass sie mich zu einer Universität führte, vor deren Toren mir ein adretter Professor Dr. irgendwas in die Arme lief, der glücklich rief: »Oh, Miss Willow Bailey, welch Freude! Wir suchen gerade exakt so einen abgewetzten Nerd mit krimineller Vergangenheit, wie Sie es sind! Hier, Ihr Arbeitsvertrag. Ihre neuen Studierenden warten bereits.«?

Freudlos lachend wollte ich den Rückweg antreten, falls ich ihn noch fand, als mein Blick auf ein handgeschriebenes Schild hinter einer vergilbten Scheibe fiel.

Bezahlter Abenteurer gesucht.

Was bitte war das hier? Ein Escape-Room, oder was?

Ein paar staubige Bücher befanden sich in der Auslage, die offensichtlich seit Jahrzehnten keiner mehr ausgetauscht hatte.

Die Sehnsucht des Highlanders?

Waren diese halbnackten, langhaarigen Kerle mit aufgebauschten Hemden auf Buchcovern nicht schon vor Urzeiten aus der Mode gekommen?

Ein Buchladen, ganz eindeutig, aber hatte dieses angestaubte Exemplar überhaupt noch geöffnet?

Bezahlter. Abenteurer. Gesucht.

Es musste so aussehen, als sei ich hier draußen angewurzelt und ich wusste noch nicht einmal, warum diese drei einfachen Worte mich so sehr in ihren Bann zogen.

Der Laden wirkte muffig und alt, befand sich in der letzten verwinkelten Seitenstraße Covent Gardens und selbst jetzt, wo das Viertel normalerweise vor Touristen überquoll, verirrte sich niemand hierher.

Geh weiter, Willow, sei nicht dumm! Du willst Dozentin werden, nicht so etwas hier!

Aber die Ratte …

Du spinnst! Vergiss die Ratte!

»Komm rein, Kind, gut, dass du da bist!«

Ich erschrak mich halb zu Tode, als ein alter Mann wie aus dem Boden geschossen vor mir stand und das helle Glöckchen über der Tür gar nicht mehr aufhören wollte, zu bimmeln.

Er hatte wässrige, blaue Augen hinter einer dicken, runden Brille und trug ein graues Hemd mit Kragen, das schon zu Zeiten meiner Großeltern aus der Mode gekommen sein musste.

Hilflos deutete ich auf einen der dampfenden Gullydeckel.

»Ich … ich wollte eigentlich gerade …«

»Sei nicht albern! Komm schon.« Der Fremde legte seinen dünnen Arm um mich und zog mich unausweichlich mit sich. Die Haut seiner Hand wirkte dünn wie Pergament und er roch nach Mottenkugeln und Kräutern.

»Hören Sie, ich …« Oh, wie ich es hasste, einfach so angefasst zu werden, aber trotz seines Alters war dieses dürre Männchen erstaunlich kräftig. Er dirigierte mich ins Ladeninnere, das nach Staub und vergilbtem Papier roch. Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, ließ er mich endlich los und ging hinüber zu einer uralten Registrierkasse, um murmelnd etwas in den Schubfächern darunter zu suchen.

Und ich … ich sah mich um. Direkt neben mir stand ein Tisch mit neueren Büchern. Ja, gut, Harry Potter war jetzt nicht wirklich neu, aber immerhin ein literarischer Evergreen. Und Moby Dick … Genau die Ausgabe, die ich selbst damals gelesen hatte. Liebevoll strich ich mit den Fingern über den Einband. Links und rechts von mir türmten sich die Bücher in dunklen Schränken kreuz und quer bis zur Decke. An einem besonders hohen Regal lehnte eine Holzleiter und Kletterpflanzen hatten einige der Fächer erobert. Eine blühte sogar. Direkt vor mir hockte die Statue eines Drachen und wirkte so lebensecht, als sei er gerade erst zu Stein erstarrt. Er bewachte das Regal Fantastisches.

Vor der Abteilung Gefühl stand die Skulptur einer griechischen Göttin, die einen Korb mit Rosen in ihrer weißen Hand hielt.

Ein verbeultes Schild wies den Weg in den hinteren Teil des Geschäfts. Antiquariat – Zutritt verboten! Der Gang war mit einer Kette abgesperrt, als handele es sich um den baufälligen Teil eines alten Schlosses. Ein tiefer Atemzug strömte in meine Lunge, während ich langsam nach oben blickte. Die Decke war viel höher als es von außen den Anschein gemacht hatte, und überall fanden sich kleine Fresken. Engel, Drachen, Liebende, ein Garten voller Blumen, Felsen, eine Burg. So viele Welten vereint in einer einzigen. Für einen Moment vergaß ich, zu atmen. Dieser Laden … er machte etwas mit mir. Keine Ahnung, ob das etwas Gutes war, aber es war zumindest etwas.

»Ja, der Rattenfänger … leistet gute Arbeit«, säuselte der Ladenbesitzer, während er den Staub von einem Stapel Papiere auf seinem Tresen pustete.

»Rattenfänger? Ich? Flöte ist so gar nicht meins, da muss ich Sie enttäuschen«, erwiderte ich, während ich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken im Regal Fremde Welten fuhr.

Der Alte lachte hell und als ich aufblickte, blitzte der Schalk in seinen Augen. »Doch nicht du, du Witzbold. Er!«

Er? Was war los mit diesem Kerl? Brachte das fortschreitende Alter vielleicht Halluzinationen mit sich?

»Er? Wer er?« Fragend sah ich mich um, da war er auch schon wieder bei mir und hielt mir ein vergilbtes Papier und einen Füller unter die Nase. »Bitteschön, kleine Miss Bailey. Gut, dass du nun da bist.«

»Miss … was … aber ich …« Mein Stammeln ging mir selbst auf die Nerven, aber ich hatte ihm meinen Namen doch nie gesagt oder doch? »Woher wissen Sie, wie ich heiße?«

Er schmunzelte und in seinen blauen Augen lag die gebündelte Weisheit der Welt, als er antwortete: »Ich weiß viel, mein liebes Kind. Für irgendetwas muss es doch taugen, dass man alt wird wie eine knorrige Eiche.«

Schön und gut, aber die Namen von Wildfremden kannte man nicht plötzlich, nur weil man zweihundert Jahre alt war. Es sei denn, man war Rain Man oder …

»Sind Sie ein Stalker oder so was?« Misstrauisch äugte ich auf das Papier, das er mir unter die Nase hielt.

Ein Arbeitsvertrag.

Hunting Adventures.

Was für ein unglaublich passender Name für diesen verschrobenen Laden mit seinem noch viel skurrileren Besitzer.

Als ich aufblickte und den kauzigen Kerl ansah, wirkte sein Gesicht wie das eines verschmitzten kleinen Jungen.

»Ich bin viele Dinge. Aber für dich vorerst nur Mr. Hunt.«

Okay, etwas stimmte definitiv nicht mit ihm. Und doch hatte all das hier etwas an sich. Etwas vertrautes. Gab es vielleicht doch leuchtende Pfeile am Boden? Oder war ich diejenige, mit der etwas nicht stimmte?

»Was zahlen Sie denn?« Eine wichtige Frage. Immerhin wollte ich nicht für ewig in meinem heruntergekommenen Hausboot versauern. Es wäre schon mal ein Anfang, wenn ich die Löcher stopfen könnte.

Ein Anfang, Willow. Die Dinge müssen immer irgendwo anfangen. Ein Übergangsjob, um Fuß zu fassen, und dann kannst du immer noch Dozentin werden.

»Ich zahle dir, was auch immer du willst.« Mr. Hunt zwinkerte mir herausfordernd zu. Wenn er ungefähr hundert Jahre jünger gewesen wäre, hätte ich gedacht, er wolle mich anbaggern. Aber so wirkte es einfach nur merkwürdig. Allerdings klang was auch immer du willst gar nicht schlecht. Ganz und gar nicht schlecht.

»Also, wenn ich wirklich hier arbeiten soll, muss der nackte Highlander aus dem Schaufenster.« Meine Stirn kräuselte sich unter meinen Worten, damit er auch wirklich verstand, was er sich hier gerade ins Haus holte. Ich würde in diesem Laden so einiges umkrempeln. Das Hunting Adventures brauchte dringend frischen Wind und ich würde die Türen aufreißen, bis die Böen ihm den Mottenkugel-Mief aus der antiquierten Kutte pusteten.

Der Holzboden knarrte unter seinen Pantoffeln, als er noch näher auf mich zukam. Er drückte mir den Federhalter in die Hand und über seine faltigen Züge huschte ein Strahlen, hell wie die Sonne, als er sagte: »Du bist spät dran, Willow Bailey, aber jetzt … jetzt ist die Zeit endlich gekommen.«

2. WILLOW

Als ich am Abend in meinem zugigen Hausboot saß und an einer Tasse Tee nippte, wusste ich eigentlich schon gar nicht mehr, warum ich den Vertrag überhaupt unterschrieben hatte. Was, wenn der antiquarische Teil des Ladens gar kein antiquarischer Teil war, sondern sich dort eine Klappe zum Keller befand, in dem er naive Dummköpfe wie mich einsperrte und wer weiß was mit ihnen anstellte? Immerhin hatte er meinen Namen gewusst. Meinen vollen Namen. Vielleicht suchte er sich wahllos Neu-Absolventen irgendwelcher Studiengänge aus, die meinten, ihnen stünde die Welt offen und schickte ihnen seine dressierten Ratten? Rattenfänger … hatte er nicht irgendetwas in der Art gemurmelt?

Ich rührte ein Stück Kandis in meinen Tee und blickte nachdenklich nach draußen auf den Fluss.

Die ältere Lady auf dem Hausboot gegenüber frisierte gerade fröhlich ihre üppige Blumenpracht auf dem Oberdeck. Sie trug dabei immer einen Strohhut und rosafarbene Gartenhandschuhe, als würde sie den lieben langen Tag auf einem Erdbeerfeld schuften. Ihr schien eindeutig die Sonne aus dem Arsch.

Alle anderen Boote hier in Little Venice waren wesentlich farbenprächtiger und gepflegter als meines. Der Makler, dem ich auf den Leim gegangen war, hatte alle Register gezogen. Entweder stammten die Fotos, die er mir damals geschickt hatte, von einem ganz anderen Boot oder sie zeigten dieses hier vor einhundert Jahren.

Und genau das passierte, wenn man sich freute, ein Schnäppchen gemacht zu haben. Man musste den ganzen Tag heißen Tee trinken und im eigenen Wohnzimmer einen Wintermantel tragen. Der Kerl war natürlich auf und davon, nachdem er meine romantische Vorstellung eines Lebens auf dem Regent’s Canal ungehemmt zerstört hatte. So war das doch immer.

Ich hatte Glück, dass gerade Sommer war. Den Wintermantel musste ich erst abends aus dem Schrank holen und das Wasser draußen glitzerte so sehr, dass es die abgebröselte Farbe meines Wohnorts übertünchte. Trotzdem brauchte ich dringend Geld, wenn ich nicht mehr das hässliche Entlein des Kanals sein wollte.

Draußen fuhr ein Motorboot mit winkenden Touristen vorbei und ich beobachtete die kleine Welle, die über meine undichte Schwelle schwappte und erst kurz vor meinen Chucks Halt machte.

Okay, hässliches Entlein war nahtlos untertrieben. Ich stand kurz vorm Kentern. Und ohne Geld war keine Rettung in Sicht.

Ich zahle dir, was auch immer du willst.

»Gut, Mr. Hunt.« Mein Tee war inzwischen nur noch lauwarm. »Ihr Keller kann wohl kaum schlimmer sein, als hier draußen abzusaufen.«

Meine Nachbarin rief etwas zu mir herüber, das ich über die Entfernung nicht verstand, und winkte, dass ihre fülligen Wangen glühten.

Grüßend hob ich die Hand und nickte. Im Prinzip wusste ich, was sie sagen wollte, weil es immer dasselbe war.

Wollen Sie nicht mal Ihre Fassade streichen, Miss Bailey?

Oder an unserem wöchentlichen Nachmittagstee teilnehmen?

Immer nur die Nase in Ihren Büchern, das kann doch nicht gesund sein.

Die Wahrheit war: Ich mochte andere Menschen nicht besonders. Deshalb hatte ich auch nicht das Bedürfnis, ihr zu erzählen, dass ich nicht wie sie war. Oder wie die anderen netten Ladys beim Nachmittagstee.

Das Leben und ich hatten einander ein paar unschöne Dinge angetan. Allein Bücher hatten mich da wieder herausholen können. Andere Leben als dieses hier zu bereisen. Andere Welten als die reale, die mir so viel Schmerz bereitet hatte.

Ganz genau, ohne meine Bücher wäre ich jetzt nicht hier, sondern wahrscheinlich im Gefängnis, aber das wäre Ihnen am Ende vermutlich sogar lieber.

Müde betrachtete ich Superwoman auf meiner angeschlagenen Teetasse. Wie eine Heldin hatte ich mich gefühlt, als sie mir mein Zeugnis überreicht hatten. Wie jemand, der alles schaffen konnte. Es war wie der Beginn eines neuen Buches. Oder wie diese merkwürdige Sache im Laden vorhin. Als hätte Mr. Hunt alles schon vor langer Zeit für mich beschlossen. Du bist spät dran.

Es könnte also der Beginn eines Horror-Thrillers sein. Oder auch von etwas ganz Wunderbarem.

Man erfuhr nie, wo Wege endeten, wenn man sie nicht beschritt. Meine Nachbarin winkte wieder und ihr erneutes Rufen klang dabei noch etwas drängender. Diese Nachmittags-Tee-Kränzchen … Die waren definitiv ein Weg, den ich nie beschreiten würde.

3. WILLOW

Zwei Tage später

»Also, wir müssen eindeutig an den Bestelllisten arbeiten. Die Bücher unter Ihren Neuheiten sind zwar gut, aber eher Klassiker als wirklich neu.«

Ich hatte die Drachenstatue in die Tür gerückt, damit frischer Wind durch die Regale wehen konnte, den sie viel zu lange nicht gespürt hatten. »Mr. Hunt?«

Er war wieder irgendwo im hinteren Bereich verschwunden und tat alt und gebrechlich, wie immer, wenn er etwas nicht hören wollte. Soweit hatte ich ihn bereits durchschaut. Sein Körper besaß vielleicht ein paar Kerben und Falten, aber hinter der Fassade schlummerte ein wacher Geist. Und auch an meinem dritten Tag hier hatte er mich noch nicht in einem Kellerloch eingesperrt. Das ließ zumindest hoffen.

»Meine Güte, Kindchen, ein alter Mann ist kein D-Zug.« Humpelnd kam er aus dem Antiquariatsbereich und hängte die Kette hinter sich sorgsam wieder ein.

Ich blickte hinter meinem Laptop hervor, den ich mitgebracht hatte, weil er nichts besaß, außer eines alten Schnurtelefons und einer stotterten Registrierkasse aus dem vorigen Jahrtausend. War so etwas überhaupt noch legal?

»Wann werden Sie mir zeigen, was Sie da hinten verstecken, hm?«

»Vielleicht nie.« Seine blauen Augen blitzten lebhaft, während er sich umständlich die drei Stufen in den Ladenbereich hinuntermühte. »Es ist gefährlich dort hinten und du bist noch grün hinter den Ohren.«

»Grün hinter den Ohren?« Gequält verzog ich das Gesicht und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum.

»Ich habe ein ab…«

»…geschlossenes Literaturstudium«, beendete er meinen Satz und schüttelte bedauernd den Kopf. »Im Leben geht es um so viel mehr als um alberne Dinge, die dir ein anderer vorgibt.«

Er griff nach dem Gehstock, den er brauchte, wenn ihm die Arthritis wieder einmal in die Knochen fuhr, und kam auf mich zu. »Fremde Ziele. Fremde Titel. Fremde Grenzen. Du musst noch viel lernen, Miss Bailey. Denn was am Ende wirklich zählt, ist doch …« Direkt vor mir blieb er stehen und tippte mir mit seinem langen, knorrigen Finger auf die noch immer unruhige Hand. »… was du willst?«

Für einen Moment sah ich ihn nur an und zog eine Braue nach oben. Sein Gesicht wirkte heute noch verschmitzter als sonst. Als hätte man einen rotzigen Jungen in ein sehr altes, gebrechliches Gefängnis gesteckt.

»Was ich will? Die Namen Ihrer bisherigen Lieferanten, damit ich sie online kontaktieren kann. Das ist dann wohl eher etwas, das Sie noch lernen müssen, Mr. Hunt.«

»Mhm.« Er verzog die Lippen zu einem schmalen Strich und betrachtete mich, als käme ich von einem anderen Stern. Dann humpelte er hinüber zur Tür, um sie wieder zu schließen. »Weißt du, von zu viel frischem Wind kann man sich auch schnell mal eine Lungenentzündung holen, Kind.«

Als er im Lager nach meinen Listen suchte, konnte ich den Blick nicht von der baumelnden Kette abwenden. Gott, dieser verbotene Bereich zog mich magisch an, ich konnte nichts dafür. Verbotene Dinge waren am Ende doch immer die besten. Was versteckte der alte Kauz nur dort hinten? Was konnte so gefährlich sein, dass man nicht einmal einen Blick darauf werfen durfte? Nur einen einzigen! Einen klitzekleinen, kurzen, flüchtigen …

»Hier, bitteschön!« Mit einem satten Plumps ließ er einen Stapel Papier auf den Tisch vor mir niederfahren, der so viel Staub aufwirbelte, dass ich husten musste.

»Was ist das denn?« Entsetzt blätterte ich durch die handbeschriebenen Seiten. Das sollten alles seine Lieferanten sein? Das war unmöglich.

»Tja.« Lapidar zuckte er die schmalen Schultern. »Ich weiß nicht, welche davon überhaupt noch existieren. Dieser Laden ist schon sehr, sehr lange in meinem Besitz. Am besten du suchst die Antworten in deinem Internet.«

»Aber … Ihre letzten Lieferanten … die, die Ihnen … sagen wir, Harry Potter geliefert haben. Welche waren das?« Als ich von der wüsten Zettelwirtschaft aufblickte, war er bereits verschwunden.

Dieser Mann würde mich eines Tages noch in den Wahnsinn treiben, so viel stand fest.

»Also dann …« Tief seufzend legte ich das erste vergilbte Blatt neben meinen Laptop. »Komm schon, Internet. Wir beide müssen jetzt stark sein.«

Es war das pure Grauen. Die Zettelwirtschaft strapazierte meine Nerven stärker als der kindsköpfige Mr. Hunt. Und Google war eindeutig geduldiger als ich. Am Ende stopfte ich all das nutzlose Papier mit den wahllosen Namen, die wahrscheinlich mit einer Feder niedergeschrieben worden waren als noch Raubritter und Prinzessinnen durch Londinium getobt waren, einfach stöhnend in die Schubfächer unter der Kasse und tat einen neuen Händler für uns auf.

Einen aus diesem Jahrhundert, der eine Website besaß und gute Konditionen. Zumindest glaubte ich, das anhand meines BWL-Lehrgangs neben dem Studium beurteilen zu können.

Schlimmer geht nimmer, Willow!

Als langsam der Abend dämmerte und ich gerade die Pflanzen goss, die wohl das einzige waren, das Mr. Hunt nicht vernachlässigt hatte, klingelte hinter mir das Glöckchen an der Tür.

Ich traute meinen Ohren nicht und wuchs nahezu am Boden fest, als könnte jede noch so kleine Bewegung meine ersten Kunden direkt wieder vertreiben.

»Guten Tag«, sagte die süßliche Stimme einer Frau. »Schönes Schaufenster.«

Tjaha … Meine Brust schwoll vor Stolz auf doppelte Größe an, ich konnte nichts dagegen tun. Den kecken Highlander hatte ich in die letzte Ecke von Gefühlvolles verbannt, wo er auch ja niemanden mehr mit seiner haarigen Brust und seinem zu großen Selbstbewusstsein belästigen konnte. Dem Staub der letzten Jahrzehnte war ich unter Einsatz meines Lebens zu Leibe gerückt und musste allein schon niesen, wenn ich nur daran dachte.

»Harry Potter mag mein Sohn. Verkaufen Sie den Hut auch?«

Jetzt drehte ich mich doch zu der Dame um. Sie war füllig, trug ein geblümtes Kleid und einen Sonnenhut, als seien wir hier nicht in London, sondern an der griechischen Riviera auf einer Yacht.

Neben ihr stand ein sommersprossiger Junge und popelte voller Inbrunst.

»Nein, tut mir leid.« Ich stellte die Gießkanne ab und näherte mich den beiden höflich lächelnd.

Bitte nicht gleich die ersten Kunden vergraulen, Willow! Sei nett!

»Den Hut nicht, aber das Buch. Ich finde, da steckt so viel mehr drin, als in einem einfachen Hut.«

»Der Hut kann zaubern«, widersprach mir der Junge, ohne den Finger aus der Nase zu nehmen. »Sagt dir, wo du hingehörst. Slizlspin und so.«

»Slytherin«, korrigierte ich ihn freundlich. »Und der Hut ist eine Nachbildung. Den echten kannst du nur im Buch treffen.« Es stimmte. Ich hatte ihn im Primark um die Ecke besorgt, genau wie die Kerzen und Spinnweben, die das Schaufenster aktuell schmückten.

Es war jetzt ganz im Stil von J. K. Rowling, Tolkien und George R. R. Martin eingerichtet. Mehr aktuelles hatten wir nicht im Angebot. Und die Meisterwerke dieser Genies waren immer aktuell.

»Is ja voll bescheuert.« Die Augen des Jungen blitzten streitlustig.

Ja, genauso bescheuert wie Slizlspin, dachte ich und machte gute Miene zum bösen Spiel.

»Wissen Sie was …« Die Dame nahm ein Exemplar von Harry Potter vom Tisch und ging zielstrebig auf die Kasse zu. »Wir nehmen das hier mit, dann kann mein Kleiner sich bezüglich der Namen etwas weiterbilden.« Sie beugte sich zu der Rotznase hinunter, die mich noch immer wütend anfunkelte. »Komm, Taylor, Liebling. Dein Hut ist da drin.«

Ja, und Gleis 9 ¾, das dich einfach so verschwinden lässt.

Ich gab den Preis in die vorsintflutliche Kasse ein und verhedderte mich vor Aufregung dabei fast in der riesigen Zimmerpflanze neben dem Tresen, deren merkwürdige Blätter ich noch nie zuvor irgendwo gesehen hatte.

Sicher ein ähnliches Mysterium wie Mr. Hunt.

»Schönen Laden haben Sie.« Die Frau blickte sich um, während ich mit dem Ungetüm von Kasse kämpfte.

»Danke.« Gequält hämmerte ich auf die Taste mit der 1, aber sie reagierte nicht. Stattdessen sprang das Geldfach mit einem lauten Pling auf und ich erschrak mich fast zu Tode.

»Ist irgendwie magisch hier hinten.«

Mit hier hinten meinte sie sicher den letzten, gottverlassenen Winkel, in dem sich das Hunting Adventures befand.

Aber sie hatte recht. All die Büsten, Statuen und Blumen, die hier die Regale schmückten. Jetzt, wo ich alles gekehrt, sortiert und gebohnert hatte, war es, als würde die alte Seele dieses Ladens aus einem langen Winterschlaf erwachen. Ich konnte ihren tiefen Atem beinahe spüren.

»Ja, ich habe wirklich …« Als ich aufblickte, stand plötzlich ein weiterer Kunde vor mir. Ein Mann mit so hellem Haar, dass es fast weiß wirkte, was ungewöhnlich war, weil er eindeutig erst um die Dreißig sein konnte. Oder er hatte es gefärbt. War ja in heutzutage. Kantige Züge, helle Bartstoppeln, seine Kiefermuskeln arbeiteten. Und seine Augen … waren grau und starrten mich so durchdringend an, dass ich für einen Moment zu atmen vergaß. Diese Farbe war verdammt ungewöhnlich. Noch nie zuvor hatte ich solche Augen gesehen.

Was war eigentlich los mit ihm? Wollte er Steuern eintreiben? Mich verhaften, bevor ich überhaupt mein erstes Buch verkauft hatte?

Legen Sie den Potter zur Seite und Hände an die Wand!

Er wirkte jetzt nicht unbedingt wie ein Typ vom Finanzamt, aber der Schein konnte trügen. Sein Körper wirkte trainiert. Nicht so plump und viereckig wie der eines Kerls, dessen zweites Zuhause das Fitnessstudio war, nein, eher definiert und sehnig. Er schien mich eindringlich von oben herab zu mustern. Abschätzend wie ein Wolf, der nicht sicher war, ob er mich fressen oder einfach nur zum Spaß tot beißen sollte.

Und seine Kleidung … Eine Art Leinenhemd und Stoffhosen? War er auf dem Weg zu einer Convention?

»Was haben Sie wirklich?«, hakte die Frau nach und legte den Kopf schief, weil ich offensichtlich einen Satz unbeendet gelassen hatte. Hatte ich?

»Ähm … Ich habe … ja, wirklich …« Mein Stammeln brachte den Typen kein Stück aus der Ruhe. Nichts an ihm bewegte sich, außer seiner linken Augenbraue. Die wanderte beinahe amüsiert ein Stück nach oben, während ich mich unbehaglich wand.

Die Frau drehte sich um, als suche sie nach einem Auslöser für meinen spontanen Totalausfall.

»Macht 14 Pfund.« Etwas zu energisch streckte ich ihr das verkaufte Buch entgegen und sie presste die Lippen zusammen.

Verunsichert legte sie mir einen Zwanziger hin und ich gab ihr das Wechselgeld. Fluchend versuchte ich, die Schublade wieder zu schließen. Verdammtes Mistding! Komplett verkeilt.

»Und Sie? Sehen mir eher nach Game of Thrones aus, oder? Liegt da hinten auf dem Stapel«, richtete ich an den einsamen Wolf in der altertümlichen Kleidung.

Verstört drehte die Frau sich noch einmal zu mir um und der Kleine flüsterte ihr viel zu laut zu: »Da ist doch gar keiner. Die spinnt.«

Das Glöckchen klingelte, die Tür fiel zu und dieser Kerl starrte noch immer. War er der obligatorische Psycho, der in den Seitenstraßen von Großstädten sein Unwesen trieb?

Sein Gesicht war markant und starr. Wäre da nicht sein Dreitagebart gewesen, hätte ich gedacht, es sei aus Stein.

»Ja, also …« Ich gab den Kampf mit der Kassenschublade auf und erwiderte seinen Blick verunsichert. Gott, dieser Typ machte mir eine Gänsehaut. »Game of Thrones? Sie wissen schon … Schwerter. Pferde. Wein. Ein gewitzter Zwerg. Drachen. Frauenpower und ein brutales Reitervolk. Viel Blut und Sex und …«

Hör auf zu plappern, Willow!

Der Kiefer des Fremden mahlte. Er roch nach einem kalten Tag am Meer. Und nach Wald. Einem dunklen Wald, in dem man ständig fürchten musste, dass gleich ein merkwürdiges Wesen zwischen den Bäumen hervorsprang, das vorhatte, einen in Stücke zu reißen. Sein Blick krabbelte quälend langsam an mir herab, wieder hinauf und verhakte sich erneut in meinem.

Dann drehte er sich wortlos um und ging zielstrebig auf die Stufen zu, die das Antiquariat vom Laden trennten.

»Hey«, rief ich, als ich merkte, was er vorhatte. Er war so groß, dass er einfach über die Kette steigen konnte.

War dieser Kerl vollkommen bescheuert? Konnte er nicht lesen, oder was?

»Hey, Mister. Dieser Bereich ist verboten.« Unbeholfen sprang ich hinter meinem Tresen hervor und hastete ihm nach. »Hey!« Er drehte sich nicht einmal um und lief in aller Seelenruhe den verbotenen Gang entlang. Mein Herz rumorte, so wütend war ich und meine bebenden Hände brauchten drei Versuche, bis ich die Kette aus ihrer Verankerung gehakt hatte.

Beinahe ehrfürchtig blieb ich auf der obersten Stufe stehen und deutete auf ihn, als könnte ich mit bloßem Finger auf ihn schießen. »Stehenbleiben oder ich …«

Das wirkte offenbar, denn er hielt inne und neigte den Kopf ein Stück, um mich ansehen zu können.

Ein Blitzen huschte durch seine hellen Augen und einer seiner Mundwinkel zog sich ein Stück nach oben.

Gott, wenn Mr. Hunt das mitbekäme, er würde … ja, keine Ahnung was, aber er wäre bestimmt verdammt sauer.

Der Kerl wollte sicher irgendetwas Teures entwenden, das mein Chef dort hinten aufbewahrte. Den Einen Ring vielleicht oder einen Nimbus 2000.

»Ich warne Sie das letzte Mal«, versuchte ich mich noch einmal an einer Drohung wie eine Mutter, die bis drei zählt und selbst nicht weiß, was nach dieser Drei passieren soll.

Seine Brust hob und senkte sich ruhig, ich konnte es an seinem breiten Rücken erkennen und er ballte die Hände zu Fäusten. Dann verschwand er in einer fließenden Bewegung um die Ecke, in einen der Räume, die mir strengstens verboten waren. Moment. Nicht nur mir. Jedem. Auch ihm! Besonders ihm!

Neben mir an der Wand lehnte der Stock von Mr. Hunt und ich griff ohne nachzudenken danach, um dem verfluchten Dieb nachzusetzen.

»Ich hatte Sie gewarnt! Jetzt sollten Sie besser machen, dass Sie hier rauskommen, weil ich sonst …« Als ich gerade um die Ecke biegen wollte, hinter der er verschwunden war, lief ich direkt in Mr. Hunt. So hart und unerwartet, dass ich verblüfft auf den Hintern fiel.

Wie ein böser Prophet blickte er auf mich herab, als sei ich hier das Problem und nicht …

»Haben Sie diesen Kerl nicht gesehen? Er muss doch …« Verdutzt kratzte ich mir am Kopf und versuchte an ihm vorbeizuspähen. Ehe ich mehr erkennen konnte als ein mit Regalen gefülltes, abgedunkeltes Zimmer, das herrlich nach altem Papier und Holz duftete, stellte er sich mir in den Weg. »Ich glaube, das gehört mir.« Seine dürre Hand griff nach dem Stock, den ich noch immer umklammert hielt.

»Aber …«, stotterte ich, »Er muss direkt an Ihnen vorbeigekommen sein.« Und überhaupt … wie konnte ich mit diesem klapprigen alten Mann zusammengestoßen sein wie mit einer Felswand? Er war doch eigentlich derjenige, den ich hätte umrennen müssen?

»Dieser Kerl, er …« Hilflos deutete ich in den Raum.

»Dieser Bereich ist verboten, Miss Bailey«, sagte er mit strenger Stimme, als sei ich vollkommen bescheuert.

»Ach, was Sie nicht sagen! Erzählen Sie das dem blonden Sonderling im Faschingskostüm, der sich wahrscheinlich gerade hinter Ihrem Rockzipfel versteckt, damit ich ihm keine überbraten kann.«

Mr. Hunt musterte mich eine Weile nachdenklich aus seinen wässrigen Augen und griff dann nach meinem Arm, um mir aufzuhelfen.

»Du hast hier hinten nichts verloren, Kind.« Pseudoklapprig und auf seinen Stock gestützt, machte er sich auf den Rückweg zum Verkaufsbereich. Du alter Heuchler!

Verstohlen tastete ich mich ein Stück rückwärts, um einen weiteren Blick in den Raum werfen zu können, in dem der Unbekannte verschwunden war. Wir konnten ihn hier doch nicht einfach so alles ausräumen lassen!

»Miss Bailey!«, rief mein Boss so scharf, dass ich zusammenfuhr. »Nicht alle Bücher erzählen nur nette Geschichten von Zauberlehrlingen in Wandschränken.«

Freudlos lachend zog ich die Brauen zusammen. »Also, um genau zu sein …«

»Komm jetzt gefälligst!«, erstickte er meinen Ansatz eines Vortrages über Literaturgeschichte im Keim und behielt wachsam im Auge, dass ich ihm auch ja folgte.

Kopfschüttelnd blickte ich ihm nach und wusste nicht, was ich beunruhigender finden sollte: Dass sich hier grauäugige, stumme Hünen herumtrieben, die in der Sperrzone ein und aus gehen durften, wie es ihnen beliebte oder dass mein Arbeitgeber offenbar so einiges mehr auf dem zerfurchten Kerbholz hatte, als er mir vorspielte.

Wo bist du hier nur wieder hineingeraten, Willow Bailey?

4. WILLOW

Während mein Teekessel auf dem Gasherd pfiff, kam mir nach und nach der Traum wieder in den Sinn, der mich letzte Nacht heimgesucht hatte und wegen dem ich jetzt hier vor meinem abgewetzten Küchenbuffet hing wie Falschgeld.

Brummend wischte ich mir übers Gesicht. Was für eine irre Nacht!

Meine Augen fühlten sich verquollen an und mein Geist vernebelt. So musste Mr. Hunt sich fühlen, wenn er wieder einmal so tat, als sei er zweihundert Jahre alt, dieses Schlitzohr. Er wirkte manchmal vielleicht gebrechlich und unzurechnungsfähig, aber er war nichts von alledem, dessen war ich mir absolut sicher. Irgendetwas verbarg er. Und damit meinte ich nicht allein die verbotene Abteilung. Dieser Laden war mehr. Ich konnte nur hoffen, dass er mich nicht in irgendetwas Illegales hineinzog, denn dann war es ganz schnell aus mit dem Neuanfang.

Was wenn er in Wahrheit der umtriebigste Drogendealer ganz Londons war und dort hinten bergeweise Stoff bunkerte? Und dieser schweigsame Kerl gestern war einer seiner besten Kunden?

Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, während sich das kochend heiße Wasser in meine Tasse ergoss.

Verdammt, das klang viel zu naheliegend.

Schwer schluckend kramte ich mein Taschenmesser aus der Schublade unter dem Waschbecken hervor und sah dabei, dass meine Nachbarin bereits auf der anderen Kanalseite parat stand, um ihr blumiges Werk von Boot vom Ufer aus zu betrachten. Jede Blüte saß genau da, wo sie sie haben wollte.

Was war los mit dieser Frau? Es konnte doch noch nicht mal sieben sein und sie werkelte schon wieder an ihrem schwimmenden Garten. Ganz offensichtlich hatte sie eine Art Zwangsstörung.

Menschen …

Nachdenklich schob ich mir das Stück Kandis in den Mund, das eigentlich für den Tee gedacht gewesen war, und steckte das Messer in die Tasche meiner Jeans.

Man konnte nie wissen.

Und dieser Traum hatte es nicht besser gemacht. Lautstark schlürfend ließ ich mich auf mein Sofa sinken und beobachtete die kleine Welle, die sich aus dem schmutzigen Fluss zu mir gesellte.

Mr. Hunt hatte wesentlich jünger ausgesehen. Verschlagen. Und seine Schultern waren voller Ratten gewesen. Der nächste Schluck Tee verbrannte mir die Zunge, aber ich registrierte es kaum. Diese Ratten hatten mich aus glühend roten Augen angestarrt und er hatte sie auf mich gehetzt.

Ich war gerannt. Durch endlose Seitengassen, Nebel und Dunst. Und schließlich hatte ich mich zwischen zwei großen Müllcontainern versteckt. Die Ratten waren riesig gewesen, vollkommen absurd. Genau wie Mr. Hunts plötzlicher Jungbrunnen. Aber ich hatte sie täuschen können. Sie waren an mir vorbeigehuscht, ohne mich zu entdecken. Trotzdem konnte ich diese Angst noch immer spüren, die nackte Panik, dass sie mich doch noch fanden. Selten bescherten mir Träume so reale Gefühle wie dieser.

Noch ein Schluck meines Morgentees und ich registrierte nur schwach am Rande, dass meine blumige Nachbarin mir den obligatorischen Gruß sendete, so versunken war ich in der Erinnerung an letzte Nacht.

Die Container hatten nach alten Büchern gerochen und kaum waren die Ratten fort gewesen, hatten mich zwei Hände wie Schraubstöcke an den Schultern gepackt und aus meinem Versteck gezerrt. Graue Augen, helles Haar, starre Miene. Der rätselhafte Kerl aus dem Laden … Er drückte mir einen Hut auf den Kopf, ich hatte keine Chance, obwohl ich mit den Armen ruderte und gegen ihn kämpfte, so gut es ging. Er war stark wie ein Bär.

»ARKINOW!«, dröhnte der Hut in meinem Kopf. »ARKINOW!« Und es fühlte sich so viel grausamer an als es klang. Dieser Name ging mir durch und durch. Folgte mir zurück in die Realität und malträtierte noch immer meinen Schädel wie ein hartnäckiger Parasit.

Arkinow …

Ich hatte es noch im Bett gegoogelt und absolut nichts gefunden, was von Interesse gewesen wäre.

Das Wort war jetzt auf Papier gebannt und lag auf meinem Nachttisch. Ein hingekritzeltes, krummes Arkinow mit drei Fragezeichen dahinter.

Als ich beim Hunting Adventures eintraf, um pünktlich meine Schicht anzutreten, stand mein Boss vor der offenen Tür in der Gasse und starrte auf den Schlüssel in seiner Hand. Er trug noch seine antike Ledertasche über der Schulter, war also ebenfalls gerade erst angekommen. Ein Adrenalinschub raste durch meinen Körper. Ich war Expertin im Kombinieren. Offene Tür, ratloser Chef, der sich die Haare raufte, früher Morgen … Einbruch. Jemand musste eingebrochen sein.

»Zurück, Mr. Hunt!« Ich zückte mein Messer und schob ihn hinter mich, immerhin war er alt und gebrechlich, zumindest körperlich. Ein leichtes Opfer für einen maskierten Bösewicht.

»Hey!«, brüllte ich noch, bevor ich in den Laden stürmte. »Hey, wer auch immer da drin ist, hier gibt es nichts zu holen!«

Mit einem Satz war ich durch die Tür und richtete meine stumpfe Klinge auf eine Million unsichtbare Feinde gleichzeitig.

Mein Herz pochte mir gegen die Rippen, aber hier war rein gar nichts zu hören, außer dem Keuchen meines eigenen Atems.

Der Drache stand, wo er immer stand, die andere Statue war ebenso unversehrt und auch die Pflanzen und Blumen hatten mir offensichtlich nichts zu berichten.

Die alte Kasse ragte auf ihrem Tisch auf wie ein Fels in der Brandung. Mit ihr würde ein ungehobelter Rohling sicher nichts zu lachen haben, wo sie sich doch schon mit Händen und Füßen gegen mich sträubte.

»Ich sehe hinten nach.« Mr. Hunt wehte an mir vorbei wie der Nordwind und war mit einem erstaunlich behänden Satz die Stufen hinauf und in seinem Antiquariat verschwunden.

Kopfschüttelnd sah ich ihm nach und kontrollierte vorsichtshalber jede Nische zwischen den Regalen. Nichts.

Als er zurückkam, war er wieder auf seinen Stock gestützt und sein Blick weit weniger fahrig.

»Ich muss vergessen haben, abzuschließen. Sehr dumm. Wirklich dumm. Wen möchtest du mit dem Zahnstocher da eigentlich piksen, mein liebes Kind?« Ah ja, sein Humor war zurück. Offenbar hatte man sein heiß geliebtes Geheimlabor nicht geplündert.

»Ihren knochigen Hintern, wenn Sie weiter glauben, Sie könnten mir etwas vormachen.« Fluchend schob ich mein Messer zurück in die Tasche. »Was ist da hinten, Mr. Hunt? Ziehen Sie mich hier in etwas Dubioses rein? Mischen Sie Crystal oder unterhalten einen Schwarzmarkt? Wer war der Kerl gestern? Ihr Enkel? Ein Kunde? Ein geheimer Drogenmischer? Ich habe kein Bedürfnis, hier im Laden einen auf die Mütze zu bekommen, okay?« Ich dachte an graue Augen und diesen Hut und an … Arkinow.

»Und selbst?« Verschmitzt grinsend kam er auf mich zu. »Habe ich eine Kriminelle eingestellt, hm?« Seine blauen Augen hingen amüsiert an der Tasche, in die ich das Messer gesteckt hatte.

Unerhört!

»Kein Stück!«, empörte ich mich und schwindelte doch ein klein wenig dabei. Bei mir war einiges nicht so gelaufen wie bei anderen. Ab dem Tag, an dem mein Vater sich totgesoffen, und meine Mutter mich in einem Heim abgesetzt hatte, damit sie sich aus dem Staub machen konnte.

Danach waren eine Menge miese Dinge passiert. Eine Flucht aus der Einrichtung, ein paar Diebestouren, um an Essen zu kommen, dann eine Schule für Schwererziehbare … Für viele das Ende, für mich war sie der Anfang.

Aber das ging ihn nichts an. Es ging niemanden etwas an.

»Wir sprechen hier gerade über Sie«, erinnerte ich ihn.

»Wir sprechen nicht, du sprichst«, entgegnete er herausfordernd. Er dachte offenbar, nur weil er antik und runzlig aussah, konnte er sich alles erlauben. Ich hingegen legte keinen Wert auf Etikette oder Höflichkeiten, deshalb war mir bumsegal, wie alt er war.

»Du verstehst es noch nicht.« Er tippte mir mit dem langen Finger an die Schulter. »Jeder landet genau dort, wo er landen muss, Kind. Es gibt keine Zufälle oder falsche Abzweigungen. Alles ist richtig, nichts ist Willkür. Du bist richtig hier. Aber du wirst es noch verstehen. Wirst noch sehen, wie sich das Bild zusammenfügt.« Sein Kopf deutete nach oben zu den Fresken und er zwinkerte mir vielsagend zu.

»Weißt du, ich habe sicher nur vergessen, abzuschließen. Aber ich könnte sicherlich jemanden gebrauchen, der nachts hier ist. Nur zur Sicherheit natürlich. Also damit ich mich sicher fühle.« Das waren verflucht viele sicher in seinen Ausführungen. Das bedeutete meistens, dass es ganz und gar nicht sicher war.

»Ich zahle dir das Doppelte und du müsstest nichts anderes tun als hier sein und mir Bescheid geben, falls dir etwas komisch vorkommt. Meine Aufmerksamkeitsspanne lässt inzwischen leider schnell nach. Das ist nicht gut in solch merkwürdigen Zeiten.« Er blickte gedankenversunken in die Ferne. »Merkwürdige Zeiten, in der Tat«, fügte er schließlich noch hinzu.

Doppeltes Gehalt, echote ein gieriges Stimmchen in meinem Kopf, der sich bereits ausmalte, wie ich so mein Hausboot mit noch mehr Blumen ausstatten konnte als meine angeberische Nachbarin. Wie ich nicht länger mit dem Wasser des Flusses in einer WG leben musste. Wie ich mir statt eines pfeifenden Kessels einen Wasserkocher zulegen konnte. Mit Ionen und Filter und all dem Schnickschnack.

»Sie sind kein Drogendealer!« Mein Finger bohrte sich in seine schmale Brust.

»Keine Drogen«, erwiderte er ernst.

»Und auch kein Mafioso oder Verbrecher mit einem Schwarzmarkt«, fügte ich vorsichtshalber hinzu.

»Kein Verbrecher.« Seine Antwort kam mir aufrichtig vor. Natürlich musste man immer skeptisch bleiben, aber wenn er mich hätte einsperren oder abmurksen wollen, hätte er es doch längst getan, oder nicht?

»Okay.« Ich betrachtete ihn aus schmalen Augen. »Okay, dann mache ich es.«

5. WILLOW

Mr. Hunt schärfte mir bei Sonnenuntergang noch einmal eindringlich ein, dass ich mich von dem abgesperrten Bereich fernhalten sollte, während ich gerade meine Stricksachen und die 80er-Playlists sortierte.

»Mr. Hunt. Je öfter Sie verbotene Dinge ansprechen, desto spannender machen Sie sie, okay? Haben Sie so etwas nie in Büchern gelesen?«

»Keine Bücher«, sagte er, als würde er das ernst meinen. »Zu riskant. Man könnte darin verloren gehen.«

Witzbold!

»Du nimmst umgehend Kontakt zu mir auf, wenn dir etwas Ungewöhnliches auffällt, verstanden?« Das schien ihm wirklich wichtig zu sein, denn er hatte seine Nummer groß und breit auf das vergilbte Schnurtelefon geklebt.

»Ja, Sir, Boss, Sir«, scherzte ich und salutierte vor ihm.

»Gut.« Er sah sich noch einmal um, als er die Ledertasche schulterte und sein Blick wirkte fast etwas bang dabei. »Gut, ist in Ordnung. Alles in Ordnung.«

Manchmal machte ich mir ernsthaft Sorgen, seine Platte könnte inzwischen einen Sprung haben. Vielleicht passierte so etwas im Alter.

»Jetzt ab mit Ihnen. Ich komme schon klar.«

Aha, Wham!, Cyndi Lauper, Phil Collins …

»In Ordnung.« Seine gerunzelte Stirn trieb mich noch in den Wahnsinn. »Dann bis morgen früh. Ich übernehme die Tagschicht.«

»Sehr wohl.« Ja, 24h-Schichten wären mir dann doch zu hart gewesen, selbst wenn ich dabei nichts weiter würde tun müssen, als Däumchen zu drehen und neue Strickmuster zu kreieren.

Er verschwand und spähte noch ungefähr zehnmal durch die Scheibe, als er draußen vorbeiging, als würde ich sofort aufspringen und sein Antiquariat verwüsten, sobald er mich aus dem Blick verlor.

»Das allsehende Auge Saurons«, murmelte ich vielsagend in Richtung der Drachenstatue, die aus kühlen Steinaugen zurückstarrte. Vielleicht hatte er ja Kameras darin installiert, der alte Schelm. Ich an seiner Stelle hätte es getan.

Der verstaubte Schaukelstuhl zwischen den Bereichen Fantastisches und Gefühl kam mir gerade recht, denn ich hatte ihn ehrenvoll als mein Strick- und Disco-Domizil auserwählt. Die kleine Lampe neben der wuchtigen Kasse verbreitete ein angenehm warmes Licht, als ich an dem Band zog, das von ihrem Schirm baumelte. »Oh, sieh an, er weiß, was Elektrizität ist«, spottete ich, während ich mich in die weichen Kissen sinken ließ.

Die Kufen knarzten leise unter mir, als ich zu schaukeln begann. Ob das hier einmal Mrs. Hunts Stammplatz gewesen war? Genau, er musste überhaupt nicht hierbleiben, weil der Geist seiner verstorbenen Frau mich ohnehin immer im Blick hatte.

Du hast eine rege Fantasie, mein zartes Pflänzchen, hatte Miss Marple immer gesagt.

Zu rege, hatte ich entgegnet.

Eine zu rege Fantasie gibt es nicht, entwaffnete sie mich daraufhin jedes Mal. Eine wunderbare Frau, meine Miss Marple, und ja, so hieß sie wirklich. Nach meiner rasanten Fahrt nach unten in die kleinkriminellen Gefilde war es nämlich auch wieder bergauf gegangen. Allein ihretwegen. Miss Marple hatte mir in dieser Einrichtung für Schwererziehbare alle Buchklassiker dieser Erde vorgelegt. Faust, Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Dracula, Beowulf, Romeo und Julia, Robinson Crusoe, Moby Dick … Ich verschlang sie alle. Es war wie eine Offenbarung gewesen. Andere Welten holten mich aus meiner eigenen verkorksten heraus und zeigten mir, wie vielfältig und schön das Leben sein konnte. Sie öffneten mir die Augen für all die farbigen Schlieren in dem tristen Grau meines Daseins. Miss Marple lehrte mich Geschichte, Mathematik und so einiges über die Welt, besorgte mir ein Stipendium und ich schloss mein Literaturstudium mit Auszeichnung ab. Ich verdankte ihr so viel. Leider hatten wir uns nun schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.

Mein MP3-Player spielte Sweet Dreams von den Eurythmics und während das letzte Licht des Tages draußen hinter den Häusern verschwand, beschloss ich, Mr. Hunt eine verrückte, bunte Mütze zu stricken, die seinem gewitzten Gemüt entsprach.

»Ich hoffe, es ist okay, wenn ich hier sitze, Mrs. Hunt«, sagte ich etwas zu laut über meine Musik hinweg, obwohl ich gar nicht wusste, ob der Geist seiner Frau tatsächlich hier war. Ich wusste ja nicht einmal, ob sie überhaupt gestorben war oder er jemals eine gehabt hatte.

Egal. Vorsichtshalber konnte man ja um Erlaubnis bitten.

Die Stricknadeln klapperten aneinander und für einen Moment wartete ich quasi drauf, dass ein Stapel Bücher aufgebracht aus einem der Regale flog oder die Registrierkasse mit ihrem üblichen Getöse neben mir aufsprang. Doch außer Annie Lennox’ grandioser Stimme, die mich hinüber in die Nacht begleitete, war kein Laut zu vernehmen.

Phil Collins folgte mit In the Air tonight und wurde danach von Tainted Love, Eye of the tiger und Boat on the river abgelöst.

Oh, ich stand so sehr auf diese Musik. Andere in meinem Alter zogen sich Lady Gaga oder Justin Bieber rein und hatten Spaß mit Yogscast auf Youtube, ich strickte eben und gab mir Kim Wilde zu ihren besten Zeiten. Wahrscheinlich hatte ich deshalb keine Freunde an der Uni.

Sonderbar, so hatten mich meine Kommilitonen gern genannt.

Aber das war für mich nie etwas Negatives gewesen, sondern eher ein Kompliment.

Der Laden lag mittlerweile gänzlich im Schatten. Die Bilder über mir kamen zur Ruhe, die Stimmen in den Zeilen der Bücher wurden gedämpfter. Und ich sah beinahe nichts mehr von dem weitläufigen Raum, außer dem Quadratmeter, den die kleine Lampe beleuchtete.

Im Schein der Glühbirne nahm der erste Strang von Mr. Hunts Mütze bereits Gestalt an. Grün, rot und gelb. Vielseitig wie seine Geheimnisse. Und einen verwegenen Bommel würde sie auch noch bekommen, oh ja.

Als ich gerade den Song wechseln wollte, flatterte etwas direkt vor mir auf die Bestellliste neben der Lampe und ich erschrak so sehr, dass ich beinahe mit dem Schaukelstuhl umkippte.

»Was zum …« Fast hätte ich geschrien wie ein Mädchen. Was war das? Eine Fledermaus? Dracula? Ein verwunschenes …

Was in drei Teufels Namen …

Ich beugte mich ein paar Zentimeter nach vorn, um es besser betrachten zu können. Es bewegte gemächlich die bläulich gefärbten Flügel und zuckte mit seinen haarigen Fühlerchen in meine Richtung.

Eine Motte, Willow, du ausgemachter Hosenschisser! Du bist wegen einer Motte eskaliert. Herzlichen Glückwunsch!

Aber dieses Tierchen …