Trauer als Entwicklungsprozess - Ingrid Jope - E-Book

Trauer als Entwicklungsprozess E-Book

Ingrid Jope

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Beschreibung

Diplomarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,0, FOM Hochschule für Oekonomie & Management gemeinnützige GmbH, Frankfurt früher Fachhochschule, Sprache: Deutsch, Abstract: Trauer gehört zum Leben. Was wäre das Leben ohne die Liebe? Wer liebt, geht das Risiko des Verlusts ein. Darum sind Verluste Teil eines gelingenden Lebens, Trauer als natürliche Reaktion auf Verluste ebenfalls. Wer sich vor dem Tod schützen will, um dem schmerzlichen Gefühl der Trauer auszuweichen, indem er sich nicht auf Beziehung und Veränderung einlässt, ist eigentlich schon tot. Folglich behandle ich Trauer in der vorliegenden Arbeit als etwas, das zum Leben gehört. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, wie schmerzhaft und durcheinanderrüttelnd Trauer auslösende Ereignisse sein können. Verlustkrisen bringen Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und nicht selten darüber hinaus. Darum möchte ich nicht der Gefahr erliegen, bagatellisierend an diese im einzelnen Schicksal oft als unbegreifliche Katastrophe erlebte Thematik heranzugehen. Mir ist bewusst: Trauerbegleitung ist keine leichte Aufgabe. Sie erfordert neben einem hohen Maß an Empathie und dem Bewusstsein für die Unbegreiflichkeit des Geschehens einiges Wissen über Trauerabläufe. Manches, was auf den ersten Blick pathologisch aussieht, kann in Wirklichkeit Ausdruck eines gesunden Trauerprozesses sein. Anderes, was gesund und stark wirkt, kann einer verdrängten, lebenshemmenden Art zu trauern entspringen. Um Trauer besser zu verstehen und Erkenntnisse für sozialpädagogische Begleitung von Trauerarbeit zu gewinnen, betrachte ich Trauer aus dem Blickwinkel von Entwicklung. Diese Sicht verharmlost Verlustkrisen nicht, sondern ermöglicht Hoffnung auf Licht am Ende des Tunnels von Verzweiflung, Schmerz und Unfassbarkeit. Ein Trauernder wird am Ende des Trauerprozesses nicht mehr derselbe sein. Im besten Fall ist er trotz aller Verwundungen in seiner Persönlichkeit gereift und den Herausforderungen des Lebens besser gewachsen als vorher. Konkret stelle ich zu Beginn dieser Arbeit die These auf, dass Trauer weder als zementierter Zustand noch als Lebenshindernis, sondern als Entwicklungsprozess zu verstehen ist und dass dieses Verständnis aufschlussreiche Erkenntnisse ermöglicht für eine sozialpädagogische Trauerbegleitung unter besonderer Berücksichtigung kreativer Medien.

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Inhaltsverzeichnis
1. Trauer als Entwicklungsphänomen
1.1 Zum Verständnis des Trauerprozesses
1.1.1 Die Bedeutung der Trauer für das menschliche Leben
1.1.1.1 Zur Definition von Trauer
1.1.1.2 Trauer als angemessene Reaktion auf Verlust
1.1.1.3 Vielfalt von Traueranlässen
1.1.1.4 Das Trauma des Verlusts
1.1.2 Trauer im Kulturvergleich
1.1.2.1 Trauer zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen
1.1.2.2 Die Problematik der Trauer in unserem Kulturkreis heute
1.1.3 Trauer verstehen und bewältigen
1.1.3.1 Die Vielschichtigkeit von Trauer
1.1.3.2 Die Bedeutung von Abwehrprozessen im Rahmen von Trauer
1.1.3.3 Faktoren, die den Verlauf von Trauer beeinflussen
1.1.3.4 Trauerphasen und Traueraufgaben
1.1.3.5 Die Problematik pathologisch verlaufender Trauerprozesse
1.1.3.6 Folgen lebenshemmender und lebensfördernder Trauer
1.1.3.7 Heilsamer Umgang mit Trauer
1.1.4 Abrundung: Trauer als Chance
1.2 Die Verknüpfung von Trauer und Entwicklung
1.2.1 Kegans Verständnis von Entwicklung
1.2.1.1 Konstruktion und Entwicklung als psychologische Grundlage
1.2.1.2 Bedeutungsbildung als Grundprozess der Persönlichkeit
1.2.1.3 Interaktion des Organismus mit der Umwelt als Motivation für
1.2.1.4 Entwicklung als Äquilibration durch Adaptation
1.2.1.5 Differenzierung und Integration
1.2.1.6 Die Dualität menschlicher Existenz

Page 1

Page 3

1.2.1.7 Die Funktion der einbindenden Kultur45

1.2.1.7.1 Festhalten - Bestätigung46

1.2.1.7.2 Loslassen - Widerspruch46

1.2.1.7.3 In der Nähe bleiben - Fortdauer46

1.2.1.8 Der Umgang mit Menschen in Krisen47

1.2.2 Trauer als Entwicklungsprozess 49

1.2.2.1 Entwicklungstypische Merkmale des Trauerprozesses49

1.2.2.2 Eine Deutung des Trauerprozesses aus der Perspektive von Kegans52Entwicklungsverständnis

1.2.2.2.1 Zum Stichwort Konstruktion und Entwicklung52

1.2.2.2.2 Zum Stichwort Bedeutungsbildung53

1.2.2.2.3 Zum Stichwort Motivation53

1.2.2.2.4 Zum Stichwort Äquilibration54

1.2.2.2.5 Zum Stichwort Differenzierung und Integration55

1.2.2.2.6 Zum Stichwort Streben nach Zugehörigkeit und55Unabhängigkeit

1.2.2.2.7 Zum Stichwort einbindende Kultur56

1.2.2.2.8 Zum Stichwort Umgang mit Menschen in Krisen56

1.2.2.2.9 Zusammenfassung in acht Aspekten57

1.2.3 Konsequenzen für die Begleitung von Trauerarbeit 58

1.2.3.1 Konsequenz aus Aspekt 1: Trauer als Prozess, in dem der58

Trauernde schöpferisch aktiv ist

1.2.3.2 Konsequenz aus Aspekt 2: Trauer ist Ausdruck einer58Bedeutungsbildungskrise

1.2.3.3 Konsequenz aus Aspekt 3: Motivation durch Interaktion von59

Faktoren im Selbst und in der Umwelt

1.2.3.4 Konsequenz aus Aspekt 4: Der Trauernde befindet sich in einer59

1.2.3.5 Konsequenz aus Aspekt 5: Ein gesund verlaufender Trauerprozess60

beinhaltet Differenzierung und Integration 1.2.3.6 Konsequenz aus Aspekt 6: Das Streben nach Zugehörigkeit und60

Unabhängigkeit sind gleichbedeutend

Page 4

1.2.3.8 Konsequenz aus Aspekt 8: Verlustkrisen als Chance zum61Wachstum behandeln 1.2.3.9 Schlussbemerkung62

2. Trauerbegleitung als sozialpädagogische Aufgabe 63

2.1 Trauerbegleitung als Arbeitsfeld sozialer Arbeit 63

2.2 Inhaltliche Konturierung professioneller sozialpädagogischer 65 Arbeit

2.2.1 Die Dialektik sozialpädagogischer Arbeit65

2.2.2 Grundaspekte erzieherischen Handelns nach Schleiermacher als66

Grundaspekte sozialpädagogischen Handelns 2.2.2.1 Sorge tragen662.2.2.2 Mitwirken672.2.2.3 Unterstützen67

2.2.2.4 Balance als verbindender Aspekt68

2.2.3 Eine Handlungskonzeption als Grundlage für professionelles69sozialpädagogisches Handeln

2.2.3.1 Vier Elemente einer pädagogischen Handlungskonzeption69

2.2.3.2 Themenzentrierte Interaktion (TZI) als sozialpädagogische70Handlungskonzeption 2.2.3.2.1 Situationsdeutung702.2.3.2.2 Vision712.2.3.2.3 Haltung722.2.3.2.4 Methode72

2.3 Trauerprozessbegleitung als professionelles sozialpädagogisches 72 Handeln2.3.1 Situationsdeutung732.3.2 Vision742.3.3 Haltung762.3.4 Methode78

2.4 Die Verortung sozialpädagogischer Trauerbegleitung zwischen82

unproblematisch ablaufender Trauer einerseits und Bewältigung krankhaft blockierter Trauer durch Psychotherapie andererseits

Page 5

3. Sozialpädagogische Begleitung des Trauerprozesses mit 83 kreativen Medien

3.1 Vorbemerkungen 83

3.2 Die Chance kreativer Verfahren für 84

3.2.1 Im Bezug auf Trauer als Prozess, in dem der Trauernde84schöpferisch aktiv ist

3.2.2 Im Bezug auf Trauer als Bedeutungsbildungskrise86

3.2.3 Im Bezug auf Motivation zur Entwicklung durch Interaktion88

von Faktoren im Selbst und in der Umwelt 3.2.4 Im Bezug auf Trauer als Erfahrung von Ungleichgewicht und91dem Ringen um Adaptation

3.2.5 Im Bezug auf Differenzierung und Integration als Elemente93von Trauerarbeit

3.2.6 Im Bezug auf das Streben nach Zugehörigkeit und95

Unabhängigkeit im Trauerprozess

3.2.7 Im Bezug auf Trauerbegleitung als einbindende Kultur96

3.2.8 Im Bezug auf Verlustkrisen als Chancen zum Wachstum97

3.3 Ergänzung des Handlungskonzeptionselements Methode 98

3.3.1 Strukturieren durch TZI-Gruppenregeln98

3.3.2 Strukturieren durch Aufgaben - ein Blick in die Praxis98

3.4 Umsetzung in die Praxis 101

Page 6

3.4.1.3 Bildnerisches Gestalten1043.4.1.4 Intermediale Quergänge1053.4.1.5 Kreativ gestaltete Rituale105

3.4.2 Planung einer Trauerbegleitungsgruppe1073.4.2.1 Beispiel für eine Ausschreibung1073.4.2.2 Geplanter Ablauf1083.4.2.2.1 Ein Wochenende als zeitlicher Rahmen1083.4.2.2.2 Sieben Abende in wöchentlichem Abstand als111zeitlicher Rahmen 3.4.2.3 Einzelheiten zur Durchführung115

Schluss: Trauer - ein Thema zum Leben 117

Anhang I

•Literaturverzeichnis

Anhang II

•Herbert Grönemeyer: Unbewohnt (Liedtext)

•Herbert Grönemeyer: Der Weg (Liedtext)

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Diplomarbeit Ingrid Jope Trauer als Entwicklungsprozess

Einleitung: Trauer gehört zum Leben

Was wäre das Leben ohne die Liebe? Wer liebt, geht das Risiko des Verlusts ein. Darum sind Verluste Teil eines gelingenden Lebens, Trauer als natürliche Reaktion auf Verluste ebenfalls. Wer sich vor dem Tod schützen will, um dem schmerzlichen Gefühl der Trauer auszuweichen, indem er sich nicht auf Beziehung und Veränderung einlässt, ist eigentlich schon tot. Folglich behandle ich Trauer in der vorliegenden Arbeit als etwas, das zum Leben gehört. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, wie schmerzhaft und durcheinanderrüttelnd Trauer auslösende Ereignisse sein können. Verlustkrisen bringen Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und nicht selten darüber hinaus. Darum möchte ich nicht der Gefahr erliegen, bagatellisierend an diese im einzelnen Schicksal oft als unbegreifliche Katastrophe erlebte Thematik heranzugehen. Mir ist bewusst: Trauerbegleitung ist keine leichte Aufgabe. Sie erfordert neben einem hohen Maß an Empathie und dem Bewusstsein für die Unbegreiflichkeit des Geschehens einiges Wissen über Trauerabläufe. Manches, was auf den ersten Blick pathologisch aussieht, kann in Wirklichkeit Ausdruck eines gesunden Trauerprozesses sein. Anderes, was gesund und stark wirkt, kann einer verdrängten, lebenshemmenden Art zu trauern entspringen. Um Trauer besser zu verstehen und Erkenntnisse für sozialpädagogische Begleitung von Trauerarbeit zu gewinnen, betrachte ich Trauer aus dem Blickwinkel von Entwicklung. Diese Sicht verharmlost Verlustkrisen nicht, sondern ermöglicht Hoffnung auf Licht am Ende des Tunnels von Verzweiflung, Schmerz und Unfassbarkeit. Ein Trauernder wird am Ende des Trauerprozesses nicht mehr derselbe sein. Im besten Fall ist er trotz aller Verwundungen in seiner Persönlichkeit gereift und den Herausforderungen des Lebens besser gewachsen als vorher.

Konkret stelle ich zu Beginn dieser Arbeit die These auf, dass Trauer weder als zementierter Zustand noch als Lebenshindernis, sondern als Entwicklungsprozess

1zit. n. Canacakis 2003 S.12

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Diplomarbeit Ingrid Jope Trauer als Entwicklungsprozess

zu verstehen ist und dass dieses Verständnis aufschlussreiche Erkenntnisse ermöglicht für eine sozialpädagogische Trauerbegleitung unter besonderer Berücksichtigung kreativer Medien.

Um mich diesem Thema zu nähern, setze ich in einem ersten Kapitel Erkenntnisse über Trauer und Trauerbewältigung zu der Theorie der menschlichen Entwicklung nach Robert Kegan in Beziehung. Für Kegans Entwicklungstheorie habe ich mich entschieden, weil mir in seinem Ansatz die Ganzheitlichkeit, Ausgewogenheit und Wertschätzung des Menschen als kreativ sein Leben gestaltendes Wesen einleuchtet und besonders fruchtbar für das vorliegende Thema scheint. Im zweiten Kapitel gehe ich der Frage nach, ob Trauerbegleitung eine sozialpädagogische Aufgabe ist und wie sozialpädagogische Trauerbegleitung grundlegend konzipiert werden kann. Schritte der Umsetzung in die Praxis gehe ich im dritten Kapitel. Nachdem ich die Chance kreativer Medien für sozialpädagogische Trauerbegleitung unter entwicklungsspezifischem Horizont entfaltet habe, plane ich die Anwendung der theoretischen Erkenntnisse in Trauerbegleitungsgruppen und lege dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die Arbeit mit kreativen Medien. Als Zielgruppe nehme ich Erwachsene ins Visier.

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Diplomarbeit Ingrid Jope Trauer als Entwicklungsprozess

1. Trauer als Entwicklungsphänomen

1.1 Zum Verständnis des Trauerprozesses

1.1.1 Die Bedeutung der Trauer für das menschliche Leben

1.1.1.1 Zur Definition von Trauer

Im etymologischen Duden2wird die Herkunft des Wortes „trauern“ von „sinken; matt, kraftlos werden“ hergeleitet und daraus die Bedeutung „den Kopf sinken lassen“, „Augen niederschlagen“ gefolgert. Trauer bedeutet diesem Nachschlagewerk zufolge „seelischer Schmerz über einen Verlust oder ein Unglück.“

Langenmayr3stellt verschiedene Auffassungen zur Definition von Trauer nebeneinander.4Rando, so Langenmayr hält auch normale, unkomplizierte Trauer für eine Form der posttraumatischen Belastungsstörung mit der Begründung, dass es viele Parallelen in der Symptomatik gibt. Das Klassifikationssystem der World Health Organization, ICD-10, trennt Personenverluste klar von Depressionen, was Langenmayr wegen der Ähnlichkeit beider zueinander nicht für gerechtfertigt hält. Den engen Zusammenhang, den das DSM IV, Klassifikationssystem der American Psychiatric Association, zwischen Verlustfolgen und einer größeren Depression herstellt, kann Langenmayr eher nachvollziehen. Nach Simpson hat unverarbeitete Trauer eine enge Beziehung zum sog. psychotraumatischem Stresssyndrom. Im Gegensatz dazu vertreten die Autoren der Münchner Trauerskala, Beutel u.a., die Ansicht, dass eine klare Trennung und Unterscheidung zwischen Trauer und Depression möglich ist. Ihre Skala hat gerade den Zweck, den Unterschied zu diagnostizieren. Im folgenden geht Langemayr auf unterschiedliche Verständnisse und Erklärungen für das Phänomen der Trauer ein,5die sich im wesentlichen zwischen den zwei Polen bewegen, dass Trauer entweder als Krankheit verstanden wird oder als „normaler“ psychischer bzw. auch biologischer Prozess, der sich von Krankheit deutlich unterscheidet. Als anstrebenswertes Ziel von

2vgl. Duden Etymologie Stichwort „trauern“

3Arnold Langenmayr, promovierter Diplom-Psychologe, Professor Universität-

Gesamthochschule Essen, Mitbegründer des Instituts für Angewandte Psychologie mit

dem Schwerpunkt Fortbildung in Trauerberatung und Trauertherapie

4vgl. Langenmayr S.21f

5vgl. Langenmayr S.22f

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Diplomarbeit Ingrid Jope Trauer als Entwicklungsprozess

Trauer nennt Langenmayr unter Bezug auf Klass u.a.6die Loslösung vom Verstorbenen und Reinvestierung der Energie in neue Beziehungen. Die Bindung zum Verstorbenen soll in veränderter Weise ihren Platz im Leben des Trauernden als Quelle der Bereicherung für die Gegenwart finden.

Die Unterscheidung zwischen Trauer einerseits und pathologischen Phänomenen andererseits wurde bereits durch Freud mit seinem grundlegenden Aufsatz „Trauer und Melancholie“ 1916 eingeführt.7Der Trauernde weiß, so Freud, um was er trauert, der Melancholische nicht. Einen weiteren Unterschied sieht Freud darin, dass bei Melancholie die Beziehung zum Verlorenen eine ambivalente, konflikthafte ist, bei Trauer eine einfache.8

Bowlby setzt sich mit Freuds Trauerbegriff kritisch auseinander. Freud verwendet den Begriff in einem engen Sinne nur für solche psychische Prozesse, die mit dem Ergebnis verlaufen, dass der Überlebende seine Erinnerungen und Erwartungen vom Verlorenen ablöst9und damit frei wird, seine libidinöse Energie auf ein anderes Objekt zu richten. In diesem engen Gebrauch des Begriffs sieht Bowlby die Gefahr, dass Erwartungen, wie Trauer aussehen soll, völlig an dem vorbei gehen, was Menschen tatsächlich erleben. Deshalb plädiert er für eine Verwendung des Begriffs im weiten Sinne als Bezeichnung für eine Vielzahl von Reaktionen auf Verlust, auch solche, die zu einem pathologischen Resultat führen.10Er vergleicht den Trauerprozess mit dem Heilungsprozess bei körperlichen Verletzungen. Beide könnten einen Verlauf nehmen, bei dem die wiederherzustellende Funktion am Ende erneuert, aber auch mehr oder weniger stark beeinträchtigt sei. Ähnlich könne der Trauerprozess zu einer mehr oder weniger vollständigen Wiederherstellung der Fähigkeit, Liebesbeziehungen anzuknüpfen und aufrechtzuerhalten, führen.11Die Alternative, statt des weiten Trauerbegriffs den Begriff des Kummers zu verwenden, hält Bowlby nicht für sinnvoll. Er definiert Kummer als den Zustand einer Person, die Schmerz über einen Verlust empfindet, und diesen auch mehr oder weniger offen erlebt.

6vgl. Langenmayr S.27f

7vgl. Bowlby 1983 S.29

8vgl. Kast S.93f

9vgl. Bowlby 1983 S.30

10vgl. Bowlby 2001 S.116

11vgl. Bowlby 1983 S. 62

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Diplomarbeit Ingrid Jope Trauer als Entwicklungsprozess

Aufschlussreich sei die Verwendung dieses Begriffs z.B. bei Abwesenheit von Kummer im Rahmen von Trauer. Der Begriff der Trauer bezeichnet für Bowlby zusammengefasst alle bewussten und unbewussten psychologischen Prozesse, die durch Verlust ausgelöst werden.12

Für mich kristallisiert sich aus diesen Mosaiksteinen das Gesamtbild heraus, dass Autoren, die keine deutliche Abgrenzungslinie zwischen Trauer und psychischer Krankheit ziehen, auch oder vor allem problematisch verlaufende, festgefahrene oder gar nicht erst in Gang gekommene Trauerprozesse im Auge haben, während Vertreter des deutlichen Unterschieds zwischen Trauer und psychischer Krankheit ein Bild von Trauer haben als ablaufenden Prozess, der vom Trauma des Verlusts zurück ins Leben führt. In beiden Positionen steckt meines Erachtens ein Stück Wahrheit. Das Phänomen Trauer hat vielfältige Facetten und Gesichter und sollte nicht auf ein festgelegtes Schema reduziert werden. Das rechtfertigt den weiten Trauerbegriff Bowlbys. Mit meiner These, dass Trauer als Entwicklungsprozess zu verstehen ist, nehme ich die Perspektive ein, dass Trauer von psychischer Krankheit zu unterscheiden ist, und untersuche das Verständnis von Trauer als Prozess, der zum Leben gehört, der nicht mit Krankheit, sondern eher mit einem Heilungsprozess zu vergleichen ist.

1.1.1.2 Trauer als angemessene Reaktion auf Verlust

Für die Trauertherapeutin Verena Kast13ist Trauer der Ausdruck, dass ein Mensch etwas verloren hat, das für ihn einen hohen Wert darstellt.14Trauer sei die Emotion, durch die wir Abschied nehmen. Erstrebenswert sei folglich, Trauer nicht als etwas Pathologisches, sondern als etwas Wesentliches zu betrachten und damit die Angst vor Trauer zu verlieren.15„Lebensteht wesentlich unter dem Aspekt des immer wieder notwendigen Abschiednehmens, und um Abschiede ... zu verkraften, müssen wir trauern können.“16Trauer sei unabdingbar, um im

12vgl. Bowlby 1983 S.31

13Verena Kast, Psychotherapeutin, Habilitation zum Thema „Die Bedeutung der Trauer

im therapeutischen Prozess“ Universität Zürich, Lehranalytikerin Universität Zürich und

C.G. Jung-Institut Zürich

14vgl. Kast S.7

15vgl. Kast S.26

16Kast S.66

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Diplomarbeit Ingrid Jope Trauer als Entwicklungsprozess

Loslassen frei zu werden, das Leben wieder neu zu gestalten. Diese Fähigkeit zur Lebensbewältigung nennt Kast „abschiedlich existieren“.17

Volkan18, ein Pionier auf dem Gebiet der Trauertherapie, erklärt Trauer als psychische Reaktion auf Verlust und bezeichnet sie näher als die Verhandlungen, die Menschen führen, um ihre innere Welt der Realität anzupassen. Schmerz sei die Emotion, die Trauer begleite. Wer unfähig sei zu trauern, bleibe im Bann alter Probleme und Beziehungen und sei unfähig, frei in der Gegenwart nach vorne zu leben. Darum hänge der Verlauf des Lebens eines Menschen von der Fähigkeit ab, sich den unvermeidlichen Verlusten zu stellen und Veränderung als Chance für Wachstum zu nutzen. „Nichtvollständig betrauerte Verluste - Veränderungen, denen wir uns, mit anderen Worten, nicht anpassen können - überschatten unser Leben, zehren an unserer Energie und beeinträchtigen unsere Bindungs- und Kontaktfähigkeit.“19Ein Paradox des Lebens sei, so Volkan, dass wer nicht loslassen könne, wenn der Tod es verlangt, auch nicht festhalten könne, wenn das Leben es verlangt.20

Auch für den erfahrenen Trauertherapeuten Canacakis21ist Abschied von Geburt an ins Leben einprogrammiert und Trauer als Reaktion darauf bleibt niemandem erspart. Trauer ist für ihn „einespontane, natürliche, normale und selbstverständliche Reaktion unseres Organismus, unserer ganzen Person auf Verlust, Trennung und Abschied.“22Verlustkummer, so Canacakis weiter, erlebe jeder und die Fähigkeit, diesen zu bewältigen sei die Trauer. Trauer sei keine unangenehme Störung, die möglichst rasch zum Verschwinden gebracht werden sollte, sondern eine normale Reaktion auf Verlust23mit dem Ziel, das durch den Verlust verlorene Gleichgewicht wiederherzustellen. Erstrebenswert sei deshalb, den eigenen persönlichen Weg durch die Trauer zu finden. In der Trauerarbeit befreie sich die Seele von Bindungen, die nicht mehr lebendig sind. Trauer helfe,

17vgl. Kast S.13 u.157ff

18Vamik D. Volkan, Psychiater und Psychoanalytiker am Psychoanalytischen Institut

Washington, Fakultätsmitglied der University of Virginia Health Sciences Center

19Volkan S.11

20vgl. Volkan S.10-12

21Jorgos Canacakis, Diplompsychologe, Psychotherapeut, Gestalt-, Kunst- und

Musiktherapeut, Promotion über Trauerverarbeitung im Ritual vgl. 1.1.2.1, Begründer und

Leiter der Akademie für Menschliche Begleitung Essen (AMB) und der dort stattfindenden

Trauerseminararbeit

22Canacakis 1995 S.24

23vgl. Canacakis 2003 S.138

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Diplomarbeit Ingrid Jope Trauer als Entwicklungsprozess

Abschied zu nehmen, zur Realität zurück und sich mit ihr abzufinden.24Canacakis charakterisiert Trauer ausdrücklich als Periode, in der Wachstum und Reife stattfindet.25Trauer ist für ihn ein tiefreichendes Gefühl mit enormer Energie, das kreative Wege zu einem Neubeginn eröffnet.26Trauerfähigkeit betrachtet er folglich als Lebensfähigkeit.27

Trotz der unterschiedlichen Zugangsweisen dieser drei Trauerspezialisten ist die Gemeinsamkeit festzustellen, dass alle Trauer als Geschehen betrachten, das dem Leben und der Entwicklung dient. Trauer, so der Konsens der drei Fachleute, ist keine Krankheit, sondern kann, wenn sie zur persönlichen Situation passend aktiv gestaltend durchlebt wird, Krankheit verhindern. Wer einen Verlust betrauert, wird frei zu Wachstum und Weiterentwicklung, bzw. erlebt in der Trauer Entwicklung und Reife. Alle drei gehen daneben auf problematische Trauer ein (s.a.1.1.3.5), aber diese wird nicht als primäre und schon gar nicht als einzige Möglichkeit von Trauer verstanden.

1.1.1.3 Vielfalt von Traueranlässen

Das Stichwort Trauer wird in den meisten Fällen spontan mit dem Verlust eines geliebten Menschen durch Tod assoziiert. Zweifellos ist dies eine der am schwersten zu verkraftenden Verlustsituationen im Leben eines Menschen. Darum ist es auch berechtigt, dass in der unterschiedlichen Trauerliteratur zum größten Teil darauf Bezug genommen wird. Dennoch ist es nicht der einzig mögliche Anlass, der Trauer auslösen und nur im Durchleben von Trauer bewältigt werden kann. Ich stelle im folgenden eine Bandbreite der in unterschiedlicher Literatur genannten Traueranlässe vor und gruppiere sie anschließend in vier Arten.

Langenmayr geht in einer Übersicht auf die jeweilige Besonderheit spezieller Trauersituationen ein. Scheidung sei, so Langenmayr, nicht automatisch leichter zu verkraften, als das Auseinanderreißen einer Familie durch Tod. Z.B. seien Kinder bei Scheidung der Eltern gefährdeter, sich mit Selbstanschuldigungen zu quälen als beim Sterben eines Elternteils. Als Tendenz bei Erwachsenen sei

24vgl. Canacakis 2003 S. 139

25vgl. Canacakis 2003 S.177

26vgl. Canacakis 2003 S.204

27vgl. Canacakis 2003 S.212