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Der Alltag scheint oft monoton und langweilig. Doch was wäre, wenn alltägliche Begebenheit plötzlich ins Mystische, Bizarre und oder gänzlich Unglaubliche abdriften würden? Dann beschreiten Sie eine Brücke in die Welt der Träume und Phantasie. Dort werden Sie Zeuge eines erschreckenden Bewerbungsgesprächs. Sie treffen auf den Wirt einer Kneipe, dessen widerspenstiger Gast einen bedrohlichen Verbündeten mitbringt. Sie erkennen, wie fatal ein Irrtum in einer feuchten, kalten Nacht sein kann. Sie begleiten einen Mann, für den Wind und Wetter keine Bedeutung zu haben scheint. Auch kann der Einkauf von Gemüse plötzlich ungeahnte Auswirkungen haben. Sie sollten zudem nie dem freundlichen Polizisten an der Ecke vertrauen, denn er könnte ein düsteres Geheimnis bergen. Oder träumen Sie einfach ein wenig - auch wenn die Träume Sie erschrecken mögen. Begleiten Sie einen Schiffbrüchigen auf einer beinahe kulinarischen Reise. Gruseln Sie sich beim Anblick einer wenig harmonischen, jungen Familie. Achten Sie vor allem bei Nebel immer auf den Weg - sonst könnten sie selbst bei vertrauten Pfaden verloren gehen. Denken Sie manchmal auch an Begebenheiten aus Ihrer Kindheit? Verschwimmt nicht oft die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit? Sehen Sie in den lyrischen Abgrund des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse, der auch von Kindern geführt wird. Mit 12 Geschichten und einem Gedicht präsentiert Ihnen der Autor eine Auswahl von verrückten Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, wenn der Alltag mal wieder zu alltäglich wird. Lassen Sie sich also in die Welt dahinter entführen, dorthin, wo der schöne Schein sein wahres Gesicht zeigt. Ein wohliger Schauer sei Ihnen gewiss – und manchmal geht er auch mit einem Schmunzeln einher.
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Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2023
Harry Fehlemann
Traumbrücken
Kurze Geschichten und Kurzgeschichten schaurig und geheimnisvoll
Willkommen in meiner mysteriösen Welt!
Nicht immer ist das Alltägliche so wie es scheint. Lassen Sie sich in die Welt dahinter entführen, dorthin, wo der schöne Schein sein wahres Gesicht zeigt. Ein wohliger Schauer sei Ihnen gewiss – und manchmal geht er auch mit einem Schmunzeln einher.
Harry Fehlemann
Traumbrücken
Kurze Geschichten und Kurzgeschichten
schaurig und geheimnisvoll
3. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2023 Harry Fehlemann
Cover: Harry Fehlemann
Foto: ©Andreas Meyer
Illustrationen: Alle Kapitelbilder basieren auf Fotos von Andreas Meyer, bavometh, Gauthier Delecroix, Brecht Corbeel, Giga Khurtsilava, Jordan Whitt, Koushik Das, Billie Grace Ward, Vitolda Klein, Erik, Luis Domenech.
Zu finden unter
www.flickr.com,www.unsplash.com und www.deviantart.com Vielen Dank für die kostenlose Bereitstellung.
gesetzt mit SPBuchsatz
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung ”Impressumservice”, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
ISBN: 978-3-347-97865-2
Cover
Traumbrücken
Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
Das Bewerbungsgespräch
Nomen est Omen
Irrtum
Der Mann im grauen T-Shirt
Der Spargelverkäufer
Der freundliche Streifenpolizist
Traumbrücken
Die Insel
Lisa
Nebel
Fragment einer Kindheitserinnerung
Hoffnung?
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Das Bewerbungsgespräch
Hoffnung?
Cover
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Vorwort
Nun halten Sie also mein Buch in Händen und bevor Sie jetzt schnell weiterblättern, habe ich eine Bitte:
Lesen Sie dieses Vorwort!
Selbst wenn Sie üblicherweise das Autoren-Vorgeschwafel überspringen und gleich zum vermeintlich interessanten Teil übergehen, denke ich, dass Sie sich durch das Lesen dieser ersten Seiten möglicherweise Schlimmeres, je nach Erwartungshaltung vielleicht sogar eine Enttäuschung ersparen. Daher noch einmal meine dringende Empfehlung, lesen Sie das Vorwort. Sie werden es mir danken.
Die meisten Menschen verfügen über ein beachtliches Maß an Phantasie und viele sind in einem ebensolchen Maße an den Phantasien anderer interessiert. Dies erklärt auch den immensen Erfolg entsprechender literarischer und cineastischer Werke. Bücher von Stephen King, Marion Zimmer Bradley, Dean Koontz oder Terry Pratchett, um nur einige wenige Autoren aus sehr unterschiedlichen Bereichen der phantastischen Literatur zu nennen, können inzwischen durchaus als Klassiker bezeichnet werden. Sie gehören zum Standardsortiment vieler Buchhändler und erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Kinohits, wie »Avatar«, die »Herr der Ringe«-Saga oder auch die derzeit – wir schreiben das Jahr 2014 – im Trend liegenden Superhelden-Verfilmungen ziehen Millionen von Zuschauern in die Filmpaläste. All diese Menschen haben eines gemein: Sie möchten sich in eine andere Welt versetzen lassen um dort das Gewöhnliche, den Alltag, den öden täglichen Job zu vergessen. Sie wollen für ein paar Stunden jemand anderes sein und sich dieser Rolle voll und ganz hingeben, bevor es am nächsten Tag mit der Langeweile weiter geht. Sie fühlen sich in diesen wenigen Augenblicken stark, voller Willenskraft oder sie leben Schwächen aus, die sie sonst geschickt verstecken, ja vielleicht nicht einmal besitzen. Sie erfreuen sich an bunten oder gruseln sich in tristen Welten, erleben unsagbare Abenteuer, geben sich exotischen Geliebten hin und kämpfen gegen übermächtige Gegner. Ihre Toleranz im Hinblick auf den Realismus wächst ins Unermessliche. »So etwas gibt es doch nicht« oder »Das ist Blödsinn« werden sie von Freunden des Phantastischen kaum hören. Ganz im Gegenteil, je verrückter eine Idee, je abgefahrener ein Gedanke, je schräger ein Plot, desto mehr Fans findet ein Buch oder Film.
Nicht überraschend dürfte angesichts dieser Einleitung mein Geständnis sein, dass auch ich seit meiner Kindheit zu den Menschen mit ausgeprägtem Hang zur Phantasie gehöre. Nicht dass ich in meinem Alltag kein Vergnügen oder keine Abwechslung hätte – dafür sorgen schon meine Frau und meine beiden Söhne. Aber es bleibt dennoch ein täglicher Trott aus Routinen und Gewohnheiten, die in ihrer Gleichförmigkeit in mir oft den Wunsch nach dem berühmten »Mehr« aufkeimen lassen. Der stundenweise Ausbruch, der letztendlich nichts weiter ist als ein zarter Hauch von »Mehr«, wirkt wie eine Frischzellenkur für das Gehirn und hält mich jung. Also bediene ich mich der verschiedensten Medien und Möglichkeiten, meine gedanklichen Reisen in andere Welten zu bewerkstelligen. Und wer nun denkt, dass ich mich in ein stilles Kämmerlein verziehe um dort sozusagen Solophantasien zu frönen, liegt völlig falsch, zumindest meist. Eine der besten Entscheidungen meines Lebens traf ich Mitte der 80er Jahre, als ich beschloss, meine damalige Freundin zu heiraten. Es mag wie ein abgedroschenes Klischee klingen, doch wir haben uns gesucht und gefunden. Wir passen zusammen wie Pott auf Deckel, wie Baum und Borke. Denn neben viel Individualität verbindet uns auch eine Menge. Die Liebe zur Musik, zu Büchern, zum Kino – und zur Phantasie und Phantastik. Und so kommt es, dass ich zahlreiche Reisen in phantastische Welten gemeinsam mit meiner Frau und oft auch mit meinen Söhnen, auf die wir mehr als stark abgefärbt haben, unternehme. Unsere rund 4000 Werke umfassende Büchersammlung besteht zu 80 Prozent aus Fantasy und Science-Fiction. Mindestens die Hälfte aller Filme, die wir je gesehen haben, sind ebenfalls diesen Genres zuzurechnen. Last but not least sind wir sogar irgendwann auf das Spielen von phantastischen Computer Games gekommen, und ich kann Ihnen sagen, meine Frau ist in diesem Punkt noch um einiges verrückter als ich.
Unter diesen Voraussetzungen war es eine fast schon logische Konsequenz, dass sich in meinem Kopf nicht nur eine Unmenge verrückter Gedanken und Ideen gegenseitig zu übertreffen versuchten (und es weiterhin tun), sondern dass ich diese auch irgendwann aufschreiben wollte. Meine ersten zaghaften Schreibversuche unternahm ich bereits mit Anfang zwanzig, damals noch auf einer Schreibmaschine und viel Tipp-Ex. Aus dieser Zeit stammt auch ein Romanversuch, der aber über das vierte Kapitel nie hinausgekommen ist und seitdem in einer Schublade vor sich hin schlummert. Es folgten unzählige Kurzgeschichten und kurze Geschichten, teils als später verworfene Versuche, teils als ständig abgeänderte Rohrkrepierer. Bald wurde mir klar, dass ich zwar zur Formulierung zusammenhängender Texte fähig war und darin sogar ein wenig Unterhaltungswert unterbringen konnte, doch mir fehlte das gewisse Etwas. Absurde Dialoge, wie bei Terry Pratchett gelingen mir nur selten, aus dem Alltäglichen schleichend den ganz normalen Horror entstehen zu lassen, wie es Stephen King meisterhaft beherrscht, war mir nie vergönnt. Und nun, nach fast dreißig Jahren krampfhafter Versuche, Literatur zu erschaffen, komme ich zu der Erkenntnis, dass ich die Latte stets viel zu hoch gehängt habe. Warum also nicht schreiben, was mir in den Sinn kommt? Und so sind die Geschichten in diesem Buch durchaus lesbar, aber nicht raffiniert, phantasievoll, aber nicht phantastisch, unterhaltsam, aber keine Straßenfeger.
Erwarten Sie also auf den folgenden Seiten nicht zu viel, denn Sie finden dort lediglich ein paar verrückte Gedanken, die mir so durch den Kopf gegangen sind. Eine Ausnahme stellt das Gedicht »Hoffnung?« dar, das ein wenig den Eindruck erweckt, als sei es im Drogenrausch entstanden. Da ich mich aber Psychopharmaka nie bewusst bediente, muss ich wohl in einer ganz besonderen Stimmung gewesen sein, als ich dieses – übrigens einzige – Gedicht meines Lebens verfasste. Suchen Sie jedoch in all den anderen Geschichten nicht nach einem Dean Koontz oder einer Marion Zimmer Bradley, denn Sie werden sie nicht finden. Sie finden lediglich mich, Harry Fehlemann, wenig ausgefeilt, mit Ecken und Kanten, manchmal kompliziert, manchmal ungeschickt, oft ausschweifend, immer mal wieder geschwätzig, aber vor allem einfach so, ohne Hintergedanken und doppeltem Boden.
Betrachten Sie dieses Buch am besten als das, was es ist: Trivialliteratur ohne übermäßigen Anspruch, aber (hoffentlich) mit Unterhaltungswert. Ich würde mich auf jeden Fall sehr freuen, wenn Ihnen die eine oder andere Geschichte gefällt und Sie irgendwann zu einem Bekannten sagen: »Du, ich habe da gestern Abend eine schöne (wahlweise interessante, lustige, verrückte) Story gelesen.« Dann ist es mir gelungen, Sie zumindest kurzzeitig in eine phantastische Welt zu entführen und Sie Ihren Alltag für einen Moment vergessen zu lassen. Und wenn Sie bereit sind, zusätzlich noch einige Worte des Lobes oder gerne auch der Kritik auf meiner Webseite http://harryfehlemann.de zu hinterlassen, machen Sie mich zu einem glücklichen Menschen.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre meiner kurzen Geschichten und Kurzgeschichten.
Ihr Harry Fehlemann
Bewerbungsgespräche habe ich in meinem Leben bereits einige geführt, doch keines hat mich – zum Glück – jemals in eine solche Situation gebracht. Die Kurzgeschichte ist die Wiederauflage einer meiner ersten Schreibversuche der 80er Jahre. Das Original ist leider verloren gegangen, Idee und Handlung trug ich aber über Jahre weiter in meinem Kopf umher, bis ein Schreibwettbewerb unserer regionalen Tageszeitung mich veranlasste, eine verkürzte Version (der Wettbewerb schrieb eine maximale Zeichenzahl vor) erneut niederzuschreiben. Hier präsentiere ich allerdings die vollständige Geschichte. Ach übrigens, einen Preis habe ich damit nicht gewonnen. Ich hoffe, sie gefällt trotzdem.
Michael bog um die Ecke des leicht verwitterten Backsteinhauses und blickte auf eine lange imposante Frontseite. Vier Stockwerke hoch, Fenster an Fenster gereiht und mit einem von seiner Position aus nur vage erkennbaren Dach, stand das wuchtige Gebäude wie die Trutzburg eines teutonischen Eroberers vor ihm. Ein Anflug von Nervosität stieg in ihm auf. Man stellte sich ja nicht alle Tage bei einem neuen Arbeitgeber vor, und schon gar nicht als Deutscher in Spanien. Die heiße Sonne über Barcelona brannte ihm auf den Rücken und er dachte kurz daran, sein graues Jackett auszuziehen, entschied sich dann aber dagegen, da er sein Ziel fast erreicht hatte. Das Eingangsportal oberhalb einer breiten dreistufigen Steintreppe bestand aus zwei schweren, fachmännisch dunkelrot lackierten Holzflügeln, die jeweils einen sauber polierten, goldglänzenden Knauf in der Mitte besaßen. In Augenhöhe waren die Worte Juan Diemo-Zorta S. A. in das massive Holz eingeschnitzt und mit Goldfarbe nachgezeichnet worden, was einen zwar konservativen, aber edlen Eindruck hinterließ.
Er schaute sich um und suchte nach einem Klingelknopf. Als er keinen fand, ergriff er den Knauf und stieß den rechten Flügel mit einem kräftigen Stoß auf. Unmittelbar stand er in einer hohen, durch drei prunkvolle Deckenleuchten in sanftes Licht getauchten Empfangshalle. Der Boden war mit karmesinroten und weißen Mosaiksteinen kunstvoll gemustert und vermittelte dem Besucher das Gefühl, den Tempel eines Maharadschas zu betreten. Stuckverzierte Wände mit Marmorornamenten ließen deutlich erkennen, dass der Besitzer bei der Einrichtung keine Kosten gescheut hatte. Ölgemälde unbekannter und teilweise seltsam anmutender Adliger aus einem längst vergangenen Jahrhundert zierten den Eingangsbereich. Überwältigt von der prachtvollen Ausstattung dachte Michael an die fast schon programmatische Sachlichkeit seiner bisherigen Arbeitgeber. Gespannt, was ihn als Nächstes erwarten würde, trat durch eine weitere zweiflügeligen Tür, in die farblich zur Innenausstattung passende Bleikristallfenster eingelassen waren. Sie gaben die Sicht auf einen langen, durch zahlreiche üppig verzierte Wandleuchten deutlich helleren Raum frei, der zweckmäßiger, aber nicht weniger eindrucksvoll eingerichtet war. Auch hier hingen Gemälde an den mit wertvollen Leinentapeten versehenen Wänden. Ein edler Teppich in warmen braunen Farbtönen harmonierte perfekt mit der übrigen Einrichtung. Am Ende dieses relativ großen Raumes sah man auf einen wuchtigen Schreibtisch, hinter dem bei Miczwarhaels Eintreten ein fast lächerlich wirkender, kleiner Mann in schwarzem Anzug und Lackschuhen hervortrat. Mit einem breiten Lächeln, das in ungewöhnlichem Kontrast zu seinen kalten, unergründlichen Augen stand, streckte dieser ihm die Hand entgegen und begrüßte ihn auf Spanisch. Während sie erste Höflichkeitsfloskeln austauschten, erfasste Michael ein leichtes Schwindelgefühl, hatte er doch schon jetzt den Eindruck, die neue Stelle in diesem offensichtlich exquisiten Unternehmen so gut wie sicher zu haben. Mit einem Hinweis auf den Besprechungsraum führte der kleine Mann ihn zu einer Tür, die Michael zunächst gar nicht aufgefallen war. Unscheinbar, fast nur ein schlichtes glattes Holzbrett, füllte sie die Wand zwischen zwei schweren Eichenschränken aus. Der Spanier öffnete Sie und bat seinen Gast einzutreten. Freundlich nickend folgte dieser der Aufforderung.
Mit einem Mal umgab Michael völlige Dunkelheit. Sie war derart undurchdringlich, dass sie sich wie ein öliger Film auf seine Haut zu legen schien. Sein Herz schlug einige Takte schneller und seine Augen versuchten vergeblich, das Schwarz zu durchdringen. Er zwang sich zur Ruhe, rechnete er doch fest damit, dass der kleine Spanier in der nächsten Sekunde das Licht eines üppigen Leuchters einschalten und den Blick auf einen gediegen ausgestatteten Besprechungsraum freigeben würde. Er wartete. Nichts geschah.
Um nicht sinnlos in der Gegend herumzustehen, tastete er mit ausgestrecktem Arm nach vermeintlichen Sitzgelegenheiten. Doch die zaghaften Schritte im Nichts und seine suchende Hand trafen auf keinen Widerstand. Es vergingen unendliche Minuten und er wurde langsam unruhig. Der Spanier war noch immer nicht aufgetaucht. Michael machte einen beherzteren Schritt nach vorne und stieß mit dem Knie gegen etwas, das bei der Berührung nachgab. Er glaubte sogar und schalt sich dafür einen Narren, es habe sich bewegt. Erneut tastete er mit seiner Rechten nach Einrichtungsgegenständen, die ihm als Orientierung dienen könnten. Und tatsächlich, da war etwas. Zunächst vermeinte er, endlich die Sitzgelegenheit gefunden zu haben und sein Herz vollführte schon einen kleinen Freudensprung. Die Aussicht, sich hinsetzen zu können erschien ihm in diesem Moment wie ein Rettungsanker auf hoher See. Seine Hand strich über den Gegenstand. Es war kein Stoff, aber auch kein Leder. Es schien eher wie die Haut eines … Wie von einem elektrischen Schlag getroffen, zuckte er erschrocken zurück. Im gleichen Augenblick konnte er ein deutliches Schnauben vernehmen, wie das eines auf den Matador lauernden Stiers. Die Arme tastend nach hinten gestreckt, bewegte er sich vorsichtig rückwärts. Das Schnauben wurde zu einem bedrohlichen Knurren, das langsam auf ihn zu kam. Ein Lufthauch streifte sein Gesicht, ein Hauch, der Moder und Verwesung mit sich trug. Es schnürte Michaels Kehle zu. Schweißperlen sammelten sich an seinem Hemdkragen, der sich wie eine Schlinge immer enger um seinen Hals zog. Ein helles Klacken wie von Krallen auf einem kahlen Steinboden begleitete die furchterregende Geräuschkulisse.
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Immer näher kam das Geräusch und doch schien es noch weit entfernt. Michael zog sich jetzt hektisch zurück. Er konnte sich nicht erinnern, so tief in den Raum hineingegangen zu sein und noch immer hatte er die Wand nicht erreicht. Je schneller er sich bewegte, desto eindringlicher und bedrohlicher wurde das Klacken.
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Und dann rannte Es los. Lange verborgene Urinstinkte ließen Michael in einem Reflex in die Hocke gehen und die Arme um den Kopf legen. Dennoch traf Es ihn mit voller Wucht an der rechten Schulter. Er verlor das Gleichgewicht und kippte um. Blitzschnell rappelte er sich auf, wurde aber erneut gerammt und schlug wieder lang hin. Irgendwo im Unterbewusstsein registrierte er, dass völlige Dunkelheit dem Gleichgewichtssinn ganz schön zu schaffen machte, doch hatte er keine Zeit, sich näher mit dem Phänomen zu befassen. Denn Es packte sein Jackett und zog gierig daran, wie ein Hund an einem Knochen, den man festhielt. Michael hörte das deutliche Geräusch von reißendem Stoff. Mit einer Drehung entledigte er sich des Kleidungsstücks und sprang wieder auf die Füße. Ohne Rücksicht auf eventuelle Hindernisse, rannte er los, in der Hoffnung auf eine Wand zu treffen.
KLACKKLACKKLACK
Es nahm die Verfolgung auf. Irgendwann kam die Wand. Michael rannte mit voller Wucht dagegen und prallte zurück.
KLACKKLACKKLACK
Benommen lag er einige Sekunden schwer atmend auf den kalten Steinfliesen. Die genügten dem Ding, ihn zu erreichen. Es verbiss sich in Michaels Hosengürtel und schüttelte ihn mit unheimlicher Kraft. Er wurde hin und her geworfen und wand sich in Panik auf dem Boden. Mit bloßen Fäusten trommelte er auf einem wuchtigen Körper herum und spürte die Borsten, die auf der groben, festen Haut wuchsen. Es nahm überhaupt keine Notiz von seiner Gegenwehr. Als sein Gürtel in zwei Teile riss, stieß er einen gellenden Schreckensschrei aus. Ganz wie ein Raubtier, das seine Mahlzeit nicht entwischen lassen wollte, schnappte eine gierige Schnauze sofort nach, verfing sich dabei aber lediglich im Hosenstoff. Ohne richtig zu wissen wie, war Michael plötzlich wieder auf den Beinen. Vor Angst schlotternd schienen die ihm jedoch ihren Dienst versagen zu wollen und gaben nach. Dagegen ankämpfend versuchte er einen klaren Gedanken zu fassen. Mit keuchendem Atem und rasendem Herzen blieb es allerdings bei dem Versuch. Denn Es kam erneut näher.
KLACK…KLACK…KLACK
Wo war die Tür? Der Gedanke schoss ihm fast schon schmerzhaft durch den Kopf. Gleichzeitig fingerte er nach dem Streichholzheftchen, das er am Mittag in einem Restaurant in seine Hosentasche gesteckt hatte.
KLACK…KLACK…KLACK
Er fischte das Heft aus der Tasche, riss mit zitternden Fingern ein Zündholz ab und zog es über die Reibfläche. Da wurde er erneut mit einer Wucht getroffen, die ihn gegen die Wand schleuderte. Ihm blieb die Luft weg. Sterne tanzten vor seinen Augen. Ein stechender Schmerz zog seinen linken Arm hinauf und er schrie auf. Panik und Wut brachen aus ihm heraus. Mit unendlicher Verzögerung drängte sich dann aber etwas Wichtiges in sein Bewusstsein, das sich ihm in seiner alles überlagernden Angst jedoch immer wieder entzog. Dann konnte er den Gedanken endlich greifen. Es war das Geräusch seines eigenen Körpers, als er wenige Sekunden zuvor gegen die Wand geschleudert worden war. Es hatte hohl geklungen. Holz! Die Tür!
KLACK…KLACK…KLACK
In einer umständlichen Verrenkung tastete er mit einem Arm die Fläche der Wand hinter sich ab. Seine Fingerspitzen spürten nur groben Putz … nichts. Etwas mehr rechts … Putz. Dann doch links … ja, ein anderes Material. Wie wild fuhren seine Hände darüber, erkundeten in hektisch-fahrigen Bewegungen jeden Zentimeter, bis er tatsächlich einen Knauf ertastete.
KLACK..KLACK..KLACK
Michael zog daran … nichts bewegte sich.
KLACK.KLACK.KLACK
Er drückte den Knauf … noch immer nichts.
KLACKKLACKKLACK
Mit der verzweifelten Kraft der Todesangst warf er sich gegen die Holzplatte und brach mit der Tür ins Freie. Blind vor Grauen stürzte er, ohne nach rechts und links zu schauen, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, aus dem Haus.
Drei Stunden später saß Michael mit zwei Offizieren der Guardia Civil in einem Streifenwagen und realisierte langsam, dass man ihn nicht für voll nahm. Die Beamten wollten ihm erzählen, dass es an der Adresse, die er genannt hatte, gar keine Firma gäbe. So ein Blödsinn, er war doch gerade da gewesen. Die Erinnerung schnürte ihm erneut die Kehle zu. Nur mit Mühe konnte er die Polizisten dazu überreden, mit ihm zum Ort des Geschehens zu fahren. Jetzt bogen sie um die ihm bereits bekannte Ecke des Backsteinbaus. Langsam fuhren sie die lange Frontseite des vierstöckigen Gebäudes entlang und hielten an. Ein Beamter öffnete ihm die Fahrzeugtür und er stieg aus. Er sah die Steinstufen hinauf, die er wenige Stunden zuvor das erste Mal betreten hatte und sein Körper fiel in sich zusammen. Schwindel und Übelkeit ergriffen Besitz von ihm. Mit verzweifelter Miene starrte er auf ein mit roten Lackresten übersätes, durch Wind und Wetter stark mitgenommenes Portal, das an vielen Stellen mit Holzlatten notdürftig geflickt war. Ein Türflügel fehlte ganz. Die Öffnung gab den Blick auf Schuttberge frei, die sich über Jahre dort angesammelt haben mussten. Völlig außer Fassung taumelte Michael in den muffigen Flur. Ratten zogen sich laut quiekend in die Dunkelheit zurück. Von den Wänden blätterte der Putz und die Feuchtigkeit hatte große Schimmelpilze wachsen lassen. Tränen traten Michael in die Augen. Er hatte sich doch nicht alles nur eingebildet. Er war doch hier gewesen.
Der lange Raum bewies ihm jedoch das Gegenteil. Abfall und Unrat längst vergangener Zeiten türmten sich bis zu der Stelle, wo in seiner Erinnerung der wuchtige Schreibtisch gestanden hatte. Sein Blick wanderte umher und dann entdeckte etwas, das Hoffnung in ihm aufkeimen ließ. Zwei verwitterte, aber eindeutig wiederzuerkennende Eichenschränke lehnten an der rechten Wand. Eilig rannte Michael zu den Möbelstücken, stolperte dabei über Erdhügel und verbogene Metallgitter und blieb schließlich wie angewurzelt stehen. Seine Schultern sanken noch ein Stück tiefer und endlose Verzweiflung erfasste ihn. Zwischen den Schränken fand sich nichts weiter als nackter Stein. Der Putz hatte sich mit den Jahren herausgelöst und rote, ebenfalls stark verwitterte Ziegel freigelegt. Die beiden Polizisten traten neben ihn und zogen ihn vorsichtig am Arm. Die leeren Augen auf den Boden gerichtet, trottete er hinter den Beamten her ohne seine Umgebung noch richtig wahrzunehmen. Beim Anblick der alten Backsteine hatte er den Glauben an seinen Verstand endgültig aufgegeben.
Als er wieder in den Wagen der Guardia Civil stieg, konnte er den schrillen Todesschrei der Ratte nicht mehr hören, und auch nicht das sich langsam entfernende Geräusch.
KLACK…KLACK…KLACK…
* * *
Diese kleine böse Geschichte ist ein typisches Beispiel dafür, was passiert, wenn ich mich an den Schreibtisch setze, mit ein paar planlosen Sätzen und Worten beginne und es plötzlich, zunächst völlig ziellos, aus mir heraus sprudelt. Das Ende war für mich ebenso überraschend, wie möglicherweise für den Leser. Es hat sich einfach so ergeben.
»Nomen est omen …!«, sagte der kleine grauhaarige Mann mit einem humorlosen Grinsen und schob einen verschlissenen Ausweis etwas linkisch über die glatte Fläche des Tresens. Der kugelrunde Wirt mit den überdimensionalen Tränensäcken, der fleckigen Schürze und dem verwaschenen T-Shirt wischte sich die Hände notdürftig an einem kaum noch trocken zu nennenden Handtuch ab und ergriff das Dokument mit spitzen Fingern. Ein feistes Grinsen stand in seinem Gesicht als er die Buchstaben mit seinen von zuviel Alkohol glänzenden Augen anstarrte. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin – vermutlich den Namen des Gastes: Totmacher! Sein Blick wanderte vom Ausweis zu dem Mann auf dem hölzernen Barhocker und er versuchte sich vorzustellen, wie dieses Würstchen kaltblütig jemanden umbrachte. Wieder musste er schmunzeln. Niemals!
Ein Gast im hinteren Teil seines Lokals rief nach ihm und er gab den Pass mit den Worten »Nichts für ungut!« und einem Kopfschütteln an seinen Besitzer zurück. Während er sich entfernte, keifte ihm Totmacher mit verächtlicher Stimme hinterher: »Das glauben Sie wohl nicht?« Grinsend schlurfte der dicke Wirt mit schweren Schritten auf den Gast in der Ecke zu. Sofort entspann sich eine angeregte Unterhaltung. Beide schienen sich köstlich zu amüsieren. Ihre Blicke streiften immer wieder den Tresen, von dem Totmacher sie argwöhnisch beobachtete.
Als der Barmann wieder hinter seine Theke zurückkehrte, ließ er den Blick mit dem geübten Auge jahrelanger Erfahrung über die glatte Oberfläche wandern, um festzustellen, ob leere Gläser zu füllen waren. Der Grauhaarige mit dem seltsamen Namen hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Noch immer saß er, wie nun schon seit mehr als einer Stunde, auf seinem Barhocker vor einem Bier und starrte gedankenverloren in die inzwischen kaum noch vorhandene Schaumkrone. Und doch hatte sich etwas verändert. Direkt rechts neben dem Bierglas nur etwa zehn Zentimeter entfernt lag ein Revolver. Es war nicht irgendein Revolver, wie man ihn zu Tausenden in irgendwelchen Fernsehserien gesehen hatte. Nein, es handelte sich um einen echten Peacemaker. Blankgeputzt und das schummrige Licht der Barbeleuchtung reflektierend, strahlte die Waffe mit dem extrem langen Lauf auf der glatten, fast schwarzen Oberfläche des Tresens wie ein Goldstück im Kohleflöz. Die kunstvoll geschnitzten Holzverschalungen des Griffes ließen den Wert dieses Colts ebenso erkennen, wie die Ebenmäßigkeit des Laufes und der Trommel. So lag sie da und bildete einen ungewöhnlichen Kontrast zu dem kleinen schrumpligen Mann mit dem grauen, schlecht sitzenden Buchhalteranzug. Mann und Colt schienen nicht zusammenzugehören, ja nicht einmal auf den gleichen Planeten zu passen, und trotzdem starrte Totmacher jetzt nicht mehr in sein Glas, sondern daran vorbei auf das glänzende Mordinstrument.
Der Wirt, der abrupt in der Bewegung innegehalten hatte, zögerte nur kurz und schlenderte schließlich scheinbar völlig unbeteiligt auf den Gast zu. »Wissen sie«, begann Totmacher, »früher hatte ich immer Angst, ich würde mal an einem Geschwür sterben oder von einem Auto überfahren werden.« Er fuhr sich mit dem Handrücken gedankenverloren an der stoppeligen Wange entlang. »Das wäre ja wenigstens etwas gewesen.« Ein Anflug von Verzückung trat in seine Augen. Dann kam die Lethargie zurück. »Aber davon hätte ich ja nichts gehabt!« Viele Pausen sind unangenehm, die jetzt eintretende Stille hingegen ermöglichte es dem Wirt, einige Gedanken daran zu verschwenden, wie er, ohne ein Risiko eingehen zu müssen, an die Waffe kommen könnte. Doch er kam zu keinem sinnvollen Ergebnis, denn Totmacher sprach plötzlich weiter.
»Sind sie verheiratet?«
Er stellte die Frage einfach so in den verrauchten Raum hinein, ganz so als wolle er alle Anwesenden gleichzeitig oder auch nur sich selbst befragen. Erschrocken darüber, dass von ihm nun eine Antwort erwartet wurde, schüttelte der Barkeeper den schweren Kopf und griff, fast wie automatisch, nach einem Glas, das er zu polieren begann. »Seien sie froh! Ich b …« Totmacher unterbrach sich und verzog seine Lippen zu etwas, das wohl als Lächeln durchgehen sollte, aber vollkommen missglückte. Dann fuhr fort: »Nein ich, war über fünfundzwanzig Jahre verheiratet! Ich kann ihnen sagen, der reinste Psychoterror!«
Wieder einer, der ihm sein Leid klagen wollte, dachte der Barmann und fügte sich in seine Rolle als aufmerksamer Beichtvater, wie schon unzählige Male bei unzähligen traurigen Gestalten zuvor. Er kannte die Geschichten von unerfüllter Liebe, tyrannischen Ehefrauen oder blutsaugenden Chefs nur zu gut. Es waren auch meist die gleichen Typen, die ihren Seelenmüll bei ihm abluden, und er hörte geduldig zu. Der Kneipier bekam mehr zu tun, weil sich das Lokel langsam mit Gästen füllte. Noch immer lag der Revolver neben dem Bierglas, doch niemand schien Notiz davon zu nehmen. Totmacher war mit seiner Lebensgeschichte inzwischen bei den Kindern angelangt. Soviel hatte er ihnen gegeben, ohne etwas zurückzuverlangen – völlig selbstlos. Trotzdem seien die Bengel fürchterlich undankbar. Kaum dass sie ihr Studium beendet hatten, verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen. Einmal im Jahr bequemten sie sich vielleicht mal dazu, die Eltern zu besuchen und aus dem Urlaub – natürlich in Amerika – kommt gelegentlich mal eine Karte. Das war es dann aber auch schon.
Mit einer ausladenden Geste bedeutete der Wirt den gerade eintretenden Gästen freundlich, sie mögen sich einen freien Tisch aussuchen, als Totmacher von seinem Hocker aufsprang und lautstark durch die Bar krakeelte. »Hörst du mir überhaupt zu?« Augenblicklich trat tödliche Stille ein. Niemand regte sich. Der Wirt hielt in der Bewegung inne und ließ seinen fleischigen Arm langsam sinken. Die bei ihm stehenden Gäste murmelten sich einige Worte zu und verließen eilig das Lokal, ohne das Angebot der freien Tischwahl in Anspruch zu nehmen. Wutschnaubend wollte sich der Barmann dem Aufrührer zuwenden, als ihm der »Friedensstifter« wieder einfiel. Das heißt, eigentlich strahlte ihn die Waffe vom Tresen her geradezu an. Bedrohlich und zur Ruhe mahnend zeigte ihr Lauf wohl eher zufällig auf ihn. Das kreisrunde Loch am Laufende schien beinahe darauf zu warten, seine vernichtende Arbeit beginnen zu dürfen. Totmacher stand neben seinem Hocker und atmete schwer. Sein Gesicht noch grauer, sein Anzug noch zerknitterter, blitzten seine Augen dem Wirt eine Mischung aus Hass und tiefer Verachtung entgegen. Dem mit allen Wassern gewaschenen Barbesitzer lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Seine inneren Sirenen und Warnungen in den Wind schlagend, setzte er plötzlich seine gut 150 Kilo Lebendgewicht in Bewegung und umschlang mit seinen massigen Armen fest den kleinen Mann. Der Angriff kam so überraschend, dass Totmacher jegliche Möglichkeit zum Ausweichen genommen wurde. Sich wie ein Fisch windend bekam er kurz eine Hand frei, mit der er versuchte das glänzende Ding auf der Theke zu erreichen. Doch er wurde wie in einem Schraubstock gehalten, während ein zweiter Gast dem Wirt zur Hilfe kam. Gemeinsam drückten die beiden den wütend zappelnden und fluchenden kleinen Mann in einen Stuhl, wo sie ihn mit einem Abschleppseil, das der Helfer schnell aus seinem Wagen geholt hatte, fest verzurrten.
Die übrigen Besucher des Lokals hatten den Vorfall mit Interesse beobachtet und versammelten sich nun um den Holzstuhl mit dem zusammengesunkenen Totmacher. Umringt von Gesichtern voller Unverständnis, Hohn und Verärgerung blickte dieser mit leerem Blick von einem zum anderen, ganz so als präge er sich jeden einzelnen Anwesenden genau ein. Dann ließ er ein hysterisches Kichern hören und begann mit dem Stuhl auf dem Boden herumzuhopsen. Wie ein gefangenes Tier bäumte er sich immer und immer wieder wild zappelnd auf. Das stabile Sitzmöbel hielt jedoch den Angriffen stand und der Wirt schüttelte angesichts derart offensichtlicher Dummheit verständnislos den Kopf. Entschlossen, die Polizei zu rufen, wandte er sich ab, als ein lautes Poltern den Raum erfüllte. Totmacher hatte es nun doch geschafft, seinen Sitz umzuwerfen und war dabei einem Gast gegen das Schienbein gekippt. Dieser hockte mit verzerrtem Gesicht vor dem Tresen auf dem Boden und rieb sich fluchend die schmerzende Stelle. Als er sich wieder aufrichten wollte, wurde seine Bewegung auf halber Höhe jäh durch eine Stange gestoppt, die sich rund um die Theke zog und Betrunkene vor dem Sturz vom Barhocker schützen sollte. Sie traf ihn am Kopf und er sank abrupt erneut zusammen.
Der kugelrunde Wirt mit der fleckigen Schürze verzog mitfühlend das Gesicht, als er die Szene beobachtete. Doch auch etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit. Eine Reflexion, nur für den Bruchteil einer Sekunde, traf seinen Augenwinkel. Sein Blick wandte sich nach rechts. Da lag sie, immer noch glänzend, bedrohlich, auf der Kante des Tresens und rutschte – unendlich langsam, wie in Zeitlupe. Der lange Lauf kippte über den Rand, neigte sich dem Fußboden zu und zog den Rest der Waffe mit sich. Die Spiegelung der Deckenbeleuchtung wanderte das chromglänzende Rohr entlang und zerstreute sich, als sie die Trommel erreichte. Der Griff schien für einen Augenblick den Absturz stoppen zu können, ein Zögern, das sich jedoch schnell als böswillige Täuschung heraus stellte. Nach hinten überschlagend vollführte das Metall geräuschlos zwei und eine halbe Drehung in der Luft. Einem Mannequin gleich präsentierte sich das Mordinstrument den Anwesenden in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit. Lauf, Trommel, verzierter Griff und die geladenen Geschosse wurden freimütig gezeigt. »Seht her, wie schön ich bin!« Der Aufprall auf dem harten Fliesenboden ließ einen hohen Ton erklingen, der dem Spannen des Pistolenhahns nicht unähnlich war. Für einen Moment kam dem Wirt zumindest dieser Gedanke, der jedoch gleich wieder in den Tiefen seiner Erinnerung verschwand. Nach einer pirouettengleichen Bewegung auf dem Knauf kippte der glänzende Witwenmacher auf die Seite, hatte aber dabei noch genügend Schwung, sich erneut halb aufzustellen.
All dies beobachtete der Barkeeper fast teilnahmslos. Bei jeder Drehung konnte er in den Lauf sehen, sah die bedrohliche Dunkelheit und erahnte die Ladung, die sich dahinter befand. Noch ehe er die ohrenzerfetzende Entladung hörte, verzerrte sich sein Gesicht zu einer Grimasse schrecklicher Erkenntnis. Die kleine Flamme, die sich aus den Tiefen der schwarzen Öffnung zwängte, glich einer Zunge. Eine Zunge, die ihm ein trotziger Totmacher herausstreckte, kurz bevor die heiße Metallkugel sein verwaschenes T-Shirt, seine Fettschicht und einen Knochen durchschlug um schließlich mitten in seinem nur noch für wenige Sekunden pochenden Herzen ihr Ziel zu finden.
* * *
In unserem kleinen Ort gab es einst einen Literaturkreis, eine Gruppe von schriftstellerisch tätigen Menschen unterschiedlichster Genres und Stile. Sie trafen sich regelmäßig um sich über Literatur zu unterhalten und ihre neusten Werke der Runde vorzutragen. An einem dieser Abende beschloss man, jeder solle bis zum nächsten Treffen zu einem festgelegten Thema etwas schreiben. »In einer fremden Stadt bei Nacht« wurde als Thema gewählt. Obwohl hochmotiviert, wollte mir dazu etliche Wochen nichts einfallen. Dann kam der Tag, als ich beruflich in einem Hotel in Duisburg weilte. Nach einem langweiligen Seminar verschwand ich in meinem Hotelzimmer und begann so gegen 18 Uhr spontan zu schreiben. Bis drei Uhr Nachts vergaß ich die Welt um mich herum. Das Ergebnis war eine fertige Geschichte für unseren Literaturkreis – und für dieses Buch.
Tausend Sterne umgaben ihn – stechende Lichter von oben, von unten, von den Seiten. Sterne, vollgesogenmit kaltem Blut, dem Blut der Namenlosen, der Gesichtslosen. Und Stimmen. Unzählige Stimmen. Freundliche und drängende, atemlose und wütende, wispernde und bellende. Ein Gewirr von Gefühlen, Geräuschen, Farben und Bewegung. Das Schiff sinkt. Es schwankt mal nach vorne, mal nach hinten. Sein Magen nimmt alles auf – zumindest versucht er es. Trügerisch der Glaube, dass es gelingen könnte. Schließlich gibt er auf. Es bricht aus ihm heraus. Doch wen stört das? Wohl nicht die beiden Matrosen, die das Boot halten. Sein Rettungsboot… sie wollen es über die Reling werfen. Ein Gesicht erscheint. Er kennt es nicht, traut ihm nicht. Lautlos schreit er es an, mit geschlossenen Lippen. Tränen laufen ihm in die Ohren – wie das Blut der tausend Sterne. Dann verschwindet das Gesicht und der Himmel wird weiß. Ein Schmerz meldet sich, in weiter Ferne, undefinierbar und ganz leise, wie die Schmerzen der Gesichtslosen. So könnte es zumindest sein – und der Himmel wird schwarz.
»Haltet ihn fest!«
Der Arzt drückte die Arme des Verletzten auf den Boden. Die beiden kräftigen Pfleger hoben die Tragbahre an und der Mediziner versuchte, das Opfer anzuschnallen. Einer der Träger machte einen unglücklichen Schritt und verlor fast das Gleichgewicht. Die Bahre schwankte verdächtig.
Der Tumult, der die Umgebung seit Stunden in helle Aufregung versetzte, legte sich nur langsam. Noch immer liefen Polizisten, Helfer und Mediziner unruhig umher und redeten sich die nach und nach abfallende Anspannung von der Seele – ohne Hemmungen, ohne Rücksicht und vor allem ohne Scham.
»Wo ist es passiert?« Der junge Streifenpolizist, der das Opfer entdeckt hatte, deutete in eine Nische zwischen zwei großen Müllcontainern in einer engen Seitenstraße. Vorsichtig näherte sich der Kommissar der dunklen Stelle. Regen hatte inzwischen seinen Mantel vollkommen durchnässt. Eine Strähne klebte ihm in der Stirn und bildete kleine Wasserläufe, die über seine Wange rannen. Da lag sie, das rechte Bein unnatürlich verdreht und nach hinten geknickt, der Rock und die Bluse zerrissen. Das lange Haar im Gesicht verdeckten das einstige Leben, machten dieses Bündel zwischen Müll und Pfützen anonym. Dunkelheit, Nässe und Schmutz verwischten die Farben von Kleidung und Haar zu einem einheitlichen schwarzbraun. Gerade als sich der Kommissar zum Opfer hinab beugte, tippte ihm jemand auf die Schulter. Erschrocken zuckte er zusammen und richtete si»ch ruckartig auf. Ein Stechen in der Leistengegend quittierte diese plötzliche Bewegung. Hinter ihm stand der Gerichtsmediziner, ein Zwei-Meter-Hüne mit jugendlichem ausdruckslosem Gesicht. Er betrachtete den Tatort mit den professionellen Augen eines erfahrenen Ermittlungsarztes, der die Umgebung in die Erkenntnisse zur Todesursache mit einzubeziehen pflegte. Eine kombinatorische Eigenschaft, die dem Kommissar gefiel. Da er hier zunächst nichts weiter ausrichten konnte, ging er zurück zu dem Verletzten auf der Bahre. Kein schöner Anblick. Auf der Brust des Mannes hatte sich eine Lache aus Blut und Erbrochenem gebildet. Ein Arzt beugte sich über den Verwundeten und starrte in dessen weit aufgerissene Augen. Es schien, als führten sie einen stummen Dialog. Eine Mischung aus Angst und Abscheu beherrschte die verzerrten Gesichtszüge, lautlos herausgeschrien nur durch den kalten Blick des Irrsinns. Dann gab der Mediziner den Pflegern ein Zeichen und sie schoben die Bahre in den bereitstehenden Krankenwagen. Kurz bevor das Fahrzeug sich in Bewegung setzte, sorgte der Arzt noch mit einer Spritze für die vorläufige Erlösung des Mannes.
Aus sicherer Entfernung beobachtete der Kommissar den Gerichtsmediziner, bis dieser den wartenden Bestattern einen kurzen Wink gab. Er hatte seine Untersuchung beendet und sie machten sich daran, das Opfer in schwarzen Kunststoff zu hüllen. Der Streifenpolizist stand noch immer wie angewurzelt herum, ohne offensichtlich seine Fassung bereits wiedererlangt zu haben. Es waren seine Jugend und Unerfahrenheit, die ihn das Geschehene nur schwer verarbeiten ließen. Ganz würde es ihm vermutlich nie gelingen. Dazu war der Mensch einfach nicht geschaffen. Der Leichensack wurde am Kommissar vorbei getragen, und aus unerfindlichen Gründen hatte man ihn nicht vollständig geschlossen. Zwischen den weit auseinander klaffenden Zähnen des Reißverschlusses glänzte der fahle Schimmer blutleerer Haut hindurch. Undeutlich konnte man die Konturen von Augen, Wangen und Nase erkennen, ohne dass sich jedoch Einzelheiten offenbarten. Dann fiel ein Lichtschein undefinierbaren Ursprungs in die Hülle und machte mit brutaler Deutlichkeit Details sichtbar.
Über den Ermittler brach in diesem Bruchteil eines Augenblicks schwärzeste Nacht herein. Seine Hand schnellte vor und krallte sich in die Schulter eines Trägers, worauf dieser mit vor Schreck geweitetem Blick zu Stein erstarrte. Für Sekunden bot sich dem Betrachter ein skurriles Bild. Völliger Stillstand umgab die gesamte Szenerie. Keine Bewegung und kein Laut störten den angehaltenen Film, bis der Mann mit dem durchweichten Mantel vor dem Plastiksack auf die Knie sank. Im kurzen Aufblitzen des verirrten Laternenlichts blickte er in tote Augen, die einst seine Augen gewesen waren, starrte auf einen Mund, den er unendliche Male geküsst hatte. Schmerzhafte Erkenntnis und eine jeden sachlichen Gedanken ertränkende Flut brachen über ihn herein. In grenzenloser Qual schrie er stumm heraus: »Warum sie?«
Zwei Polizisten eilten herbei und hoben den stammelnden Kommissar behutsam aus der Pfütze, in der er kniete. Leise wimmernd und mit Gedanken fern von diesem Ort ließ der Mann sich widerwillig in einen Streifenwagen setzen. Er wand sich unter unzähligen Bildern, die auf ihn einstürzten. Es waren Bilder voller Heiterkeit, schöner Momente und wärmender Zweisamkeit – alle wie dafür geschaffen, ihn zu erwürgen, zu zerschmettern, zu ertränken. Das Polizeifahrzeug setzte sich in Bewegung.
Ein Kaleidoskop aus Farben und Licht ergoss sich durch seine geschlossenen Augenlider. Ein unsichtbarer Folterknecht, der ihn blendete und quälte. Luft! Eingesperrt in seine Angst rang er panisch um Atem. Schwere Züge begleitet von Schmerz, schreiendem Schmerz, nicht mehr so leise, wie er ihn vor Zeitaltern kennenlernte. Diese laute, alles einnehmende Qual flehte um Erlösung. Das Verlangen, von ihm selbst schon unzählige Male gestillt, hüllte ihn ein. Während er noch versuchte, die Leere in sich zu erkunden, ertönte das Geläut der Heerscharen. Ein heller Klang brach in Wellen über ihn herein, ungezähmt, zügellos und jeglichen Gedanken zerschmetternd. Das tosende Meer der Geräusche füllte ihn vollkommen aus, legte sich wie Balsam auf die Schmerzen und vertrieb die Erinnerung an die Namenlosen. Ein trügerischer Effekt! Einer plötzlich wiederkehrenden Flut gleich schwappte unvermittelt alles zurück, dieses Mal mit doppelter Kraft und noch drängender. Die Heerscharen versuchten, ihn zu den Gesichtslosen zu ziehen. Vielleicht waren es sogar die Gesichtslosen selbst. Doch er konnte keine Dankbarkeit, keine Gnade erkennen. Die sengenden Flammen der Qual kamen seinem bloßen Körper immer näher. Panik stieg in ihm auf: Was, wenn sie ihn nun hier zurück ließen, ohne eine Möglichkeit auf Befreiung – und sei es durch das Ende?Die Panik zerschnitt seine zerfetzte Brust, marterte seinen Hals, brach mit unbändiger Wucht aus ihm heraus, und mit ihr kam das gleißende Licht. Es stürzte auf ihn ein, wie zuvor die Klänge der Heerscharen. Ein gottgleiches Gesicht, sich ständig verwandelnd, erschien schimmernd im strahlenden Schein, löste sich auf, nur um erneut in anderer Form wiederzuerscheinen. Er erkannte die Namenlosen seiner Vergangenheit, die jetzt nicht mehr gesichtslos waren. Der bekannte kleine Schmerz aus weiter Ferne löschte das helle Leuchten und führte ihn zurück ins Nichts.
Die Schwester war froh, die unangenehme Arbeit hinter sich zu haben. Einen Verletzten zu waschen und anzuziehen konnte man keineswegs als Vergnügen bezeichnen, aber es gehörte nun mal zu ihrem Job. Die Operation hatte nicht besonders lange gedauert und jetzt lag der Patient ganz ruhig da. Lediglich sein Atem ging unregelmäßig.
Sie blieb neben dem Krankenbett stehen und betrachtet das unrasierte Gesicht. Kräftige Wangenknochen, deren wichtigste Aufgabe das ständige Mahlen des Kiefers zu sein schien, bildeten einen grobschlächtigen Kontrast zu der feinen schmalen Nase und den durch lange Wimpern fast weiblich wirkenden Augen. Sie bemerkte, wie die Augäpfel unter den Lidern hin- und herrollten, und konnte förmlich die Unruhe und den Tumult im Innern dieses Mannes spüren.