Träume aus Papierschnee - Heather O'Neill - E-Book
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Träume aus Papierschnee E-Book

Heather O'Neill

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Beschreibung

„Dieses Buch steckt voller Kostbarkeiten.“ Miranda July.

Kanda in den Dreißigern: Als sie sich kennenlernen sind Rose und Pierrot Waisenkinder, die unter dem Regiment strenger Nonnen leiden. Rose flüchtet sich ins Tanzen, Pierrot ins Klavierspiel. Die Kraft der Phantasie verbindet, beflügelt sie. Und eines Nachts stehlen sich die beiden davon. Eine Odyssee von Montreal bis nach New York nimmt ihren Lauf, die die jungen Liebenden voneinander trennt. Erst Jahre später begegnen sie sich wieder, gezeichnet von den Enttäuschungen des Lebens, angetrieben von denselben Träumen und Sehnsüchten ...

Heather O’Neill erzählt märchenhaft eine tragikomische Liebesgeschichte, deren warmherzige Helden einen sofort in den Bann ziehen.

„In ihrem ebenso herzzerreißenden wie lebensbejahenden Roman beleuchtet Heather O‘Neill aus der Perspektive ihrer ungewöhnlich charismatischen Hauptfiguren die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung ... Ein origineller, unvergesslicher Roman.“ Library Journal

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Seitenzahl: 582

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über das Buch

Zwei Babys werden unabhängig voneinander im Winter 1914 in einem Waisenhaus in Montreal ausgesetzt. Als Kinder besitzen beide unvergleichliche Talente: Pierrot ist ein Wunderkind des Klavierspiels, Rose erhellt mit ihrem Tanz und ihrem Charme jeden noch so trostlosen Raum. Sie verlieben sich ineinander. Und während sie zunächst heimlich und dann gezielt durch die Stadt reisen und zusammen auftreten, basteln sie an einem Plan für die außergewöhnlichste, verführerischste Revue, die die Welt je gesehen hat. Als Teenager getrennt, während der Weltwirtschaftskrise als Bedienstete angestellt, begeben sich beide in die Unterwelt der Stadt und machen ihre Erfahrungen mit Sex, Drogen und Diebstahl, um zu überleben. Aber als Rose und Pierrot sich nach Jahren der Suche und der verzweifelten Armut endlich unter den Schneeflocken wiederfinden, sind die Möglichkeiten ihrer Kindheitsträume zurück, und sie tun alles dafür, um sie wahr werden zu lassen. Ein herzergreifender Kampf um Liebe, Kunst und Anerkennung.  

„Dieser Roman wird seine Leser von der ersten Seite an fesseln!“ Publisher’s Weekly

„Heather O’Neill ist eine Meisterin der Metaphern und Bilder.“ Booklist  

„Was für eine außergewöhnliche Autorin!“ Toronto Star  

Über Heather O'Neill

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Heather O'Neill

Träume aus Papierschnee

Roman

Aus dem Englischen von Gesine Schröder

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1: Die Geburt eines Jungen namens Pierrot

Kapitel 2: Die trübselige Vorgeschichte eines Mädchensmit Namen Rose

Kapitel 3: Eine Geschichte der Unschuld

Kapitel 4: Die frühen Jahre eines genialen Idioten

Kapitel 5: Über eine junge Provokateurin

Kapitel 6: Porträt eines Jungen mit Regenschirm

Kapitel 7: In welchem der Schnee einen großen Auftritt hat

Kapitel 8: Das Schneestern-Eisglanz-Revuespektakel

Kapitel 9: In welchem Pierrot für ein Genie gehalten wird

Kapitel 10: In welchem Rose von dem ihr zugedachtenSchicksal unterrichtet wird

Kapitel 11: Eine Schicksalswende für Pierrot

Kapitel 12: Der Schöne und Frau Biest

Kapitel 13: Porträt des Pierrot als junger Adeliger

Kapitel 14: Porträt einer Dame, die mit dem Leben hadert

Kapitel 15: Pierrots klägliche Gehversuche als Casanova

Kapitel 16: Rose raucht Zigarren

Kapitel 17: Pierrot und der Apfel

Kapitel 18: Rose und der Apfel

Kapitel 19: Ein Suppenlöffel voller Träume

Kapitel 20: In welchem Mrs McMahon auf eine Idee kommt

Kapitel 21: Skizze eines ernüchterten Mannes

Kapitel 22: Die zehn Plagen

Kapitel 23: Von Mäusen und Frauen

Kapitel 24: Poppy singt ein Liebeslied

Kapitel 25: Der Katzendieb im Kinderzimmer

Kapitel 26: Das Mädchen mit der Perlenhalskette

Kapitel 27: Zwei Männer – ein dicker und ein dünner

Kapitel 28: In welchem ein Mädchen in billigen Strümpfenden Blues singt

Kapitel 29: In welchem Ikarus auf der Saint Denis Street landet

Kapitel 30: Etüde für gebrochene Finger

Kapitel 31: Porträt einer Dame als streunende Katze

Kapitel 32: Porträt einer Dame mit Peitsche und Esel

Kapitel 33: Stillleben mit Leichen

Kapitel 34: Tinkerbells Geheimnis

Kapitel 35: Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose

Kapitel 36: Vom Innenleben der Melancholie

Kapitel 37: Am ersten Tag

Kapitel 38: Am zweiten Tag

Kapitel 39: Am dritten Tag

Kapitel 40: Am vierten Tag

Kapitel 41: Am fünften Tag

Kapitel 42: Am sechsten Tag

Kapitel 43: Am siebten Tag

Kapitel 44: Der Mond in C‑Moll

Kapitel 45: Nocturne in Rosa und Gold

Kapitel 46: Der Herzschlag eines Hasen

Kapitel 47: Eine läutende Kirchenglocke

Kapitel 48: Selbstporträt im Zug

Kapitel 49: Der erfüllte Mann

Kapitel 50: Der Turm zu Babel

Kapitel 51: Aufstand der Arbeiterinnen

Kapitel 52: Detail einer Tapete

Kapitel 53: Skizze eines Mädchens mit Matrosenmütze

Kapitel 54: Ein Zug wird kommen

Kapitel 55: Im Big Apple

Kapitel 56: Das Schneestern-Eisglanz-Revuespektakel

Erster Auftritt

Zweiter Auftritt

Dritter Auftritt

Vierter Auftritt

Fünfter Auftritt

Sechster Auftritt

Siebter Auftritt

Achter Auftritt

Letzter Auftritt

Kapitel 57: Jimmys Fluchtpunktperspektive

Kapitel 58: Das Honeymoon Hotel

Kapitel 59: Der Held eines anderen Romans

Kapitel 60: Coney Island Baby

Kapitel 61: Der Krieg der Kinder

Kapitel 62: Napoleon, mon amour

Kapitel 63: Die Herrin vom Tümpel

Kapitel 64: Das Herz ist ein Trompetensolo

Kapitel 65: Die Titanic sticht in See

Kapitel 66: Leitfaden für eine Revolution

Kapitel 67: Postkarten von der Hinrichtung

Kapitel 68: Serenade an den Mond in c‑Moll

Kapitel 69: Unbekannter Suchtkranker, New York City

Kapitel 70: Die Trauerprozession

Kapitel 71: Schluss

Dank

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne...

Kapitel 1

Die Geburt eines Jungen namens Pierrot

Eines Tages im Jahr 1914 pochte ein Mädchen an die Tür des Hôpital de la Miséricorde auf dem Dorchester Boulevard. Sie war pummelig, mit roten Apfelbäckchen und blonden Ringellocken. Sie war gerade mal zwölf.

Ihr älterer Cousin Thomas war in den Krieg gezogen, nach Frankreich. Sie hatte ihn vergöttert, seit sie denken konnte. Er war ein Draufgänger, konnte auf den Händen laufen und nahm sie sonntags mit in den Park, wenn die Musikkapelle spielte. Mutig war er auch und hatte schon immer Soldat werden wollen. Eines Nachmittags im vergangenen Winter hatte er sie besucht und gesagt, er wolle sie einer Musterung unterziehen, wie die Jungen sie über sich ergehen lassen müssten, um zu schauen, ob sie für den Kriegsdienst tauge. Es hatte sie brennend interessiert, ob sie als Junge auch ein Soldat hätte werden können. Er hatte ihr erklärt, dass er seinen Penis in sie hineinstecken müsse, um ihre Körpertemperatur zu messen. Als er sich überzeugt hatte, dass sie rundherum gesund war, hatte er eine rote Schleife hervorgeholt, wie man sie an Keksschachteln findet. Er hatte sie ihr als Orden für ihren Dienst am Vaterlande ans Revers geheftet. Als der Erzherzog Franz Ferdinand ermordet wurde, betete Thomas inbrünstig, dass Kanada in den Krieg eintreten möge, um von der schwangeren Cousine fortzukommen.

Ihre Eltern schickten sie ins Hôpital de la Miséricorde. Jeden Tag standen vor diesem Spital junge Mädchen Schlange, die ihre prallen Bäuche nicht mehr vor der Familie verbergen konnten. Sie waren alle hinausgeworfen worden. Manche hatten ihre Koffer packen können. Andere hatte man einfach an den Haaren vor die Tür geschleift. Die Mädchen trugen noch die Handabdrücke ihrer Väter auf den Wangen, Blutergüsse, die sie unter ihren hübschen blonden Locken oder dem glatten schwarzen Haar verbargen. Sie sahen aus wie Porzellanpuppen, die bei ihren Besitzerinnen in Ungnade gefallen waren.

Für fünf angenehme Minuten auf einer Hintertreppe hatten diese Mädchen ihr ganzes Leben verspielt. Jetzt mussten sie sich mit den Fremden in ihren Bäuchen vor der Welt verstecken, während die jungen Väter weiter ihrem Alltag nachgingen, ihr Fahrrad spazieren fuhren oder pfeifend im Badezuber saßen. Genau dafür hatte man das Spital gegründet. Aus tiefstem Mitgefühl für diese armen Seelen.

Sobald sich die Türen des Hôpital de la Miséricorde hinter den Mädchen schlossen, gaben die Nonnen ihnen neue Namen. Angeblich dienten sie nur ihrem Schutz, doch es war kaum zu übersehen, dass sie die Mädchen auch erniedrigen und an ihre Sündhaftigkeit erinnern sollten. Man nannte sie Chastity oder Salome oder Dismal.

Dem apfelbäckigen Mädchen wurde der Name Ignorance zugewiesen. Alle nannten sie Iggy. Es scherte sie gar nicht, dass sie in ihrem kleinen Schmerbauch die kostbarste Last der Welt mit sich herumtrug. Einmal prügelte sie sich mit einer Katze. Ein anderes Mal hüpfte sie von einem Bett zum nächsten, als wären es Eisschollen. Sie vollführte Radschläge auf den langen Fluren. Die Nonnen bemühten sich nach Kräften, sie davon abzuhalten. Sie fragten sich, ob die Kleine dermaßen naiv war oder aber versuchte, eine Fehlgeburt herbeizuführen in der irrigen Hoffnung, sie könnte es sich dadurch leichter machen.

Da verwunderte es niemanden, dass ihr Sohn blau angelaufen auf die Welt kam. Es sah alles nach einer Totgeburt aus. Der Arzt horchte auf den Puls. In der Brust des Säuglings war kein Herzschlag zu hören. Er hielt dem Kind eine Hand vor den Mund, um die Atmung zu überprüfen, aber da war nichts.

Man ließ den Säugling auf dem Untersuchungstisch liegen. Seine Ärmchen lagen seitlich am Körper, die O‑Beine fielen schlaff auseinander. Der Priester fragte sich, was mit solchen Kindern im Limbus passierte. Er schwenkte seinen Rosenkranz über dem Säugling und murmelte ein Gebet. Er wandte sich ab. Später würde er den Leichnam in der großen Ledertasche fortschaffen, die er eigens für solche Zwecke bereithielt. Er würde ihn hinter der Kirche in einem Brotkasten bestatten lassen. Für solche Todesfälle brauchte es keine teuren Särge.

Da geschah etwas Seltsames, Surreales – der Penis des kleinen Jungen richtete sich kerzengerade auf. Und dann hustete und schrie das Kind, wechselte die Farbe und begann die Glieder zu regen. Die Erektion hatte es von den Toten auferweckt. Der Priester wusste nicht zu sagen, ob er einem Wunder beiwohnte. War dies ein Werk Gottes, oder war es Teufelswerk?

Als eine Nonne aus dem Hôpital de la Miséricorde Iggys Kind im Waisenhaus abgab, wo es den Rest seiner Kindheit verbringen sollte, sagte sie den dortigen Schwestern, sie sollten ein wachsames Auge auf den Jungen haben. Seine Mutter sei ein Wildfang gewesen. Obwohl das Kind noch sehr klein war, spürten sie sofort, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Um die Beine der Nonnen strich eine schwarze Katze und folgte ihnen über die Schwelle. Im Waisenhaus gab man allen männlichen Kindern den Namen Joseph. Daher mussten sie auch Spitznamen bekommen. Diesen Säugling nannten die Nonnen Pierrot, weil er so bleich war und weil er immerzu dümmlich grinste.

Kapitel 2

Die trübselige Vorgeschichte eines Mädchensmit Namen Rose

Rose war die Tochter einer Achtzehnjährigen, die bis zum sechsten Monat der Schwangerschaft nichts von ihrem Zustand ahnte. Roses Mutter hatte den Vater nicht besonders gut leiden können. Er hatte ihr jeden Tag an einer Straßenecke aufgelauert. Wenn sie vorbeikam, bettelte er, sie solle ihm in der Seitengasse ihre Brüste zeigen. Eines Abends hatte sie ihm nachgegeben. Sie hatte gedacht, wenn sie mit ihm schlafe, werde er endlich aus ihrem Leben verschwinden. Was er dann auch tat.

Als ihr klar wurde, was passiert war, verbarg sie ihren Bauch unter weiten Kleidern. In der Badewanne ihres Elternhauses brachte sie ein winziges Mädchen auf die Welt. Es hatte zarte violette Augendeckel und sah aus, als käme ihm gerade eine dichterische Inspiration. Die Schwestern der jungen Mutter schauten das Neugeborene erschrocken an und wussten nicht, was sie mit ihm anstellen sollten. Sie vergaßen, ihm den Mund zuzuhalten, und es stieß einen Schrei aus, der die gesamte Hausgemeinschaft herbeirief.

Tränen liefen dem Mädchen aus den vom Vater blaugeschlagenen Augen, als sie den Säugling in eine Decke einpackte. Sie zog sich Stiefel und einen schwarzen Mantel über. Eigentlich hätte sie geraden Wegs zur Kirche laufen sollen. Auf den Stufen davor wurden alle naselang Kinder abgeladen. Die Fäuste des Säuglings öffneten und schlossen sich wie versonnene Seeanemonen. Ehe das Mädchen aufbrach, lief es heimlich zu seiner Mutter und bat sie auf Knien um fünfzig Dollar. Halb von Mitleid, halb von Abscheu getrieben gab die Mutter ihr das Geld. Das Mädchen bedankte sich flüsternd und eilte davon.

An der Kirche lief sie vorüber und klopfte eine Meile weiter, am Ende einer schmalen Straße, an eine Tür. Dort lebte eine Frau, die Müttern für fünfzig Dollar ihre Kinder abnahm. Gegen diese Gebühr gab sie den Müttern das Versprechen, die Kleinen vor dem Waisenhaus zu bewahren.

Eine Frau im Mantel mit schießpulvergrauem Haar öffnete Roses Mutter die Tür. Sie bat das Mädchen in die Küche und sagte, sie wolle den Säugling bei einer reichen Familie unterbringen, in Westmount. Das Kind werde weiße Kleider mit Spitzenkrägen tragen, in denen es aussehen werde wie eine Blume. Sie werde ein eigenes Kindermädchen und einen Irischen Wolfshund haben. Ständig werde ihm aus dicken, fetten Büchern vorgelesen werden, wenn die Mutter nur zahlte. Wenn sie zahlte, war dem Kind eine glückliche Zukunft sicher.

Was für närrische Vorstellungen Roses Mutter gehabt haben musste, dass sie der Frau abkaufte, was diese anbot. Vorstellungskraft nützte einem Mädchen in Montreal zu Beginn des Jahrhunderts gar nichts. Klugheit, ja, die hätte sie gebrauchen können. Aber auf kluge Ratschläge hatte sie noch nie gehört.

Ein Arbeiter, der seinen Heimweg von der Fabrik abkürzte, fand Rose in eine Decke gewickelt im Mount Royal Park. Sie war steifgefroren und trug zwei runde blaue Male auf den Wangen, wie kleine Rosen. Der Mann hielt sich das Bündel ans Ohr und spürte, dass die Wangen des Kindes eiskalt waren, doch er hörte es auch ganz leise atmen. Also steckte er es sich unter den Mantel und lief zum Krankenhaus. Dort legte man Rose in einen Bottich mit warmem Wasser. Dass sie die Augen aufschlug, grenzte an ein Wunder.

Die Polizei inspizierte die Grünanlage und fand weitere Säuglinge im Schnee, die sämtlich zu steinernen Engeln gefroren waren. Die grausame Händlerin wurde überführt und ergriffen. Als man sie vor den Richter brachte, bewarfen Passanten sie mit Schneebällen, in die Steine eingebettet waren. Man verurteilte die Frau zum Tod durch den Strang. Alle Welt empörte sich über Roses Schicksal, doch adoptieren wollte sie niemand. Mehr als Empörung konnte man sich nicht leisten.

Die Polizisten brachten das Kind ins Waisenhaus und sagten: »Habt ein wachsames Auge auf sie. Mit der hat das Leben es nicht gut gemeint.« Alle Mädchen im Waisenhaus hießen Marie, und so nannte man denn auch diesen Säugling. Ihr Spitzname aber, der ihr immer erhalten bleiben sollte, war Rose, nach den leuchtenden Malen auf ihren Wangen, deren Farbe von blau zu rot gewechselt war und die erst Wochen später allmählich verblassten.

Kapitel 3

Eine Geschichte der Unschuld

Das Waisenhaus lag am nördlichen Stadtrand. Die letzten Häuser im Rücken, musste man noch zweitausend Schritte gehen, und schon stand man davor. Heute gibt es diese Einrichtung nicht mehr. Es war ein riesiges Gebäude. Nicht die Sorte, von der man eine Tuschezeichnung hätte anfertigen mögen, denn all die identischen rechteckigen Fenster wären rasch langweilig geworden. Es wäre keine künstlerische Herausforderung dabei gewesen; man hätte seine Zeit und seine Ambitionen besser, sagen wir, auf ein galoppierendes Pferd verwendet.

Vor der Erbauung des großen Waisenhauses hatten die Kinder im Nonnenstift gelebt, das mitten in der Stadt lag. Doch das hatte sie zu sehr in Versuchung geführt. Die Waisen hatten nicht hinreichend begriffen, dass sie nicht dazugehörten. Sie hatten geglaubt, sie hätten wie alle anderen einen Platz im Leben. Dabei sollten sie Unterwürfigkeit erlernen. Hier draußen, im Abseits, ging das besser.

Im Haus wimmelte es von verwaisten und verstoßenen Kindern. Etliche hatten durchaus Eltern, doch sie wurden angewiesen, sich in allen praktischen Belangen ebenfalls als Waisen zu betrachten. Es gab getrennte Schlafsäle für Jungen und für Mädchen an den entgegengesetzten Enden des Gebäudes. In den Schlafsälen standen unzählige gleiche Betten. Die Kinder lagen darin wie auf dem Tablett angerichtete Piroggen. Am Fuß eines jeden Bettes stand eine hölzerne Kiste, in der die Waisen ihren persönlichen Besitz unterbringen konnten. Meist befanden sich darin ein Schlafanzug oder ein Nachthemd, eine Zahnbürste und ein Kamm. Manchmal war auch ein besonderer Kieselstein in der Kiste verborgen. In einer lag eine Pillendose, die einen zerbrochenen Schmetterling enthielt.

Hinter dem Gebäude erstreckte sich der Gemüsegarten, den die Kinder pflegten. Dort stand auch ein Hühnerhaus, in dem wie von Zauberhand jeden Morgen kleine ovale Eier auftauchten. Zerbrechliche Miniaturmonde, die sie zum Überleben brauchten. Die Kinder langten ganz behutsam in die Nester, um die Kostbarkeiten nicht zu zerdrücken. Dazu stülpten sie sich die Ärmel über die Hände, und ihre Arme sahen aus wie Elefantenrüssel, die nach Erdnüssen griffen.

Außerdem gab es zwei Kühe, die täglich gemolken sein wollten. Dazu taten sich die Waisen immer paarweise zusammen: Während ein Kind molk, musste das andere der Kuh gut zureden.

Die Kinder waren alle ganz blass. Sie bekamen nicht ausreichend zu essen. Manchmal ertappten sie sich dabei, wie sie sich eine große Mahlzeit nur möglichst lebhaft vorstellten. Im Unterricht schauten sie an sich herunter und befahlen ihren Mägen, stillzuschweigen – als säße ein bettelnder Hund unter ihrem Pult.

Auch hatten sie nicht genügend warme Kleidung und froren im Winter monatelang. Wenn sie den Fußweg zum Hühnerhaus vom Schnee befreiten, wurden ihnen die Fingerspitzen taub. Dann hauchten sie sich in die Hände, um eine kleine Prise Wärme zu erzeugen. Sie übten Stepptanz, wenn ihnen die Zehen schmerzten. Auch im Schlafsaal froren sie unter ihren dünnen Decken. Sie zogen sich die Decken über die Köpfe, schlangen die Arme um die Knie und versuchten, sich selbst zu wärmen.

Sie wussten nie, wann ihnen Schläge drohten, denn die Nonnen bestraften sie für alle erdenklichen Vergehen. Wie bei jeder Gewaltherrschaft gehörte es zum System, dass ein Kind nie abschätzen konnte, ob es Prügel einstecken würde – es ließ sich weder sicher vorhersagen noch verhindern. In den Augen der Nonnen war schon die bloße Existenz dieser Kinder sündhaft. Folglich war auch alles, was sie taten, Sünde. Manchmal bestraften sie ein Kind für etwas, das sie dem anderen hatten durchgehen lassen.

Es folgt eine Auflistung einiger Vergehen, welche von Januar bis Juli 1914 Züchtigungen nach sich gezogen haben.

Aus dem Buch der minderen Regelverstöße:

Ein Junge hob die Beine in die Luft und strampelte damit, als würde er Fahrrad fahren.

Ein kleines Mädchen schnalzte mit der Zunge, um ein Streifenhörnchen auf sich aufmerksam zu machen.

Ein Junge balancierte mit seinem Essenstablett in der Hand auf einem Bein.

Ein kleiner Junge betrachtete allzu neugierig sein Spiegelbild in einem Löffel.

Ein kleines Mädchen summte die Marseillaise.

Ein Junge stampfte sich zu heftig den Schnee von den Stiefeln.

Ein Mädchen hatte ein nicht gestopftes Loch im Strumpf.

Ein Mädchen zeichnete bei einer Mathematikaufgabe ein lächelndes Gesicht in die Ziffer Null.

Sieben Kinder wischten sich die Nase am Ärmel ab.

Ein Mädchen erlag den Lockungen des Schnees, klaubte eine Handvoll davon zusammen und schob sie sich in den Mund.

Ein Junge erschien zum Frühstück, und jedes einzelne seiner Kleidungsstücke war falsch herum angezogen worden.

Ein Mädchen behauptete, es hätte mitten in der Nacht einen Mann mit Bocksfüßen um die Betten der Kinder schleichen sehen.

Drei Kinder wussten nicht, wie das Meer zwischen Kanada und Europa heißt.

Ein Mädchen malte mit dem Finger Schriftzeichen in die Luft.

Ein kleines Mädchen schaute die Sonne schief an, um sich zum Niesen zu bringen.

Ein Junge spielte, er könnte sich den Daumen von der Hand abziehen.

Ein Mädchen behandelte eine geschälte Kartoffel wie einen Säugling und versteckte sie in ihrer Kitteltasche, damit sie nicht gekocht werde.

Ohne selbst recht zu wissen, warum, legte ein Junge seine Beichte mit einer Entenstimme ab.

Es war ein Trauerspiel mit den Waisenkindern. Sie sehnten sich so sehr nach Liebe. Die Prügel drückte ihnen aufs Gemüt. Weil sie Schläge bezogen, wenn sie vor sich hinträumten, wagten es ihre Gedanken bald nicht mehr, umherzuschweifen. Ihren jungen Hirnen war es nicht vergönnt, sich zu zerstreuen oder auf jener Insel der Seligen zu verweilen, die Kindheit heißt. Doch sowohl Pierrots als auch Roses Persönlichkeit überdauerte das grausame Regime.

Die Mutter Oberin achtete besonders auf die ganz kleinen Kinder, die Zwei- bis Sechsjährigen, die im ersten Obergeschoss einquartiert waren. Das Erste, was Pierrot und Rose gemeinsam hatten, war die schwarze Katze. Die Mutter Oberin versuchte diese Katze loszuwerden, die wie ein Geist durch das Waisenhaus spukte. Das Tier hatte struppiges Fell; es sah aus, als wäre es soeben einem Teerbottich entstiegen und als wäre es mit diesem Schicksal höchst unzufrieden. Manchmal ließ es sich tagelang nicht blicken. Es war, als hätte das Gemäuer die Kreatur verschluckt. Dann aber entdeckte die Oberin sie bei Pierrot im Bett. Kind und Katze schliefen wie Liebende aneinandergeschmiegt. Die Oberin jagte das Tier zum Fenster hinaus. Sie glaubte, sie werde es nie wiedersehen.

Dann sah sie es doch wieder, diesmal mit Rose. Das kleine Mädchen hatte sich hingehockt und redete mit der Katze, als hätten sie etwas Dringliches zu besprechen. Dabei war Rose noch zu klein, um überhaupt richtig sprechen zu können. Sie gab nur brabbelnde, gurgelnde Laute von sich. Es klang wie ein kleiner übersprudelnder Wassertopf. Die Katze hörte Rose aufmerksam zu, dann eilte sie davon, wie um die Neuigkeiten unter den Aufständischen zu verbreiten.

Als Pierrot und Rose beide vier Jahre alt waren, beobachtete die Mutter Oberin, wie sie mit der Katze Vater-Mutter-Kind spielten. Immer wieder küssten sie das Tier auf den Kopf und reichten es hin und her.

»Du bist sehr unartig gewesen, Mieze. Du böses, dummes Ding. Du dreckiger Streuner. Du kommst direkt in die Hölle«, sagte Rose.

»Jawohl, und weinerlich bist du. Dafür gibt’s keine Milch. Keinen Tropfen. Kein kleines bisschen. Kein gar nichts gibt es«, verkündete Pierrot.

»Und wenn du jammerst, kriegst du einen Nasenstüber.«

»›Au, au, miau!‹ Ich kanns nicht mehr hören!«

»Du stinkst. Schrubb dir die Pfoten. Ab ins Bad, du Stinkebalg.«

»Du schlimmer Sünder. Schlimm, schlimm, schlimm. Mehr Dreck als Pfoten.«

»So eine Schande! Schau mich an, du Schandfleck.«

Freundlichere Worte hatten sie nie gelernt. Sie kannten nur Beschimpfungen und Tadel, doch die Kinder verwandelten sie in Liebesgeflüster. Die Mutter Oberin beschloss auf der Stelle, die beiden voneinander fernzuhalten. Für Jungen und Mädchen gab es getrennte Schlafsäle und getrennte Klassenzimmer, doch sie spielten im Gemeinschaftsraum, aßen im selben Speisesaal und verrichteten die Feldarbeit gemeinsam. Im Waisenhaus wurde jede Liebesbeziehung im Keim erstickt. Wenn eines die Menschen ins Verderben stürzte, war es schließlich die Liebe. Diesem flüchtigsten aller Gefühle verdankten diese Kinder ihr Elend. Solche Affären begannen, oft Jahre bevor die Waisen es selbst bemerkten, und nahmen sie erst sichtbare Gestalt an, dann war es zu spät, sie noch zu unterbinden. Also wurden sämtliche Schwestern angewiesen, Rose und Pierrot zu trennen.

Nicht diese beiden Übeltäter, dachte die Mutter Oberin. Nicht diese unglückseligen Findelkinder. Sie waren doch schon dem Tod entronnen. Und jetzt erwarteten sie noch mehr vom Leben.

Kapitel 4

Die frühen Jahre eines genialen Idioten

Pierrot war ein Spätentwickler. Als Säugling regte er sich so gut wie gar nicht. Er lernte nicht einmal sitzen, sondern blieb still auf dem Rücken liegen und starrte zur Decke. Und als er schließlich doch sitzen konnte, hieß das noch lange nicht, dass er gesprochen hätte. Das Sprechen überließ er lieber den anderen Kindern. Ihnen zuzuhören gefiel ihm viel besser, als selbst etwas zu sagen. Manchmal lachte er plötzlich los, und niemand konnte sich erklären, was ihn so amüsierte.

Die Mutter Oberin rechnete fest damit, ihn noch vor seinem sechsten Lebensjahr auf die Reise schicken zu müssen. Sie würde seinen Besitz in einem Köfferchen verstauen, ihm einen Lageplan mit dem Weg zur Irrenanstalt zeichnen und ihn vor die Tür setzen.

Fast hätten ihn die Schwestern von den anderen Jungen abgesondert, aber er schien bestens mit ihnen zurechtzukommen. Sie grenzten ihn nicht aus, wie sie es normalerweise mit zurückgebliebenen Kindern taten. Das sprach dafür, dass sie ihn für ebenbürtig hielten. Solche Dinge wussten die Kinder am besten. Als er endlich doch noch den Mund auftat, im Alter von drei Jahren, wirkte er durchaus verständig.

Was ihn aber letztendlich vor einem Leben in der Zwangsjacke bewahrte, war eine Reihe ungewöhnlicher Fähigkeiten. Er beherrschte den Handstand und den Radschlag. Er vollführte Salti, als wäre es für ein Kind seines Alters etwas ganz Normales. Und er hatte ein Talent zum Alleinunterhalter. Manchmal tat Pierrot, als säße er auf einem Stuhl, obwohl da gar nichts war – ein absurder kleiner Scherz, über den sich die anderen Kinder jedes Mal wieder amüsierten. Gern spielte er auch vor, dass ihn der Blitz traf, indem er sich schüttelte und dann zu Boden stürzte. Manchmal sah man ihn im Winter draußen imaginäre Blumen pflücken und daran riechen.

Wenn er nicht gerade herumkasperte, wirkte Pierrot mit seinem blonden Haar engelhaft und ernst. Und schlank war er. Mit den Jahren wuchs er nur in die Höhe, nie in die Breite. Es schien kaum vorstellbar, dass er je in die Pubertät kommen würde. Mit elf machte sich Pierrot große, erstaunliche Gedanken. Sie folgten ihm überallhin wie der flatternde Schwanz eines Papierdrachen. Meist formuliert man erst einen Entschluss oder einen Wunsch im Geist und macht dann den Mund auf. Nicht so Pierrot – er trug das Herz derart auf der Zunge, dass er selbst manchmal den Eindruck hatte, er spräche Gedanken erst aus und dächte sie später. Die artistischen Kunststücke der Sprache begeisterten ihn mindestens so sehr wie ihre Bedeutung. So kam es, dass er oft Dinge sagte, die viel klüger waren als er selbst.

Pierrot konfrontierte jeden, der ihn kennenlernte, mit einem Paradox: Einerseits wirkte er brillant, andererseits konnte man nicht anders, als ihn für einen Narren zu halten. Weil er in jedem Fall unterhaltsam war, wurde er immer herbeizitiert, wenn der Erzbischof zu Besuch kam.

Dieser fragte Pierrot – auch wenn es sonst nicht seine Art war, einfältigen Waisen tiefschürfende Fragen zu stellen, aus reiner Neugier, was der Junge sich einfallen lassen würde –, was er glaube, wer seine Eltern seien.

»Ach«, sagte Pierrot, »vermutlich irgendein elend dürres junges Ding, das sich von einem Tunichtgut hat verführen lassen. Das ist der Lauf der Welt, und niemand kann das Geringste daran ändern. Seien wir ehrlich: Ich stamme aus der finstersten Gosse.«

Der Erzbischof war nicht der Einzige, dem auffiel, dass man Pierrot nur ein Jackett hätte überziehen müssen, und schon hätte er sich überall unauffällig eingefügt. Er hätte glatt als der Sohn des Premierministers durchgehen können. Man konnte sich vorstellen, wie er im Radio anlässlich der Beerdigung seines Vaters eine kleine Ansprache hielt – über seine Trauer um den großartigen Herrn Papa.

Pierrots bemerkenswertestes Talent aber lag darin, dass er schon nach wenigen Klavierstunden einfache Melodien nachspielen konnte. Er war ein Naturtalent. Noten zu lesen interessierte ihn gar nicht, sondern er spielte nach Gehör, komponierte eigene Stücke oder improvisierte. Eine Partitur zu entziffern erinnerte Pierrot zu sehr an die Schule. Und in Mathematik, in den Naturwissenschaften, in Geografie und Geschichte und in Rechtschreibung war er schrecklich schlecht. Das Klavier spielte er bald besser als die Mutter Oberin. Und viel schneller. Die Töne trippelten wie flinke Mäuse.

In jeder anderen Umgebung hätte er als musikalisches Wunderkind gegolten. Doch weil Pierrot in einem Waisenhaus aufwuchs, klimperte er nur beim Abendessen auf dem Klavier im Speisesaal. Auf Befehl der Mutter Oberin spielte er Kirchenlieder, doch hin und wieder konnte er nicht anders, als etwas hinzuzudichten. Dann verwandelte er das schlichte Loblied in eine Jazznummer. Alle Kinder lachten und klatschten. Sie wippten mit den Köpfen, bis sie aussahen wie Sparschweinchen, die jemand kräftig schüttelt.

Wenn Pierrot so vom Protokoll abwich, ließ die Mutter Oberin den Tastaturdeckel herunterkrachen oder schlug dem Jungen mit dem Lineal auf die Finger. Letztendlich erlaubte sie ihm aber immer wieder zu spielen. Es ging gar nicht anders. Die Kinder wollten von niemandem anderen etwas hören, wenn Pierrot im Saal war.

Natürlich war es wieder Rose, die eines Abends zu weit ging, indem sie aufsprang und zu Pierrots Darbietung tanzte. Sie schlug ein Rad, die Beine hoch in der Luft, und das Kleid rutschte ihr über das Gesicht. Als Pierrot das sah, klappte ihm die Kinnlade herunter. Dann beugte er sich über die Tasten, als wüsste er genau das richtige Begleitstück zu ihrem wilden Auftritt. Er spielte erneut eine ausgelassene Melodie, um das Mädchen zu ermuntern. Rose tanzte und wedelte mit den Händen, als wollte sie einem ins Feld ziehenden Soldaten zum Abschied winken. Eine der Nonnen sprang auf, lief zu Rose und gab ihr eine Nackenschelle, dass das Mädchen zu Boden ging, während eine andere sich Pierrot vorknöpfte. Der Mutter Oberin gefiel es gar nicht, dass ausgerechnet diese beiden gleichzeitig gezüchtigt wurden, da sie fürchtete, es könnte Solidarität in ihnen wecken. Doch was blieb ihnen anderes übrig?

Selbst die strenge, prinzipientreue Mutter Oberin hatte eine Schwäche für Pierrot. Er ahmte sie manchmal auf sehr possierliche Weise nach und brachte sie zum Lachen. Dennoch gab sie ihm ebenso viele Nackenschellen wie den anderen, zumindest bis Schwester Eloïse kam.

Schwester Eloïse war jung, als sie ihren Posten antrat, gerade mal zweiundzwanzig Jahre. Sie hatte eine hohe Stirn, blonde Augenbrauen, Sommersprossen auf den Wangen, eine hübsche Nase und einen rosigen Mund. Ihre kurvenreiche, robuste Statur musste man nackt sehen, um sie richtig würdigen zu können. Jeder Mann hätte sie attraktiv gefunden. Als Pierrot sie das erste Mal sah, erinnerte sie ihn an ein Glas Milch. Sie erinnerte ihn an frisch gewaschene Laken, in die der Wind fährt, in genau dem Moment, wo das Wasser verdunstet und sie wieder leicht und beweglich werden.

Jedes Mal, wenn eine neue junge Nonne im Waisenhaus die Arbeit aufnahm, hofften die Kinder, sie werde freundlich bleiben, immer sanft sein und ein ganz klein wenig wie eine Mutter. Natürlich wurde diese Zuversicht jedes Mal enttäuscht. Immer wurden die Schwestern nach ein paar Monaten böse, schlugen die Kinder und schrien sie an. Nur die Ältesten machten sich keine Illusionen, denn sie wussten, welche Wandlung sich vollziehen würde.

Pierrot allerdings setzte größte Hoffnungen in Schwester Eloïse, denn zu ihm war sie besonders freundlich. Im Unterricht kam sie an sein Pult und schaute ihm über die Schulter. Er hatte eine furchtbare Handschrift. Seine Hand wollte immer etwas ganz anderes schreiben. Doch sie verpasste ihm keine Nackenschelle, wie es alle anderen Schwestern beim Anblick seiner Handschrift taten. Sie nahm ihm den Griffel aus der Hand und schrieb gekonnt und schwungvoll Liebe und Dankbarkeit auf seine Tafel. Wie ein Vogel, der ohne jede Angst vor dem Absturz drauflosfliegt.

Wenn er an Schwester Eloïse vorüberkam, lächelte sie ihm zu, und er erschauderte und wurde rot.

Trotz ihrer Jugend bekam Schwester Eloïse die Oberaufsicht über die Kinder im zweiten Stockwerk, die Waisen im Alter von sieben bis elf Jahren. Sie bemerkte manche Regungen ihrer Schützlinge, bevor diese sie selbst bemerkten, ein Talent, das die Mutter Oberin nur von wenigen ihrer Nonnen kannte. Deshalb konnte Eloïse die Kinder sogar im Voraus bestrafen. Ihre Mitschwestern mochten das für moralisch fragwürdig halten, mussten aber zugeben, dass es Wirkung zeigte.

Eines Tages, Pierrot war in Gedanken versunken, nahm Schwester Eloïse ihn am Arm und brachte ihn in einen stillen Winkel.

»Schau unter mein Kleid. Ich habe eine Überraschung für dich.«

Er steckte den Kopf unter ihren Habit, wie ein Fotograf unter sein Tuch schlüpft, um die flüchtigen Mysterien der Welt zu erfassen. Als er verwirrt wieder darunter hervorkam, hielt sie ihm einen kleinen, mit Himbeermarmelade garnierten Keks hin. Die Waisen bekamen nie etwas Süßes. Pierrot schämte sich, dass er niemandem davon abgeben konnte, ja nicht einmal davon erzählen durfte. Der Keks war köstlich, aber er schmeckte nach Tod.

Als Pierrot Prügel bezog, weil er sich das Bodenschrubben hatte leichter machen wollen, indem er sich Tücher um die Füße band und damit kreuz und quer über die Dielen rutschte, schritt Schwester Eloïse ein. Von da an wurde er überhaupt nicht mehr geohrfeigt oder verprügelt. Diese Neuerung hätte ihn beglückt, hätte sie auch andere Kinder betroffen, doch Pierrot stellte bald fest, dass niemand sonst von den Körperstrafen ausgenommen wurde. Er war der Einzige, den die Nonnen verschonten. Er fühlte sich ausgesondert und schuldig. Und ihm fiel auf, dass besonders Rose mehr denn je gezüchtigt wurde. Einmal sah er sie mit einem blauen Auge die Hühner füttern. Sofort wünschte er sich, man würde ihn ebenfalls schlagen. Er wollte Roses Schicksal teilen. Er wusste selbst nicht, warum.

Kapitel 5

Über eine junge Provokateurin

Rose war ein durchschnittliches Mädchen. Sie war ganz sicher nicht hässlich. Aber so liebreizend, dass man den Blick nicht hätte abwenden können, war sie auch nicht. Sie hatte schwarzes Haar und entsprechend dunkle Augen. Ein wenig ähnelte sie der hochnäsigen, ausdruckslosen Puppe, die damals in teuren Spielzeugläden zum Verkaufsschlager wurde. Ihr einziges auffälliges Merkmal bestand darin, wie rot bei kaltem Wetter draußen ihre Wangen wurden. Nur dann kam es vor, dass jemand sie ausgesprochen schön fand. Sobald sie ins Haus zurückkehrte, schmolz diese Schönheit dahin.

Wie Pierrot hatte auch Rose von klein auf Freude daran, sich zu verstellen. Sie hockte sich wie ein Kätzchen ans Fußende des Bettes und miaute zum Steinerweichen. Sie konnte täuschend echt eine Dampfpfeife nachahmen. Manchmal blies sie die Backen groß und rund auf wie ein Trompeter. Oder sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und machte ein Furzgeräusch. Die anderen liebten es, wenn sie das tat.

Es mochte mit ihrem ersten tiefen Schlummer im Schnee zusammenhängen, jedenfalls konnte Rose erstaunlich nachdenklich werden. Besonders beschäftigte sie der Unterschied zwischen dem echten Geschehen um sie herum und all den Seltsamkeiten, die sich im Kopf abspielten. Manchmal fand sie, es gebe keinen. Manchmal konnte sie gar nicht begreifen, dass sich alle so beharrlich mit der echten Welt befassten, wo ihr Innenleben doch so viel aufregender war. Dann benahm sie sich plötzlich, als spielte das wahre Leben gar keine Rolle.

Die anderen Mädchen quiekten vor Vergnügen, wenn sie ahnten, dass Rose wieder einmal völlig den Verstand verlieren würde. Dann krümmte sie sich im Schlafsaal vornüber und hängte sich einen Mantel über Rumpf und Schultern. Sie reckte einen Arm in die Luft, um wie ein Straußenvogel auszusehen. Oder sie kletterte auf die Bettkante, als stiege sie in die Wanten eines Schiffes, und balancierte darauf entlang wie auf einem Seil. »Land ahoi!«, rief sie. Etliche Mädchen erklommen die Matratze. Sie wollten unbedingt an Bord dieses Rettungsbootes. Sie wollten auch Neuland betreten und das erleben, was Rose erlebte. Wollten sehen, was nur Rose sehen konnte.

Sie sprang von einem Bett zum nächsten, wie um einem bösen Piraten zu entkommen, der das Schiff geentert hatte und hinter ihr her war – der ihr ein Messer ins Herz rammen wollte, weil sie ihn verschmähte. Sie spielte die Szene so meisterhaft, dass die kleinen Zuschauerinnen den Schurken deutlich vor sich sahen. Sie schlugen sich die Hände vor den Mund, um ihre Schreckensschreie zu ersticken.

Einmal fiel bei Roses Auftritt eins der Mädchen vor lauter Aufregung in Ohnmacht. Die anderen kamen gelaufen, pusteten ihr ins Gesicht oder fächelten ihr mit Kissen Luft zu, damit sie wieder zu sich käme. Wenn die Schwestern sie so sähen, wäre es aus mit all den herrlichen Späßen.

Am allermeisten liebten es Roses Zuschauerinnen, wenn sie spielte, dass der Bär zu Besuch kam, ihr unsichtbarer Freund. Er hielt jedes Mal um ihre Hand an. An der langen Tafel im Speisesaal rückten alle Mädchen einen Stuhl weiter, um für ihn Platz zu schaffen. Abends dann setzte Rose sich auf die Bettkante, schaute vor sich ins Leere und wies den Unsichtbaren ab.

»Du hast wohl den Verstand verloren. Ich kann doch keinen Bären heiraten!« Sie lauschte kurz auf seine Erwiderung. »Also, erstens – was wäre mit meinen Freundinnen? Ich wette, sobald ich nur eine Sekunde nicht aufpasse, würdest du sie mit Haut und Haar fressen!«

Die kleinen Zuschauerinnen prusteten los. Ihr Lachen platzte aus ihnen hervor wie ein aufgescheuchter Fasan aus dem Dickicht.

»Und zweitens brauchst du immerzu den Honig auf. Das ist einfach unmöglich! Du weißt genau, wie gern ich meinen Tee mit einem Löffelchen Honig trinke, aber jedes Mal, wenn ich das Glas zur Hand nehme, hast du es ratzekahl geschleckt.«

Wieder lachten sie über den dummen Bären, der einfach nicht wusste, wann es genug war.

»Außerdem bist du ein Nichtsnutz. Den ganzen Winter über liegst du auf der faulen Haut. Oh, ich weiß, dass es draußen kalt ist, aber deshalb kannst du noch lange nicht alles verschlafen! Wer soll die Rechnungen bezahlen? Glaubst du etwa, ich will monatelang dein Geschnarche ertragen? – Nein, ich werde dich nicht küssen! Nein, nein, nein! Nimm deine groben Pfoten von mir!«

Die Mädchen kreischten und klatschten vor Entzücken in die Hände. Sie vergaßen sich, zogen ihre Kleider über das Kinn und bissen sich in die Fäuste. Eine lachte so sehr, dass sie sich ein bisschen in die Hosen machte.

Pierrot brachte die Jungen zum Lachen und Rose die Mädchen. Weil die Schlafsäle der Jungen und der Mädchen streng getrennt waren, blieben auch ihre Vorstellungswelten fürs Erste getrennt. Aber nur fürs Erste.

Die Nonnen spürten, dass Rose etwas Besonderes war, und vielleicht wurde sie deshalb häufiger bestraft als alle anderen Kinder. Es ist schon besorgniserregend, wie oft ihr Name zu der Zeit im Buch der minderen Regelverstöße auftaucht. Schwester Eloïse gefiel es gar nicht, wie beliebt Rose war. Die anderen bewunderten sie für ihren Witz und ihren Einfallsreichtum, was die Nonne keinesfalls gutheißen konnte – ihrer Meinung nach sollten Mädchen nur für ihren Gehorsam bewundert werden.

Besonders missfiel ihr, dass Rose sich zu bilden versuchte, denn das geziemte sich für Mädchen schon gar nicht. Sie ertappte Rose dabei, dass sie das Zeitungspapier, in dem der Fisch angeliefert wurde, aus dem Papierkorb holte und darin las. Dann sah sie, wie der alte Hausmeister Rose etwas gab, das diese sich unter den Pullover steckte. Als sie der Sache nachging, kam ein Buch über die Geschichte Frankreichs zum Vorschein, in dem das erste Kapitel fehlte. Schwester Eloïse ahnte, dass dieser heimliche Handel nicht zum ersten Mal stattfand. In einer der Kabinen im Bad war eine Bodenplatte locker. Die Nonne hob sie an und fand darunter einen ganzen Bücherstapel: Victor Hugo, Cervantes und Jules Verne!

Zur Strafe durfte den Rest des Tages über niemand mit Rose reden. Sie musste ein Schild um den Hals tragen, auf dem geschrieben stand: Nicht ansprechen. Wenn sich ein Kind dabei erwischen ließ, der Anweisung zuwiderzuhandeln, würde es genauso ein Schild um den Hals tragen müssen.

Dann wieder musste Rose in der Ecke auf einem Stuhl stehen wegen unsittlicher Handlungen mit ihrem Bären. Dabei sollte sie einen großen Atlas auf dem Kopf balancieren. In dem Atlas gab es Karten von sämtlichen Ländern auf der ganzen Welt.

Rose trug eine weiße Maus mit sich herum, die der Gärtner ihr überlassen hatte. Nachts sperrte sie sie in ein Schraubglas und verstaute sie ganz unten in ihrer Kiste. Als die Mutter Oberin die Behausung eines Morgens entdeckte, füllte sie das Glas vor aller Augen mit Wasser und schraubte den Deckel zu. Mit von sich gestreckten Ärmchen trieb die Maus im Kreis, als käme sie aus dem Staunen nicht heraus.

Der Koch schenkte Rose Zigaretten. Er hatte gern Gesellschaft, wenn er rauchte. Rose setzte sich im Schneidersitz auf den Tresen, sog an ihrem Glimmstängel und hörte zu, wie der Koch sich in einem fort über seinen Schwager beschwerte.

Als Schwester Eloïse sie erwischte, musste Rose vor versammelter Mannschaft eine ganze Packung aufrauchen. Die anderen schauten gebannt dabei zu. Rose rauchte mit vollendeter Eleganz. Als sie einen Kringel blies, gab es Applaus. Die Kinder hatten gar nicht gewusst, dass Rose so gut eine Erwachsene mimen konnte.

»Man hat’s nicht leicht als Drache«, seufzte Rose. »Nein, wirklich! Kaum dass man eine Sekunde nicht aufpasst, kommt gleich ein Ritter daher und pikst einen in den Allerwertesten. Also, entschuldigen Sie mal! Komme ich vielleicht zu Ihnen nach Hause und pikse Sie? Nein, tue ich nicht.«

Und wieder sprühte um Rose herum Gelächter auf wie die Wasserstrahlen um die Brunnenstatue bei einem Wasserspiel. Am lautesten lachte Pierrot. Er fand Rose großartig. Er fand sie heldenhaft. Er fand sie einschüchternd.

Rose hatte das Gefühl, sie könnte jede einzelne Zigarette in ganz Montreal aufrauchen. Erst später beugte sie sich würgend über einen Eimer.

Als Eloïse das Mädchen eines Abends wieder in inniger Umarmung mit dem Bären erwischte, hatte sie endgültig genug.

Üblicherweise sah es in Eloïses Kopf aus wie in einer Küchenvitrine, wo das feine Porzellan hübsch ordentlich hinter den Glastüren aufgestapelt steht. Doch wenn Rose auf den Plan trat, schlug jedes ihrer Worte ein wie eine Mörsergranate, und die Regalbretter bebten, und all die Gedanken fielen zu Boden und zerschellten. Blinder Zorn überkam Eloïse; es war unerträglich.

»Was machst du da?«

»Ich will nicht, dass die Kleinen Angst im Dunkeln haben. Sie sollen lernen, dass die Kreaturen der Nacht eigentlich ganz nett sind.«

»Da sind keine Kreaturen. Sie müssen nur auf Gott vertrauen, dann kann ihnen nichts passieren. Gott behütet sie auch im Dunkeln.«

»Aber manchmal stellen wir uns eben gern sprechende Bären vor. Die lade ich ein, sich auf ein Tässchen Tee zu uns zu setzen.«

»Du beschwörst den Teufel herauf!«

»Mach ich nicht. Es ist bloß ein Spiel.«

»Was fällt dir ein, Widerworte zu geben?«

Drei Tage verbrachte Rose im Wandschrank. Als sie endlich wieder herausdurfte, sah Pierrot sie vom Tageslicht geblendet, mit tastend vorgereckten Armen den Flur entlangtappen.

Wer im Waisenhaus beim Onanieren erwischt wurde, bekam fünfzig Linealhiebe auf die Finger. Anschließend musste er sich rote Handschuhe überziehen und sich im Gemeinschaftsraum auf einen Stuhl stellen, damit alle sehen sollten, was er verbrochen hatte. Alle paar Wochen landete ein anderer Junge auf dem Stuhl der Schande. Und dann stand dort eines Tages die hübsche Rose. Die Kinder konnten es kaum glauben. Und das Verblüffendste von allem war ihr Gesichtsausdruck: Sie reckte das Kinn und wirkte beinahe stolz.

Pierrot sollte später erzählen, das sei der Moment gewesen, in dem er sich in Rose verliebte.

Kapitel 6

Porträt eines Jungen mit Regenschirm

Eines Nachts, Pierrot war elf Jahre alt, lag er mit zugekniffenen Augen in seinem Bett und onanierte. Die geschürzten Lippen hatte er nach links verzogen, die Zehen schauten weit gespreizt unter der Decke hervor. Er öffnete die Augen und erschrak, denn am Fuß des Bettes stand Schwester Eloïse. Pierrot packte das Entsetzen. Die Decke spannte sich über seinen Penis wie ein Zelt.

Er rechnete mit einer harten Strafe. Stattdessen legte die Schwester einen Finger auf die Lippen und nahm ihn sanft bei der Hand. Sie benahm sich, als wäre sie seine Komplizin. Mit zierlichen Schritten schlich sie ihm voran, und er folgte. Sie nahm ihn mit ins Bad. Pierrot dachte, sie hätte ihn aus dem Schlafsaal geführt, um ihn züchtigen zu können, ohne die anderen zu wecken. Vermutlich würde er in eiskaltem Wasser baden müssen; das war eine nicht unübliche Strafe.

Beim Anblick der gefüllten Wanne begann Pierrot zu zittern. Die Waisenkinder hatten schreckliche Angst vor der Kälte. Man hätte denken können, dass sie wegen der langen kanadischen Winter besonders abgehärtet wären, aber ganz im Gegenteil – die Kälte hatte sie so beharrlich verfolgt und gequält, dass sie weit mehr als andere Kinder in Furcht und Schrecken vor ihr lebten. Wer in jungen Jahren von einem Hund gebissen wird, fürchtet sich ja auch ein Leben lang vor diesen Tieren.

»Zieh dich aus und steig ins Wasser«, befahl die Nonne.

Mit klappernden Zähnen zog sich Pierrot das Nachthemd über den Kopf. Er bebte am ganzen Körper, als rumpelte vor dem Fenster ein Güterzug vorüber. Schwester Eloïse musterte seinen Penis. Er war erschlafft und dennoch größer als die der anderen Jungen in seinem Alter. Als Pierrot ihren Blick bemerkte, hielt er beschämt die Hände vor seine Körpermitte. Er vergaß einen Moment lang die Kälte und stieg in die Wanne, als könnte er sich dort verstecken.

Als sein Fuß ins Wasser eintauchte, überrumpelte ihn die Wärme. Sie kam so überraschend und fühlte sich so gut an, als hätte er eine Ohrfeige erwartet und stattdessen einen liebevollen Kuss bekommen. Pierrot beeilte sich, ganz einzutauchen. So ein warmes Bad hatte er überhaupt noch nie genommen. Wenn die Waisen einmal im Monat in die Wanne stiegen, war das Wasser immer lau und schmutzig.

Er verschwendete keinen Gedanken daran, womit er diese Belohnung verdient haben mochte. Für logische Gedanken blieb kein Platz, so sehr liebte er dieses Gefühl. Er war eins mit dem warmen Wasser. Der Wasserhahn sah aus wie ein Elefant mit abgespreizten Ohren. Eloïse drehte ihn auf, um durch den Rüssel noch mehr warmes Wasser einzulassen, und Pierrot schloss die Augen.

Als er sie diesmal öffnete, hatte die Schwester ihren Habit abgelegt. Sie trug ein dünnes Unterkleid. Es war seltsam, ihr Haar sehen zu können. Obwohl sie es kurz geschoren hatte, erkannte Pierrot, dass es hell und zart war wie der Flaum in den Fruchtkapseln einer Seidenpflanze. Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie üppige, lange Locken.

»Lass mich dich waschen«, sagte sie.

Pierrot stand auf, und Eloïse seifte seinen dürren Jungenkörper von oben bis unten kräftig ab. Beim Rubbeln und Schrubben tropfte Wasser auf ihr Kleid. Bald konnte er die Umrisse ihrer großen, runden Brüste erkennen. Pierrot begann sich zu fürchten, ohne selbst recht zu wissen, warum.

Der schlüpfrige Wannenboden unter seinen Füßen fühlte sich tückisch an wie eine dünne Eisschicht. Jeden Moment würde sie brechen, und er würde in die bodenlosen kalten Tiefen darunter stürzen.

»Willst du etwas Seltsames, aber auch Schönes erleben?«, fragte Eloïse.

Pierrot zuckte mit den Schultern. Wie jedes andere Kind war er für neue, überraschende Erlebnisse immer zu haben. Doch jetzt zögerte er. Irgendetwas hielt ihn davon ab, ja zu sagen, aber er sagte auch nicht nein. Später sollte er sich oft daran erinnern, dass er in dem Moment nicht nein gesagt hatte.

Die Nonne legte Seife und Lappen weg und kniete sich vor ihn hin. Sie umschloss seinen Penis mit den Händen, beugte sich vor und nahm ihn in den Mund. Sie schloss die Lippen um seine Eichel, saugte daran und leckte. Pierrots Penis schwoll an wie noch nie. Er wuchs und wuchs, als wollte er gar nicht wieder aufhören. Als wäre er Jacks magische Bohnenranke. Pierrot fühlte sich furchtbar, aber auch so gut.

Ihn überkam das Verlangen, Eloïse am Schopf zu packen und ihr den Penis tief in den Hals zu rammen. Er kämpfte dagegen an, aber es war, als führten seine Hände ein Eigenleben. Sie wollten unbedingt ihr seidiges Haar befühlen. Als er den zarten Flaum berührte, gab es kein Halten mehr. Er grub seine Fäuste hinein, schob ihr den Penis tief in den Mund und kam. Es war so überwältigend, dass er nicht hätte sagen können, ob es sich gut oder schlecht anfühlte. Noch nie hatte ihn etwas so verängstigt. Und zugleich wollte er den Rest seines Lebens damit verbringen.

Sein Penis zuckte in ihrem Mund. Ihn durchlief ein Schauder, als wäre er eine vom Wind geschüttelte Fahne. Eloïse hustete und würgte. Sie schob ihn sanft von sich. Spuckte in die Wanne.

»Jetzt geh wieder schlafen«, sagte sie.

Pierrot stieg aus der Wanne. Er trocknete sich hastig ab und zog sich sein Nachthemd über. Fröstelnd schlich er in den Schlafsaal. Draußen fiel Eisregen, und es klang, als trappelten hunderte Kinderfüße hinter ihm her. Pierrot war kalt. Er wollte nur noch schnell ins Bett und aus diesem Traum erwachen. Er wusste nicht einmal, was genau sie da getan hatten. Von Oralverkehr hatte er noch nie etwas gehört. Nur dass es mit Sex zu tun hatte, war ihm klar.

Er war zu jung, um die Nonne heiraten zu können. Und sie war mit Gott vermählt! Was würde Gott sagen, wenn er davon erfuhr? Gott war allwissend, also würde er auch herausfinden, was passiert war. Wie hatte er nur so dumm sein können, sich Ärger mit Gott einzuhandeln? Dabei hatte er in letzter Zeit so viel Glück gehabt und nie Prügel bezogen.

Pierrot schluchzte in sein Kissen. Er wusste nicht, wieso. Am nächsten Tag, beim Frühstück, kamen ihm wieder die Tränen. Die salzigen Tropfen verliehen dem Haferschleim ein wenig Würze.

Von da an weckte ihn Schwester Eloïse immer wieder. Er konnte gar nicht mehr mitzählen, so häufig kam sie ihn holen. So ging es auch noch, als der Winter dahinschmolz. Einmal konzentrierte er sich so sehr, als Eloïse an ihm leckte, dass draußen kleine Knospen aus den Zweigen hervorbrachen, und als er kam, entfalteten sich die Blätter. Am nächsten Morgen zog er sich seinen schwarzen Rollkragenpullover über. Er hatte Mühe, den Kragen über den Kopf zu bekommen, also blieb er auf der Bettkante sitzen und stellte sich vor, er wäre eine schwarze Schachfigur. Draußen wehte ihm der Frühlingswind entgegen. Der Wind berichtete den Waisen, wie er im Ozeandampfer nach Paris gereist war und von dort mit der Eisenbahn nach Italien. Die Kinder tanzten mit dem barfüßigen, unbeschwerten Wind.

Pierrot erzählte niemandem, was er erlebte. Es fühlte sich an, als wären seine Begegnungen mit Eloïse wirre Träume. Von ihren Träumen erzählten die Waisenkinder selten. Wozu sollte es gut sein, über ein zweiköpfiges Pferd zu reden, das nachts durch die Tür in den Schlafsaal spähte? Die Monster unter den Betten bedrängten Pierrot, er solle mit ihnen schlafen.

Schwester Eloïse ließ Pierrot schwören, dass er dem Priester nie beichten würde, was sie miteinander taten. Sie sagte, es sei ein Geheimnis, aber keine Sünde. Wer jemanden liebe, der könne auch ein Geheimnis bewahren. Und doch blieb das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Bedeutete dieses Gefühl vielleicht etwas? Dass Gut und Böse sich unterscheiden ließen? Doch Pierrot wagte es nicht, mit dem Priester zu reden. So kam zu allen seinen Nöten noch die Angst, in der Hölle zu landen.

Den anderen fiel auf, dass Pierrot sich verändert hatte. Er war ein fast unfehlbar fröhliches Kind gewesen, und jetzt überkam ihn manchmal große Trauer. Dann sagte er allen, sie sollten ihn allein lassen, er habe Angst vor dem Tod und wolle weinen. Er agierte seine Trauer aus wie auf einer Bühne.

Pierrot rollte sich fest zusammen, verschnürte sich buchstäblich zu einem Nervenbündel. So schaukelte er hin und her, bis er sich zu einem Purzelbaum aufgeschaukelt hatte. Dann erschrak er jedes Mal und streckte alle viere von sich. Die anderen Kinder lachten.

Er rannte los, warf sich geradewegs gegen eine Wand wie ein Vogel gegen das Fenster und rutschte langsam zu Boden.

Oder er stand draußen im Garten. Er hatte den Regenschirm der Mutter Oberin bei sich und hielt ihn sich über den Kopf. Die Kinder fragten ihn, was er da tue, und er sagte, er warte auf Regen.

Alle Kinder scharten sich um Pierrot, wenn er solche Anwandlungen hatte. Aus unerfindlichen Gründen hob seine Trauer die ihre auf. Das Unglück ließ sich problemlos meistern. Ihre schlechte Laune kam ihnen albern vor. Niemand musste sich mehr vor der Trauer fürchten. Sie war lächerlich. Banal wie ein Schluckauf. Sie ging vorüber, wie ein Bienenstich abklingt.

Da stand Pierrot nun allein unter seinem Schirm. Eine Henne wackelte vorüber und reckte den Brustkorb wie ein Kleinkind, das gerade laufen gelernt hat. Alle anderen Kinder waren es leid geworden, Pierrot zuzusehen, und hatten sich spannendere Beschäftigungen gesucht. Alle außer Rose. Sie stand noch immer da und schaute. Auf Zehenspitzen schlich sie zu ihm, bückte sich und stellte sich mit unter den Schirm. Dann nahm sie seine Hand, und Pierrot ging es augenblicklich besser, als wäre Rose die Antwort auf alle ungelösten Menschheitsfragen.

»Ich bin ein schlechter Mensch«, sagte Pierrot.

»Ich bin auch ganz schön böse«, sagte Rose und lächelte ihn an.

Pierrot wusste, dass Rose dafür bestraft wurde, wenn sie mit ihm sprach. Ihre Worte waren Schmugglerware, Kostbarkeiten vom Schwarzmarkt. Ein einziger Satz von ihr war wie ein Glas Marmelade mitten im Krieg.

»Findest du das schlimm?«, fragte Pierrot.

»Nein. Wir sind ja nicht ewig hier. Danach können wir tun und lassen, was wir wollen.«

Was für ein Gedanke! Konnten sie wirklich das Waisenhaus verlassen? Darauf wäre Pierrot nie gekommen. Er war sein Leben lang ein Kind gewesen, also war er davon ausgegangen, dass er immer eins bleiben würde. Stattdessen würde er mit Glück eines Tages frei sein.

Rose wies über das Feld hinaus, das sich vor dem Waisenhaus erstreckte. Jenseits davon wuchs die Stadt mit jedem Tag ein Stückchen weiter. Jedes Mal, wenn man hinschaute, war die Aussicht anders. Neue Türme, neue Mansarden, neue Giebel, Fenster und Kreuze. Sie rückten gegen das Waisenhaus vor wie eine Flotte, die auf die feindliche Küste zuhält.

Drei Nonnen kamen stockschwingend angelaufen, um den Jungen und das Mädchen zu trennen. Rose ließ Pierrots Hand los und rannte.

Vor dem Einschlafen flüsterte Pierrot die Worte »Ich bin auch ganz schön böse« vor sich hin. Sie gefielen ihm. Es gefiel ihm, Roses Worte in den Mund zu nehmen. Am liebsten wollte er den Mund auftun und Rose daraus lachen hören. Er hatte ein Verlangen, das er nicht in Worte fassen und sich nicht logisch erklären konnte: Er wollte mit ihr eins sein.

In derselben Nacht wurde Rose aus dem Wandschrank freigelassen und kehrte in ihren Schlafsaal zurück. Sie war froh, dass es dunkel war; so bekam sie wenigstens keine Kopfschmerzen vom Tageslicht. Auch sonst schätzte sie sich glücklich, weil sie diesmal nicht tagelang im Schrank gesessen hatte, sondern nur fünf Stunden.

Im Schrank hatte sie die ganze Zeit an einem Backenzahn gewackelt. Er hatte sich gelockert, als man sie zur Strafe ins Gesicht schlug. Jetzt hatte sie den Zahn in der Tasche.

Schwester Eloïse hatte Rose ein Flittchen genannt und gesagt, sie wolle Pierrot in Versuchung führen. Vielleicht stimmte es ja, was die Nonne sagte. Rose hatte große Sehnsucht nach Pierrots Nähe. Dafür bekam sie immer wieder Ärger. Und immer wieder ging sie das Risiko ein.

Die anderen Mädchen schliefen. Der Vollmond tauchte den Schlafsaal in ein geisterhaftes Licht. Rose setzte sich auf die Bettkante, zog sich die Schuhe aus und stellte sie unters Bett. Sie hob ihr Kleid und rollte die Strümpfe herunter. Dann streckte sie die nackten Beine aus, um sie zu betrachten. Am rechten großen Zeh war der Nagel schwarz unterlaufen und würde bald abfallen, weil einer der Stöcke ihn getroffen hatte. Ihr linkes Knie war von einem Sturz auf den Boden dunkelblau.

Rose zog sich ihr weißes Kleid über den Kopf. Weil sie nicht genügend Knöpfe geöffnet hatte, blieb sie darin hängen wie ein Schmetterling in seinem Kokon. Sie wand sich heraus, legte das Kleid zusammen und verstaute es in der Kiste. Ihren Oberarm zierte ein violetter Ring, wo eine der Nonnen sie gepackt und gebeutelt hatte.

Zuletzt zog Rose auch ihren Einteiler aus. Er war fadendünn und durchscheinend wie der Rauch einer Zigarre. Auf dem Rücken hatte sie Striemen von den Schlägen. Eine ihrer Flanken war noch verfärbt, wo man ihr bei einer anderen Bestrafung eine Rippe gebrochen hatte. In ihrem Einteiler klebten drei Tropfen Blut, weil sie ihre Tage bekommen hatte. Sie sahen aus wie Rosenblütenblätter.

Der Körper eines Mädchens ist der gefährlichste Ort der Welt, weil an ihm die meiste Gewalt ausgeübt wird.

Rose zog sich ihr Nachthemd über, sprang ins Bett und schlüpfte unter die Decke. Sie dachte an Pierrot. Sie wusste nicht, was es bedeutete, jemandem immer nah sein zu wollen. Dasselbe erleben zu wollen wie dieser Jemand. Rose stellte sich vor, sie könnte ihn schlagen, und der Bluterguss erschiene auf ihrem Körper.

»Ich bin ein schlechter Mensch«, flüsterte Rose im stillen Schlafsaal.

»Ich bin auch ganz schön böse«, flüsterte Pierrot zurück.

Kapitel 7

In welchem der Schnee einen großen Auftritt hat

Der Advent war in Montreal eine märchenhafte Zeit. Dann fiel der Schnee in riesengroßen Flocken. Sie waren so weiß, dass es den Kindern in den Augen schmerzte, sie nur anzuschauen. Überall war auf einmal diese Weiße. Sie hatte so etwas Reines an sich.

Im Waisenhaus herrschte zur Adventszeit ein reges Treiben. Jedes Jahr wurde eine Aufführung im Rathaus vorbereitet. Im Jahr 1926 zum Beispiel war es ein Stück über Daniel in der Löwengrube gewesen. Die Kinder hatten Mähnen aus engen Mützen und gelben Wollfäden getragen und hatten aufpassen müssen, dass sie sie am Tag der Aufführung nicht in die Suppe tunkten. Auch Rose hatte mitgespielt, und das Publikum hatte sich über ihr unverwechselbares Brüllen und über die Art, wie sie die Mähne schüttelte, vor Lachen ausgeschüttet.

Im Jahr darauf, als Pierrot und Rose beide dreizehn waren, hatte die Kulturkommission des Waisenhauses, eine Handvoll um den Esstisch versammelter Ordensschwestern, sich auf eine Aufführung zum Thema Winter geeinigt. Am Tag des Auftritts wurden die Kinder als Schneeengel verkleidet. Sie schnallten sich Flügel aus weißen Vogelfedern um die Schultern und legten Heiligenscheine an, die an kleinen Stäben befestigt über ihren Köpfen schwebten. Ihre weißen Gewänder rafften sie bis zu den Knien, damit die Säume auf dem Weg zum Pferdewagen nicht durch den Schlamm und durch den Schneematsch schleiften. Das Hufgeklapper klang wie ein ganzer Saal voller Kinder mit Schluckauf.

Die Waisen betraten die Bühne. Sie verschränkten die Hände zum Gebet. Dabei schauten sie zu Boden und sogen die Lippen zwischen die Zähne. Sie hatten Angst, ins Publikum zu schauen, weil sie dann vielleicht lachen müssten. Beim Abtritt liefen sie in einer Reihe hintereinander. Eins der Mädchen schaute sich nach den Zuschauern um. Dabei erstarrte sie einen Moment lang, und die nachfolgenden Kinder stießen alle mit ihr zusammen.

Eins der Lieder handelte vom Winterwetter. Die Kinder sangen Huuuuh, huuuuh, huuuuh, um das Heulen des Windes nachzuahmen. Sie hoben mit gespreizten Fingern die Hände und bewegten sie wie dürre Äste hin und her. Einige der ganz Kleinen traten auf und begannen auf Metallfässern zu trommeln, um ein wildes Unwetter zu imitieren. Dann verebbte das Getöse, und alle Kinder schauten in den Bühnenhimmel. Im nächsten Moment rieselten von dort sehr zum Wohlgefallen des Publikums papierene Schneeflocken auf sie herab.

Die Kinder sangen dazu »Stille Nacht, heilige Nacht«.

Als Rose mit den anderen abging, kam Pierrot ihr entgegen. Er packte sie am Handgelenk. »Bleib hier stehen«, sagte er. »Ich spiele was für dich.«

Es rieselten noch immer vereinzelte Flocken, als Pierrot auftrat. Er ging zu dem großen braunen Klavier, das man soeben in die Mitte gerollt hatte. Diesem Instrument war er noch nie begegnet. Pierrot ließ sich auf dem Bänkchen nieder, senkte den Kopf und rüttelte und schüttelte seine Hände, wie um sie aufzuwärmen. Als er die ersten Tasten berührte, zuckte er erschrocken zurück. Der Anschlag war so viel weicher als bei dem Instrument im Speisesaal des Waisenhauses. Dieses Klavier war ein viel willigerer Komplize. Es ließ sich gern von ihm spielen, ganz anders als der störrische alte Kasten. Pierrot ließ zu seinem eigenen Entzücken und dem des Publikums die Finger über die Tasten tanzen. Es klang wie Kindergelächter auf einem Schulhof. Erst war sein Spiel ein einziges Durcheinander, doch dann hörte das Publikum die zarte, liebliche Melodie heraus, die er soeben frei improvisierte. Sie klang, als hätte jemand das schönste Schmuckkästchen der Welt geöffnet.

Pierrot spielte dasselbe Thema, mit dem er Rose einmal zum Tanzen verleitet hatte. Seither hatte er jeden Tag daran gefeilt. Er erinnerte sich gut an seinen ersten Erfolg und wollte Rose unbedingt wieder aus der Reserve locken. Rose schloss die Augen und lauschte genüsslich der Musik. Sie begann selbstvergessen zu tanzen, schaukelte sanft von einem Fuß auf den anderen. Plötzlich erscholl hinter ihr Gelächter. Sie hatte gedacht, sie wäre hinter den Vorhängen verborgen. Der schwarze Stoff war dicht wie eine mondlose Nacht im Wald. Doch als Rose die Augen auftat, begriff sie, dass sie vom Rand der Bühne auf den rückwärtigen Vorhang schaute. Ganz langsam drehte sie sich um; alle Zuschauer blickten ihr entgegen.

Als sie Roses erschrockenes, blasses Gesicht sahen, wurde es im Saal schlagartig still. Die Leute konnten die Augen nicht von ihr lassen. Rose wirkte so überrumpelt, dass alles an ihr lebte. Die Zuschauer konnten sich selbst nicht erklären, was sie an diesem Mädchen so faszinierte. Was machte sie plötzlich so schön? Waren es die riesigen, ungewöhnlich dunklen Augen? War es der knospende Mund? Die rosigen Wangen?

Pierrot spielte weiter. Er spielte zögernd, als wäre auch die Melodie ängstlich und überrascht davon, plötzlich ein Publikum zu haben. Rose lächelte in den Saal. Sie flatterte mit den Armen, als wollte sie sich in den Himmel erheben und von der Bühne entkommen. Aber dann hüpfte sie nur und plumpste rittlings zu Boden.

Alles lachte über Roses Grimassen und ihre drolligen Versuche, davonzufliegen. Rose spürte die Bewunderung der Leute. Es fühlte sich an, als würde sie sich an einem Kaminfeuer wärmen. Und mit jedem ihrer Tanzschritte legte sie Scheite nach.