Traumhafte Aussichten - Angelika Kindziora - E-Book

Traumhafte Aussichten E-Book

Angelika Kindziora

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Beschreibung

Ein psychisch instabiler, etwa 60jähriger Frauenliebhaber versucht krampfhaft in Ibiza das große Geld und die große Liebe zu finden. Beides kommt ihm immer wieder abhanden und immer wieder sucht und findet er ungewöhnliche neue Möglichkeiten seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Alle Menschen, die sich ihm in den Weg stellen, nutzt er durch seine eigenartigen Methoden gnadenlos aus, indem er ihre dunklen Geheimnisse ins richtige Licht rückt. Eine verrückte, humorvolle Ibiza-Krimikomödie voller Überraschungen und Wendungen.

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Seitenzahl: 510

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Für meinen Vater

Inhaltsverzeichnis

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1. Kapitel

Gespannt schaute er aus dem Fenster. Das Flugzeug näherte sich der Landebahn. Das Wetter war fantastisch.

Alles war genauso, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Das Meer leuchtete in den schönsten Blautönen und die Menschen hatten entspannte Gesichtszüge.

Hier war seine Zukunft. Hier auf Ibiza wollte er bleiben bis zu seinem Tod, der hoffentlich noch weit entfernt war. Er war neugierig, sehr neugierig.

Bisher kannte er sie nur von einem Foto und auf dem Foto sah sie gut aus, selbst wenn er noch zehn Jahre dazugab, was sich meist als sehr wirklichkeitsnah herausstellte.

Aber das war ihm nicht so wichtig. Wichtig waren die anderen Werte, die auf dem Bankkonto und die im Banksafe, alles andere interessierte ihn nicht mehr.

Er war jetzt sechzig Jahre alt und fast pleite. Er hatte sich mit dem Rest von seinem zuletzt verdienten Geld eingekleidet.

Den größeren Teil hatte er in Aktien angelegt, wieder einmal in die Falschen, wie sich jetzt herausgestellt hatte.

Noch vor zehn Jahren wäre er mit einer Depression und Existenzängsten in ein tiefes Loch gefallen, aber er hatte dazugelernt. Heute wusste er, dass sich jede Situation auch sehr schnell wieder ändern konnte.

Er würde alles so nehmen, wie es kommt. Bloß keine Aufregung mehr, die war nicht so gut für sein Herz.

Er schaute noch einmal kurz in den kleinen Taschenspiegel, den er immer bei sich trug. Gut sah er aus, wie immer.

Weißgraue, halblange, lockige Haare und eine gesunde, gebräunte Gesichtsfarbe. Passend dazu hatte er sich einen wunderbaren, legeren, weißen Leinenanzug gegönnt. Er sah genauso aus, wie er aussehen wollte. Wie jemand, mit dem das Leben es gut meinte. Die Frauen drehten sich nach ihm um.

Es erstaunte ihn immer wieder, wie naiv sie doch waren und wie leicht sie durch Äußerlichkeiten zu beeindrucken waren.

Unglaublich. Er lächelte vor sich hin, stand auf, nahm seinen Koffer aus der Ablage und genau in diesem Moment begegnete er ihrem Blick. Mein Gott, diese Augen und höchstens dreißig. Eine Inselschönheit.

Schade, dass am Flughafen bereits eine andere Dame auf ihn wartete. Er drehte sich noch einmal zu ihr um und zwinkerte ihr mit einem Auge zu. Sie lächelte amüsiert und musterte ihn kurz. Sein äußeres Bild schien ihr zu gefallen. Dann wandte sie ihr Gesicht ihrer Begleiterin zu. Wahrscheinlich eine Freundin.

Er vertraute dem Zufall. Wenn es sein sollte, würde er sie wiedertreffen. Die Insel war nicht so groß und der liebe Gott war immer sein Freund gewesen. Er wusste genau um seine Bedürfnisse.

Jetzt musste er sich um seine hoffentlich zukünftige Frau Sylvi von Bülow kümmern. Er schloss kurz die Augen und wiederholte im Stillen seine wichtigsten, fiktiven Herkunftsdaten. Wieder musste er lächeln.

Es würde alles gutgehen. Schließlich war immer alles gut gegangen. Siebenmal war er fast verheiratet gewesen und siebenmal hatte ihm schon vor der Ehe alles gehört. Und alle sieben Frauen waren in der kurzen Zeit, in der sie zusammen gewesen waren, glücklich. Für alle war es sogar die glücklichste Zeit in ihrem Leben gewesen.

Er war der Frauenglücklichmacher.

Das war sein Job hier auf der Erde. Etwas anderes konnte er nicht. Dafür sah er zu gut aus. Er atmete tief ein und begleitete die Flugzeugschönheit weiter mit den Augen.

Aber sie tat sehr beschäftigt und schien in ein wichtiges Gespräch vertieft. Er riss seinen Blick von ihr los und ließ ihn über den Teil der Insel schweifen, der sich ihm jetzt in diesen Moment beim Verlassen des Flugzeuges präsentierte. Dann betrat er endlich den Inselboden.

Die Kofferübernahme verlief problemlos und er ging in Richtung Ausgang. Jetzt wurde es spannend. Die Türen öffneten sich und da stand sie. Auf den ersten Blick sah sie noch besser aus, als auf den Fotos.

Er lächelte sie an und sie lächelte ebenso erfreut zurück. Er ließ seine Koffer stehen und ging ihr entgegen. Sie umarmten sich. Alle Empfindungen, die er hatte, waren angenehm. Ein sehr gutes Zeichen!

Er war zufrieden und diese Zufriedenheit strahlte er auch aus.

„Willkommen auf Ibiza.“

Noch immer positiv überrascht, nickte er ihr zu.

„Schön, dass wir uns endlich kennenlernen. Ich freue mich.“

Dann schaute er sie genauer an. Sein Blick scannte sie augenblicklich. Sie wirkte auch von nahem jünger als auf den Fotos. Ein leichtes Sommerkleid betonte ihre schlanke Figur und ließ sie jugendlich erscheinen. Sie sah nicht älter aus als Ende vierzig. Er war so in seine Betrachtung vertieft, dass er nicht bemerkte, dass noch eine Person von hinten auf sie zutrat.

„Darf ich dir meine Tochter Sara vorstellen?“ Er drehte sich um. Er mochte keine Überraschungen. Es war ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam.

Die Flugzeugschönheit sah ihn amüsiert an. Er unterdrückte einen leichten Missmut und ging sofort in die Offensive.

„Wir kennen uns schon aus dem Flugzeug.“

Dann umarmte er sie ebenfalls und seine angenehmen Gefühle nahmen exponentiell zu.

Mutter und Tochter.

Die Freundin der Tochter schien sich verabschiedet zu haben.

Mutter und Tochter, das war trotzdem eine zu viel.

Nacheinander wäre gut, gleichzeitig gefiel ihm diese Konstellation nicht. Er musste aufpassen. Beide beobachteten ihn. Er musste jetzt den Überblick bewahren und er durfte keinen Fehler machen.

„Wollen wir?“, Sylvi schaute ihn fragend an.

Er nickte und nahm seine beiden Koffer. Zum Glück war der Parkplatz direkt vor dem Flughafen. Die Sonne blendete ihn und er setzte seine Ray Ban Sonnenbrille auf. Komischerweise fühlte er sich gleich viel sicherer. Die beiden Frauen liefen vor ihm. Er hörte sie laut lachen.

Hoffentlich nicht über ihn. Das verursachte ihm leichte Übelkeit. Aber wenn, dann war es auch egal.

Sylvi fuhr einen Jeep. Er lud seine Koffer in den Gepäckraum und setzte sich selbstverständlich auf den Beifahrersitz. Die Tochter saß hinter ihm. Sie saß ihm quasi im Nacken. Auch das mochte er gar nicht so gern.

Sie fuhren los. Zehn Minuten später waren sie an ihrer Finca.

Das Tor öffnete sich automatisch und die großzügig angelegte Finca präsentierte sich in ihrer ganzen Schönheit. Er war beeindruckt. Hoffentlich war diese Frau nicht eine Nummer zu groß für ihn. Aber er liebte prickelnde Herausforderungen.

Sie stiegen vor dem Eingang aus und Sylvi öffnete die Haustür.

Natürlich ließ er den Damen den Vortritt.

In der Finca war es sehr kühl, fast unterkühlt.

Die Tochter ging in ein Nebenzimmer und er war mit Sylvi zum ersten Mal allein. Er räusperte sich laut, stellte sein Gepäck ab und ging auf sie zu. Sie stand etwas nervös an der Essbar und mixte zwei Erfrischungsdrinks.

Dann reichte sie ihm ein Glas. Er hoffte, dass der Inhalt wenigstens leicht alkoholisiert war.

„Auf uns“, er prostete ihr zu und schaute ihr dabei tief in die Augen.

„Auf unsere gemeinsame Zukunft“, sie wich seinem Blick nicht aus und stieß leicht mit seinem Glas zusammen. Er trank einen Schluck und setzte sein Glas enttäuscht ab. Kein Alkohol. Das musste er ändern. Ohne Alkohol wurde es schwieriger.

„Eigentlich müssten wir jetzt auf unser erstes Treffen Champagner trinken!“

Sie schaute ihn an, aber sie sagte nichts darauf. Er wurde unsicher. Irgendetwas stimmte nicht. Was erwartete sie von ihm?

Sie kannten sich jetzt etwa ein halbes Jahr, aber nur vom Chatten oder vom Telefonieren. Sie hatte darauf gedrungen, dass er hierher kam. Und nun, machte sie etwa einen Rückzieher? Er entschloss sich, in die Offensive zu gehen.

„Ich dachte wir wären beide allein und ich habe mich sehr darauf gefreut. Ich weiß jetzt nicht so richtig, wie ich mich verhalten soll. Auf zwei Damen bin ich nicht vorbereitet.“ Er sah sie scheinbar hilflos an.

„Meine Tochter ist überraschend gekommen. Ich konnte dir nicht mehr Bescheid geben. Aber sie wird höchstens eine Woche bleiben und uns auch nicht oft stören.“

Er stöhnte innerlich auf. Eine ganze Woche. Nach außen spielte er weiter den Charmanten.

„Ich hätte Lust darauf, etwas mit dir zu unternehmen. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich einen Riesenhunger. Ich würde vorschlagen, dass ich mich ein bisschen frisch mache und dann gehen wir irgendwo etwas essen. Was meinst du?“

Er hatte das eigenartige Gefühl ein Gefangener zu sein und konnte es sich selbst nicht erklären, warum das so war. Er fühlte einfach, dass alles nicht so war, wie es sein sollte.

„Einverstanden, wir treffen uns in einer Stunde wieder hier unten. Ich zeige dir jetzt erst einmal dein Zimmer und dann sehen wir weiter.“

Sie lächelte ihn verführerisch an und führte ihn nach oben in sein Zimmer, aber er spürte deutlich, dass auch sie erleichtert war.

Endlich war er allein. Er sah sich im Zimmer um, alles sehr exklusiv, aber auch nicht mehr sehr neu. Er packte seine Koffer aus. Dann ging er auf den kleinen Balkon, der an seinem Zimmer anschloss. Der Ausblick war fantastisch. Jetzt am späten Nachmittag lag eine Entspannung auf der Insel, die die Vorfreude auf einen Sommerabend im Freien mit Freunden oder Geliebten einschloss. So hatte er sich das auch vorgestellt. Warme Sommerabende, schönes Essen, das Meer und eine schöne Frau.

Er spürte seine aufsteigende Erregung und beschloss, erst einmal duschen zu gehen. Danach ging es ihm um einige Nuancen besser. Sein Optimismus kehrte zurück. Er ging im Stillen noch einmal alles durch.

Sein Name hier auf Ibiza war Aaron von Karow, verwitwet, ehemaliger Unternehmer und jetzt befand er sich im Ruhestand. Er hatte ihr erzählt, dass er genug Geld hatte, um ein sorgenfreies Leben zu führen.

Ab und zu hatte er von seinen Millionen gesprochen und wie problematisch es sei, eine vernünftige Geldanlage zu finden.

Natürlich hatte er keine Millionen mehr, schon lange nicht mehr. Bei ihm gab es immer nur zwei extreme Zustände, entweder hatte er sehr viel Geld oder er hatte gar keines.

Momentan war letzteres der Fall. Aber auch das war kein Grund für ihn, dass es ihm schlechter ging als vorher. Er lebte sein Leben einfach weiter, wie immer.

Seine letzte Freundin war leider vor einem Jahr gestorben.

Immerhin hatte er es mit ihr fast ein halbes Jahr ausgehalten, aber zum Schluss ging es nicht mehr. Sie war immer misstrauischer geworden und hatte einen Detektiv auf ihn angesetzt. Zum Glück hatte er es zufällig bemerkt.

Trotzdem wusste sie zu diesem Zeitpunkt schon viel zu viel von ihm.

Schade. Aber er bedauerte nichts. Er liebte die Abwechslung, egal von und mit welchem Geschlecht. Auf Ibiza gab es diesbezüglich genug Auswahl. Seine Vorfreude kehrte zurück.

Und er liebte das Leben und das Leben liebte ihn. Das sollte auch so bleiben.

Er zog sich an und ging hinunter.

Niemand war zu sehen. Er schaute sich entspannt um. Ein leichtes, blumiges Parfüm lag in der samtigen, immer noch kühlen Luft. Die Terrassentür zum Garten stand weit offen und ein durchsichtiger Vorhang bewegte sich im Wind. Er hörte eine weibliche und eine männliche Stimme im Garten.

Seine Neugierde trieb ihn hinaus. In diesem Moment wurde das Gespräch plötzlich unterbrochen und zwei unbekannte Gesichter sahen ihn an.

Er räusperte sich, nickte ihnen kurz zu und zog sich etwas verärgert wieder zurück. Es befanden sich einfach zu viele Menschen an diesem Ort. Erst kam die Tochter überraschenderweise, dann diese beiden Personen im Garten und Sylvi war nicht zusehen. Er setzte sich in einen der zwei Ledersessel, die im Empfangsraum standen, und dachte nach.

Er musste unbedingt mit ihr sprechen. Die ganze Situation gefiel ihm nicht. Vielleicht war es besser, wenn er erst einmal in ein Hotel ziehen würde. Zum Glück hatte er noch genügend Kreditkarten, die noch funktionierten. Nur Bargeld war momentan ein kleines Problem für ihn.

Seine Gedankengänge wurden von Sara unterbrochen, die die Treppe herunterkam. Sie hatte sich umgezogen und sah wirklich zum Anbeißen aus. Sie trug kurze Short und ein Seidentop mit Spaghettiträgern und scheinbar nichts darunter. Er zwang sich dazu, den Blick abzuwenden und lenkte seinen Blick auf eine unverfängliche Zeitung, die auf dem Tisch vor ihm lag. Was wurde hier gespielt? Er musste sich sammeln und eine Entscheidung treffen, außerdem hatte er jetzt wirklich Hunger.

„Meine Mutter kommt gleich. Wenn du magst, können wir ein Glas Wein auf der Terrasse trinken.“

Sie stand jetzt vor ihm und schaute ihn an, direkt in die Augen.

Einen Tick zu lange, wie er fand.

„Sehr gern.“

Endlich gab es etwas Alkohol in netter Gesellschaft und dann würde er weitersehen. Er stand auf und ging ihr nach. Dabei beobachtete er sie von hinten. Sie roch gut, aber nicht nach dem Parfüm, dass er gerade noch wahrgenommen hatte.

Auch von hinten sah sie fantastisch aus. Er hatte große Lust sie zu berühren und musste seine Hände krampfhaft unter Kontrolle halten.

„Von einer Tochter hatte mir deine Mutter nichts erzählt. Ich bin etwas überrascht und nicht wirklich darauf vorbereitet gewesen, aber ich hoffe, wir werden uns gut verstehen.“

Er versuchte seine Lüsternheit in diesen harmlosen Bemerkungen zu verstecken.

Sie drehte sich zu ihm um und sah ihm wieder direkt in die Augen.

„Wir werden sehen. Ich war echt gespannt auf dich. Meine Mutter hat mir erzählt, dass ihr euch im Internet kennen gelernt habt. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass sie mit dir glücklich wird.

Seit dem Tod meines Vaters vor fünf Jahren habe ich mir so sehr gewünscht, dass sie wieder jemanden findet. Mein Vater war nicht gerade ein Traummann. Er war immer sehr bestimmend und hat sie sonst kaum wahrgenommen. Ich möchte einfach, dass sie eine fröhliche, lebenslustige Frau wird und das Leben wieder genießt.“

Das klang fast wie eine Drohung. Aber es schreckte ihn nicht ab.

Inzwischen waren sie auf der Terrasse angelangt, an deren Ende sich eine kleine aber feine Bar befand.

„Was möchtest du trinken?“

Wieder dieser intensive Blick von ihr. Er erwiderte, wie er hoffte, völlig unbefangen.

„Ein Glas Rosé wäre jetzt genau das Richtige.“

Sie drehte sich um und holte aus der Bar eine bereits geöffnete Flasche Wein aus dem Kühlschrank und zwei Gläser.

Er ging auf sie zu und nahm ihr die Flasche ab, dabei streifte seine Hand zufällig die ihre und ihre Finger berührten sich.

Seine Gefühle liefen Amok.

„Lass mich einschenken.“

„Gern.“

Sie beobachte ihn beim Einschenken. Es machte ihn nervös, seine Nerven lagen blank. Und dann noch diese extreme Hitze, die hatte er auch völlig unterschätzt. Vielleicht hätte er doch in Deutschland bleiben sollen. Er war eben doch nicht mehr der Jüngste.

„Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich heute noch nichts Vernünftiges gegessen. Hast du eine Ahnung, was deine Mutter heute noch geplant hat?“

Der Wein war sehr gut, aber er spürte auch sofort die Wirkung. Wenn er nicht bald etwas zu essen bekommen würde, wäre seine Einsatzfähigkeit für heute stark eingeschränkt.

„Meiner Mutter geht es seit einiger Zeit nicht so gut. Sie musste sich hinlegen, aber sie hat für uns Essen bestellt. Es gibt hier in der Nähe ein sehr gutes Restaurant, das ´Juans´.

Sie liefern interessante, vegane und vegetarische Spezialitäten und sogar rohköstliche Menüs. Die Menschen hier auf Ibiza lieben diese leichten Speisen im Sommer. Die Lieferung müsste jeden Moment ankommen.“

Sie schaute ihn begeistert an. Leider konnte er ihre Begeisterung überhaupt nicht teilen. Er liebte Steaks und Fisch über alles und jetzt sollte er vegetarisch essen und vielleicht sogar nur Rohkost. Es war absurd.

„Hört sich interessant an.“

Mehr brachte er nicht heraus. Er kam sich vor, wie in einem falschen Film. Da half nur Alkohol.

Inzwischen war er bereits beim dritten Glas Wein angelangt.

Das musste für den jetzigen Moment reichen.

Er kannte seine Grenzen ganz genau. Alkohol hatte ihn schon einmal ins Schleudern gebracht. Er musste vorsichtig sein.

Momentan befand er sich in einer undefinierbaren Gefühlslage. So langsam war ihm alles egal, richtig egal.

Zum Glück erschien Sylvi gerade rechtzeitig, sonst hätte er jetzt ihre Tochter vernascht. Dieser Gedanke brachte ihn wieder zurück in die Gegenwart und zauberte ein tiefes Lächeln auf sein Gesicht, das Sylvi natürlich auf sich bezog.

Sie gingen alle drei ins Esszimmer, in dem wie von unsichtbarer Hand ein kleines Galadiner eingedeckt worden war. Endlich!

Viele Schüsseln mit unterschiedlichen Salaten und gebratenen Gemüsesorten standen auf dem Tisch. Es sah alles sehr gesund aus und roch sehr appetitlich.

Er beobachtete Sylvi beim Essen. Noch immer sah sie sehr blass aus. Es schien ihr tatsächlich nicht gut zu gehen.

Natürlich wusste er von ihren depressiven Zuständen, aber sie störten ihn nicht im Geringsten. Im Gegenteil, es passte perfekt in seinen Plan. Außerdem hatten in ihrem Alter fast alle Frauen Depressionen, schon allein wegen des Alters.

Zum Glück war es bei ihm anders. Je älter er wurde, desto wohler fühlte er sich und umso attraktiver empfand er sich.

Seine Erfahrungen ließen ihn außerdem souverän erscheinen.

Er war ein entspannter Mensch und ein mitfühlender, guter Zuhörer. Das mochten die Frauen in allen Altersklassen. Sein Psychologiestudium, das er leider aus vielen Gründen nicht beendet hatte, leistete ihm dabei immer wieder gute Dienste.

Nichts im Leben geschah umsonst, alles hatte seinen Sinn. Mit seinen vielseitigen Gaben war er immer wieder auf die Füße und in die Hände einer schönen Frau gefallen.

Das Essen schmeckte ihm entgegen seinen Erwartungen ausgezeichnet, aber morgen würde er trotzdem für ein ordentliches Steak sorgen. Schließlich hätten sie ihn ja wenigstens fragen können, ob er vegetarisches Essen mochte.

Alle Entscheidungen, die ihn betrafen, traf er grundsätzlich selbst und das bezog sich auch auf das Essen. Das musste er von Anfang an klarstellen.

Zum Essen gab es wieder Wein. Sein rechtes Augenlid begann zu jucken, ein schlechtes Zeichen. Noch ein Glas Wein und sein Auge würde zu blinzeln beginnen. Ein Tick, den er trotz verschiedener ärztlicher Behandlungen nicht verhindern konnte. Solche äußerliche Einschränkung kam zu Beginn einer Beziehung nicht so gut an, zumal ihm zwei interessante Damen gegenüber saßen, die er für sich einnehmen musste.

Er ließ den restlichen Wein stehen und bat um Wasser.

Widerwillig trank er zwei Gläser voll hintereinander aus.

Erleichtert spürte er, wie das Jucken nach ein paar Minuten nachließ.

Der Espresso wurde von einer der beiden Personen serviert, die er im Garten überrascht hatte. Es war die weibliche Hausangestellte, die ihn dabei unerschrocken und wie er fand auch etwas abfällig musterte.

„Übrigens habe ich noch eine kleine Überraschung für dich vorbereitet“, Sylvi wandte sich ihm mit einem Lächeln zu und er versuchte sich auf ihre Worte zu konzentrieren.

Eine Überraschung! Er hasste Überraschungen, besonders wenn sie als klein bezeichnet wurden, denn das waren sie erfahrungsgemäß nie. Aber auch diesen Gedanken versteckte er hinter einem fragenden, interessierten Gesichtsausdruck.

„Ich liebe Überraschungen...“, sagte er abwartend.

Irgendwann würde er für alle seine Lügen büßen müssen, aber damit hatte er sich schon abgefunden. Vielleicht fand der liebe Gott es ja auch lustig oder abwechslungsreich, denn bisher hatte er noch kein Veto eingelegt. Außerdem waren es ja auch nur Notlügen. Schließlich wollte er niemandem wehtun, sondern nur den Schein erwecken, ein perfekter und unkomplizierter Partner für Sylvi zu sein.

„Wir geben heute Abend um zwanzig Uhr ein kleines Fest, nichts Großes, für etwa 20 Personen. Es sind alles Freunde von mir und Menschen, die mir wichtig sind. Ich möchte, dass du sie alle kennenlernst und hoffe, dass es dir recht ist.“

Sie schien jetzt doch etwas verunsichert zu sein.

Er war innerlich natürlich sehr überrascht, ließ es sich aber nicht anmerken. Es ging ihm alles viel zu schnell. Warum hatte sie damit nicht ein paar Tage gewartet, bis er sich eingelebt hatte? Er verstand es nicht, er verstand einiges nicht so richtig.

„Natürlich ist es mir recht. Ich freue mich, deinen Bekanntenkreis kennenzulernen, aber ich würde mich gern vorher noch etwas ausruhen. Die Reise war doch anstrengender gewesen, als ich dachte und heute Abend möchte ich fit sein für dich und deine Gäste.“

Er musste sich innerlich vorbereiten, damit nichts schief ging und er sich nicht schon am ersten Tag blamierte, deshalb würde er sich jetzt zurückziehen. Er stand auf und nickte Sylvi und Sara zu.

„Danke für das wunderbare Essen. Bis heute Abend.“

Auf einmal fühlte er sich kraftlos. Müdigkeit und Zweifel stiegen in ihm auf. Kaum war er in seinem Zimmer angelangt, legte er sich auf das Bett und schlief sofort ein.

Als er einige Stunden später aus seinem traumlosen Schlaf erwachte, wusste er im ersten Moment nicht gleich, wo er sich befand. Aus dem Garten klang leise Musik herauf. Er ging auf seinen Balkon und schaute hinunter. Alles war sehr intim beleuchtet. Das Personal deckte Tische festlich ein und errichtete ein Buffet. Sylvi war nicht zu sehen. Bestimmt machte sie sich schön. Bis jetzt waren sie sich noch nicht sehr viel näher gekommen, aber das konnte sich heute Abend sehr schnell ändern. Jetzt war er doch neugierig geworden.

Plötzlich war er sich sehr sicher, dass sein Aufenthalt auf dieser schönen Insel noch sehr interessant werden würde.

Er fühlte sich wieder außerordentlich fit und unternehmungslustig. Entspannt zog er seinen einzigen weißen Smoking an und schaute in den Spiegel. Er sah fantastisch aus. Perfekt. Zufrieden lächelte er seinem Spiegelbild zu. Seine Ankunft war zwar nicht ganz nach seinen Vorstellungen verlaufen, aber der Abend würde ihm gehören.

Noch war etwa eine Stunde Zeit. Er holte seine Pfeife aus seinem Gepäck. Frauen liebten es, wenn Männer Pfeife rauchten. Warum das so war, wusste er nicht. Aber es war eine Tatsache. Scheinbar verstärkte es die Männlichkeit. Dann nahm er die Streichhölzer und den Tabak aus seiner Jackentasche. Er mochte es auch zu rauchen. Genüsslich stopfte er den Tabak in der Pfeife fest und zündete sie an.

Rauchend beobachtete er weiter von oben die Aktivitäten im Garten.

„Er hat etwas Unheimliches an sich, etwas Unangenehmes, findest du nicht auch?“ Sara sprach mit geschlossenen Augen.

Sylvi schüttelte den Kopf.

„Ich finde ihn sehr sympathisch und auch sehr gutaussehend.

Ich dachte er gefällt dir auch oder warum flirtest du ständig mit ihm?“ Sie schaute ihre Tochter prüfend an.

„Wollte David nicht schon längst hier sein?“

„Ich hoffe, dass er heute nicht kommt. Er fängt an mich zu langweilen. Laufend hat er neue Geschäftsideen und nie kommt etwas dabei heraus. Er ist wie ein kleines Kind. Ich sollte mir auch einen Mann mit Geld suchen und nicht einen, der nur Kosten verursacht. Immerhin bin ich auch schon fast dreißig. Ich glaube, ich werde mich von ihm trennen. Dein Aaron scheint dagegen finanziell ja wirklich ein richtiger Glücksgriff zu sein. Ich bin richtig neidisch auf dich, trotzdem hat er irgendetwas Eigenartiges an sich.“

Sara hatte die Augen immer noch geschlossen.

„Ich spüre seine dunkle Aura, da kannst du sagen, was du willst.“

Sylvi schüttelte unwillig den Kopf.

„Ich weiß nicht, was du hast. Er sieht sehr gut aus, hat Manieren, keinen Anhang und viel Geld. Und er sagt, dass er sich in mich verliebt hat. Ich freue mich auf die nächsten Tage und Wochen mit ihm. Und du weißt, dass uns eine finanzielle Unterstützung sehr gut tun würde. Die Villa kann ich nicht mehr lange finanzieren. Ich hätte sie gleich nach dem Tod deines Vaters verkaufen sollen. Aber damals war ich psychisch einfach nicht in der Lage dazu. Und jetzt habe ich so viele Hypotheken aufgenommen, dass mir die Zinsen schlaflose Nächte bereiten.

Plötzlich verstummte sie. Es roch nach Pfeifentabak. Langsam drehte sie sich um.

Aaron kam die Treppe herunter. Er spürte innerlich, dass sie über ihn geredet hatten. Aber es störte ihn nicht im Geringsten. Sie wussten genauso viel oder wenig über ihn, wie er über sie.

Zum Glück klingelte es in diesem Moment an der Eingangstür und Sara sprang sofort auf und verließ den Raum. Er hörte, wie sie jemanden begrüßte.

„Das wird David sein, ihr Freund.“

Sylvi lächelte ihn beim Sprechen etwas verkrampft an. Er sah sie an. Gut sah sie aus, viel gelöster als heute Mittag, aber so richtig schien sie mit der Männerwahl ihrer Tochter nicht zufrieden zu sein. Er war jetzt sehr gespannt, wie sich alles weiterentwickeln würde.

Inzwischen reizte ihn der Abend sogar. Bestimmt waren alle ihre Freunde neugierig auf ihn und er würde niemanden enttäuschen und sich von seiner allerbesten Seite zeigen. Wie immer, wenn er von Menschen umgeben war. Wie er wirklich war, wusste er nur allein. Es ging auch niemanden etwas an.

„Komm lass uns gemeinsam in den Garten gehen.“

Ihre Worte holten ihn zurück in die Gegenwart. Er schaltete innerlich sofort um und schlüpfte in seine Rolle als Kavalier.

Darin hatte er Übung.

„Du siehst fantastisch aus“, flüsterte er ihr leise ins Ohr.

Sie schaute ihn überrascht an und er spürte, wie sehr sie sich über dieses Kompliment freute.

„Ich glaube ich habe eine gute Entscheidung getroffen, als ich dich hierher eingeladen habe. Du weißt, was Frauen gut tut und deine Anwesenheit tut mir sehr gut.“

Sie errötete wie ein kleines Mädchen, als sie das sagte.

Dann stand sie auf und hakte sich bei ihm unter. Wie ein altes Ehepaar gingen sie gemeinsam in den Garten hinaus.

“Du siehst wirklich sehr gut aus.“

Nach ein paar Sekunden sprach er weiter.

„Ich hatte schon Angst, dass dir mein Aufenthalt zu anstrengend ist und habe sogar mit dem Gedanken gespielt in ein Hotel zu gehen.“

Er schaute sie prüfend an, während er sprach und war auf ihre Reaktion gespannt. Sie zuckte zusammen und er spürte, dass ihr diese Idee nicht gefiel. Eine innere Befriedigung durchflutete ihn sofort. Also gefiel er ihr, sowie sie ihm auch gefiel. Es passte, wie immer.

Einerseits war er jetzt erleichtert und gleichzeitig auch etwas enttäuscht, wie einfach es wieder einmal war. Fast tat sie ihm etwas leid, aber natürlich ließ er sich nichts anmerken.

Im Garten wurden sie schon von Sara und einem jungen Mann erwartet.

Sylvi stellte ihn vor: „Das ist David, Saras Freund. Er hat in Palma auf Mallorca vor einem Monat ein Fitnesscenter eröffnet und deshalb sehr wenig Zeit, umso mehr freue ich mich, dass ihr euch beide heute Abend kennenlernt.“

David schien sich nicht allzu sehr zu freuen, warum auch, aber er spielte das Spiel mit einem etwas gequältem Gesichtsausdruck mit.

Aaron schaute ihn sich etwas genauer an. Ein Blick genügte und er wusste Bescheid. Einer von diesen typischen, durchtrainierten Möchtegernunternehmern, gesponsert von Geldern, die er garantiert nicht selbst verdient hatte. Dabei wirkte er so von sich selbst überzeugt, dass es schon etwas lächerlich wirkte. Zum Glück entführte Sara David gleich wieder, um ihn anderen Gästen vorzustellen. Er beobachtete sie dabei. Glückliche Frauen sahen anders aus.

Ihm gefiel die Rolle des Beobachters. Nichts war interessanter als Menschen in ihrer unendlichen Vielfalt zu betrachten.

Besonders wenn die meisten von ihnen mehr darstellen wollten, als sie waren.

Darin hatte er Erfahrung.

Inzwischen waren alle Gäste eingetroffen. Sylvi blühte immer mehr auf und versuchte ihn in ihren Freundeskreis zu integrieren. Immobilienmakler, Richter, Chefredakteur, Banker, alle wichtigen Geldberufe waren vertreten und jedem wurde er vorgestellt. Alle, besonders auch die Frauen, musterten ihn mit neugierigem Blick, übten sich aber noch in Zurückhaltung und die Gespräche blieben unverbindlich. Sie handelten meist vom schönen Wetter in Ibiza und von der Wirtschaftslage in Deutschland. Zum Schluss stellte sie ihm einen polnischen Künstler, sein Name war Macek, vor.

Er war ihm sofort sympathisch. Seine lockere Art unterschied ihn von den anderen und er versteckte seine Neugierde nicht, sondern musterte ihn genauso interessiert, wie er ihn und wollte genau wissen, wie er Sylvi kennengelernt und wo er in Deutschland gelebt hatte.

Noch wusste Aaron allerdings nicht, worin dessen Künste bestanden. Die Sympathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Er verspürte so etwas wie Seelenverwandtschaft, schließlich war er auf seinem Gebiet auch ein Künstler.

Außerdem fand er ihn auch äußerlich sehr attraktiv. Genau sein Geschmack. Er schätzte ihn etwa dreißig Jahre jünger als sich selbst und wenn er es richtig verstanden hatte, kam er aus Polen und lebte seit etwa einem Jahr hier. Vielleicht fühlte er sich ihm deshalb so verbunden, weil er auch relativ neu auf der Insel war.

Er spürte, dass Macek sich auch für ihn interessierte, auf welchem Gebiet war ihm noch nicht ganz klar. Sexuell war er im Moment tabu für ihn. Immer eine Sache nach der anderen.

Erst einmal war Sylvi sein Ziel und dann, naja man würde sehen.

Das Sommerfest war ganz nach seinem Geschmack. Es gab leckeres Fleisch, viele exotische Fische, Salate und Champagner. Das dürfte alles sehr kostspielig sein. Er wertete es als ein sehr gutes Zeichen. Die Finanzen von Sylvi schienen in Ordnung zu sein. So gefiel ihm das Leben, so durfte es weitergehen. Er gestattet sich sein drittes und letztes Glas Champagner und sah, wie Sara ihm zuprostete. Sie schien schon ziemlich betrunken zu sein und ließ sich sofort vom Kellner wieder nachschenken. Ihr Freund war nicht zu sehen.

Vielleicht machte ihr sein neuer Job Probleme, schließlich würde er mit sehr vielen attraktiven Frauen zu tun haben. Das würde wohl jeder Frau Sorgen bereiten, auch wenn sie so perfekt aussahen, wie Sara. Er beobachtete sie und ihre aufreizende Kleidung, die am Abend besonders sexy wirkte, bis sie ihn plötzlich anschaute und ihm lächelnd zu blinzelte.

Das gefiel ihm gar nicht. Hoffentlich hatte sie ihn jetzt nicht falsch verstanden!

Er wollte keine Missverständnisse. Sein Blick wandte sich wieder Sylvi zu. Sie war perfekt in ihrer Rolle als Gastgeberin.

Das rote Seidenkleid passte zu ihren halblangen blonden Haaren. Sie hatte feine Gesichtszüge, das mochte er an Frauen und auch an Männern. Frauen, die in der Jugend sehr schlank waren, sahen im Alter meist knochig aus. Sylvi konnte das noch gut verstecken, aber noch schlanker durfte sie nicht werden. Alles hatte eben immer zwei Seiten.

Überraschenderweise musste er zugeben, dass sie ihm wirklich gefiel, sehr gut gefiel.

Sie hatte das gewisse Etwas und wirkte trotzdem verletzlich und schutzbedürftig.

Mit seinen Gefühlen war er immer sehr sparsam gewesen, bewusst sparsam. Gefühle kamen und gingen. Und dazwischen war der Alltag. Meist verwandelten sich die liebevollen Gefühle nach ein paar Monaten oder Jahren ins Gegenteil. Er kannte nur sehr wenige Paare, bei denen es nicht so war. Menschen veränderten sich ständig und irgendwann passte es dann nicht mehr. Aus Liebe wurde Kontrolle, Bevormundung, Unzufriedenheit und dann Hass.

Soweit hatte er es nie kommen lassen.Das wahre Leben begann in dem Moment, wo sich die Erwartungen nicht mehr erfüllten. In einer Partnerschaft erfüllten sich diese selten. Sie konnten sich auch nicht erfüllen, das war unmöglich, weil niemand seinen Partner wirklich kannte und dann wurde man mit der Realität konfrontiert und wunderte sich, wie sehr man sich doch getäuscht hatte.

Auch er wusste nicht, was Sylvi wirklich dachte, hoffte und erwartete. Vielleicht machte sie ihm genauso etwas vor, wie er ihr?

„Gefällt sie dir?“

Macek war unbemerkt neben ihn getreten. Er antwortete nicht gleich.

„Du bist das Gesprächsthema des Abends. Alle reden nur von dir. Im Prinzip geht es immer darum, wie viel Geld du wohl hast und woher du kommst und mit wem du wohl Geschäfte machst. Keiner kennt dich und deine Vergangenheit. Das macht die Meute neugierig.“

Macek lächelte ihn offen an.

Er schwieg weiter.

„Endlich passiert mal wieder etwas. Es haben ja schon einige bei Sylvi versucht. Aber bislang sind alle gescheitert.“

Aaron hörte sehr gut zu. Die Gespräche am späten Abend waren immer die interessantesten. Ab einem gewissen Alkoholpegel sagten alle Menschen die Wahrheit. Er betrachtete sein Gegenüber.

Wellige braune halblange Haare, dunkelbraune Augen mit unglaublich langen Wimpern und Dreitagebart, so stand er vor ihm. Farbenfroh und leger gekleidet, fiel er doch etwas aus der Rolle. Aber bei Künstlern ist jeder toleranter als bei anderen Menschen. Eine gewisse Andersartigkeit wird einfach erwartet.

„Wer war denn der bisherige Favorit bei Sylvi?“, antwortete er endlich und schaute ihn gespannt an.

„Serge!“

„Wer ist denn Serge? Sylvi hat mir noch niemanden mit diesem Namen vorgestellt.“

„Er ist heute Abend nicht hier. In letzter Zeit habe ich ihn kaum noch gesehen. Außerdem meidet er Menschenmengen und wohnt in den Bergen, allein und abgeschirmt.

Wahrscheinlich ist er einer der wenigen Menschen, die nicht mehr an Geld interessiert sind. Er ist eine ehrliche Haut.“

Macek sah ihn während er sprach intensiv, fast aufdringlich an.

„Und du, bist du an Geld interessiert?“

Aaron war davon unbeeindruckt. Solche Fragen, wenn auch ziemlich direkt gestellt, konnten ihn schon lange nicht mehr aus der Ruhe bringen.

„Natürlich bin ich an Geld interessiert, wer ist das nicht.“

Er griff langsam in seine Hosentasche und zog einen zerknitterten Lottoschein heraus.

„Den trage ich immer bei mir. Die Glückszahlen meiner Mutter. Ich musste ihr versprechen, dass ich sie spiele, solange ich genug Geld dafür habe. Sie war hellseherisch sehr begabt und hat mir immer wieder erzählt, dass ich einen großen Lottogewinn machen werde. In sechs Wochen werde ich ihn wieder verlängern. Versprochen ist versprochen. Seit zwanzig Jahren spiele ich nun schon, aber gewonnen habe ich bisher noch nicht. Ist deine Frage damit beantwortet?“

Er schaute ihm in die Augen und spürte, wie er Macek damit verunsicherte. Trotzdem gefiel er ihm gut, sehr gut.

„Welche Art ist deine Kunst?“, versuchte er ihn abzulenken.

„Ich interessiere mich für Malerei und ich male auch selbst.

Bilder von Ibiza, aber keine gegenständlich Kunst, sondern Impressionen, die meine Gefühle für diese wunderbare Insel und für die Menschen die hier wohnen, widerspiegeln. Ich mag das Licht der Insel und ich mag das Leben hier. Ich zeichne viel im Freien und liebe es mit den unendlichen Möglichkeiten der Farben zu spielen.“

Er schwieg einen Moment.

„Wenn du magst, kannst du dir gern ein paar Bilder von mir anschauen. Ich bin noch zwei Monate in der Galerie von George Serrini zu sehen in Ibiza-Stadt und fahre morgen früh zu einem Gespräch mit ihm in die Galerie. Wenn es dich wirklich interessiert, nehme ich dich mit. Hast du Lust?“

Wieder schaute er ihn erwartungsvoll und offen an.

Natürlich hatte er Lust. Er entschied sich sofort dafür, den kommenden Vormittag mit Macek zu verbringen. Es prickelte in ihm bei dieser verlockenden Vorstellung.

Obwohl dieser bestimmt auch nur hoffte, dass er sich für seine Bilder interessierte und vielleicht eines kaufte. Dass ein Kauf für ihn aus finanziellen Gründen gar nicht möglich war, musste er ihm nicht sagen. Er war einfach neugierig und würde sie sich erst einmal ansehen.

Die Aussicht auf den nächsten Morgen half ihn den restlichen Abend lächelnd zu überstehen. Er widmete die letzten Stunden der Party nur noch Sylvi. Sie tanzten eng umschlungen und er musste nicht einmal lügen, als er ihr sagte, dass er sie sehr mochte. Das Wort Liebe nahm er noch nicht in den Mund, alles brauchte seine Zeit. Dafür überhäufte er sie mit Aufmerksamkeiten.

Er blieb den ganzen weiteren Abend in ihrer Nähe, sorgte dafür dass ihr Champagner kalt war und immer ein leckeres Häppchen für sie zur Verfügung stand. Er wollte sich unentbehrlich machen und er wusste, dass er das schaffen würde. Dabei dachte er sehr oft an Macek.

Sie hatten sich für den nächsten Morgen um elf Uhr verabredet. Beschwingt unterhielt er sich mit den anderen Gästen und hinterließ überall einen angenehmen Eindruck, jedenfalls kam es ihm so vor.

Plötzlich wurde es ihm bewusst, dass er sich verliebt hatte, aber nicht in Sylvi und auch nicht in Sara, sondern in Macek.

Das war zwar nicht plangemäß, aber er konnte und wollte es nicht ändern. Er war jetzt selbst gespannt, wie sich alles weiter entwickeln würde.

Er hatte nichts zu verlieren und das sorgte für die notwendige Leichtigkeit, die sich in ihm ausbreitete. So fühlte es sich an, wenn man glücklich war. Das war der letzte Gedanke, mit dem er um drei Uhr früh allein einschlief.

2. Kapitel

Der erste Morgen auf Ibiza hatte ganz nach seinem Geschmack begonnen.

Mitten in das Katerfrühstück mit Sylvi, Sara und David platzte er mit der Nachricht hinein, dass er mit Macek nach Ibiza-Stadt in die Galerie fahren würde.

Er ahnte, dass er damit Sylvi enttäuschte, aber er musste auch Prioritäten setzen und seine Bedürfnisse nicht den ihrigen unterordnen. Das musste von Anfang an klar sein. Außerdem waren Sara und David auch noch da.

Sara sah nicht sehr glücklich aus an diesem sonnenklaren Morgen. Ihr verkatertes Gesicht versuchte sie hinter einer Designersonnenbrille zu verstecken, aber ihr Missmut war weiterhin in ihrem Gesicht zu lesen.

David versuchte gar nicht erst etwas zu sagen. Seine schlechte Laune entsprach dem Gesichtsausdruck Saras. Fast tat er Aaron leid. Alles in allem war es wirklich die beste Lösung für ihn, wenn er ein paar Stunden nicht präsent war. Vielleicht verschwand ja Sara mit ihrem David doch ein paar Tage früher wieder nach Mallorca.

Macek ließ ihn nicht im Stich und holte ihn pünktlich ab und Aaron freute sich und verabschiedete sich schnell von den Anwesenden.

Er war dankbar, dass er jetzt mit Macek in dessen Auto über die Inselautobahn nach Ibiza-Stadt fahren konnte.

Zwanzig Minuten später hielten sie vor der Galerie. Es war ein wunderschönes, teilweise verglastes Haus, das mit seinen weißen Außenwänden und blauen Eingangstüren dem Ibizastil nachempfunden war und es befand sich auf einer Anhöhe etwas außerhalb der Altstadt.

Macek fühlte sich dort wie zu Hause, das spürte er gleich. Er führte ihn durch seine Ausstellung und blühte förmlich auf.

Der Enthusiasmus, mit dem er ihm die Inhalte seine Bilder erklärte, umhüllte ihn und ließ ihn kraftvoller erscheinen, als am Vorabend. Aaron konnte seinen Blick kaum von ihm wenden. Er heuchelte Interesse für die Bilder und seine Grundlagenkenntnisse über Malerei ließen ihn auch intelligente Fragen stellen, wie er hoffte.

Leider wurden sie schon kurz nach ihrer Ankunft vom Inhaber der Galerie, einer schrillen Persönlichkeit namens George, gestört. Macek stellte Aaron als Freund aus Deutschland vor.

Dann entführte der Galerist seinen neuen Freund für ein angeblich sehr dringendes Gespräch ins Büro und sie ließen ihn beide allein zurück.

Aaron schlenderte noch einmal durch die Galerie, begutachtete noch die anderen Ausstellungsstücke und versuchte sie wertmäßig einzuschätzen.

Als Macek nach zwanzig Minuten immer noch nicht zurückgekommen war, fühlte er sich doch etwas zurückgesetzt und deplatziert.

Eigentlich wurde er langsam sauer und beschloss die Galerie zu verlassen. Bei der Anfahrt hatte er ein kleines Café in der Nähe gesehen. Aber da sich sein leeres Portemonnaie noch nicht wieder mit Bargeld gefüllt hatte, kam ein Besuch erst einmal nicht in Frage.

Er musste sich dringend etwas einfallen lassen, bevor es peinlich wurde und er vielleicht von einer unerwarteten Ausgabe überrascht wurde.

Unentschlossen lief er auf und ab. Da ihn ein dringendes Bedürfnis überkam, musste er noch einmal zurück. Die Toiletten befanden sich am Ende des Ausstellungsraumes und auf dem Weg dorthin hörte er plötzlich laute Stimmen aus einem Nebenraum.

Es klang nach einem Streitgespräch und das machte ihn neugierig. Es machte ihn sogar so neugierig, dass er sein Bedürfnis vergaß. Bei dem Streit ging es um Geld, wenn er es richtig verstanden hatte um etwa achtzigtausend Euro.

Er hörte Maceks Stimme und hätte sie beinahe nicht wieder erkannt, so wütend hörte sie sich an. Leider bekam Aaron nicht wirklich mit, wer wem Geld schuldete. Das Gespräch endete plötzlich und er verschwand schleunigst auf die Toilette. Als er wieder heraus kam, wartete Macek schon im Foyer auf ihn. Er sah blass und wütend aus, aber Aaron hielt sich zurück und fragte erst einmal nicht nach, was passiert war. Er wusste das Schweigen meist wirklich Gold war und die Zungen der Menschen sich oft schneller lösen, wenn man sie in Ruhe ließ.

„Hast du Lust auf einen Espresso? Ich wohne hier ganz in der Nähe.“

Macek unterbrach die Stille, die sich zwischen ihnen breit gemacht hatte.

„Ja, gerne.“

Aaron nickte mit dem Kopf und sie gingen schweigend zum Auto. Macek fuhr sehr schnell und aggressiv und fünf Minuten später hielt er in einer schmalen Gasse in der Altstadt.

Macek führte ihn durch ein kleines Tor über eine scheinbar endlose Außentreppe hinauf in eine wunderschöne Dachgeschosswohnung, die ihn neidisch werden ließ. Von dem Balkon hatte man eine traumhafte Aussicht über das ganze Meer.

Die Espressomaschine zischte nach kurzer Zeit und der Espresso schien eine beruhigende Wirkung auf Macek zu haben. Übrigens schmeckte er ihm auch ausgezeichnet.

„Es gefällt mir hier, bei dir, in der Wohnung.“

Aaron schwieg bewusst einen Moment und ließ diese zweideutige Bemerkung erst einmal wirken. Macek schaute ihn unsicher an. Aaron spürte, wie es in ihm arbeitete. Aber er sagte nichts weiter. Zuviel wollte er noch nicht preisgeben.

Abwarten und Espresso trinken.

„Ich bin so sauer.“

Macek hatte sich immer noch nicht unter Kontrolle, seine Wut explodierte an die Oberfläche. Aaron schwieg, stand auf und legte ihm seinen Arm freundschaftlich auf die Schulter.

„Willst du mir erzählen, was los ist?“

Er schaute ihm in die Augen. Unverbindlich. Erst einmal völlig unverbindlich. Macek zuckte zusammen.

„Er hat mich belogen und betrogen. Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt tun soll. George schuldet mir fast achtzigtausend Euro. Angeblich haben die Käufer meiner Bilder nicht bezahlt, was ich ihm aber nicht glaube. Bezahlt wird immer bei der Übergabe oder vorher. Meist aber per Scheck. Außerdem sind zwei Schecks geplatzt, also waren nicht gedeckt. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Alles Lügen! Eigentlich müsste ich sofort alle Objekte, die mir gehören, aus der Galerie holen, aber ich weiß nicht, wohin ich sie bringen soll. Ein neues Angebot für eine Ausstellung habe ich erst wieder in einem halben Jahr und das Angebot ist auch noch nicht sicher. Dazu kommt, dass meine Mutter krank ist und ich nach Polen fahren sollte. Mit meiner Miete hier bin ich seit zwei Monaten im Verzug und mein Atelier muss ich auch noch bezahlen.

Alles scheint in die Brüche zu gehen. Ich bin völlig am Ende.“

Aaron schwieg und überlegte. Hatte ihn Macek in der Hoffnung heute mitgenommen, dass er ihm finanziell helfen würde?

Er wusste es nicht, aber er kannte Macek auch erst ein paar Stunden.

Wer wusste schon, wie er wirklich war. Er war unschlüssig.

Finanziell helfen konnte er ihm sowieso nicht, aber das wusste nur er selbst und das war auch gut so. Diese ungeplante Entwicklung missfiel ihm, missfiel ihm sehr. Er entschloss sich, sich jetzt wieder um Sylvi zu kümmern. Hoffentlich war sie ihm nicht böse, weil er so schnell verschwunden war.

Seine Gefühle für Macek begannen abzuflauen, als er plötzlich dessen Hand auf seinem Arm spürte.

„Komm bitte schlaf mit mir!“

Er erstarrte innerlich und äußerlich. Was sollte er jetzt tun? Er befand sich in einer Zwickmühle. Lust hätte er schon, aber die Situation war einfach zu kompliziert.

Aber Macek gab so schnell nicht auf. Er spürte genau, dass er für diese Art von Zärtlichkeit sehr empfänglich war und streichelte ihn weiter. Inzwischen war es auch nicht mehr zu übersehen, dass es ihm gefiel oder das es seinem Körper gefiel. Was sollte er tun? Normalerweise lebte er nach dem Lustgefühl und vertraute darauf, dass sich alles zum Guten entwickelte. Er schloss die Augen und begann die Zärtlichkeiten zu genießen. Alles würde gut werden, wie immer. Sein neues Mantra: alles würde gut werden. Alles war gut und wie gut. Macek hatte gewonnen und Aaron ließ sich auf dieses wunderbare, sexuelle Abenteuer ein. Schließlich hatte er nichts zu verlieren.

„Möchtest du auch noch einen Espresso?“

Macek lag entspannt neben ihm und rauchte genüsslich eine Zigarette.

„Gib mir bitte eine Zigarette und ein Espresso wäre jetzt optimal.“

Was für ein Tag! Zufrieden schloss Aaron die Augen und überlegte.

Was würde Macek für seine Dienstleistung erwarten? Er würde sehen. Macek war immer noch völlig nackt, als er ihm seinen Espresso brachte. Er hatte einen perfekten Körper und es war ihm bewusst, das spürte er, aber er ließ sich nichts anmerken. Langsam schlürfte er mit sichtlichem Behagen seinen Espresso.

„Kannst du mir finanziell aushelfen?“

Sein neuer Freund ließ wirklich nichts anbrennen.

„Nein, momentan geht gar nichts bei mir.“

Klare Frage, klare Antwort.

„Wir könnten uns öfter treffen, so oft du möchtest. Außerhalb deiner Beziehung zu Sylvi.“

So langsam schien es interessant zu werden. Aaron schwieg ein paar Sekunden und rauchte seine Zigarette zu Ende.

„Nein, ich bin nicht interessiert. Es war wirklich sehr nett mit dir, aber ich habe andere Pläne.“

Er wartete gespannt auf die Reaktion von Macek.

„Was hast du denn für Pläne?“

Maceks Stimme klang jetzt leicht aggressiv und angriffslustig.

„Ich werde Sylvi heiraten. Such dir doch auch eine reiche, ältere Dame oder einen betuchten Herrn.“

Aaron schaute ihn an und lächelte. Macek grinste zurück, etwas zu überheblich, wie er fand.

„Wieso auch? Glaubst du etwa Sylvi ist reich?“

„Ist sie das etwa nicht?“

Aaron fühlte sich ertappt.

„Das wissen doch wirklich alle hier, dass sie auf eine Finanzspritze von dir hofft, sonst muss sie ihre Villa aufgeben.

Sie hat von einem ihrer so genannten „besten“ Freunde so viele Kredite bekommen, dass sie es nicht mehr schafft, diese zurückzuzahlen. Also spare dir lieber deine Energie und dein Geld.“

Diesmal war es Aaron, der blass wurde.

Seine Situation hatte sich in den letzten Sekunden dramatisch verändert. Er fühlte sich wie damals nach dem Börsencrash.

Eine Weile sagte er nichts.

Tausend Gedanken polterten durch seinen Kopf. Sie kamen und gingen und er kam zu keinem Entschluss. Was sollte er jetzt nur tun? Alles war auf einmal so sinnlos geworden.

Warum sollte er jetzt noch zu Sylvi fahren? Es gab keinen Grund mehr. Sie war ihm zwar sympathisch, aber ohne das erhoffte Geld würde er sie nicht heiraten!

Er wusste nicht mehr weiter.

Macek beobachtete ihn und fing plötzlich an zu lachen. Er konnte einfach nicht mehr aufhören. Er lachte solange, bis ihm die Tränen aus den Augen liefen.

„Du hast auch kein Geld, stimmt‘s?“

Aaron antwortete nicht. Was sollte er auch antworten? Er entschloss sich die Wahrheit zu sagen. Jetzt war sowieso alles egal.

„Ich habe kein Bargeld mehr, nicht einen Cent. Aber ich habe noch fünf Kreditkarten, mit denen ich einkaufen kann.

Allerdings weiß ich nicht, wie lange das noch gut geht.

„Was machen wir jetzt?“

Macek schaute ihn prüfend an. “Ich habe da so eine Idee.“

„Was ist das für eine Idee?“

„Wir gehen erst einmal zu einer sehr guten Freundin von mir.

Sie ist auch aus Polen und legt Tarotkarten. Wir werfen einfach mal einen Blick in unsere Zukunft. Ich denke sie ist gut, sehr gut. Hast du Lust?“

„Das meinst du nicht wirklich? Du machst Witze oder?!“

Aaron schüttelte den Kopf. Nicht noch unrealistischen Hokuspokus, das war für ihn alles absolute Spinnerei. Er konnte es nicht fassen, dass erwachsene Männer an so etwas glaubten.

Aber Macek gab so schnell nicht auf.

„Komm hab dich nicht so. Sie heißt Elisa und hat mir schon einige Male mit ihren Voraussagen geholfen. Sie behauptet immer, dass wir und alles, was uns umgibt, reine Energie ist und das erscheint mir logisch. Diese Energie spiegelt sich überall wieder, auch in den Karten. Komm lass uns Spaß haben. Der Ernst des Lebens holt uns ganz schnell wieder ein.

Oder willst du jetzt etwa zu Sylvi?“

Aaron schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall wollte er jetzt mit Sylvi reden. Was sollte er ihr auch sagen ohne sich selbst zu outen?

„Dann doch lieber zu Elisa. Aber lass uns vorher noch einen Espresso trinken, obwohl mir jetzt ein Wodka lieber wäre. Bist du dir wirklich vollkommen sicher, dass Sylvi kein Geld mehr hat?“

Er konnte es immer noch nicht fassen. All seine Träume und wunderbaren Vorstellungen fielen in sich zusammen. Das ganze Geld ,das er in ihre Beziehung investiert hatte. Sein ganzes Leben hatte er für sie verändert. Und wofür?

Für eine schillernde Seifenblase, die soeben geplatzt war. Mit einem lauten Knall. Er schüttelte den Kopf und merkte nicht einmal, wie er seinen Espresso austrank.

„Wo wohnt denn deine Elisa?“, fragte er nach einigen Minuten sichtlich genervt.

„Sie wohnt in der Nähe von Es Canar. Aber ich werde sie erst einmal anrufen, ob sie auch da ist. Bitte entschuldige mich einen Moment.“

Aaron saß noch immer wie versteinert. Er würde mit einem verarmten Maler zu einer bestimmt verrückten Wahrsagerin gehen und sich die Karten legen lassen! Unglaublich! Wie tief war er nur gesunken!

Es war eindeutig ein Fehler gewesen nach Ibiza zu kommen!

Aber es gab für ihn momentan keine Alternative. In Deutschland war er in der nächsten Zeit auch nicht willkommen. Sicher ließen ihn inzwischen einige Damen oder deren potentielle Erben polizeilich suchen. Wo sollte er denn jetzt noch hingehen? Er entschloss sich erst einmal, Sylvi gegenüber so zu tun, als ob er von ihren Problemen nichts wüsste. Er würde also einfach abwarten und seine Rolle weiter spielen.

Schließlich hatte er ihr finanziell nichts versprochen. Zum Glück. Vielleicht geschah ja noch ein Wunder.

Macek kam zurück ins Zimmer und unterbrach seine dunklen Gedankenspiele.

„Also, wenn du Lust hast, können wir sofort zu ihr fahren. Sie freut sich schon auf uns beide. In zwanzig Minuten sind wir bei ihr.“

Aaron fügte sich in sein Schicksal.

Kurze Zeit später hielt Maceks schwarzer Ford Siesta vor einer kleinen Finca, der man von außen die mysteriöse Tätigkeit ihrer Besitzerin nicht ansah. Noch bevor sie klingeln konnten, wurde die Tür von einer etwas vierzigjährigen, rothaarigen, extrem gutgelaunten Frau aufgerissen, die Macek sofort mit einer unendlichen Menge von polnischen Wörtern vereinnahmte.

Sie gefiel Aaron sofort. Er hatte genug Zeit sie zu betrachten.

Ein Energiebündel. Diese Frau wusste genau, was sie wollte.

Solche Frauen passten normalerweise überhaupt nicht in sein Beuteschema. Und trotzdem war sie ihm sympathisch. Nach einer scheinbar unendlich langen Zeit, nahm sie ihn auch endlich wahr. Er ging auf sie zu.

„Mein Name ist Aaron. Ich bin erst seit gestern auf der Insel und ...“, er wusste nicht so recht weiter. Was sollte er auch sagen? Das seine Vorstellungen und Träume, die er mit seiner Reise hierher verbunden hatte, soeben geplatzt waren? Es war ihm peinlich, sich vor ihr zu outen. Elisa schaute ihn intensiv an. Dann umarmte sie ihn auch.

„Kommt erst einmal herein.“

Sie gingen gemeinsam in einen großen Raum, dessen Wände vollständig verglast waren und die den Eindruck vermittelten, als säßen sie mitten in der Natur. Die Sonne schien und spiegelte sich im ganzen Raum. Aaron fühlte sich sofort wohl.

Bequeme Sessel und eine riesige Couch verliehen dem Raum eine Atmosphäre, die ihm das Gefühl gab, völlig sicher zu sein.

Hier konnte einem nichts geschehen. An den Wänden hingen extrem farbige Bilder, die eine unglaublich intensive ausnahmslos fröhliche Energie ausstrahlten. Wie ihre Besitzerin. Ein Bild gefiel ihm besonders gut, obwohl er nicht genau erkennen konnte, was es darstellen sollte. Die Farben verflossen ineinander und öffneten sich wieder einzeln zu einer perfekten Harmonie, in der jede einzelne Farbe in ihrer Individualität erstrahlte und gleichzeitig ein wunderbares, gemeinsames Zusammenspiel erzeugt wurde. Er konnte seinen Blick nicht davon losreißen. Gleichzeitig spürte er aber auch, dass dieses Bild eine unglaublich beruhigende Wirkung auf ihn hatte.

Er fühlte sich auf einmal müde, richtig müde. Das Leben hatte ihn eingeholt. Er ließ sich in einen der riesigen Sessel fallen und versank sofort in dessen weiche, umarmende Tiefe. Was machte er hier nur? Er hörte die Stimmen von Elisa und Macek in der nebenliegenden Küche. Sie lachten zusammen.

Bestimmt hatte Macek ihr gerade erzählt, was er für ein Verlierertyp war. Aber es war ihm egal. Macek ging es ja auch nicht viel besser.

In diesem Moment kam Elisa mit einem Tablett ins Zimmer, auf dem Tee und Kekse wirkungsvoll dekoriert waren. Alles hier hatte eine künstlerische Nuance, das gefiel ihm, weil nichts aufgesetzt wirkte und trotzdem eine unverwechselbare und unkomplizierte Einheit ausstrahlte.

Er fing an sie zu beneiden und fragte sich warum. Vielleicht, weil sie niemanden weiter brauchte, um glücklich zu sein. Sie schien sich selbst zu genügen.

Macek, der hinter ihr ins Zimmer getreten war, ließ sie keinen Moment aus den Augen. Er schien sie zu vergöttern. Aaron verstand überhaupt nichts mehr.

Er schien für Macek nicht mehr zu existieren. Ein ungesundes, bohrendes Gefühl von Eifersucht nagte in ihm. Macek war doch viel zu jung für diese Frau und außerdem männlichen Personen zugeneigt, jedenfalls hatte er das vor kurzem noch geglaubt. Aber auf dieser Insel schien alles anders zu sein.

Alles veränderte sich mit einem Tempo, das er so nicht gewohnt war. Jeder machte mit ihm was er wollte. Vielleicht hatte Macek ihm nur seine Zuneigung vorgespielt, um an sein imaginäres Geld zu kommen. Er fühlte sich schmutzig und benutzt und als Spielball der für ihn nicht mehr kontrollierbaren Ereignisse und konnte seinen Unmut nicht länger unterdrücken. Dass er selbst andere Menschen für seine Bedürfnisse benutzte, wurde ihm erst in diesem Moment bewusst.

Er war wütend, wütend auf sich selbst, auf Macek, auf Sylvi, eigentlich auf die ganze Welt und vor allen Dingen auf diese Insel. Er hätte vor Wut um sich schlagen können und keiner schien es zu bemerken. Plötzlich ließ er seine noch halbvolle Teetasse, die er zwischen seinen Händen hielt, einfach fallen und erschrak selbst darüber.

Sie sprangen alle drei gleichzeitig auf und er floss über vor scheinheiligen Entschuldigungen und fühlte sich gleichzeitig besser. Extrem besser. Er hatte den engen Bann zwischen den beiden gebrochen und wurde wieder wahrgenommen, das befriedigte ihn kolossal. Es bekam niemanden wirklich gut, wenn er nicht beachtet wurde. Schließlich war er etwas ganz Besonderes. Sichtlich gestärkt sammelte er Stück für Stück der Scherben auf. Scherben bringen Glück, das hatte seine über alles geliebte Mutter immer gesagt.

Jedes Mal , wenn er wieder einmal etwas fallen gelassen hatte.

„Scherben bringen Glück!“, trotzig kamen die drei Worte aus seinem Mund. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er sich wie ein kleines Kind benahm, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. Aber er gab sehr ungern wieder etwas her, was er einmal besessen hatte. Und Macek hatte er noch vor einer Stunde besessen! So schnell würde er ihn nicht jemandem anderen überlassen und schon gar nicht einer Frau!

Elisa lächelte ihn etwas unsicher an. Er spürte, dass sie ihn nicht mochte und seine positiven Gefühle, die er anfangs für sie hatte, schlugen ebenfalls ins Gegenteil um.

„Wir werden sehen, wem die Scherben Glück bringen. Ich hole kurz die Karten, dann könnt ihr eure Fragen stellen.“

Beim Sprechen sah sie ihn wieder mit ihren intensiven durchdringenden Blick an, dann verließ sie den Raum und Stille machte sich breit. Sie sprachen beide kein Wort. Aaron traute sich nicht Macek anzusehen. Bestimmt hatte er ihn durchschaut. Inzwischen kam er sich vor wie ein Idiot. Auf einmal tat ihm alles sehr leid. Er wollte noch etwas zu Macek sagen, aber in diesem Moment betrat Elisa wieder den Raum.

Sie setzte sich genau zwischen ihnen und begann die Karten zu mischen.

„Wer möchte beginnen?“

„Ich beginne. Ich möchte wissen, ob ich in absehbarer Zeit mein Geld von George bekomme. Alles andere interessiert mich nicht.“

Elisa schob Macek die Karten zu.

„Bitte mische sie solange, wie dir dein Gefühl es sagt.“

Macek nahm die Karten und mischte sie ganz kurz durch, als ob er es nicht erwarten konnte, die Antwort zu erfahren. Er gab sie Elisa zurück.

„Möchtest du eine ausführliche Antwort, die sämtliche Hintergründe und Ursachen beleuchtet oder eine kurze?“

Sie schaute Macek abwartend an.

„Kurz und bündig.“

„Dann mache ich erst einmal eine kleine Legung. Wir können die gelegten Karten immer noch hinterfragen, wenn du es möchtest.“

Sie schaute Macek an. Er nickte zustimmend.

„Okay.“

Elisa legte die Karten aus.

„Es sieht ganz danach aus, als ob dein Galerist dir nicht die ganze Wahrheit sagt. Er hat Schulden und die hat er teilweise mit deinem Geld bezahlt. Momentan ist er nicht in der Lage, dir dein Geld auszuzahlen. Dein Kartenbild sieht etwas diffus aus, undurchsichtig. Im Mittelpunkt liegt „der Gehängte“.

Sie tippte auf eine Karte, auf der ein Mann zu sehen war, der kopfüber mit seinem rechten Bein an einem T-förmigen Holzgerüst hing. Das linke Bein war so angewinkelt, dass es sein rechtes Bein kreuzte. Aaron konnte nichts mit dieser Karte anfangen, außer dass er sich vorstellen konnte, dass derjenige, der an diesem Gerüst kopfüber hing, sich unmöglich gut fühlen konnte und auch fast bewegungsfähig war.

Elisa sprach weiter: “Diese Karte bedeutet, dass du nur durch die Tiefe wachsen kannst und diese Situation durch Stillstand, Ohnmacht oder Krankheit gekennzeichnet ist. Du musst ein Opfer bringen und die Welt aus einer anderen Perspektive betrachten. Es ist verfahrene Situation, die nur durch Umkehr zu lösen ist. Versuche nicht dagegen zu kämpfen. Ich sehe sehr dramatische und auch gefährliche Situationen für dich.

Jedenfalls würde dir raten, dich zu beruhigen und ganz schnell deine Bilder aus der Galerie zu holen und nach Polen zurückzufahren. Der Galerist wird bald schließen. Mehr möchte ich dazu jetzt nicht sagen. Überhaupt sind dir die Menschen in deiner näheren Umgebung nicht wohlgesonnen.

Das zeigen die Karten, die „den Gehängten“ umgeben.“

Sie zeigte auf eine Karte, auf der ein Teufel zu sehen war. Sei bitte vorsichtig.

„Du wirst schnelle Entscheidungen treffen müssen. Und du musst wirklich sehr vorsichtig sein. Alles Weitere ist noch ziemlich ungenau zu sehen.“

Macek sah nach dieser Aussage nicht wirklich glücklich aus. Er hielt sein Gesicht mit beiden Händen bedeckt.

„Ich bringe ihn um. Ich bin total pleite und er gibt mir mein Geld nicht. Kann ich denn gar nichts machen?“

Elisas Aussagen schienen ihn noch mehr beunruhigt zu haben.

Sein letztes Fünkchen Hoffnung war aus seinem Gesicht verschwunden.

„Es tut mir leid, mein Lieber. Du wolltest es wissen. Manchmal sollte man nicht zu weit in die Zukunft sehen. Das Leben ist ja nur ein Spiel, das wir alle viel zu ernst nehmen. Alles kommt und alles geht auch wieder. Nichts ist für immer. Und das gilt zum Glück für alle Menschen. Das Leben verläuft nun mal in Wellen. Am besten du fährst so schnell wie möglich in die Galerie und holst deine Bilder ab, bevor es jemand anderer tut.“

Macek nickte resigniert.

„Was ist jetzt mit dir? Möchtest du auch wissen, wie es weiter geht in deinem Leben?“

Elisa schaute Aaron etwas spöttisch an. Er hatte das Gefühl, als ob sie ihm direkt in seine schwarze Seele sah. Er wollte nichts riskieren und brauchte keine Mitwisser. Sicher war sicher. Vielleicht hatte sie ja doch das zweite Gesicht, was immer das auch bedeutete.

Aaron schüttelte den Kopf.

„Ich lass mich lieber überraschen. Was kommt das kommt.“

Macek schaute ihn etwas enttäuscht an.

„Du bist ein Feigling!“

Aaron reagierte nicht auf den Vorwurf. Was wusste dieser kleine, polnische Maler schon von ihm. Wenn er etwas nicht war, dann war es feige sein.

„Lass uns gehen. Ich muss mich endlich bei Sylvi melden.“

Er hatte ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, aber das brauchten Elisa und Macek nicht zu wissen. Er stand auf und ging zur Tür. Als er sich umdrehte, um sich von Elisa zu verabschieden, sah er, wie Elisa Macek einen kleinen Zettel zusteckte. Sofort fühlte er sich wieder ausgeschlossen und seine Wut kehrte zurück. Es war eine alte Wut, eine sehr alte Wut. Er hatte gehofft, er hätte sie unter Kontrolle, aber er ahnte, dass er es nie schaffen würde. Sobald er sich ausgeschlossen fühlte, explodierte etwas in ihm und er musste reagieren. Eingeschnappt ging er zum Auto und setzte sich hinein. Als Macek ein paar Minuten später kam, sagte er kein Wort. Sie fuhren schweigend einige Minuten, bis Macek an einem Pinienwald hielt.

„Entschuldige mich bitte. Ich muss mal.“

Macek öffnete die Autotür, stieg aus und verschwand im Wald. Nach einem kurzen Moment verließ Aaron auch das Auto.

Danach konnte er sich an nichts mehr erinnern. Er kam erst wieder zu sich, als er den leblos vor sich hin starrenden Macek in seinen Armen hin und her bewegte. Erschrocken ließ er ihn auf den trockenen Waldboden fallen, dann schaute er sich um. Von der Straße aus konnte man ihn nicht sehen.

Entschlossen zog er den schlanken Macek tiefer ins Gebüsch.

Seine Hände zitterten, als er ihm die Augen zudrückte.

Eigentlich zitterte er am ganzen Körper. Immer wieder versuchte er sich daran zu erinnern, was geschehen war. Es war ein tiefes, schwarzes Loch in seinem Kopf. Er wusste nur noch, dass er mit Macek im Auto gesessen hatte. Wo waren sie gewesen und was war dann geschehen? Warum war er jetzt tot? Vielleicht hatte er ja einen Herzinfarkt bekommen.

Er schaute ihn sich genauer an. Es war kein Blut zu sehen, nur an seinem Hals waren komische Flecke. Geistesgegenwärtig durchsuchte er ihn. Sein Handy, die angefangene Zigarettenschachtel, die Geldbörse und eine alte ziemlich abgenutzte Brieftasche nahm er an sich. Ansonsten waren Maceks Taschen leer. Bis auf einen kleinen weißen Zettel.

Er faltete ihn auseinander. Mit krakeliger Schrift stand nur ein Wort darauf: Gefahr. Was sollte das bedeuten?

Sicherheitshalber nahm er diesen Zettel auch an sich. Er würde ihn später an einen anderen Ort verbrennen, zusammen mit der Brieftasche.