Traumreisende - Marlo Morgan - E-Book

Traumreisende E-Book

Marlo Morgan

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Beschreibung

Schon wenige Stunden nach ihrer Geburt wird die Aborigine Beatrice in die Obhut eines Waisenhauses gegeben. Als Erwachsene macht sie sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. Eine Reise zwischen den Welten beginnt, die ihr Leben für immer verändern wird ...

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Inhaltsverzeichnis
 
Autorin
Widmung
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
 
Copyright
Buch
Beatrice Lake ist in einem Waisenhaus in Australien aufgewachsen. Bereits einen Tag nach ihrer Geburt war sie von ihrer Mutter getrennt worden, und so verbringt Beatrice ihre Kindheit und Jugend, ohne die uralte Kultur ihrer Vorfahren zu kennen. Denn Beatrice entstammt dem Volk der Aborigines. Doch je älter sie wird, desto mächtiger wird für sie das Verlangen, ihre Herkunft zu ergründen. Und so gehorcht sie eines Tages ihrer inneren Stimme: Sie geht in die Wüste, um sich einer Gruppe umherziehender Aborigines anzuschließen. Beatrice entdeckt, daß in der Kultur ihres Stammes eine innere Heimat für sie liegt, die ihrem Leben immer gefehlt hat. Beseelt von dieser Erfahrung beschließt sie, ihre doppelte Identität zu nutzen - und nun beginnt für sie eine wahrhafte Reise zwischen den Welten: Sie kehrt in die Zivilisation zurück und beginnt, für die Traditionen ihres bedrohten Volkes zu kämpfen. Als ihre Tätigkeit sie eines Tages auch nach Amerika führt, trifft sie auf Geoff, einen Angehörigen ihres Stammes. Und Geoffs dramatische Lebensgeschichte ist auf ganz besondere Weise mit ihrer eigenen verknüpft …
Ein kluges und fesselndes Buch über den Prozeß einer Selbstfindung - und ein Wegweiser zu den wundervollen Geheimnissen der Aborigines, von deren Überlieferung wir viel lernen können.
Autorin
Marlo Morgan studierte Medizin und engagierte sich besonders im Bereich der Gesundheitsvorsorge. Mit ihrem ersten Buch »Traumfänger« gelang ihr ein sensationeller Weltbestseller, der in 26 Sprachen übersetzt wurde. Marlo Morgan lebt in Missouri, USA.
 
Außerdem bei Goldmann erschienen:
Traumfänger (43740)
Für Burnum Burnum, den Ältesten des Wurundjeri-Stammes
1
Das braunhäutige Gesicht des achtzehnjährigen schwangeren Mädchens glänzte, während ihr der Schweiß übers Gesicht lief und von ihrem zitternden Kinn tropfte. Ihr nackter Körper kauerte rittlings über einem Bett aus schwelenden Kräutern, so daß sich der duftende Rauch um ihren Körper kräuselte und von dem sich weitenden Geburtskanal aufgenommen werden konnte. Mit beiden Händen umklammerte sie den kräftigen Stock aus Holz, den sie in den Boden gerammt hatte; ihre schmerzenden Arme umschlossen den vorstehenden Bauch. Der tiefe, keuchende Atem schien den Schmerz vorübergehend zu lindern. Sie gebar zum ersten Mal - ein Ereignis, das man eigentlich nicht allein erleben sollte.
Als sie aufblickte, sah sie wabernde Luftwellen, verursacht durch die drückende Hitze in der Wüste. Das Wellenmuster lief von der braunroten Erde in den braunblauen Himmel; beide gingen ohne klare Trennlinie ineinander über. Die Luft war noch nicht abgekühlt, obwohl die Sonne sich allmählich dem Horizont zuneigte. Schmerzen in Rücken und Unterleib hatten der jungen Frau den Gang zu dem geheiligten Ort mit jedem Schritt schwerer gemacht. Als sie den Geburtsbaum erreicht hatte, mußte sie eine schmerzliche Enttäuschung erleben. Der Baum, den sie suchte, war tot. Er hatte keine Blätter, warf keinen Schatten; kein Anzeichen von Leben zeigte sich mehr in dem hohen grauen Gerippe, das von hungrigen weißen Ameisen ausgehöhlt worden war. Nur riesige Felsbrocken, die ein trockenes Bachbett säumten, boten einen schmalen Streifen Schatten zum Schutz vor der Sonne. Es war notwendig gewesen, einen einzelnen Ast tief in die Erde zu bohren. Die jungen Frauen brauchten immer etwas zum Festhalten, wenn sie ein Kind gebaren. Sie hielten die Hand einer anderen Frau oder streichelten einen Baumstamm, aber sie hatte keines von beiden. Der Anblick des leblosen Familienbaums mit der leeren Höhlung, wo einst sein Herz und sein Leben gewesen waren, bestätigte, daß es Schicksal war oder in den Händen der Göttlichen Einheit lag, daß sie in dem Augenblick, in dem sie Leben weitergeben sollte, allein war. Sie empfand es als ein Omen für einen großen Verlust, und ihr wurde die Trauer darüber, daß der Baumgeist fort war, bewußt. Ein Teil ihrer religiösen Überzeugung beruhte darauf, daß die Erde dazu geschaffen sei, Gefühle zu lehren. Ihr Volk verbarg oder verleugnete Gefühle niemals. Die Menschen waren dafür verantwortlich, wie und was sie empfanden, und lernten, alles begleitende Handeln zu kontrollieren. Die junge Frau verspürte Trauer, nicht nur wegen der verfallenden Hülle des einst stattlichen, Schatten und Sauerstoff spendenden Freundes, sondern auch wegen der anderen Tode, die er möglicherweise symbolisierte.
Die Wehen wurden jetzt sehr stark. Ihr Kind, dessen Totem Seltsames verhieß, widersetzte sich mit heftigen Bewegungen seiner Ankunft. Sie erhob sich von dem Kräuterrauch, über dem sie zusammengekauert saß, und grub eine kleine Vertiefung in den warmen Sand, wo sie sich erneut niederließ und den Rücken gegen einen Felsblock lehnte. Als sie zu pressen begann, dachte sie an die Zeit, Monate zuvor, als sie und ihr Mann sich darauf geeinigt hatten, die empfängnisverhütende Pflanze nicht mehr zu kauen, die alle Stammesmitglieder benutzten, bis sie bereit waren, die Verantwortung für die Reise eines Geistes zu tragen. Zusammen planten sie, die äußere Hülle für einen Geist zur Verfügung zu stellen, indem sie ein Kind zeugten. Ihr Mann hatte von einem seltsamen verwundeten Vogel mit nur einer Schwinge geträumt, der nicht fliegen und kein Nest bauen konnte. Er flatterte so schnell auf dem Boden umher und schlug so hektisch mit den Flügeln, daß er zu einem doppelten Bild verschwamm. Es war ein verwirrender Traum gewesen.
Als seine Frau war sie allein in die trockene Wildnis gegangen und hatte nach einem Geistzeichen gesucht, um den Traum besser zu verstehen. Da kein besonderes Tier oder ein Reptil erschienen war, beriet sich das Paar mit älteren, weiseren Mitgliedern der Gemeinschaft und erfuhr, daß der Traum die Stimme eines Ewigen Geistes sei, der sie bat, seine Eltern zu werden. Wie üblich kündigte der ungeborene Geist zuerst sein Verlangen an; der Akt der Empfängnis folgte erst später. Ihr Stammesvolk richtete sich genau nach den Wünschen, Botschaften und Bewußtseinsebenen des noch Ungeborenen. Die junge Frau war an den geheiligten Ort ihrer Familie gekommen, weil es wichtig war, wo jemand geboren wurde. Die Überlegungen zum Geburtsort werden von den Schritten der Mutter bestimmt; das Ungeborene hat keinen Einfluß darauf, wo es zur Welt kommen wird. Das Kind spricht jedoch, indem es die erste Bewegung macht, die die Mutter nicht beeinflussen kann. Wo genau sie dieses erste Flattern spürt, ist das bedeutsamste Zeichen. Der Ort der ersten Lebensäußerung bestimmt über das Totem und die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Gesangsgrenzen, den »songlines«. Diese »songlines« entstanden, indem die Aborigines durch Lieder mit bestimmten Details und vorgegebenen Rhythmen Entfernungen maßen und Grenzen bestimmten. Die Stellung der Sterne am Himmel wiederum sagt etwas über Charakter und Persönlichkeit des noch unsichtbaren Stammesmitglieds aus.
Die erste Bewegung dieses Kindes war kein sanfter Schubs gewesen. Es hatte vor Monaten mit einem heftigen Stoß begonnen und sich von diesem Moment an immer in der gleichen Weise bemerkbar gemacht. Oft hatte sich der ganze Bauch der jungen Frau von einer Seite zur anderen bewegt und sich von oben bis unten gekräuselt, was von den anderen Frauen und den Heilern der Gruppe als ungewöhnlich betrachtet worden war. Die zukünftige Mutter war eine zierliche Person, und sie hatte einen unverhältnismäßig stark gewölbten Leib. Mehrere Beobachter hatten gemeint, die Kraft in ihrem Körper kämpfe ständig, entweder, um vor der Zeit herauszukommen, oder um mehr Raum zu fordern, als die Dehnung der Bauchdecke zuließ. In den vergangenen Monaten hatte die junge Mutter Rat und Anleitung gesucht. Sie war noch keine Meisterin darin, die Botschaften der Sterne zu verstehen, aber sie war dabei, es zu lernen. Oft wenn es in ihrem Körper am lebhaftesten zugegangen war, hatte sie zum Himmel aufgeblickt, um den Stand der Gestirne zu beobachten, aber davon war sie ganz benommen geworden. Sie konnte dann nicht mehr klar sehen, und alles verschwamm zu einer hellen, leuchtenden Masse anstatt klar definierter einzelner Punkte. Wenn sie den Kopf dann nicht gesenkt hatte, war ihr schwindlig geworden, und sie hatte das Gefühl gehabt, ohnmächtig zu werden. Alles an diesem Kind wirkte jäh und plötzlich, ständig verändert und verwirrend.
Das letzte Jahr war, soweit viele Generationen sich erinnern konnten, für ihr Volk physisch und spirituell das schwierigste gewesen. Nachrichtenstäbe, die von Läufern mehrere Jahre getragen worden waren, hatten von weißen, geisterhäutigen Leuten berichtet, die großen Schaden anrichteten, indem sie ganze Stämme töteten oder entführten. In diesem Jahr waren benachbarte Gruppen und kürzlich auch ihr eigenes Volk zusammengetrieben und hinter Zäunen und Mauern eingesperrt worden.
Wieder durchlief sie eine Welle heftigen Schmerzes. In ihrem Kampf, die Luft in kurzen Stößen auszuatmen, um die Wehen erträglich zu halten, konnte sie gerade noch denken: Willkommen, Kleines. Komm jetzt, heute ist ein guter Tag, um geboren zu werden. Noch ein paar keuchende Atemzüge, ein Ächzen aus tiefster Kehle, und da war sie: ein perfekt geformtes kleines Mädchen mit der typischen breiten Nase ihrer Vorfahren.
Die Mutter nahm das schleimbedeckte Neugeborene in die Arme. Sie hielt das Baby vor sich, schaute direkt in die glänzendschwarzen Augen des schweigenden Säuglings und sagte: »Du sollst wissen, daß du auf dieser Reise geliebt und unterstützt wirst! Ich spreche von dem, was hinter meinen Augen ist, aus meinem Ewigen Teil, zu dem, was hinter deinen Augen ist.«
Sie nahm das Kind auf den rechten Arm und hob mit der linken Hand warmen Sand auf, mit dem sie das Baby abzureiben begann. Als der Staub abfiel, war die Schicht aus blutigem Schleim verschwunden und enthüllte die zarte Haut des Neugeborenen. Das Kind begann sich zu rühren. Die Mutter musterte das neugeborene Wesen, während sie es weiter sanft abrieb. Zuerst merkte sie, daß der runde kahle Kopf groß genug war, um manches Wissen und einen friedlichen Geist zu beherbergen; dann sah sie, daß der kleine gewölbte Oberkörper und Bauch ein warmes Herz und einen gesunden Appetit verhießen. Die Kleine hatte lange Läuferbeine mit guten breiten Zehen und winzige Hände, die sich in der neuen Freiheit kräftig bewegten. Der Körper war vollkommen. Es gab keinen physischen Makel, der dieses Leben erschweren würde.
Die Mutter legte ihren Mund auf die winzigen Lippen und dachte dabei: Ich vermische meine Luft mit der Luft allen Lebens, damit sie in deinen Körper eindringt. Du bist niemals allein, du bist mit der ganzen Göttlichen Einheit verbunden.
Während sie das Kind sanft streichelte und die Geburtsrückstände rund um seine Augen und die Nase entfernte, sagte sie: »Heute nacht wirst du auf den Gräbern deiner Ahnen schlafen, und eines Tages wirst du darübergehen. Die Nahrung, die du essen wirst, wächst aus den Knochen und dem Blut der Großeltern unserer Großeltern.« Dann betrachtete sie die Genitalien ihres Babys und dachte: Ewiger Geist, du bist zu einer Mutter-Tochter-Erfahrung gekommen. Ich ehre deine Entscheidung, durch mich zu kommen.
Das Baby gab leise gurgelnde Geräusche von sich, als wolle es seine Stimmbänder erproben, während die Mutter fortfuhr, dieses winzige Stückchen Leben mit warmem Sand abzureiben, bis das Neugeborene ganz sauber war. Dann nahm sie eine kleine Holzschale mit geschwungenen Rändern, die sie in der Nähe abgestellt hatte, und bettete das Kind hinein. Sie stellte das Gefäß in eine Vertiefung im Boden und achtete darauf, daß der Kopf des Kindes tiefer lag als die Füße.
In diesem Moment wurde ihr bewußt, daß ihr Atem wieder stoßweise ging, da der restliche Inhalt ihres Schoßes ausgestoßen wurde. Doch statt des erwarteten Mutterkuchens erschienen ein Kopf, Arme und Beine: noch ein Kind, etwas größer, ein Junge. Sie dachte: Woher bist du gekommen? Aber laut, als geschehe es automatisch, wiederholte sie den uralten Gruß, der seit Beginn der Zeiten gesprochen wurde, die Formel, die alle Stammesmitglieder als erstes vernahmen: »Du sollst wissen, daß du auf dieser Reise geliebt und unterstützt wirst!« Sie atmete in den Mund des Neuankömmlings hinein und rieb auch ihn rasch mit Sand ab. Ihre Gedanken und ihr Gesichtsausdruck wechselten zwischen Lächeln und verblüfftem Staunen. Zwei Babys! Sie sind schön! Aber zwei Babys auf einmal - das ist nicht die Art des Menschen. Während die Mutter fortfuhr, das unerwartete Kind mit der warmen Erde abzureiben, hielt es mit außergewöhnlicher Kraft und Entschlossenheit den Kopf hoch. Auch sein Körper schien ohne physische Mängel zu sein. Das Mann-Kind streckte Arme und Beine aus, trat mit den Füßen und vollführte die gleichen abschließenden zeremoniellen Bewegungen wie eine Raupe, wenn sie zum Schmetterling wird. Er war froh, in seiner Bewegungsfreiheit nicht mehr eingeschränkt zu sein. Für die Unruhe in ihrem Bauch war offenbar dieser kleine Bursche verantwortlich gewesen, und nicht seine Schwester.
Die junge Mutter griff nach einem Beutel, den sie normalerweise um die Taille trug, der aber jetzt in der Nähe auf dem Boden lag, und nahm einen dünnen schwarzen Zopf aus Menschenhaar heraus. Nachdem sie mit den Zähnen das lebende Band durchtrennt hatte, schlang sie einen Knoten um die Nabelschnur des erstgeborenen Kindes; dabei ließ sie ein langes Stück daran, das eintrocknen, abfallen und zukünftig ein tauschbarer Gebrauchsgegenstand sein würde. »Das Haar des Volkes deines Vaters löst dich von der Schnur des Volkes deiner Mutter. Meine Tochter, du teilst Leben, Gemeinschaft und Daseinszweck mit unserem ganzen Stamm.«
Zu dem Sohn sagte sie: »Warum bist du erst ausgeschlüpft, nachdem ich mein Herz meiner Erstgeborenen geschenkt habe, nicht als Anführer, sondern als Nachfolgender, nicht auf deinem eigenen Weg und zu deiner eigenen Zeit, sondern einem anderen folgend? Das verstehe ich nicht. Warum hast du beschlossen, durch mich zu kommen? Ich ehre deine Entscheidung, aber ich verstehe sie nicht. Du bist der Größere, aber du kommst so, als bedeuteten Zeit, Ort und Umstände nichts, sondern nur die Ankunft. Du bewegst dich weiter, als bräuchtest du den Beweis, daß es tatsächlich geschehen ist. Ich habe nie gesehen, daß bei ein und derselben Geburt ein Baby dem anderen folgt. Ich bin nicht ausgestattet für deine Zeremonie. Ich werde einen Teil meines Beutels dazu verwenden. Er besteht aus dem Haar vieler Menschen und aus tierischen Anteilen. Er ist größer, stärker, rauher. Vielleicht brauchst du das, um dich von meinem Bauch zu trennen und auf die Welt vorzubereiten. Es scheint, daß du vielleicht von allem im Leben mehr wünschst oder brauchst, da du auf so ungewöhnliche Weise hier eingetreten bist.«
Plötzlich dachte sie an das erste größere Problem, das sich aus dieser ungewöhnlichen Situation ergab - die Namen. Alle ihre Pläne waren durcheinandergeraten. Sie würde Rat brauchen, was da zu tun sei, aber es gab niemanden mehr, an den sie sich um Hilfe wenden könnte. Ihre Sorge und Unruhe traten aber erst einmal in den Hintergrund, da sie mit den Nachwirkungen der Geburt beschäftigt war.
Nachdem ihr Körper alles Restliche ausgestoßen hatte, begrub sie es, wie alle Muttertiere es ihr Volk gelehrt hatten. Zur Sicherheit des Neugeborenen mußten alle Spuren und Gerüche beseitigt werden. Dann legte sie sich mit ihren Kindern nieder. Sie schaute zu ihrem Jungen hinüber und dachte: Ich hoffe, du hast weise gewählt, dein Hiersein könnte sich für viele als ungelegen erweisen. Binnen Augenblicken war die erschöpfte Mutter eingeschlafen, und das Erstgeborene begann die lebensspendende Flüssigkeit aus ihr zu saugen. Die Sonne ging unter, der Himmel wurde dunkel. Diese Nacht war die erste, letzte und einzige, die diese Mutter und ihre Kinder zusammen verbringen würden.
 
Am Morgen, als sich beim ersten Licht die Farbe des Himmels veränderte, nahm die Mutter die Babys auf, wandte sich nach Osten und sagte: »Heute gehen wir, um das, was dort draußen existiert, für seinen Daseinszweck zu ehren. Was zum höchsten Wohl allen Lebens überall dient, sind wir bereit zu erfahren.« Nachdem sie ihr Morgenritual beendet hatte, machte sie sich auf den Rückweg zu dem Ort, dem sie gerade erst entflohen war. Es gab keinen anderen Platz, zu dem sie hätte gehen können. Ihr Stamm war vernichtet worden, ihr Mann getötet, und nun hatte sie zwei Kinder. Im Gehen spürte sie, wie ihre Brüste sich füllten, und nacheinander legte sie die Babys an, um sie zu stillen.
Sie ging Stunde um Stunde; zuerst trug sie ein Kind in der hölzernen Schale und das andere in einer Schlinge, die sie aus einem Lumpen gemacht hatte. Dann legte sie beide in die Schale. Es stimmt, dachte sie, die Menschen sind nicht dazu bestimmt, zwei Babys zu bekommen.
Als die Hitze am glühendsten war, rastete sie und drapierte den Lumpen über ihren Kopf, um sie alle drei vor der Sonne zu schützen. Sie ließ die beiden Babys zusammen in der Schale liegen, weil der Sand zu heiß war.
Gegen Mittag schlich eine schuppige graue, zwanzig Zentimeter lange Eidechse an ihr vorbei und kehrte dann zurück, um sich neben ihrem Fuß auszuruhen. Sie griff mit einer Hand danach und drehte dem Reptil mit der anderen den Hals um. Es war augenblicklich tot. In ihren Gedanken sprach sie zu dem Geschöpf: Danke, daß du zu mir gekommen bist. Du wurdest geboren, damit wir uns heute treffen. Dein Leben wird sich mit meinem weißen Wasser vermischen, um diese beiden Kleinen zu nähren. Sie sind dankbar für dein Fleisch. Dein Geist des Ausharrens in dieser Zeit ohne Wasser vom Himmel wird sie tagelang stärken. Sie werden deine Energie voller Achtung und Verehrung für deinen Daseinszweck in sich tragen. Sie biß in die rauhe gezähnte Seite der Eidechse und saugte die Feuchtigkeit ein.
2
Als die Sonne hinter dem Horizont zu versinken begann, stand sie auf und machte sich wieder auf den Weg. Es war fast dunkel, als sie am Rand der Missionssiedlung ankam. Eines der Kinder im Lager, das auf den Wasserturm geklettert war, hatte sie erspäht und verkündete lauthals ihre Rückkehr. Sie hatte gerade den Lumpen um sich gelegt, und ihre Brust bedeckt, als ihre drei Schwestern ihr entgegenkamen, um sie willkommen zu heißen. Es war in ihrem Stamm Brauch gewesen, daß alle Frauen derselben Generation einander als Schwestern bezeichneten. Obwohl sie nicht blutsverwandt waren, stellten diese Frauen die einzige Familie dar, die ihr noch geblieben war. Sie waren zusammen draußen gewesen, um in der Wüste Yamwurzeln zu suchen, als weiße Regierungsbeamte sie gefunden und gezwungen hatten, an diesen Ort zu kommen. Das war vor fünf Monaten gewesen. Inzwischen hatte man ihr gesagt, ihr ganzer Stamm sei tot.
Als eine Schwester sah, daß sie nicht mit der Gabe eines Kindes zurückkehrte, sondern mit einer Tragschale, die zwei Köpfe und vier Arme und Beine enthielt, blieb sie stehen. Mit der Hand signalisierte sie den anderen, sie sollten ebenfalls anhalten. Sie gehorchten.
Sie haben die zwei Babys gesehen, dachte die junge Mutter, während sie den Rücken straffte und selbstbewußt an ihnen vorbei in die Umzäunung trat.
Auf dem Grundstück kam Mrs. Enright, die Frau des Geistlichen, auf sie zu und nahm eines der Kinder an sich. Wortlos ergriff sie einfach das größere der beiden Babys und ging zu der Wellblechhütte, die als »Krankenort des weißen Mannes« bezeichnet wurde. Die junge Mutter folgte ihr.
Inzwischen hatte es sich herumgesprochen. Gesichter erschienen und spähten durch die Tür und die Öffnungen herein, die als Fenster dienten. »Stört Reverend Enright nicht«, befahl die weiße Frau einem Augenpaar, das durch einen Spalt in der Ecke lugte.
»So, nun laß mich mal sehen, was wir da haben«, sagte sie, während sie eine Laterne anzündete und zuerst das eine Kind auf einen nackten, grob gezimmerten Tisch legte, dann das zweite Baby daneben. »Also zwei, ein Junge und ein Mädchen. Nun, es könnte schlimmer sein. Ich habe von Schwarzen gehört, die drei bekommen haben. Sie scheinen ziemlich gesund.«
»Dies ist das Erstgeborene«, murmelte die Mutter.
»Was?«
»Diese hier kam zuerst«, wiederholte sie und zeigte auf das kleinere Kind.
»Oh, das spielt keine Rolle, meine Liebe«, sagte die dicke Frau mit ungerührtem Blick. »Überhaupt keine Rolle.«
Du verstehst nicht, dachte die Mutter. Du versuchst es nicht einmal. Du kommst in unser Land und bringst andere deinesgleichen in Ketten mit. Dann sagst du, daß unsere Lebensweise falsch sei. Du stößt mein Volk über die Klippen, damit es auf den Felsblöcken darunter umkommt, oder wir kriegen eure Krankheiten und sterben. Die wenigen, die leben, sind gezwungen, nur eure Worte zu sprechen und zu leben, wie ihr lebt. Und jetzt sagst du, daß es nicht einmal wichtig sei, meine Babys zu erkennen. Das sind so seltsame und schwierige Zeiten, und du versuchst nicht einmal zu verstehen!
In der Ecke stand ein rostiges Faltbett, das mit zerlumptem, olivgrünem Segeltuch bespannt war. Mrs. Enrights Blick schweifte dorthin, und sie wies das junge Mädchen mit einer Kopfbewegung an, zu dem Bett hinüberzugehen. Nicht im Freien zu sein war ein schreckliches Gefühl. Doch da die junge Mutter in der Nähe ihrer Kinder bleiben mußte, taumelte sie zu dem, was der weiße Mann sich unter einer Ruhestätte vorstellte, und schlief ein.
Mrs. Enright ließ das erschöpfte Mädchen auf der alten Armeeliege in der Krankenstation der Mission zurück. Sie war sich nicht sicher, ob das Mädchen eingeschlafen oder ohnmächtig geworden war. Und es war eigentlich auch nicht wichtig. Schweißperlen standen auf dem jungen Gesicht und der Brust über dem Lumpenkleid. Schweißbäche rannen durch die Falten um die Nase, liefen ihr in den Nacken und tropften schließlich auf das stinkende Segeltuch. »Ich werde mich später um sie kümmern.«
In der Nacht merkte die junge Mutter, daß ihre Brüste sich gefüllt hatten, und war überzeugt, daß die Babys bei ihr seien, damit sie sie stillen könnte. Sie hörte Stimmen. Zuerst war da die Stimme eines Ältesten im Raum, dann die eines anderen Mannes. Keiner der Männer gehörte ihrem eigenen Stamm an. Auch die heisere Stimme von Reverend Enright tönte bedrückend durch ihre verworrenen Gedanken. Sie erwachte mitten in der Nacht und wußte einen Moment lang nicht, wo sie sich befand. Ihre Brust schmerzte. Es war dunkel in dem Raum, und es roch wie in der Höhle von Fledermäusen. Sie konnte die offene Tür erkennen, wo durch das Rechteck das Mondlicht zu sehen war, und sie wußte, daß der Tisch rechts stand. Sie fand ihn und tastete nach ihren Kindern. Der Tisch war leer.
3
Die Missionsstation war eine kirchliche Einrichtung. Sie war ein Gemeinschaftswerk, gegründet von den Mitgliedern der Missionsgesellschaft, die freiwillig in diesen gottverlassenen Teil des australischen Kontinents gekommen waren, um die Seelen der eingeborenen schwarzen Heiden zu retten. Später hatte die Regierung sich daran beteiligt, denn das gehörte zu ihrem Programm der Gleichstellung aller Bürger. Die Absicht, den Ureinwohnern tatsächlich die Staatsbürgerschaft zu verleihen, bestand allerdings nie; statt dessen wurde legal beschlossen, daß sie dem »Flora and Fauna Act« unterstanden. Die Station war eine Art Gefangenenlager, mitsamt Zaun und körperlichen Strafen für Ungehorsam. Jede Besichtigung der Einrichtung durch Besucher begann mit dem Gebäude, das einfach aus einem Dach auf Holzstützen bestand und als »Freiluftschule« bezeichnet wurde. Stolz erklärten sie, von allen Aborigines jeden Alters werde verlangt, daß sie sich zu bilden versuchten. Die Bibel war der grundlegende Text. Das Hauptaugenmerk wurde darauf gerichtet, ihnen klarzumachen, daß die Stammesbräuche Teufelswerk und verboten seien. Anreisende Würdenträger wurden dann zu der kleinen Kapelle geführt. Diese bestand aus drei Wänden. Die Frontseite war völlig offen, so daß man als erstes eine große Figur des blutenden Christus am Kreuz hängen sah und direkt darunter ein hohes Katheder in der Mitte zwischen vier Küchenstühlen aus Chrom mit roten Bezügen. Von den Gemeindemitgliedern wurde erwartet, daß sie standen oder auf der nackten Erde saßen. Anschließend wurde den Besuchern die Krankenstation vorgeführt, wo es keinerlei medizinische Instrumente oder Einrichtungen gab. Alle Verbände, Cremes und Salben wurden nach Verwendung wieder weggebracht. Das Gebäude war lediglich ein Vorzeigestück und mit einem auf die Tür gemalten weißen X als besonderer Ort gekennzeichnet. Die Stammesleute merkten allmählich, daß die meisten hineingingen, beim Verlassen des Baus aber gewöhnlich getragen wurden. Außerdem gab es auf dem Grundstück noch zwei kleine Hütten für die Familien der Hilfsgeistlichen und ein großes Wohnhaus, in dem die Enrights lebten.
Um 1930 waren alle Wohngebäude in Aussehen und Material unterschiedlich. Je weiter sie von der Zivilisation entfernt waren, desto mehr wichen sie ab von den traditionellen cremegelben Sandsteinbauten, die man in der Stadt sah. Die Architektur der Missionssiedlungen war schmucklos. Das Haus war ein ebenerdiges Quadrat mit geneigtem Blechdach, das sich auch über eine rundumlaufende Veranda erstreckte. Den Enrights hatte man gesagt, das vorspringende Dach sei erforderlich, um die Fenster zu schützen, die offenbleiben müßten, damit die heiße Luft zirkulieren könne. Da sie nicht genug über die Jahreszeiten, den Wind und die Richtungen wußten, aus denen er kommen konnte, ließen sie von den Arbeitern die gedeckte Veranda auf allen vier Seiten des Hauses anlegen, so daß der ganze Bau ein Quadrat bildete.
Der erste Raum hinter der Haustür war das Wohnzimmer, wo ein schwarzes Harmonium, ursprünglich für die Kapelle gedacht, den Blick auf sich zog. Bevor das Musikinstrument eingetroffen war - verzögert aufgrund seiner Größe und in einer Kiste mit der Aufschrift »Zerbrechlich« -, hatte die Verwaltung befunden, dieses Meisterwerk sei an die Eingeborenen verschwendet. Soweit die weiße Geistlichkeit das feststellen konnte, besaßen sie einfach keinen Sinn für Töne und Rhythmus. Tatsächlich hatte dieses Volk keinerlei Lieder religiöser Natur. In seiner ganzen Geschichte war nur eine geringe kulturelle Entwicklung auszumachen. Da die einzigen Worte, die die Ureinwohner in Musik umsetzten, absurde Geschichten zu sein schienen, blieb das Harmonium in der schützenden Obhut des weißen Wohnzimmers.
Das Haus hatte nackte Holzböden und enthielt eine Reihe europäischer Möbel. In beiden Schlafzimmern gab es den traditionellen Waschtisch und die Tonschüssel, und nur im Gästezimmer wies der Nachttopf handgemalte Rosen auf, die zu denen auf der Rasierschale für männliche Besucher paßten.
Auf der Nordseite des Hauses befand sich ein Wasserfaß auf einem hohen Gestell, von dem aus Rohre ins Haus führten. Die Küche hatte fließendes Wasser, eine moderne Errungenschaft für einen so entlegenen Ort. Obwohl der Wasserturm für die Bevölkerung der ganzen Gemeinde mehr Wasser faßte, war der persönliche Vorrat der Enrights immer größer.
In der Mitte des Komplexes lag ein kahler, von einem Dach auf vier Pfosten überdeckter Bereich, wo der Versuch unternommen worden war, einen zentralen öffentlichen Eßplatz zu schaffen. Aber das war kein Erfolg gewesen. Die fremde Verwaltung übersah, daß man kleine Stammesvölker, einige davon Erzrivalen, nicht zusammenzwingen und über Nacht das erreichen konnte, was der weiße Mann sich unter Frieden und Harmonie vorstellte. Für die Enrights und ihre europäischen Freunde waren alle Schwarzen gleich, ungeachtet ihres Stammes. Dieselbe Geduld war erforderlich, um ihnen den Gebrauch von Löffel, Gabel und Eßnapf beizubringen. Messer waren nicht erlaubt.
Auf dem ganzen eingezäunten Gelände lagen verstreut die Hütten der Aborigines, die die Weißen »Humpies« nannten. Es waren rohe runde Bauten, die aussahen, als sei einfach ein Haufen Pappe, Blech und Äste vom Himmel gefallen. Zimmer oder trennende Wände waren für die Ureinwohner überflüssig. Die Hütten boten Schatten und Schutz vor dem Himmel. Herkömmlicherweise bauten die Nomadenstämme selten eine Behausung, da ihr Leben eine ständige Wanderschaft war. Diese Siedlung beherbergte die Überreste von zehn verschiedenen Volksgruppen, jede mit ihren einzigartigen Bräuchen und Überzeugungen und ihrer eigenen Sprache. Die Gefangenen verstanden sich untereinander nicht sehr gut, und nur wenige konnten Englisch, was die einzig erlaubte Sprache war. Manche, wie die junge Mutter, waren intelligent und lernten besonders schnell, doch die meisten schienen sich die Kenntnisse nicht sehr rasch aneignen zu können. Sie waren von gelassener Natur, angenehmem Wesen und sehr vertrauenswürdig.
Was die weiße Welt nicht begriff, war die Tatsache, daß diese Stammesmitglieder ihre Lage so verstanden, als befänden sie sich auf dem Gebiet eines anderen Stammes, auf Land, das von »songlines« markiert war und dessen Hüter verschwunden waren. Jetzt hatten die Weißen das Sagen, aber die waren offensichtlich keine Hüter. Die Aborigines wußten, daß sie Gefangene waren, glaubten aber dennoch, sie müßten sich wie Gäste verhalten, die in jemandes anderen Kreis eingeladen worden waren. Es war nicht schwierig, sie zum Christentum zu bekehren, als sie begriffen hatten, daß dies das neue Gesetz war, und ihnen ferner erklärt worden war, Jesus sei ein Held. Die Kirchenleute wußten nicht, daß die Aborigines große Achtung vor Helden hatten. Ihre Lieder und Tänze, die seit Jahrtausenden überliefert waren, handelten von vielen heroischen Menschen und Taten. Jesus war ein großer Heiler, der Menschen von den Toten auferstehen lassen konnte. Durch die Werke ihrer eigenen Heiler waren sie mit der Auferstehung der Toten vertraut.
Da der Vater von Jesus die Welt erschaffen hatte, mußte dieser Vater einer ihrer eigenen Ahnen gewesen sein. Reverend Enright mit seinem roten Haar und dem vollen roten Bart erwies sich als überaus überzeugend, wenn er feststellte, daß es in bezug auf die Ewigkeit nur eine einzige Wahl gebe. Man konnte im Himmel enden, wenn es der Wille Jesu ist, oder - wenn man gegen ihn war - für alle Ewigkeit in der Hölle landen. Die Menschen verstanden, wie lang die Ewigkeit ist, aber sie hatten nie eine Vorstellung von einem Ort wie der Hölle gehabt.
Die junge Mutter verbrachte den Vormittag in einem Zustand völliger Verwirrung. Sie konnte ihre Babys und ihre Schwestern nicht finden. Niemand war da, um mit ihr zu reden. Es war ihr verboten, das Grundstück der Enrights zu betreten, das von einem weißen Palisadenzaun umgeben war. Sie begann den Tag, indem sie von Ort zu Ort und Person zu Person rannte und hektisch suchte. Endlich ging sie langsamer und hielt Ausschau nach Hinweisen über das Verschwinden all jener, die sie liebte.
An diesem Tag aß sie nichts und verbrachte die Stunden in körperlicher und seelischer Qual. Aus ihren Brüsten tropfte die Milch. Fliegen sammelten sich um sie und wanderten über ihren Körper. Sie konnte nicht begreifen, was vor sich ging. Es stand in völligem Gegensatz zu allem, was sie jemals von ihrem Volk gelernt hatte. Sie erinnerte sich an das, was »Old One« einst gesagt hatte: »Die Weißhäute sind nicht schlecht. Sie benutzen nur ihren freien Willen dazu, um Dinge zu tun, die für unser eigenes Volk nicht richtig riechen und schmecken.« Aber es war sehr schwierig für dieses junge Mädchen, nicht über sie zu urteilen. »Old One« hatte auch gesagt: »Ich glaube, daß sie eine irdische Prüfung sind. Wir müssen einander dabei helfen, sie zu bestehen!« Aber sie hatte keine Unterstützung dabei. Sie war allein.
Am Abend war sie in einem emotionalen und seelischen Zustand, von dessen Existenz sie noch nichts gewußt hatte. Sie hatte entdeckt, daß sie in der Vergangenheit leben konnte. Die Gegenwart trat zurück. Überall, wohin sie auch schaute, sah sie immer weniger von dem, was das Leben ihrer Kenntnis nach sein sollte. Aber ich werde nicht weniger werden, dachte sie. Gestern sagte ich: »Was dem höchsten Wohl dient, sind meine Babys und ich zu erfahren bereit.« Jetzt sind sie mir weggenommen worden. Alles ist mir weggenommen worden. Ich werde traurig sein, ich werde trauern. Das ist richtig, denn so fühle ich mich, aber immer werde ich mein Herz sagen hören, daß die Ewigkeit eine lange, lange Zeit ist. Meine Kinder und ich sind für immer Geister. Irgendwie gibt es eine unsichtbare Liebe und Unterstützung auf dieser geheimnisvollen und schmerzhaft komplizierten Reise. Was ist der Zweck unseres Daseins? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, es gibt einen vollkommenen Daseinszweck, und ich akzeptiere ihn in Traurigkeit.
Ein paar Monate später wurde sie zur Arbeit auf eine Viehfarm geschickt und verbrachte ihre Tage in einem Kattunkleid mit einer gestärkten Schürze, die im Nacken und auf dem Rücken gebunden war. Schwarze Schuhe wurden in der Morgendämmerung angezogen und trugen sie vom Herd in die Waschküche, zur Wäscheleine, in den Gemüsegarten und wieder in die Küche. Ihre tägliche Routine veränderte sich im Lauf der Jahre kaum. Sie war eine stille Frau, die nie wieder einen Tag mit dem Morgenritual ihrer Ahnen begrüßte. Für sie gab es keinen neuen Tag. Sie sprach und träumte nicht mehr und nahm außer an ihrer Arbeit an keiner Aktivität mehr teil. An der Oberfläche wirkte sie, als habe sie alle Hoffnung, alles Interesse am Leben aufgegeben, zeitweilig vielleicht auch ihre geistige Gesundheit verloren. In Wirklichkeit ergab sie sich nur einer Situation, derer sie nicht Herr werden konnte, und ihren religiösen Überzeugungen entsprechend verwandte sie keine Energie auf etwas, wovon sie nicht wollte, daß es wuchs. Sie respektierte ihre Trauergefühle und nahm weder Einfluß auf irgendein anderes Leben, noch behinderte sie es. Sie lebte nur in den stillen, friedlichen Geschehnissen ihrer Erinnerungen und achtete darauf, daß ihr ihre spirituelle Anteilnahme bewahrt blieb. Das wurde ihr einziger Grund, weiter zu existieren. Sie hatte nicht das Gefühl, daß das, was geschah, richtig war. Sie verstand es nicht, aber es ging über den Glauben an etwas, das mit den Gefühlen in Konflikt stand, hinaus. Der Schritt über den Glauben hinaus bestand für ihr Volk in Wissen. Sie akzeptierte, was geschah, weil sie wußte, der vollkommene Sinn des Himmels war dafür verantwortlich.
4
Mrs. Enright hatte die erschöpfte junge Mutter am Abend allein auf der grünen Armeeliege zurückgelassen und sich nicht darum gekümmert, ob sie lebte oder starb. Geschäftig lief sie umher und überlegte, was mit den Babys geschehen sollte.
Ich brauche einen Korb, um diese Kinder hineinzulegen, dachte sie. Es gab einen in ihrer Küche, der den Zweck erfüllen würde. Sie machte sich auf den Weg zum Haus und kehrte dann doch um, um die beiden Neugeborenen zu holen. Sie waren zwar noch zu klein, um von dem nackten Holztisch herunterzurollen, aber der Junge schien ungewöhnlich kräftig. »Bei diesen seltsamen Eingeborenen weiß man nie. Sie sind nicht wirklich mit uns zu vergleichen. Ich nehme sie besser mit.«
Es war ein kurzer Weg über das kahle, staubige Grundstück bis zu dem hölzernen Palisadentor ihres Wohnhauses. Sie bemühte sich erfolgreich, beide Babys zu halten und gleichzeitig das Tor zu öffnen. Als sie im Haus war, ging sie ins Schlafzimmer und zögerte einen Augenblick, bevor sie die nackten Kinder auf ihren kostbarsten Besitz legte, einen bunten handgenähten Quilt, den ihre Großmutter ihr geschenkt hatte, als sie vor vier Jahren aus England nach Australien abgereist war.
Der Korb, den sie suchte, stand hoch oben auf einem Küchenregal; sie stieg also auf einen Stuhl, um ihn herunterzuholen. Feierlich trug sie ihn ins Gästezimmer, nahm ein Kissen vom Bett und legte es in den leeren Korb. Auf der hinteren Veranda stand ein Pappkarton von der letzten Lieferung von Mehl und Zucker, den sie hereinholte. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, nahm das andere Gästekissen und richtete den Karton her, um das zweite Baby hineinzulegen. Ihre wunderbaren Kissen aus Gänsedaunen zu ersetzen würde nicht leicht sein, aber dieses Problem würde sie zu gegebener Zeit lösen. Sie schnitt sich Windeln zurecht, indem sie ein Geschirrtuch in zwei Hälften teilte und je eine davon um die schlafenden Säuglinge wickelte. Bei den Aborigines hatte sie noch nie ein Baby gesehen, das in eine Decke gehüllt war. Das war auch jetzt nicht nötig.
Alice Enright hatte die Verantwortung dafür übernommen, die lästigen Dinge des Alltags zu regeln. Ihr Mann, der Reverend, befaßte sich mit dem religiösen Leben im großen und ganzen. Er erinnerte sie oft daran, wie wichtig es für sein zukünftiges berufliches Fortkommen sei, daß er nicht mit Trivialitäten belästigt wurde. Sie tat alles, um sein Leben so bequem zu machen, wie es in diesem entlegenen und fremden Land, so weit von ihrem geliebten Großbritannien entfernt, überhaupt nur möglich war. Als sie geheiratet hatten, war man besorgt gewesen, sie könnte zu jung und innerlich nicht reif genug sein, um mit einem älteren Mann zurechtzukommen, nicht darauf vorbereitet, ihren Part eines geistlichen Ehepaars auszufüllen. Sie versuchte täglich, ihren Wert unter Beweis zu stellen. Sie wußte, daß ihr Ehemann sie niemals wirklich geliebt hatte. Er war ein Mann ohne sexuelle Leidenschaft, aber sie mußte zugeben, daß auch sie ihn nicht wirklich liebte. Sie war jung gewesen und hatte sich verzweifelt gewünscht, ihr Zuhause zu verlassen, zu reisen und die Welt zu sehen. Die Heirat mit Reverend Enright und die Reise nach Australien waren eine Gelegenheit, die sich genau im richtigen Augenblick ergeben hatte.
Sie ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. Mit dem Hörer in der Hand drückte sie den seitlichen Hebel, bis sich die Vermittlung meldete, und verlangte dann eine Fernverbindung. Alice wußte, daß die örtliche Telefonvermittlerin in der Leitung blieb, um sich die neuesten Ereignisse anzuhören, die sich hinter den Mauern der Mission abspielten. Doch Gott sei Dank lebten sie so entlegen, daß ihr Klatsch meist nur den Leuten zu Ohren kam, die sich mehr für die Sünder ihrer näheren Umgebung interessierten.
»Birdie, ich bin’s, Alice Enright. Es tut mir leid, daß ich schon wieder um Hilfe bitte, aber es ist dringend nötig. Ich habe einen neugeborenen Jungen, der untergebracht werden muß. Eigentlich sind es zwei Kinder, Zwillinge, aber das Mädchen wird im katholischen Waisenhaus aufgenommen. Ich habe letzte Woche mit denen gesprochen und mich vergewissert, daß sie Platz haben, aber wir haben natürlich nur mit der Geburt eines Kindes und nicht mit zweien gerechnet. Unsere wöchentliche Einkaufsfahrt für die Mission soll morgen früh abgehen, aber ich kann Alex schon heute abend losschicken, dann kann er noch die zusätzliche Strecke zu Ihnen fahren, um den Jungen abzuliefern. Können Sie uns helfen und einen Platz für ihn finden?«
Birdie am anderen Ende der Leitung war die Ehefrau von Reverend Willett, einem Kollegen von Reverend Enright und ein hochgeachteter Mann in der Kirche. Sie war daran gewöhnt, Anrufe von Alice und den anderen Frauen der Geistlichen zu erhalten. Schließlich war ihr Ehemann das dienstälteste Mitglied der englischen Delegation auf dieser Auslandsmission. Das machte sie automatisch zur wichtigsten Respektsperson. Sie war stolz darauf, nie jemanden abzuweisen und sich von keiner Herausforderung unterkriegen zu lassen. Es gefiel ihr, wenn die jüngeren Frauen sagten: »Es gibt nichts, was Birdie Willett nicht bewältigen kann.«
Seit vierzig Jahren baute die Kirche Missionsstationen auf, um die erwachsenen Aborigines, die man aus der Wildnis geholt hatte, dort unterzubringen, zu zivilisieren, zu erziehen und ihre Seelen zu retten. Die Katholiken hatten auch Waisenhäuser für die Kinder errichtet. Inzwischen gab es einige erwachsene Aborigines, die in institutionellen Einrichtungen aufgezogen und dann nach Erreichen des sechzehnten Lebensjahrs in die Gesellschaft entlassen worden waren. Bislang gab es keine Anzeichen dafür, daß das Projekt irgendwelche sozialen Erfolge erzielt hätte - außer im biblischen Sinne, indem es die Hungrigen speiste und den Durstigen Wasser gab. Doch auch wenn sie älter als sechzehn waren, waren die Aborigines noch hungrig und durstig und wandten sich für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse an die weiße Gemeinde. Niemand konnte vorhersagen, wann das zu Ende gehen würde, wann der letzte der Wilden für die Zivilisation gewonnen sein würde, wann ihre heidnischen Bräuche besiegt und auf wundersame Weise eine gewisse Kontrolle über die Bevölkerung erreicht sein würde.
Der Anruf endete damit, daß Birdie sich bereit erklärte, einen Platz für das Kind zu suchen.
Alice ging zur Tür und schwenkte die Arme: »Geht Alex holen«, rief sie in die schwarze Nacht hinein. Sie wußte, daß irgendeiner der Gefangenen, der einen guten Eindruck machen wollte, freudig die Gelegenheit ergreifen würde, sich bei ihr beliebt zu machen. Welcher, spielte keine Rolle. Ein oder zwei lungerten immer außerhalb ihres Zauns herum. Kurz darauf klopfte Alex an die Küchentür. Er war dünn, sah älter aus als seine sechzig Jahre und machte immer den Eindruck, ein Bad nötig zu haben. Alice berichtete ihm von ihrem Plan. Er willigte ein, sich eine Stunde auszuruhen und dann die lange Fahrt nach Sydney anzutreten. Alice bereitete einen Glaskrug mit Honigwasser zu. Dann nahm sie ein Babyfläschchen, das man kürzlich aufgetrieben hatte, um das Leben eines todkranken Känguruhjungen zu retten, und fütterte die Zwillinge damit, bevor sie den Korb und den Karton auf die Vorderbank des Fords packte, dessen Notsitz zur Ladefläche umgebaut worden war.
Alex war ein ehemaliger Sträfling, wie auch schon sein Vater und sein Großvater. Als er aus dem Gefängnis entlassen worden war, nachdem er achtzehn Jahre wegen Diebstahls abgesessen hatte, war er heimatlos gewesen, hatte keinen Beruf und keine Freunde oder Verwandten gehabt, an die er sich hätte wenden können. Er war in Schwierigkeiten geraten, weil er zuviel trank, in Schlägereien verwickelt wurde und ständig in Versuchung geraten war, die Geldkassette in den Tavernen und Kneipen mitgehen zu lassen, die er besuchte. Dann fand er den Herrn, oder zumindest fand er Menschen, die ihrerseits den Herrn gefunden hatten. Anscheinend gab er die richtigen Antworten auf ihre Fragen, denn sie boten ihm an, ihn aufzunehmen und eine Arbeit für ihn zu suchen. Mitten im Nirgendwo, als die Mission einen Fahrer brauchte, schien er eine gute Lösung zu sein, und sei es nur vorübergehend. Auf seinen Fahrten in die Stadt kaufte er sich Whisky, trank aber niemals in der Öffentlichkeit. Soweit ging alles gut.
Mit den beiden Babys im Wagen, dem Mädchen für das Waisenhaus im Karton, dem Jungen für die Stadt repräsentativer in dem Korb, trat Alex die achtstündige Fahrt an. Ungefähr einen Kilometer vom Lager entfernt hielt er an, um sich Schafswolle in beide Ohren zu stopfen. Obwohl die Säuglinge schliefen, rechnete er mit einer geräuschvollen Fahrt. Er griff unter den Sitz, nahm aus der Dunkelheit eine Flasche, trank ein paar herzhafte Schlucke und stellte sie dann zwischen sich und die kleinen Menschenkinder. Er fuhr auf der einspurigen und teilweise gepflasterten Straße durch das kahle Ödland. Er wußte, Veränderungen der Luftströmung würden bewirken, daß der Wind durch die Wagenfenster auf der rechten Seite drang. Dann würde kein Luftzug mehr wehen, und ein paar Meilen weiter würde der Wind durch die linken Fenster blasen. Es war, als ob die unsichtbare Welt die Insassen des Wagens umgäbe. Alles war still bis auf das Brummen des Motors. Die Schwärze der Nacht wurde nur von einem Wirbel aus feinem rotem Staub gestört, der dem Auto wie ein sich drehender Kinderkreisel folgte. Die Wolken am Himmel waren schneller als das Fahrzeug auf der Erde. Wenn gelegentlich eine dunkle Wolke den Mond verdeckte, die einzige Lichtquelle in der Nacht, verschwand der endlose, flache Horizont in totaler Finsternis. Für Alex war das, als verdecke eine riesige Hand am Firmament den Strahl eines himmlischen Scheinwerfers. Die Wolke zog rasch vorbei, und der Mond tauchte wieder auf. »Das erinnert mich an Morsezeichen, kurz-kurz-lang, die von der Natur kommen.« Er nahm noch einen Schluck Whisky. Er mochte das unheimliche Gefühl nicht, das dieser Gedanke hervorrief. »Ich hoffe bloß, daß es kein SOS-Signal ist!« sagte er zu sich selbst.
Der Karton mit dem Mädchen wurde zuerst abgeliefert, da das Waisenhaus ungefähr auf halber Strecke lag. Alex nahm die Tasse Tee und die beiden Kekse, die ihm die Schwester von der Nachtschicht anbot, aber er hielt sich nicht lange auf und achtete sorgfältig darauf, nicht in ihre Riechweite zu kommen. Als er zum Fahrzeug zurückkehrte, schien das andere Kind glücklicherweise zu schlafen, wenn auch Staub, die ungesunden Abgase und der Mangel an Nahrung das Ihre dazu beitrugen. Während der restlichen Fahrt gab das Kind keinen Mucks von sich und bewegte sich nur ein wenig, als die Sonne aufzugehen begann. Endlich wand sich das Auto auf einer exklusiven gepflasterten Straße vor einer Reihe prachtvoller Häuser mit Blick über den schönsten Hafen der Welt den Hügel empor.
Die Residenz der Willetts war ein Gebäude aus handbehauenen Steinen, vor dem sich vier hohe weiße Säulen erhoben. Schon von weitem war das ferne Geräusch des Ozeans zu hören, dessen Wellen in der Bucht darunter gegen das Ufer schlugen. Der spektakuläre Ausblick war jenen vorbehalten, die privilegiert genug waren, durch die rückwärtigen Fenster im Obergeschoß zu blicken, oder die eingeladen wurden, sich auf der makellosen Steinterrasse zu entspannen, die aus dem Abhang geschlagen worden war. Der Rasen und die Blumenbeete auf der Vorderseite führten zu einer Reihe hoher Bäume neben der Einfahrt, die dann im Bogen an zwei Garagen und Lagerräumen vorbei und zu jener Seite des Besitzes führte, wo die geschnitzte Holztür ein Messingschild mit der Aufschrift LIEFERANTEN trug. Das Baby rang jetzt nach frischer Luft; sein Bauch war gespannt von unverdauter Flüssigkeit; sein Körper krümmte sich vor Schmerz. Dennoch gab es keinen Laut von sich, es schien sich der Umgebung unterworfen zu haben.
Birdie Willett betrachtete sich selbst als mächtigste Frau des kirchlichen Verwaltungsapparats in ganz Australien. Sie hatte alles unter Kontrolle, denn die Ehefrauen der Geistlichen waren alle jünger als sie. Sie hatte eingeführt, daß keine von ihnen ein zweites Mal Vorsitzende eines Komitees werden konnte. Sie durften ein wenig an Verwaltungserfahrung sammeln, aber nicht genug, um sich eine Vertrauensbasis zu schaffen, eine Anhängerschaft zu gewinnen oder ihre Tätigkeit so sehr zu genießen, daß sie sich freiwillig für mehr meldeten. Mrs. Willett überwachte im ganzen Land den Lehrplan der Sonntagsschulen und den Aufbau aller neuen Missionen einschließlich der Gebäude. Alle Programme für Senioren, alle Wohltätigkeitsveranstaltungen, alle Kirchenausflüge und Ehrungen mußten von ihr abgesegnet werden. Sie kontrollierte alles außer der Kleidung der Geistlichen und deren Ehefrauen, aber das machte sie wett, indem sie haarklein vorschrieb, was Reverend Willett anzuziehen hatte - von Kopf bis Fuß, einschließlich seiner grauen Socken und der Unterhosen.
Sie war so damit beschäftigt, in Gartenkomitees und Vereinigungen zur Auswahl der Chorgewänder mitzuwirken und Monate im voraus irgendwelche Feiertagsessen zu planen, daß sie wirklich nicht viel Mühe darauf verwenden konnte, ein heimatloses Aborigine-Baby unterzubringen. Sie würde es aufs Land verfrachten lassen und sich später darum kümmern. Aber um ihren Ruf aufrechtzuerhalten, mußte sie Alice Enright gegenüber als hundertprozentig tüchtig erscheinen.
Sie wies ihren Mann an, das Kind noch am gleichen Tag zu taufen. Das konnte im Spülbecken in der Küche geschehen. Sie sah keinen Grund, einen christlichen Namen an einen Wilden zu verschwenden, und so entschied sie sich für Geoff. Das war neutral genug. Ein Familienname würde später dazukommen, falls es sich jemals als notwendig erwiese. Meistens tat es das nicht. Aborigines hatten nichts mit juristischen Angelegenheiten zu schaffen.
Reverend Willett sprach die Gebete und goß Wasser über das leblose Köpfchen des Babys. Keiner der Erwachsenen wußte, warum es kaum eine Reaktion zeigte. Der Geistliche hatte es eilig. Er trug die Taufe ins Kirchenbuch ein und ging dann sofort weg, denn er wußte, Birdie würde sich um alles kümmern, was heute erledigt werden mußte, und hätte auch noch ihre Freude daran. Er machte sich auf den Weg zu einer armen verlorenen Seele namens Shirley, die versuchte, ihr Leben als Prostituierte aufzugeben, um ein braves Mädchen zu werden.
Es war sein sechster Besuch. Bislang hatte sie den Kampf verloren und schien dabei den guten Reverend mitzureißen.
Geoff blieb nur so lange in dem prachtvollen Haus, wie es dauerte, um die Taufe zu vollziehen und eine Familie vom Land zu finden, die gerade auf ihrer alle sechs Monate stattfindenden Einkaufsfahrt in Sydney war und sich bereit erklärte, den Korb mit dem Aborigine-Kind zu ihren übrigen Paketen in den Zug zu laden, um die Rückfahrt in ihre Landgemeinde anzutreten. Die Hanovers hatten eine neunjährige Tochter - Abigail -, die es übernahm, den kleinen Jungen hingebungsvoller zu füttern und zu versorgen als ihre reizende Porzellanpuppe. Trotz der langen Zugfahrt wurde schon kurz nach ihrer Ankunft zu Hause ein Arbeiter angewiesen, das Kind, das sich fast wieder erholt hatte, auf den nächsten Teil seiner Reise zu bringen. Im Alter von zweiundsiebzig Stunden hatte der Zwilling alle Verbindungen zu seinen Vorfahren verloren, war sechshundert Kilometer gereist und auf den Namen Geoff getauft worden und würde jetzt das Mündel einer reichen weißen Familie auf dem Land werden. Er sollte zu Birdies Schwägerin und Schwager gebracht werden, Matty und Howard Willett.
5
Ihre früheste Erinnerung war die, wie sie zu dem weißen Fleisch unter Doreens Kinn aufgeschaut hatte, wenn sie vom Fliesenboden gehoben und in eine runde Blechwanne mit kaltem Wasser getaucht worden war. Sie stand aufrecht darin, hielt sich an der Seite fest und war fasziniert von der schäumenden Oberfläche, die sich auf einer Höhe mit ihrer Kehle befand. Der ölige Inhalt ließ das Wasser in glänzenden Regenbogenfarben schillern. Entweder hatte sie den Rand losgelassen, um nach dem Glitzern zu greifen, oder sie hatte einen Schritt tun wollen und war ausgerutscht, jedenfalls hatte sie sich plötzlich unter Wasser befunden. Später erinnerte sie sich, wie sie nach Luft gerungen und einen Halt zu finden versucht hatte, und sie entsann sich, daß sie nur verschwommen hatte sehen können, während die Angst vor dem Unbekannten ihr Herz und Lungen füllte. Wunderbarerweise fand sie den Rand der Wanne. Sie hustete und weinte, bis Doreen ins Zimmer zurückkam. Ihre erste Erinnerung an diese Welt war Entsetzen. Das hatte sie mit zwei Jahren erlebt.
Sie war die letzte einer Gruppe kleiner Mädchen in der Obhut des Waisenhauses der Barmherzigen Schwestern gewesen, die untergetaucht oder - genauer - gebadet wurden. Doreen sagte, sie wäre immer die letzte, weil sie die kleinste sei, aber die anderen Kinder sagten, es wäre, weil sei am häßlichsten sei. Sie waren alle häßlich. Sie wußte das, weil sie es wiederholt von den Erwachsenen
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Message from Forever« bei HarperCollins Publishers, Inc., New York
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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Genehmigte Taschenbuchausgabe 12/2000
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