Traumfänger - Marlo Morgan - E-Book

Traumfänger E-Book

Marlo Morgan

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Beschreibung

Was eine seltene Ehre ist, kostet die amerikanische Ärztin Marlo Morgan zunächst viel Kraft und Überwindung: eine dreimonatige rituelle Wanderung durch den australischen Busch als Gast der Aborigines. Doch im Laufe der strapaziösen Tour erfährt sie eine ungeheure emotionale Bereicherung und spirituelle Wandlung. - Der Bestseller jetzt erstmals im Taschenbuch.

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Seitenzahl: 321

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Buch

»Traumfänger« ist die Geschichte einer Amerikanerin, die von einem Stamm australischer Aborigines zu einer Ehrung für ihre Arbeit mit jugendlichen Ureinwohnern eingeladen wird. Nach stundenlanger Fahrt durch die Wüste bei dem Stamm der »Wahren Menschen« angekommen, teilt man ihr mit, dass sie auserkoren worden ist, an einem dreimonatigen »Walkabout« – einer Wanderung durch den australischen Busch – teilzunehmen.

Marlo Morgan hat keine andere Wahl, als dieser Einladung zu folgen, denn ihre Kleider, ihren Schmuck, ihre Papiere haben die Ureinwohner verbrannt. Sie sieht sich ganz neuen Lebensumständen ausgesetzt: Messerscharfes Gras und Dornengestrüpp malträtieren ihre Füße, ihre Muskeln schmerzen von den meilenlangen Märschen, und ihre helle Haut verbrennt in der gleißenden Sonne. Da die Aborigines auf ihrem Walkabout nichts Essbares bei sich tragen, stehen Ameisen, Eidechsen, Krokodile, Käfer, Kängurus, Maden und Wurzeln auf der Speisekarte.

Aber Marlo Morgan erfährt auch eine unerwartete Bereicherung, denn die Aborigines heißen sie als eine der ihren willkommen und werden zu einfühlsamen Lehrern. Die »Wahren Menschen« zeigen ihr, was es bedeutet, die Begabung und die Talente, die in jedem Menschen stecken, zu achten und zu fördern. Und sie lernt, dass diese Menschen seit 50 000 Jahren in einer einzigartigen Harmonie mit der Natur leben und dieser mit Ehrerbietung gegenübertreten.

Autorin

Marlo Morgan studierte Medizin und engagierte sich besonders im Bereich der Gesundheitsvorsorge. Heute lebt sie in Missouri, USA.

Marlo Morgan

Traumfänger

Die Reise einer Frauin die Welt der Aborigines

Aus dem Amerikanischen von Anne Rademacher

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel »Mutant Message Down Under« bei Harper Collins Publishers, Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Genehmigte Taschenbuchausgabe 1/98

Copyright © der Originalausgabe 1991, 1994 by Marlo Morgan All rights reserved

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1995 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: Design Team München E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck CN · Herstellung: ast

ISBN 978-3-641-08785-2V004

www.goldmann-verlag.de

WIDMUNG

Dieses Buch ist meiner Mutter gewidmet, meinen Kindern Carri und Steve, meinem Schwiegersohn Greg, meinen Enkeln Sean Janning und Michael Leeund ganz besonders meinem Vater.

Der Mensch hat das Netz des Lebens nicht gewebt, er ist nur ein Strang dieses Netzes. Was immer er dem Netz antut, tut er sich selbst an.

Häuptling Seattle aus Amerika

Es gibt nur einen Weg, eine Prüfung zu bestehen, man muss sich ihr stellen. Dies ist unumgänglich.

Der Älteste Königlicher Schwarzer Schwan

Erst wenn der letzte Baum gefällt, der letzte Fluss vergiftet und der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.

Prophezeiung der Cree-Indianer

Mit leeren Händen geboren, mit leeren Händen gestorben.

Ich habe das Leben in seiner ganzen Fülle kennengelernt, mit leeren Händen.

Marlo Morgan

Von der Autorin an den Leser

Dieses Buch basiert auf Tatsachen und ist von wahren Erfahrungen inspiriert. Wie Sie bald erkennen werden, hatte ich kein Notizbuch zur Hand. Verkauft wird dieses Buch jedoch als Roman, um den kleinen Aborigine-Stamm vor rechtlichen Schwierigkeiten zu schützen. Aus Rücksicht auf Freunde, die nicht erkannt werden wollen, habe ich mir die Freiheit genommen, einige Details auszulassen. Außerdem soll die Lage unserer heiligen Stätte weiterhin ein Geheimnis bleiben.

Einen Gang in die nächste öffentliche Bibliothek kann ich Ihnen ersparen. Alle wichtigen historischen Informationen sind in diesem Buch enthalten. Auch eine Reise nach Australien ist nicht nötig. Über die Situation des modernen Aborigine kann man sich in jeder amerikanischen Stadt informieren, in der die dunkelhäutigen Bürger in Gettos leben. Gut die Hälfte von ihnen ist arbeitslos, und diejenigen, die eine Anstellung haben, verrichten niedere Arbeiten. Ihre eigene Kultur scheint vergessen zu sein, vergessen wie die der amerikanischen Ureinwohner, die in Reservaten leben müssen und ihre heiligen Riten seit Generationen nicht mehr ausüben dürfen.

Was ich Ihnen jedoch nicht ersparen kann, ist die Botschaft einer Veränderten!

Überall in Amerika, Afrika und Australien scheint man sich zu bemühen, die Beziehungen zwischen den Völkern zu verbessern. Doch irgendwo im trockenen Herzen des australischen Busches, im Outback, schlägt langsam und regelmäßig ein uraltes Herz. Dort lebt eine einzigartige Gruppe von Menschen, denen Unterschiede zwischen den Völkern egal sind: Ihnen geht es nur um ihre Mitmenschen und die Umwelt. Wer diesen Herzschlag versteht, wird auch das Menschsein oder das menschliche Sein besser verstehen.

Dieses Manuskript erschien ganz friedlich im Eigenverlag, war aber schon bald umstritten. Bei der Lektüre kann man zu verschiedenen Schlüssen kommen. Manchem Leser mag es so vorkommen, als hätte sich der Mann, den ich meinen »Übersetzer« nenne, in den letzten Jahren nicht immer an die Gesetze und Vorschriften der Regierung gehalten: Melde-, Steuer- und Wahlpflicht, Landnutzungsrecht, Schürfrechte, die Pflicht zur Meldung von Geburten und Todesfällen und Ähnliches mehr. Vielleicht hat er sogar andere Stammesmitglieder zum Gesetzesmissbrauch angestiftet. Man hat mich gebeten, die Identität dieses Mannes preiszugeben und eine Gruppe entlang der Routen, die wir gewandert sind, in die Wüste zu führen. Ich habe mich geweigert! Daraus könnte man vielleicht schließen, dass ich mich entweder ebenfalls der Beihilfe zum Gesetzesmissbrauch schuldig gemacht habe oder dass ich lüge und diese Menschen gar nicht existieren, denn schließlich habe ich kein einziges Stammesmitglied vorgeführt.

Dies ist meine Antwort darauf: Ich spreche nicht für alle australischen Aborigines. Ich spreche nur für einen kleinen Stamm draußen im australischen Busch, den man als »Die Wilden« oder auch »Die Alten« bezeichnet. Ich habe sie noch einmal wiedergesehen und bin von diesem Besuch erst im Januar 1994 in die USA zurückgekehrt. Noch einmal habe ich den Segen dieser Menschen empfangen, und sie haben gutgeheißen, wie ich meine Aufgabe zu erfüllen versuche.

Dem Leser möchte ich Folgendes sagen: Einige Menschen wollen sich nur unterhalten lassen. Wenn Sie zu diesen Menschen gehören, lesen Sie bitte dieses Buch, genießen Sie es und verlassen Sie Ihren Sessel nach der Lektüre, wie Sie eine gute Theatervorstellung verlassen würden. Für Sie ist dieses Buch reine Fiktion, und Sie werden nicht enttäuscht sein: Es ist sein Geld wert.

Wenn Sie aber jemand sind, der die Botschaft hört, wird diese laut und mächtig zu Ihnen durchdringen. Sie werden sie tief in Ihrem Inneren spüren, in Ihrem Herzen, in Ihrem Kopf und im Mark Ihrer Knochen. Es hätten genauso gut Sie die Person sein können, die für diesen Walkabout erwählt wurde. Glauben Sie mir, es gab viele Momente, in denen ich mir gewünscht habe, es wäre so gewesen.

Ein jeder von uns muss seine eigene Outback-Erfahrung durchleben, nur hat meine zufällig im echten Outback stattgefunden. Aber ich habe einfach getan, was auch Sie getan hätten, wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären.

Mögen die Menschen, von denen hier berichtet wird, Ihr Herz berühren, während Sie dieses Buch lesen. Meine Worte sind in meiner Sprache formuliert, doch ihre Wahrheit ist wortlos.

Probieren Sie die Botschaft, genießen Sie das, was Ihnen gut bekommt, und spucken Sie den Rest aus! Dies ist schließlich nichts anderes als das Gesetz des Universums!

Der Tradition der Wüstenmenschen folgend, habe ich einen anderen, neuen Namen angenommen, der für eine neue Gabe stehen soll.

Herzlichst

die Reisende Zunge

Dieses Buch ist frei erfunden und von meinen Erfahrungen in Australien inspiriert. Die Ereignisse hätten sich auch in Afrika, in Südamerika oder überall, wo die wahre Bedeutung der Zivilisation noch lebendig ist, zutragen können. Es soll ganz den Lesern überlassen bleiben, ihre persönliche Botschaft aus diesem Buch zu ziehen.

M. M.

1 Der Ehrengast

Man sollte meinen, es hätte irgendeine Warnung geben müssen, aber ich habe nichts dergleichen verspürt. Die Ereignisse hatten bereits ihren Lauf genommen. Meilen von mir entfernt saß eine Gruppe Raubvögel und harrte ihres Opfers. Das Gepäck, das ich erst vor einer Stunde ausgepackt hatte, würde am nächsten Tag mit dem Aufkleber »nicht abgeholt« versehen und in Aufbewahrung gegeben werden – viele Monate lang.

Es war ein schwüler Oktobermorgen. Ich stand in der Auffahrt des australischen Fünfsternehotels und wartete auf einen mir unbekannten Kurier. Und statt eine unangenehme Vorahnung zu empfinden, jubelte mein Herz. Es ging mir einfach wunderbar: Ich war freudig erregt, fühlte mich erfolgreich und gut vorbereitet. Tief in meinem Inneren wusste ich es: »Heute ist mein Tag.«

Ein Jeep ohne Verdeck bog in die kreisförmige Auffahrt ein. Ich kann mich erinnern, dass die Räder auf dem glühend heißen Asphalt zischten. Feine Wassertropfen wehten wie ein Sprühregen über die strahlend roten Lampenputzerbäume auf das rostige Metall. Der Wagen hielt an, und der Fahrer, ein etwa dreißigjähriger Aborigine, blickte in meine Richtung.

»Kommen Sie«, bedeutete mir seine schwarze Hand. Er suchte nach einer blonden Amerikanerin. Und ich wartete auf jemanden, der mich zu einem Stammestreffen von Aborigines bringen sollte. Unter dem kritischen Blick und der missbilligenden Gestik des uniformierten australischen Türstehers erkannten wir, dass wir uns gefunden hatten.

Noch bevor ich den lächerlichen Kampf mit meinen hochhackigen Schuhen aufnahm, um in den Geländewagen zu klettern, war mir klar, dass ich völlig unpassend gekleidet war. Der junge Fahrer an meiner Seite trug Shorts, ein schmuddeliges weißes T-Shirt und Tennisschuhe ohne Socken. Als wir den Transport zu dem Stammestreffen arrangierten, hatte ich vermutet, sie würden mir einen normalen Wagen schicken, vielleicht einen Holden, den Stolz der australischen Automobilindustrie. Niemals hätte ich mir erträumt, dass man mir ein völlig offenes Gefährt schicken würde. Nun denn, dachte ich, lieber zu gut als zu schlecht gekleidet, wenn es zu einem Empfang geht – noch dazu einem Bankett zu meinen Ehren.

Ich stellte mich vor. Er nickte nur und tat so, als sei ihm längst klar, wer ich war. Der Türsteher runzelte die Stirn, als wir an ihm vorbeischossen. Wir fuhren durch die Straßen der Küstenstadt, vorbei an Reihen von Häusern mit Veranden vor der Tür, an den für Australien typischen Milchbars und zubetonierten Parkplätzen ohne einen Tupfen Grün. Als wir in einen Kreisverkehr einfuhren, in den sechs Straßen mündeten, umklammerte ich krampfhaft den Türgriff. Als wir ihn wieder verließen, brannte mir die Sonne von hinten auf den Rücken. Schon jetzt wurde es mir in meinem neu erworbenen pfirsichfarbenen Seidenkostüm mit farblich abgestimmter Bluse unangenehm warm. Ich vermutete, dass wir zu einem Gebäude am anderen Ende der Stadt fuhren, aber da irrte ich. Wir bogen in die Hauptverkehrsstraße ein, die parallel zur Küste verlief. Offensichtlich spielte sich der Empfang außerhalb der Stadt ab, an einem Ort, der weiter vom Hotel entfernt lag, als ich erwartet hatte. Ich zog meine Jacke aus und machte mir Vorwürfe, dass ich so dumm gewesen war, nicht genauer nachzufragen. Wenigstens hatte ich eine Haarbürste in meine Handtasche gesteckt, und mein schulterlanges blondiertes Haar war – ganz der Mode entsprechend – zu einem Zopf geflochten und hochgesteckt.

Seit ich den ersten Anruf in dieser Sache erhalten hatte, war ich vor allem neugierig gewesen. Ich kann jedoch nicht sagen, dass er mich wirklich überraschte. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass meine Arbeit öffentlich anerkannt wurde, und dieses Projekt war ein besonders erfolgreiches. Ich arbeitete mit städtischen Halbblut-Aborigines, die durch Selbstmordversuche auf sich aufmerksam gemacht hatten. Ich hatte ihnen zu ersten finanziellen Erfolgen und Selbstwertgefühl verholfen, und das musste früher oder später bemerkt werden. Nur eines war merkwürdig: Der Stamm, der mich eingeladen hatte, lebte zweitausend Meilen weit entfernt an der anderen Küste des Kontinents. Allerdings wusste ich bis auf ein paar gelegentlich aufgeschnappte Bemerkungen auch nur wenig über die verschiedenen Aborigine-Stämme. So war mir zum Beispiel nicht klar, ob es sich bei ihnen um ein ziemlich einheitliches Volk handelte oder ob es, wie bei den Ureinwohnern Amerikas, zwischen den einzelnen Stämmen große Unterschiede und verschiedene Sprachen gab.

Über eines aber machte ich mir wirklich Gedanken: Was würde man mir überreichen? Noch eine holzgeschnitzte Gedenktafel, die ich zur Aufbewahrung heim nach Kansas City schicken würde? Oder vielleicht einfach nur einen Blumenstrauß? Nein, bei Temperaturen um die 40 Grad sicher keine Blumen. Außerdem wären die für den Rückflug viel zu umständlich zu transportieren. Wie vereinbart war der Fahrer pünktlich um zwölf Uhr mittags gekommen. Also musste es sich um einen Empfang mit Mittagessen handeln. Ich fragte mich, was ein Ureinwohnerrat wohl servieren würde? Hoffentlich kein traditionelles australisches Essen von irgendeinem Partyservice. Vielleicht war es ja ein improvisiertes Buffet, zu dem jeder etwas mitbrachte, sodass ich erstmals die Gelegenheit hätte, die verschiedensten Aborigine-Gerichte zu kosten. Ich hoffte auf einen mit vielen bunten Töpfen beladenen Tisch.

Dies versprach eine wunderbare und wirklich einzigartige Erfahrung zu werden, und ich freute mich auf einen Tag, den ich so schnell nicht wieder vergessen würde. In meiner Handtasche, die ich mir extra für diesen Anlass gekauft hatte, befanden sich eine 35-mm-Kamera und ein kleines Tonband. Es war zwar nie von Mikrofonen und Scheinwerfern die Rede gewesen, auch hatte man nie erwähnt, dass ich eine Ansprache halten sollte, aber zumindest war ich auf alles vorbereitet. Es zählte zu meinen besten Eigenschaften, dass ich immer vorausdachte. Schließlich war ich mittlerweile fünfzig Jahre alt und hatte in meinem Leben genügend Enttäuschungen und peinliche Situationen erlebt, um für jede Lage einen Alternativplan dabeizuhaben. Meine Freunde lobten meine Flexibilität: »Immer einen Plan B im Ärmel«, pflegten sie zu sagen.

Ein Highway-Straßenzug (die australische Bezeichnung für einen Lkw-Konvoi, in dem jeder Wagen mehrere riesige Anhänger hinter sich herzieht) fuhr auf der Gegenfahrbahn an uns vorbei. Die Wagen tauchten plötzlich aus den flirrenden Hitzewellen auf und donnerten mitten auf der Fahrbahn auf uns zu. Meine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als der Fahrer das Steuer herumriss und vom Highway in einen holprigen Weg abbog, auf dem wir eine meilenlange rote Staubwolke hinter uns ließen. Irgendwann verschwanden auch die beiden ausgefahrenen Spuren, und jetzt konnte ich gar keine Straße mehr erkennen. Wir fuhren im Zickzack um die Büsche und holperten über den ausgetrockneten, sandigen Wüstenboden. Mehrmals versuchte ich ein Gespräch anzufangen, aber der Motorlärm in dem offenen Fahrzeug und das Geräusch des Gestrüpps, das von unten gegen die Karosserie schlug, machten jede Unterhaltung unmöglich. Ich wurde ordentlich durchgeschüttelt und musste meine Kiefer fest aufeinanderpressen, um mir nicht auf die Zunge zu beißen. Auch der Fahrer schien ganz offensichtlich wenig geneigt, ein Gespräch anzubahnen.

Mein Kopf wurde hin und her geworfen, und ich fühlte mich wie eine Lumpenpuppe mit schlenkernden Gliedern. Mir wurde immer heißer. Meine Seidenstrumpfhose schien an meinen Füßen zu schmelzen, doch ich traute mich nicht, die Schuhe auszuziehen, weil ich befürchtete, sie könnten aus dem Wagen hinaus in die unendlich weite kupferfarbene Ebene geworfen werden, die uns umgab, so weit das Auge reichte. Ich hatte wenig Hoffnung, dass mein stummer Fahrer wegen so etwas anhalten würde. Ein feiner Staubfilm legte sich auf meine Sonnenbrille, und ich wischte ihn immer wieder mit dem Saum meines Unterrocks ab. Diese Armbewegungen öffneten die Schleusen für wahre Ströme von Schweiß. Ich spürte, wie mein Make-up sich auflöste, und stellte mir vor, wie der rosafarbene Hauch, den ich mir am Morgen auf die Wangen gepinselt hatte, jetzt in roten Streifen an meinem Hals hinunterlief. Sicherlich würde man mir zwanzig Minuten zugestehen, damit ich mich vor dem Empfang wieder etwas zurechtmachen konnte. Ich würde darauf bestehen!

Ich blickte auf meine Uhr; wir fuhren nun schon seit zwei Stunden durch die Wüste. Ich konnte mich nicht erinnern, mich jemals so verschwitzt und unbehaglich gefühlt zu haben. Mein Fahrer blieb stumm und summte nur gelegentlich ein paar Takte vor sich hin. Plötzlich dämmerte es mir: Er hatte sich überhaupt nicht vorgestellt. Vielleicht saß ich ja gar nicht im richtigen Auto! Aber das war dumm. Ich konnte im Moment nicht aussteigen, und er schien keine Bedenken zu haben, dass ich der richtige Passagier war.

Vier Stunden später fuhren wir auf eine verrostete Wellblechhütte zu. Draußen war ein kleines, schwelendes Feuer zu sehen. Als wir uns näherten, erhoben sich zwei Aborigine-Frauen. Sie waren beide mittelalt, klein und nur spärlich bekleidet. Als Zeichen des Willkommens lächelten sie mir warmherzig zu. Die eine trug ein Band im Haar, das die dicken Locken in eigenartigen Winkeln von ihrem Kopf abstehen ließ. Beide wirkten schlank und durchtrainiert, und aus ihren runden Gesichtern blickten mich strahlende braune Augen an. Als ich aus dem Jeep kletterte, sagte mein Fahrer: »Ich bin hier übrigens der Einzige, der Englisch spricht. Ich werde dein Übersetzer und Freund sein.«

»Na, wunderbar!«, dachte ich. »Um diese australischen Ureinwohner kennenzulernen, hast du siebenhundert Dollar für einen Flug, ein Hotelzimmer und neue Kleidung ausgegeben, und jetzt können sie noch nicht einmal Englisch, von Modebewusstsein ganz zu schweigen.«

Aber da ich nun schon einmal hier war, konnte ich auch genauso gut versuchen, mich anzupassen, obwohl ich tief in meinem Herzen wusste, dass es mir nicht gelingen würde.

Die Frauen stießen raue, fremdartige Geräusche aus, die nicht wie Sätze klangen, sondern höchstens wie einzelne Wörter. Mein Übersetzer wandte sich mir zu und erklärte, dass ich erst gereinigt werden müsse, um an der Versammlung teilnehmen zu dürfen. Mir war nicht klar, was er damit meinte. Natürlich war ich mit mehreren Schichten Staub bedeckt und von der Fahrt verschwitzt, aber darauf schien er nicht anzuspielen. Er überreichte mir ein Stoffbündel. Als ich es öffnete, entpuppte es sich als eine Art Lumpenwickelkleid. Sie wiesen mich an, meine Kleider abzulegen und es anzuziehen.

»Wie bitte?«, fragte ich ungläubig. »Ist das Ihr Ernst?«

Unnachgiebig wiederholte er seine Anweisungen. Ich sah mich nach einem geeigneten Ort zum Umkleiden um, aber es gab keinen. Was sollte ich machen? Ich war von zu weit hergekommen und hatte bereits zu viele Unannehmlichkeiten über mich ergehen lassen, um mich zu weigern. Der junge Mann entfernte sich.

»Ach, was soll’s. Wenigstens wird mir darin kühler sein als in meinem Kostüm«, dachte ich. So diskret wie möglich legte ich meine verdreckten, gerade neu erworbenen Kleider ab, faltete sie ordentlich zusammen und zog dann das Ureinwohnergewand an. Ich stapelte meine Sachen auf einen großen Stein, der vorher den wartenden Frauen als Stuhl gedient hatte. In dem farblosen Fetzen kam ich mir recht dumm vor und bedauerte es, dass ich so viel Geld in ein Kostüm investiert hatte, um damit »Eindruck schinden« zu können.

Der junge Mann kam zurück. Auch er hatte sich umgezogen und stand jetzt fast nackt vor mir – er trug lediglich ein Stoffstück, das er wie eine Art Badehose um sich gewickelt hatte. Wie die beiden Frauen am Feuer ging er barfuß. Er instruierte mich, dass ich alles abzulegen hatte: Schuhe, Strumpfhose, Unterwäsche und sämtlichen Schmuck, sogar die Klämmerchen, mit denen ich mir das Haar hochgesteckt hatte. Langsam war es mit meiner Neugier vorbei, und ich fühlte mich immer unbehaglicher. Aber ich tat, was man mir sagte.

Ich erinnere mich, dass ich meinen Schmuck in die Spitze eines Schuhs stopfte. Und ich tat etwas, das jede Frau automatisch zu tun scheint, obwohl es uns sicher niemand so beigebracht hat: Ich nahm meine Unterwäsche und legte sie in die Mitte des Kleiderhaufens.

Eine dicke graue Rauchwolke stieg aus den schwelenden Kohlen auf, als sie jetzt frisches grünes Buschwerk auf die Feuerstelle warfen. Die Frau mit dem Stirnband nahm einen Gegenstand, der aussah wie der Flügel eines großen schwarzen Raubvogels, und breitete ihn wie einen Fächer aus. Sie stellte sich vor mich und fächelte mir vom Kopf bis zu den Füßen zu. Der Rauch wirbelte um mich herum und nahm mir fast die Luft. Als Nächstes bewegte sie ihren Zeigefinger in einer kreisförmigen Geste, die wohl »Bitte umdrehen« bedeuten sollte. Das Rauchritual wurde hinter meinem Rücken wiederholt. Dann wiesen sie mich an, über das Feuer und durch den Rauch zu steigen.

Schließlich sagte man mir, ich sei jetzt gereinigt und dürfe die Wellblechhütte betreten. Während der bronzefarbene Mann mich zum Eingang geleitete, sah ich, wie die Frau mit dem Band im Haar meinen Kleiderhaufen nahm und ihn über die Flammen hielt. Sie sah mich an, lächelte, und während sich unsere Blicke trafen, ließ sie die Schätze in ihren Händen los. Alles, was ich besaß, wurde ein Opfer der Flammen! Dann bedeutete sie mir, nochmals über das Feuer und durch den Rauch zu steigen.

Einen Moment lang war ich wie gelähmt; ich atmete tief durch. Ich weiß nicht, warum ich nicht laut protestierte und schnell zum Feuer lief, um meine Sachen zu retten. Ich blieb einfach stehen. Der Gesichtsausdruck der Frau verriet, dass sie nicht böswillig handelte. Es war eher so, als würde sie einem Fremden eine ganz besondere Geste der Gastfreundschaft erweisen.

»Sie weiß einfach nicht, was sie tut«, dachte ich. »Sie hat sicher noch nie etwas von Kreditkarten gehört.« Ich war froh, dass ich mein Flugticket im Hotel gelassen hatte. Dort hatte ich auch noch etwas zum Anziehen, und wenn es so weit war, würde ich es schon irgendwie schaffen, in diesem Gewand durch die Hotellobby zu schreiten. »Hey, Marlo«, dachte ich, »du bist doch ein flexibler Mensch. Wegen so etwas braucht man sich doch kein Magengeschwür zuzulegen.« Aber immerhin nahm ich mir vor, später einen meiner Ringe aus der Asche zu retten. Bis wir mit dem Jeep in die Stadt zurückfahren würden, wäre das Feuer sicher ausgegangen und abgekühlt.

Doch es sollte anders kommen.

Nur im Nachhinein kann ich verstehen, welchen Symbolgehalt es hatte, als ich mich von meinem wertvollen und, wie ich dachte, völlig unverzichtbaren Schmuck trennte. Ich sollte noch lernen, dass Zeit für diese Menschen wirklich überhaupt nichts mit den Stunden auf meiner gold-diamantenen Armbanduhr zu tun hatte, die jetzt für immer der Erde übergeben worden war.

Erst viel später würde ich verstehen, dass diese Loslösung von bestimmten Dingen und Überzeugungen mir vorbestimmt und bereits ein erster, unverzichtbarer Schritt in meiner menschlichen Entwicklung zum Sein war.

2Die Würfel fallen

Wir traten über die offene Seite der Hütte ein. Sie bestand nämlich nur aus drei Wänden, und Fenster oder Türen waren deshalb unnötig. Dieses Gebäude war einzig zu dem Zweck errichtet worden, Schatten zu spenden, vielleicht auch als Unterstand für Schafe. In der Hütte war es noch heißer als draußen, denn in einem Steinkreis brannte ein Feuer. Es fehlte jedes Anzeichen dafür, dass sie für menschliche Bedürfnisse ausgerüstet war: Es gab keine Stühle, keinen Fußbodenbelag, keinen Ventilator; und es gab keinen Strom. Es waren einfach ein paar Wellblechplatten, die notdürftig von ein paar alten, verrottenden Holzlatten zusammengehalten wurden.

Meine Augen stellten sich schnell von dem gleißenden Licht der letzten vier Stunden auf die durch Schatten und Rauch dunklere Umgebung um. In der Hütte traf ich auf eine Gruppe erwachsener Aborigines, die im Sand saßen oder standen. Die Männer trugen einen farbigen, reich verzierten Kopfschmuck und um ihre Oberarme und Fußgelenke Federn. Sie waren mit derselben Art Lendenschurz wie mein Fahrer bekleidet. Die Gesichter der Männer waren, mit Ausnahme meines Fahrers, mit Mustern bemalt, die sich auf ihren Armen und Beinen wiederholten. Sie hatten weiße Farbe benutzt, um Punkte, Streifen und aufwendige Ornamente zu malen. Eidechsen schmückten ihre Arme, während auf Rücken und Beinen Schlangen, Kängurus und Vögel zu sehen waren.

Die Frauen waren nicht so prächtig geschmückt. Sie schienen so groß wie ich zu sein – ungefähr 1,65 bis 1,70 Meter. Die meisten von ihnen waren älter, hatten aber trotzdem noch eine glatte, milchschokoladenfarbene Haut, die ihnen ein gesundes Aussehen verlieh. Ich sah keine einzige, die ihre Haare lang trug; fast alle hatten kurz geschorene Locken. Diejenigen, die längere Haare zu haben schienen, hatten ein schmales Band mehrmals über ihrem Kopf gekreuzt, das die Haare fest zusammenhielt. Bei einer sehr alten, weißhaarigen Dame in der Nähe des Eingangs rankte sich ein handgemalter Blumenkranz um Hals und Fußgelenke. Hier war eindeutig ein Künstler am Werk gewesen, der die einzelnen Blüten- und Staubblätter sehr fein herausgearbeitet hatte. Alle trugen entweder zwei einzelne Stoffstücke oder ein Wickelkleid, wie sie es mir gegeben hatten. Ich sah keine Babys oder Kinder, nur einen Jungen im Teenageralter.

Mein Blick blieb an der am aufwendigsten geschmückten Person im Raum hängen – ein Mann, dessen schwarzes Haar von grauen Strähnen durchzogen war. Sein gestutzter Bart betonte den Ausdruck von Würde und Stärke in seinem Gesicht. Er trug einen fantastischen Kopfschmuck aus dicht gesteckten Papageienfedern in den buntesten Farben. Wie bei den anderen Männern waren Oberarme und Fußgelenke mit Federn geschmückt. Er hatte sich verschiedene Dinge um die Taille gegürtet, und vor seinem Oberkörper prangte ein runder, kunstvoll gearbeiteter Brustschmuck aus Steinen und Samen. Einige der Frauen hatten ähnliche, kleinere Versionen dieser Brustplatte, die sie als Kette trugen.

Der Mann lächelte und streckte mir beide Hände entgegen. Als ich in seine schwarzen, samtenen Augen schaute, überkam mich ein Gefühl von Sicherheit und absolutem Frieden. Ich glaubte noch nie ein Gesicht gesehen zu haben, in dem so viel Sanftmut geschrieben stand.

Trotzdem war ich hin- und hergerissen. Die angemalten Gesichter und die rasiermesserscharfen Speere, welche die Männer im Hintergrund vor sich aufgepflanzt hatten, verstärkten meine ständig wachsende Furcht. Auf der anderen Seite wirkten sie alle fröhlich, und es ging eine Atmosphäre von Vertraulichkeit und Freundschaft von ihnen aus. Ich pendelte mich irgendwo in der Mitte meiner Gefühle ein, indem ich mir meine eigene Dummheit vorführte. Dies hier ähnelte nicht im Geringsten dem, was ich erwartet hatte. Noch nicht einmal im Traum hätte ich mir vorstellen können, dass ich mich inmitten so nett und freundlich wirkender Menschen so bedroht fühlen könnte. Wäre doch bloß meine Kamera nicht von den Flammen vor der Hütte verschlungen worden! Was für großartige Fotos hätte ich in meine Alben kleben oder später einem staunenden Publikum von Freunden und Verwandten als Dias vorführen können. Meine Gedanken wanderten zum Feuer zurück. Was verbrannte da noch? Die Vorstellung ließ mich erschauern: mein internationaler Führerschein; orangefarbene australische Banknoten; der Hundertdollarschein, den ich seit Jahren in einem Geheimfach meiner Brieftasche bei mir trug und der mich an den ersten Job meiner Jugend bei einer Telefongesellschaft erinnerte; ein Exemplar meines cremigen Lieblingslippenstiftes, den es in diesem Land nicht zu kaufen gab; meine Diamantarmbanduhr und der Ring, den mir meine Tante Nola zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte – alles den Flammen übergeben.

Ich wurde in meinen beklemmenden Gedanken unterbrochen, als mir mein Übersetzer, der sich Ooota nannte, den Stamm vorstellte. Ooota sprach seinen Namen mit einem langen »Ooo«, das er fast zu einem »Oooooo« ausdehnte, um dann mit einem abrupten »ta« zu enden.

Der Mann mit den wunderschönen Augen, der wie ein gütiger großer Bruder wirkte, wurde von den Aborigines als »Stammesältester« angesprochen. Er war jedoch nicht der älteste Mann der Gruppe, sondern mehr das, was wir unter einem Häuptling verstehen.

Eine der Frauen begann, ein paar Hölzer aneinanderzuschlagen, und nach und nach fielen die anderen Frauen ein. Die Speerträger stießen die langen Schäfte ihrer Waffen in den Sand, und wieder andere klatschten in die Hände. Die ganze Gruppe fiel in eine Art Sprechgesang. Mit einer Handgeste wurde ich aufgefordert, auf dem sandigen Boden Platz zu nehmen, während sie eine für die australischen Ureinwohner typische Feier, ein Korrobori, inszenierten. Sobald ein Lied beendet war, setzten sie schon zum nächsten an. Mir war bis zu diesem Moment entgangen, dass einige von ihnen Bänder mit großen Pflanzenhülsen um die Fußgelenke trugen, doch jetzt, als diese mit den getrockneten Samen in ihrem Inneren zu lauten Rasseln wurden, waren sie nicht mehr zu überhören und zu übersehen. Als Nächstes begann eine der Frauen zu tanzen, und bald war es eine ganze Gruppe. Manchmal tanzten die Männer allein, dann kamen die Frauen wieder mit dazu. Es war ihre Geschichte, an der sie mich auf diese Art und Weise teilhaben ließen.

Schließlich nahm das Tempo der Musik ab, und auch ihre Bewegungen wurden immer langsamer, bis sie alle völlig stillstanden. Es wurde nur noch ein ganz regelmäßiger Rhythmus geschlagen, der dem Klopfen meines Herzens angepasst schien. Alle blickten schweigend auf ihren Anführer. Dieser stand auf und ging auf mich zu. Lächelnd blieb er vor mir stehen. Plötzlich spürte ich zwischen uns ein unbeschreibliches Gefühl von Vertrautheit. Intuitiv wusste ich, dass wir alte Freunde waren, aber das war natürlich Unsinn. Ich vermute, dass ich mich einfach durch seine Präsenz geborgen und akzeptiert fühlte.

Der Älteste löste eine längliche Lederröhre aus Schnabeltierhaut von dem Band an seiner Taille und schüttelte sie über seinem Kopf. Dann öffnete er sie an einem Ende und ließ ihren Inhalt auf den Boden fallen. Um mich herum lagen Steine, Knochen, Zähne, Federn und runde Lederscheiben. Mehrere Stammesmitglieder halfen, die Stellen zu markieren, wo die einzelnen Gegenstände gelandet waren. Sie waren beim Anbringen der Zeichen im Sand mit ihren Zehen genauso flink und geschickt wie mit ihren Fingern. Dann wurde alles zurück in den Behälter gegeben. Der Älteste sagte etwas und reichte den Behälter an mich weiter. Irgendwie erinnerte mich das Ganze an Las Vegas, also hielt auch ich die Lederröhre in die Luft und schüttelte sie. Ich wiederholte das Spiel, indem ich sie ebenfalls an einem Ende öffnete und den Inhalt zu Boden fallen ließ. Dabei hatte ich keinerlei Kontrolle darüber, wo die einzelnen Teile landeten. Zwei Männer auf Händen und Knien maßen mithilfe der Füße eines anderen aus, wo mein Wurf im Unterschied zu dem ihres Ältesten gelandet war. Einige gaben ein paar Kommentare dazu ab, aber Ooota machte keine Anstalten, sie mir zu übersetzen.

An diesem Nachmittag machten wir mehrere Tests, von denen mich einer besonders beeindruckte. Man reichte mir eine hellgrüne Frucht, die eine dicke, bananenartige Schale hatte, jedoch wie eine Birne geformt war, und bat mich, sie zu halten und zu segnen. Was sollte das bedeuten? Ich wusste es nicht, deshalb sagte ich in meinen Gedanken einfach: »Lieber Gott, bitte segne dieses Essen«, und gab sie dem Ältesten zurück. Er nahm ein Messer, schnitt die Spitze der Frucht ab und begann sie zu schälen. Die Schale fiel jedoch nicht wie bei einer Banane an der Frucht hinunter, sondern kringelte sich in Spiralen um sie herum. In diesem Moment wandten sich sämtliche Gesichter mir zu. Unter all den Blicken aus schwarzen Augen fühlte ich mich unbehaglich. Als hätten sie es vorher eingeübt, stießen sie alle gleichzeitig ein lautes »Ah« aus, und zwar jedes Mal, wenn der Älteste eine weitere Schale abschälte. Ich wusste nicht, ob dieses »Ah« nun ein gutes oder ein böses »Ah« war, aber irgendwie war mir klar, dass die Schale der Frucht sich beim Schälen normalerweise nicht kringelte. Was immer diese Tests auch anzeigen mochten, ich hatte wenigstens die Mindestpunktzahl erreicht.

Eine junge Frau mit einem Teller voller Steine kam auf mich zu. Es war wahrscheinlich eher ein Stück Pappe als ein Teller, aber sie war so mit Steinen vollgehäuft, dass ich es nicht genau erkennen konnte. Ooota blickte mich sehr ernst an und sagte: »Wähle einen Stein. Wähle weise. Er hat die Kraft, dein Leben zu retten.«

Obwohl ich mich heiß und verschwitzt fühlte, überzog mich auf der Stelle eine Gänsehaut. Meine Eingeweide reagierten mit einer Frage in ihrer eigenen Sprache. Die verkrampften Bauchmuskeln signalisierten: »Was soll denn das bedeuten? Die Kraft, dein Leben zu retten!«

Ich schaute auf die Steine. Sie sahen alle gleich aus. An keinem schien irgendetwas Außergewöhnliches zu sein. Es waren einfache graurote Kiesel, ungefähr von der Größe einer Münze. Ich wünschte mir, einer von ihnen hätte geleuchtet oder irgendwie besonders ausgesehen. Doch nichts. Also spielte ich einfach Theater: Konzentriert schaute ich auf die Steine, als würde ich jeden einzelnen genau untersuchen. Dann wählte ich einen der oberen aus und hielt ihn triumphierend in die Höhe. Alle Gesichter strahlten mich zustimmend an, und insgeheim jubelte ich: »Ich habe den richtigen Stein gewählt!«

Aber was sollte ich jetzt damit machen? Ich konnte ihn nicht einfach fallen lassen und ihre Gefühle verletzen. Mir bedeutete dieser Stein zwar nichts, aber ihnen schien er wichtig zu sein. Weil ich keine Tasche hatte, in die ich ihn hätte stecken können, fiel mir kein anderer Ort ein als der Ausschnitt meines derzeitigen Gewandes. Und prompt vergaß ich, was ich in den Taschen von Mutter Natur aufbewahrte.

Als Nächstes löschten sie das Feuer, bauten ihre Gerätschaften ab und sammelten ihre wenigen Besitztümer ein. Dann wanderten sie hinaus in die Wüste. Ihre braunen, halb nackten Körper glänzten im hellen Sonnenlicht, als sie hintereinander einherschritten. Die Versammlung war offensichtlich aufgelöst: ohne Essen und ohne Auszeichnung! Ooota verließ die Hütte als Letzter, aber auch er wanderte hinter den anderen her. Nach ein paar Metern drehte er sich um und sagte: »Komm. Wir gehen jetzt.«

»Wohin?«, fragte ich.

»Auf ein Walkabout.«

»Und wohin soll das gehen?«

»Quer durch Australien.«

»Na prima! Wie lange wird das dauern?«

»Wahrscheinlich drei volle Mondzyklen.«

»Soll das heißen, dass ihr drei Monate lang wandern wollt?«

»Ja, mehr oder weniger drei Monate.«

Ich seufzte tief. Dann verkündete ich dem in einiger Entfernung stehenden Ooota: »Das klingt ja so, als könnte es eine Menge Spaß machen, aber bitte verstehen Sie, dass ich nicht mitkommen kann. Ich kann nicht einfach heute verschwinden. Es gibt da gewisse Zwänge und Verpflichtungen, die Miete, die Strom- und die Wasserrechnungen. Ich habe keinerlei Vorbereitungen getroffen. Ich müsste etwas Zeit haben, um alles für eine Wanderung oder einen Campingtrip zu arrangieren. Vielleicht verstehen Sie das nicht: Ich bin keine Australierin, ich bin Amerikanerin. Wir können nicht einfach in ein fremdes Land reisen und verschwinden. Ihre Einwanderungsbehörden wären davon wenig begeistert, und meine Regierung würde mit Hubschraubern nach mir suchen lassen. Vielleicht kann ich ein andermal, wenn man mir rechtzeitig Bescheid gibt, mit Ihnen kommen, aber heute nicht. Heute kann ich einfach nicht mitkommen. Nein, heute ist nicht der richtige Tag für so etwas.«

Ooota lächelte. »Alles ist in Ordnung. Jeder, der es wissen muss, wird es wissen. Mein Volk hat deinen Hilfeschrei gehört. Wenn nur ein Stammesmitglied gegen dich gestimmt hätte, wären sie nicht zu dieser Wanderung aufgebrochen. Du bist geprüft und aufgenommen worden. Ich kann dir nicht erklären, welch große Ehre das bedeutet. Du musst diese Erfahrung durchleben. Es ist das Wichtigste, was du in diesem Leben tun wirst. Und es ist das, wozu du geboren wurdest. Dies ist das Werk der Göttlichen Einheit; es ist deine Botschaft. Mehr kann ich nicht sagen. Komm. Folge mir.« Er drehte sich um und ging fort.

Da stand ich nun und starrte hinaus auf die australische Wüste. Sie war unendlich, öde und doch schön. Der Jeep stand noch da, und der Zündschlüssel steckte. Aber wie waren wir hierhergekommen? Stundenlang hatte ich keine richtige Straße mehr gesehen, nur Kurven und Abzweigungen. Ich hatte keine Schuhe, kein Wasser, kein Essen. Um diese Jahreszeit betrug die Temperatur in der Wüste zwischen 38 und 55 Grad Celsius. Es war schön, dass sie alle dafür gestimmt hatten, mich aufzunehmen, aber was war mit meiner Stimme? Ich hatte das Gefühl, dass über meinen Kopf hinweg entschieden worden war.

Ich wollte nicht gehen. Sie forderten mich auf, mein Leben in ihre Hände zu legen. Ich hatte diese Menschen gerade erst kennengelernt, und ich konnte noch nicht einmal mit ihnen reden. Was war, wenn ich meine Arbeit verlöre? Es war ohnehin schon schlimm genug, denn meine Zukunft war durch keinerlei betriebliche Altersversorgung gesichert. Es war wahnsinnig! Ich konnte natürlich auf keinen Fall mitgehen.

»Wahrscheinlich ist diese ganze Angelegenheit für sie noch nicht abgeschlossen«, dachte ich mir. »Erst haben sie in dieser Hütte ihre Spielchen mit mir getrieben, und als Nächstes gehen sie hinaus in die Wüste, um weiterzuspielen. Sie werden nicht weit gehen; sie haben nichts zu essen dabei. Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, dass sie von mir erwarten, heute Nacht da draußen mit ihnen zu kampieren. Und trotzdem«, dachte ich weiter, »sie müssen mich nur einmal anschauen, und schon werden sie sehen, dass ich kein Campingtyp bin; ich bin ein Großstadtmensch, ein Schaumbadtyp. Obwohl – wenn es sein muss, kann ich das auch! Ich werde ihnen einfach und bestimmt klarmachen, dass ich bereits mein Hotel für diese Nacht bezahlt habe. Ich werde ihnen erklären, dass sie mich morgen früh vor der Check-out-Zeit zurückgebracht haben müssen. Denn ich habe keine Lust, einen Tag extra zu bezahlen, um diesen dummen, ungebildeten Leuten einen Gefallen zu tun.«

Ich sah die Gruppe immer weiter wegwandern. Sie wurden kleiner und kleiner. Mir fehlte die Zeit, um – typisch Waage – alle Vor- und Nachteile abzuschätzen. Je länger ich hier stand und mir überlegte, was ich machen sollte, desto weiter entfernten sie sich aus meinem Blickfeld. Meine Worte von damals haben sich mir so genau eingeprägt wie das Muster in einer wunderschön polierten Holzintarsie: »Okay, Gott. Ich weiß ja, dass Du einen etwas eigenartigen Sinn für Humor hast, aber diesmal verstehe ich ihn wirklich nicht.« Mit einer Mischung aus Furcht, Verwunderung, Unverständnis und völliger Gefühllosigkeit folgte ich dem Aborigine-Stamm, einer Gruppe von Menschen, die sich selbst die »Wahren Menschen« nannten.

Ich war zwar nicht gefesselt und geknebelt, aber ich fühlte mich wie eine Gefangene. Mir war, als hätte man mich gezwungen, einen Marsch in die Ungewissheit anzutreten.

3Natürliches Schuhwerk

Ich war noch nicht weit gelaufen, da spürte ich einen stechenden Schmerz in meinen Füßen. Als ich zu ihnen hinunterblickte, sah ich überall Stacheln in meiner Haut stecken. Ich zog die Dornen heraus, aber erkannte bald, dass ich mir mit jedem Schritt neue eintrat. Ich versuchte, auf einem Fuß vorwärtszuhüpfen und gleichzeitig die schmerzenden Stacheln aus dem anderen zu ziehen. Den anderen, die sich nach mir umdrehten, muss ich einen komischen Anblick geboten haben. Das Lächeln in ihren Gesichtern hatte sich in ein breites Grinsen verwandelt. Ooota war stehen geblieben, um auf mich zu warten. In seinen Zügen war nun Mitgefühl zu lesen, und er riet mir: »Vergiss den Schmerz. Entferne die Dornen, wenn wir unser Nachtlager aufschlagen. Lerne den Schmerz zu ertragen. Richte deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Wir werden deine Füße später versorgen. Im Moment kannst du nichts tun.«

»Richte deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes« – damit konnte ich etwas anfangen. Ich hatte mit Hunderten von Schmerzpatienten gearbeitet, besonders in den letzten fünfzehn Jahren, seit ich mich als Ärztin auf Akupunktur spezialisiert hatte. In kritischen Situationen muss man oft zwischen einem Medikament, das betäubt, und der Anwendung von Akupunktur entscheiden. Bei meinen Patienten hatte ich genau die gleichen Worte verwendet. Von ihnen hatte ich erwartet, dass sie dazu imstande waren, und jetzt erwartete es jemand von mir. Es war zwar leichter gesagt als getan, aber ich schaffte es.

Einige Zeit später hielten wir zu einer kurzen Rast an, und ich entdeckte, dass die Spitzen der meisten Stacheln abgebrochen waren. Die Schnitte bluteten, und die Splitter waren unter meine Haut gedrungen. Wir liefen über Spinifex-Gestrüpp. Die Botaniker ordnen es den Strandgräsern zu. Es klammert sich im Sand fest und überlebt selbst bei wenig Wasser, indem es zusammengerollte, messerscharfe Halme bildet. Die Bezeichnung Gras