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Dieses Buch vereint eine wundervolle Auswahl aus ländlichen Geschichten über das Leben, die Liebe und andere Alltäglichkeiten. Mit vielen erzählerischen Lichtblitzen tauchen Sie in den Alltag der Bergbewohner aus der malerischen Jungfrau-Region ein. Diese sinnliche Lektüre gibt Einblick in fremde und doch so vertraute Leben, verbotene Geheimnisse, klopfende Herzen, ergreifende Schicksalsschläge und schwere Entscheidungen - allesamt, tief verborgen in der malerischen Landschaft des Berner Oberlandes. Fühlen Sie sich eingeladen, das Leben für einige Momente zu entschleunigen und ein wenig zu träumen.
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Seitenzahl: 296
Veröffentlichungsjahr: 2021
Ich bedanke mich bei Stefan und Rémy – ihr habt mir die nötige Freiheit und Zeit geschenkt, damit ich diese Geschichten zu Papier bringen konnte.
Sehr dankbar bin ich auch meiner Grossmutter, die mich dazu ermunterte, meine Geschichten zu veröffentlichen. Leider durfte sie das fertige Buch nicht mehr in den Händen halten, doch im Herzen wird sie immer nah bei mir sein.
Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass sämtliche Figuren und Geschichten frei erfunden sind. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Situationen sind purer Zufall.
Gefühlsberauscht
Zwischen Alp und Edelweiss
Traumstille
Die Zeit ohne Dich
Der Duft von wildem Bergthymian
Stürmische Nacht
Entscheidung Sehnsucht
Nordwand-Nacht
Es warst schon immer nur du
Antonia keuchte das steile Gässchen hinauf. Der Schweiss rann ihr unangenehm über den Rücken und versickerte im Bund ihres Jupes. Seit längerer Zeit übertraf ein Tag den anderen an Sonnenintensität und glühender Hitze. Seit Wochen regnete es nicht und die kurzen, heftigen Abendgewitter brachten Sturm und Hagel, anstatt Abkühlung. Die Menschen ächzten und hielten sich, wenn möglich, tagsüber im Schatten auf. Doch Antonia kam heute leider nicht in diesen Genuss. Ihr Gesicht glühte. In beiden Händen trug sie die schweren Einkaufstaschen von Frau Häsler.
Frau Häsler war Antonias dreiundneunzigjährige Vermieterin, die nicht mehr gut zu Fuss war. Beim Einzug in die neue Wohnung vor zwei Jahren hatte Antonia die Not und körperliche Einschränkung der alten Dame erkannt und bot ihr seither ihre Hilfe an. Einmal pro Woche erledigte sie den Haushalt, die Wäsche und die Einkäufe. Antonia tat dies gern. So fand sie wenigstens eine sinnvolle Beschäftigung in ihrer Freizeit, was ihr dabei half, nicht zu oft in Erinnerungen und dem Gefühl der Einsamkeit zu verweilen. Immerhin hatte sich ihr Leben in den vergangenen zwei Jahren sehr verändert.
Am Ende des Gässchens nahm sie den letzten Anstieg hinauf zur Hauptstrasse. Sie überquerte diese und schleppte sich mit den vollen Taschen bis zum Beginn eines Feldweges auf der anderen Strassenseite. Antonia rastete dort im Schatten eines Quittenbaumes. Die Trageriemen hatten sich bereits in ihre Hände geschnitten und tiefrote Streifen hinterlassen, als sie diese nun abstellte. Mit dem Rücken an den Baum gelehnt, verlor sich Antonia in liebevollen Gedanken an Hanspeter.
Sie lächelte, als sie daran dachte, wie sie Hanspeter kennengelernt hatte. Es war bei ihr zuhause passiert, im Kanton Uri, bei der jährlichen Chilbi, die der Hasen- und Zuchttaubenverein veranstaltete. Eigentlich hatte sie mit diesem Verein nichts am Hut. Dem Züchten von Hasen und Tauben konnte sie nichts abgewinnen. Zudem waren ihr Männer, die Tauben und Hasen züchteten, einfach suspekt. Sie ging da nur hin, weil in dem verschlafenen Nest endlich was los war. Damals arbeitete sie als Pflegerin in einem Altersheim. Arbeiten, das konnte sie, doch mit Männern hatte sie bis dahin keine grossen Erfahrungen gemacht.
Sie war schon beinahe dreissig, als sie Hanspeter begegnete. Er stellte damals auf der Chilbi seine Brieftauben aus. Sie stand irgendwann zufällig neben ihm vor einem Käfig, starrte gelangweilt auf eine eingesperrte Taube und suchte nach der Faszination an dieser Beschäftigung. Je länger sie grübelte, desto weniger konnte sie es verstehen. „An welchem Punkt im Leben muss man ankommen, damit man sich dazu entschliesst, Brieftauben zu züchten?“, fragte sie sich laut und blickte sich suchend um, ob es noch andere Menschen hier gab, die ähnlich dachten wie sie.
In diesem Moment begegneten sie sich zum ersten Mal. Antonia bemerkte ihn, als er neben ihr stand und flüsterte ihm zu: „Man könnte die Tauben mal mit einem Papagei kreuzen, dann wären sie wenigstens in der Lage, einen flotten Witz zu erzählen.“ Lachend über ihren eigenen Scherz und die alberne Vorstellung, sah sie ihn an.
Er erwiderte ihren Blick mit einem ernsten, aber freundlichen Stirnrunzeln: „Sie können mir diese Theorie ja bei einem Glas Wein erläutern, dann schaue ich, was ich machen kann.“ Erst da bemerkte Antonia das Namensschild, das gut sichtbar an seiner Brust befestigt war. Nachdem sie zuerst vor Scham fast im Boden versunken wäre, nahm sie seine Einladung an. Draussen im Festzelt sassen sie dann lange beieinander, unterhielten sich und lernten sich kennen.
Er war älter als sie, sehr schlank und gepflegt, trug eine Brille und einen Schnurrbart. Hanspeter war belesen und mochte seine Arbeit als Geschichtslehrer im Gymnasium in Interlaken.
Antonia war ganz anders als er: klein und füllig, vorlaut und keck. Sie war als fünftes Kind einer Bauernfamilie aufgewachsen. Unerschrocken und ohne Berührungsängste ging sie auf die Menschen zu, trug das Herz am rechten Fleck und meisterte den Alltag mit einer liebevollen Verschlagenheit, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Ihre kinnlangen, feinen, strohblonden Haare lösten sich pausenlos aus dem Pferdeschwanz und standen dann wie Antennen in alle Himmelsrichtungen ab. Ihre Mutter meckerte regelmässig, diese Haare seien nicht zum Langtragen geeignet und sie solle sich doch endlich eine ansehnliche Kurzhaarfrisur machen lassen. Antonia dachte das selbst auch, doch aus Trotz tat sie es nicht. Sie allein entschied, wie sie herumlief, und niemand sonst.
Ähnlich selbstbestimmt und entschlossen war sie gewesen, als sie die Schule beendet hatte und für ein Jahr ins Welschland zog, um Französisch zu lernen. Eine Lehre absolvierte sie nie, sondern meisterte ein Haushaltsjahr und fand danach eine Anstellung in einem Pflegeheim. Einige Jahre später wechselte sie in das Altersheim.
Es dauerte nach der Chilbi nicht lange und Antonia zog zu Hanspeter nach Gsteigwiler. Die beiden führten keine Liebesbeziehung, wie aus Filmen und Kitschromanen bekannt, doch Antonia war zufrieden mit ihrem Leben. Bis zu dem Tag, als die Diagnose vom Arzt kam: Krebs.
Es ging alles sehr schnell. Antonia kümmerte sich bis zum letzten Atemzug um Hanspeter. Als er gestorben war, konnte sie nicht mehr allein im grossen Haus leben und eine junge Familie zog stattdessen ein. So hatte sie schließlich die kleine Wohnung bei Frau Häsler gefunden.
Ein herannahendes, bebendes Rattern liess Antonia wieder im Hier und Jetzt ankommen. Das Feld neben ihr flimmerte in der sengenden Hitze. Prustend hob sie die Taschen hoch und wollte ausgeruht den Heimweg fortsetzen.
Im nächsten Moment raste ein Traktor in halsbrecherischem Tempo um die Kurve und auf sie zu. Ohne Rücksicht, donnerte er ungebremst knapp an ihr vorbei. Antonia sprang entgeistert mit einem Satz zur Seite und landete im Feld. Eine Papiertasche vermochte dem abrupten Ruck nicht standzuhalten. Der Boden riss und die ganzen Einkäufe purzelten auf den erdigen Boden. Zwiebeln, Kartoffeln, Bohnen, Joghurt und die beiden Kernseifen lagen kreuz und quer um sie herum auf Feld und Wiese verstreut. Antonia betrachtete aufgebracht den Schlamassel und schnaubte durch die Nase.
„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ Eine ältere Dame, schaute besorgt aus ihrem Garten auf der anderen Strassenseite zu Antonia herüber.
„Haben Sie das gesehen? Dieser Verrückte hat mich fast umgefahren?“ Antonia schaute dem rasenden Gefährt hinterher.
„Oh nein! Frau Wyss! Sehen Sie doch!“, rief die freundliche Dame gleich darauf, eilte zu Antonia und deutete besorgt in die Richtung des Traktors.
Ein uraltes Mütterchen mit Rollator überquerte die Dorfstrasse und das Ungetüm raste geradewegs auf sie zu. Hilflos blieb sie mitten in der Gefahrenzone stehen und starrte angstverzerrt auf das riesige Fahrzeug, das auf sie zu ratterte. Antonia stockte der Atem, sie konnte nicht hinsehen. Quietschend kam die Landmaschine zum Stillstand.
„Los, heute noch, wenn’s geht!“
Antonia hörte, wie der Fahrer die wehrlose Frau anschnauzte. Die betagte Dame erholte sich nur langsam von ihrem Schreck und brachte mit allen Kräften den Rollator und sich selbst in Sicherheit.
Als der Traktor um die nächste Ecke bog und verschwand, entbrannte Antonias Wut gänzlich.
„Wer war das?“, fragte sie die Dame aufgebracht, die mittlerweile begonnen hatte, die Einkäufe vom Boden in die andere Einkaufstasche zu füllen.
„Das war Jaron“, entgegnete diese nachdenklich. „Eine traurige Geschichte“, ergänzte sie mit ruhiger Stimme.
„Wie? Traurig?“, hakte Antonia nach.
„Seine Eltern kamen vor einigen Monaten auf tragische Weise ums Leben. Seither hat er den grossen Bauernhof seines Vaters übernommen. Es ist ihm ein bisschen zu Kopf gestiegen, dass er jetzt allein über den riesigen Betrieb regiert. Er hat sich sehr verändert, grüsst kaum noch und beachtet einen nicht mehr.“
Antonia schaute wutentbrannt in die Richtung, in die er verschwunden war. „So, und wo wohnt dieser grosse Landgutbesitzer?“, wollte sie noch wissen, wartete die Antwort aber nicht mehr ab. Schnaubend krempelte sie die Ärmel nach oben, nahm die Einkaufstasche und lief dem Traktor entschlossen hinterher. Am Weg bereitete sie sich auf das Streitgespräch vor. Sie wusste genau, was sie sagen würde und dazu würde sie eindeutige Gesten mit der Hand machen.
Der Traktor stand verlassen vor dem Haus. Der rücksichtslose Besitzer musste drinnen sein. Wie von der Tarantel gestochen, näherte sie sich der Haustür. Eine Klingel suchte sie vergebens, also stiess sie prompt die Aussentür auf und stieg die Treppe empor, bis sie vor einer weiteren geschlossenen Tür stand. Dort hämmerte sie mit der Faust dagegen, zuerst sachte, dann mit mehr Nachdruck. Stille. Herannahende Schritte. Die Tür ging auf und da stand er.
„Ja?“, mit leeren Augen und Stirnrunzeln trat er ihr entgegen. Hinter ihm in der Küche brutzelte etwas auf dem Herd.
„Bist du eben mit dem Traktor durchs Dorf gerast und hast dabei die halbe Bevölkerung umgefahren?“ Noch bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: „Was fällt dir eigentlich ein? Ist dir bewusst, dass du mich fast ins Jenseits befördert hättest? Mich und Frau Wyss! Die arme Frau hatte wohl gerade den schrecklichsten Moment ihres Lebens!“ Antonias Kopf verfärbte sich rötlich und die Haare, die sich längst gelöst hatten, standen ungebändigt in alle Richtungen ab.
Jaron starrte sie gleichgültig an. Es interessierte ihn wohl nicht, was sie ihm hier an den Kopf warf. „Ist denn jemand überfahren worden?“
Seine Arroganz machte Antonia noch wütender: „Nein! Aber du kannst doch nicht einfach so durch diese engen Gassen rasen! Woher willst du wissen, dass da nicht plötzlich jemand über die Strasse geht? Oder kannst du vielleicht in die Zukunft schauen? Hast du Visionen, während du deinen Traktor durch die Gegend jagst? Kannst du in deinem Geschwindigkeitsrausch einen Blick in andere Dimensionen erhaschen?“ Daraufhin wurde ihre Stimme tief, sie schloss die Augen hellseherisch und drückte die Finger an ihre Schläfen: „In genau dreihundertfünfzig Metern, nach den nächsten vier Kurven, überqueren eine Gruppe Kinder, zwei Rentner und drei Esel die Strasse und bis dahin kann ich das Eisen voll durchdrücken!“, äffte sie ihn nach. „Oder wie läuft das bei dir ab?“, legte sie noch in scharfem Ton nach.
Jaron blickte die hysterische, immer lauter keifende Frau an, die in seiner Tür zur Stube stand und wagte es, sie kurz zu unterbrechen: „Moment, gute Frau, mein Essen ruft!“ Er liess Antonia stehen und eilte mit grossen Schritten zum Herd, um das Essen zu wenden.
„Oh nein, so einfach kommst du mir nicht davon!“ Antonia folgte ihm unwirsch in die Küche.
Während Jaron unter dem laut surrenden Dampfabzug seine Bratwurst drehte und die Bratkartoffeln wendete, merkte er nicht, dass Antonia hinter ihm stand.
„Da ist zu viel Salz dran!“
Jaron fuhr überrascht herum und blitzte sie wütend an: „Habe ich dich etwa hereingebeten? Raus hier!“
Antonia erschrak. Ihr Zorn verflog augenblicklich, als sie die Wut in seinen Augen sah. Nun war sie in ihrer Rage zu weit gegangen und hatte dabei einfach diese fremde Wohnung betreten.
Jaron machte einen raschen Schritt auf sie zu, verengte seine Augen zu einschüchternden Schlitzen und knurrte: „Ich wiederhole mich nur ungern!“ Er wurde dabei nicht laut. Das war auch nicht nötig. Seine Ausstrahlung war Bedrohung genug. Seine blauen Augen funkelten. So wie sich die Stimmung jetzt gedreht hatte, wurde Antonia etwas mulmig zumute. Er war um einiges grösser als sie und hatte einen ziemlich kräftigen Körperbau. Seine Haare fielen ihm wild ins Gesicht und sein ungepflegter Bart unterstrich sein düsteres Wesen. Wollte er aus Absicht so aussehen und unnahbar wirken oder liess er sich einfach gehen? War ihm sein Aussehen einfach egal?
Da sie ihn nicht kannte, wollte sie ihn nicht länger provozieren. Sie drehte sich widerstandslos um, blickte sich jedoch beim Hinauseilen noch um. Die Küche war überfüllt mit schmutzigem Geschirr. Es muffelte. Im Wohnzimmer stand zwar ein Staubsauger, doch benutzt wurde er wahrscheinlich nicht. Sogar einen Blick ins Schlafzimmer konnte sie erhaschen. Die Fensterläden waren geschlossen, das Bett nicht gemacht, der Boden übersät mit Schmutz-kleidern.
„Brauchst du Hilfe oder findest du allein raus?“, Jaron schnauzte sie ungeduldig an. Antonia floh eilig ins Freie. Mit einem lauten Krach wurde die Tür hinter ihr zugeknallt.
Draussen im Sonnenschein blieb sie stehen und atmete erst einmal tief durch. Sie war durcheinander. Es war eine ungewohnte Situation. Normalerweise wurden alle mucksmäuschenstill, wenn sie jemandem den Marsch blies. Doch dieser Mann liess sich in keiner Weise von ihr beeindrucken. Eine Weile genoss Antonia die hellen Sonnenstrahlen, die ihr Gesicht wärmten und ihr die unangenehme Anspannung nahmen. Langsam setzte sie sich in Bewegung, um den Hof zu verlassen, liess aber ihren Blick nochmals zurück zum Haus schweifen. Die Tür und die Fensterbänke waren mit verstaubter Dekoration geschmückt, die überhaupt nicht zu dieser Jahreszeit passte. Vermutlich hatte Jarons Mutter das alles liebevoll dekoriert. Antonia dachte an die Wohnungseinrichtung. Abgesehen vom Staub und der Unordnung passte dieser Wohnstil überhaupt nicht zu einem Mann seines Alters. Eigentlich sah es so aus, als würde Jaron gar nicht dort wohnen, sondern immer noch seine Eltern. Wie konnte man sich da wohlfühlen? Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr bekam sie den Eindruck, dass Jaron womöglich gar nicht eingebildet war, sondern einfach masslos überfordert.
Antonia spürte plötzlich, wie ein Sog sie aus heiterem Himmel tief in diese Geschichte zog. Sie wollte wissen, wer dieser Jaron war.
Viele Fragen schossen wild durch ihren Kopf. Diese Geschichte löste eine unerwartete Intensität in ihren Gedanken aus. Sie wollte Antworten. Sie brauchte Antworten. Und nur eine Person konnte ihr in diesem Moment helfen, Licht ins Dunkel zu bringen.
Antonia überquerte entschieden die Dorfstrasse und folgte instinktiv dem Wanderweg Richtung Zweilütschinen. Nichts und niemand konnte sie jetzt aufhalten. Die Begegnung mit diesem Mann löste ein Gefühl in ihr aus, wie sie es vorher noch nie wahrgenommen hatte. Ein fremdartiges Empfinden, das sie sich nicht erklären konnte. Es war nicht das übliche Helfersyndrom, das sich bei ihr automatisch einschaltete, sobald sie auf jemanden in Not traf. Sie wollte ihre Nase auch nicht in fremde Angelegenheiten stecken. Doch irgendetwas lenkte ihre Aufmerksamkeit auf diesen Mann und dieses Haus. Energisch setzte sie einen Fuss vor den anderen. Gleich würde sie da sein.
Die spitzen Steine des Wanderweges bohrten sich in die dünnen Sohlen ihrer Sandalen. Das Dorf lag hinter ihr. Noch die Abzweigung hoch bis zum Waldrand und da stand es. Ein uraltes Holzhaus, mit angebautem Stall. Es thronte mitten auf einer Lichtung, umgeben von dichten Tannen, und musste über zweihundert Jahre alt sein. Das brüchige Dach wirkte nicht robust, die Fenster waren schief, der Zaun ringsum stand nicht mehr einwandfrei. Ein paar Hühner pickten glucksend in den Kieselsteinen. Unter dem knorrigen Apfelbaum standen drei kauende Ziegen, die zu ihr herüber starrten.
Antonia kehrte regelmässig hier ein. Eine Bekannte hatte ihr vor Jahren den Weg hierher erklärt, als es mit dem Kinderkriegen nicht geklappt hatte. Hier erhielt sie immer wieder bedeutsame Antworten auf all ihre Fragen. Es war ein wunderlicher Ort. Trotz ihrer unerschrockenen, selbstbewussten Art wurde Antonia hier stets zurückhaltend und andächtig, wie beim Besuch einer grossen, ehrwürdigen Kirche. Obwohl hier alles heruntergekommen aussah, strahlte dieser Ort Mystik, Ruhe und etwas Erhabenes aus.
Antonia verschnaufte, trat auf die Tür zu und klopfte an. Sie erschrak, als plötzlich eine Krähe laut vom Ast einer Tanne krächzte und die Stille jäh durchbrach. Daraufhin richtete sich Antonias Aufmerksamkeit plötzlich auf ein Häuschen, das gleich neben dem Haupthaus stand. Es sah aus wie ein altes Waschhaus, wo in vergangenen Zeiten die Wäsche gewaschen worden war, komplett aus Stein gebaut und von Efeu überwuchert. Rauch kam aus dem kleinen steinernen Kamin auf dem alten Ziegeldach.
Knarrend ging die verwitterte Holztür auf und Frau von Allmen schaute argwöhnisch heraus. Wortlos deutete sie Antonia mit ihren blassen, knöchernen Fingern, einzutreten. Antonia ging über den Innenhof auf das Häuschen zu. Es war ihr vorher noch nie aufgefallen. Was mochte darin verborgen sein? Stechend heisser Dampf schlug ihr entgegen, als sie zaghaft eintrat. Sie schnappte nach Luft und musste ihre Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen. Die verstaubten, mit Spinnweben behangenen und feucht beschlagenen kleinen Fenster liessen kaum Licht herein.
„Setz dich, mein Kind!“, krächzte Frau von Allmen, ähnlich wie die Krähe vorhin.
Antonia tat, wie ihr geheissen. In der Mitte des kleinen Raumes stand ein alter quadratischer Holztisch mit zwei Stühlen. Von der Decke hingen üppig getrocknete, geflochtene Kräuterbüschel. Der Boden bestand aus plattgetretenem Lehm. In der Ecke befand sich ein glühender kleiner Holzofen, in dem ein Feuer knisterte. Daneben standen eigenartig geformte Flaschen. Aus einer tropfte eine ölähnliche Substanz in ein urnenförmiges Gefäss. Antonia verstand nicht, wieso in dieser beinahe unerträglichen Hitze keine einzige Schweissperle an Frau von Allmens Gesicht zu sehen war. Sie hingegen kippte beinahe um, weil ihr diese feuchte Hitze so zusetzte.
„Wie kann ich dir helfen, Kind?“
„Frau von Allmen, ich hatte soeben eine Begegnung mit einem Mann, die mich sehr beschäftigt. Eigentlich könnte es mir egal sein, aber irgendetwas lässt mich nicht los.“
Frau von Allmen schlurfte zum freien Stuhl am Tisch. Auf einem Auge war sie blind. Die Pupille war trüb und hatte sich fast silbern verfärbt. Das andere Auge riss sie weit auf und spähte zu Antonia, in einer Weise, als ob sie ihr direkt in die Seele blicken wollte. Ihr Gesichtsausdruck war sehr streng. Antonia wartete ab.
Ätherische Öle durchdrangen den Raum, schwängerten die Luft würzig-süss und benebelten die Sinne. Es herrschte eine stoische Ruhe. Frau von Allmen ging wortlos durch die Dampfschwaden zurück zum Ofen, öffnete die Klappe und legte ein Stück Holz nach. Trotz der enormen Hitze trug sie ein verblichenes Kopftuch. Eines, wie man es von den alten Schwarzweissfotos kannte, als die Frauen während des Zweiten Weltkrieges damit auf dem Ackerfeld gearbeitet hatten. Um die Schultern hatte sie ein gestricktes Wolltuch geschlungen. Darunter trug sie ein Hemd, einen bodenlangen Rock und darüber eine verwaschene Schürze. Während sie das Feuer im Ofen beäugte, tänzelten die Schattenlichter der Flammen in ihrem Gesicht. Antonia dachte unweigerlich an die Geschichte mit der Hexe in ihrem Knusperhäuschen.
„Erzähl mir von deiner schicksalhaften Begegnung“, leitete Frau von Allmen das Gespräch ein. Hinkend schlurfte sie zum Tisch zurück und setzte sich auf den Stuhl.
„Sie denken also auch, dass es schicksalhaft ist?“ Aufgeregt prüfte Antonia Frau von Allmens Reaktion und sprach weiter: „Ich habe soeben Jaron Siegenthaler kennengelernt. Es war eine sehr unerfreuliche Begegnung.“
„Soso, den jungen Siegenthaler hast du kennengelernt?“ Frau von Allmen zeigte ein zahnloses Lächeln und zog eine Braue hoch, wodurch noch mehr Furchen auf ihrer Stirn zum Vorschein kamen. Mit ihrer knöchernen Hand griff sie neben sich aufs Fensterbrett und hob den Deckel eines tönernen Gefässes. Sie holte ein paar getrocknete Blätter und feine Ästchen heraus. Mit der anderen Hand nestelte sie in der Tasche ihrer Schürze herum und zog einen abgewetzten Rosenkranz hervor. Während sie mit ihren steifen Fingern die Blätter in einer kleinen Schale auf dem Tisch zerrieb, murmelte sie unverständliche Worte, die sich bruchstückhaft wie Psalmen anhörten. Dabei bearbeitete sie eine Perle des Rosenkranzes nach der anderen. Das nachgelegte Holz erzeugte eine noch extremere Hitze, die durch das Häuschen strömte, und Antonia wusste nicht, wie lange sie es hier drin noch aushalten würde. Wie konnte es sein, dass sie nach wie vor keine einzige Schweissperle an der alten Frau erkennen konnte? Am liebsten wollte sie laut nach Luft schnappend nach draussen rennen, doch es war zu fesselnd, dieser Wahrsagerin zuzuschauen.
„Gequälte Seele, tiefe Trauer, erdrückende Last. Eingepfercht in ein Leben, das ich nicht führen will, finde ich keinen Ausweg“, waren diesmal die Worte, die Frau von Allmen mit ungewöhnlich feiner, zarter Stimme von sich gab. Sie blickte ins Leere und wirkte abwesend. Antonia lauschte ehrfürchtig. Doch Frau von Allmen sagte nichts mehr und schien sich zu sammeln.
Diese gesprochenen Worte deckten sich mit den Eindrücken, die Antonia zuvor in Jarons Haus gewonnen hatte.
„Können Sie dazu noch etwas mehr sagen?“
Frau von Allmen schaute Antonia fragend an: „Wozu mehr, mein Kind?“
„Naja, zu dem, was Sie soeben gesagt haben?“
„Ich habe doch noch gar nichts gesagt!“, etwas ungläubig schien Frau von Allmen zu prüfen, ob mit Antonia alles in Ordnung war. Antonia war irritiert und schaute verunsichert in die Schale mit den zerriebenen Blättern. Es würde wohl nichts bringen, wenn sie weitere Fragen stellte. Frau von Allmen griff bedächtig nach der Schale und war von deren Inhalt inspiriert: „Ich sehe eine Veränderung auf dich zukommen, mein Kind. Mut, Kreativität und Durchhaltevermögen werden gefragt sein. Höre auf deinen Instinkt, folge ihm, er wird dir den Weg weisen. Durchhalten ist das Schlüsselwort. Ich sehe Konfrontation mit emotionalen Bindungen, in trüben und doch romantischen Gewässern, und viel Unsicherheit auf einem unklaren Terrain. Ich sehe jemanden weglaufen.“
Antonia verstand rein gar nichts und wollte nachhaken, doch Frau von Allmen schien in ihrer Gedankenwelt versunken und reagierte nicht. Sie kippte den Inhalt der Schale auf den Boden und streckte Antonia die hohle Hand hin. Das war ein bekannter und unmissverständlicher Hinweis. Antonia bedankte sich und holte den fünfzig Franken Schein aus ihrer Geldbörse.
Auf dem Nachhauseweg dachte sie intensiv über die Worte ihrer bewährten Wahrsagerin nach. Sie empfand eine sonderbare Leichtigkeit und war trotz Sandalen flink unterwegs, bis ihr plötzlich einfiel, dass sie die Einkaufstasche bei Jarons Haus vergessen hatte. Sie hielt kurz inne, eilte dann zurück zum Hof und fand den Einkauf dort vor, wo sie ihn hingestellt hatte. Der Traktor war wieder weg. Neugierig liess sie den Blick rundum schweifen. In der Scheune stapelten sich Futtersäcke. Heurechen, Motorsäge und andere Werkzeuge lehnten unordentlich halb übereinander an der Wand neben der Mähmaschine. Das Winterholz war noch nicht gestapelt und lag kreuz und quer auf einem jämmerlichen Haufen. Nicht nur im Haus wartete offensichtlich viel Arbeit, sondern auch hier.
Otto, ein betagter Nachbar, spazierte vorbei, als Antonia gerade den Hof musterte.
„Grüezi Antonia, sag bloss du suchst Jaron?“
Sie zuckte zusammen und fühlte sich ertappt: „Nein, gar nicht! Ich kam nur schnell vorbei, um was zu holen.“
„Er ist selten da, der arme Kerl, er arbeitet nur noch. Die vierzig Stück Vieh wollen versorgt sein. Die Baufirma zahlt gut. Und die Feuerwehr, das ist seine Leidenschaft“, erzählte Otto im Vorbeigehen. Dann blieb er in der Hofeinfahrt stehen, sah sich um und ergänzte mit Mitgefühl: „Leider hat er nicht nur einen schönen Bauernhof geerbt, sondern auch die Schulden seines Vaters, die bei der Renovierung vor einigen Jahren entstanden sind. Wer hätte denn schon damit gerechnet, dass die Siegenthalers von ihrem Sonntagsausflug aus dem Emmental nicht mehr nach Hause kommen würden. Es war ein Schock für alle. Jetzt ist er echt allein“, Otto hob seine rechte Hand zum Gruss. „Meine Schwiegertochter erwartet mich zum Essen. Mach‘s gut, Antonia!“ Antonia erwiderte den Gruß und machte sich betroffen auf den Heimweg.
Als sie die Einkäufe bei Frau Häsler abgeliefert hatte, setzte sie sich ausgelaugt an den Küchentisch. Der bunte Serviettenhalter, den ihr Hanspeter einmal zum Geburtstag geschenkt hatte, lenkte ihren Blick schließlich auf das Kuvert, dass sie Tage zuvor gereizt darunter geklemmt hatte, um dessen Inhalt erst einmal zu verdauen. Protzig stach das Logo ihres Arbeitgebers ins Auge. Der hatte beschlossen, sie aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage des Unternehmens zu entlassen. Ärger kam in ihr hoch. Und doch wollte sie die kommenden Herausforderungen annehmen.
Am nächsten Tag in der Früh schaffte es Antonia überraschend, in einem Hotel in Interlaken ein Vorstellungsgespräch für den frühen Nachmittag zu vereinbaren. Es handelte sich dabei um einen Job in der Lingerie. Das Hotel genoss nicht den besten Ruf und Antonia machte auch keine freudigen Luftsprünge, doch war es das einzige Angebot, wo ab sofort eine Mitarbeiterin gesucht wurde. Mit gemischten Gefühlen verliess sie ihre Wohnung und fuhr die schmale Gasse hinunter bis zur Dorfstrasse, in die sie dann einbog. Sie hatte das Glück, ein sehr kleines, wendiges Auto zu besitzen. Hanspeter hatte ihr die Schlüssel des sportlichen, roten Kleinwagens an einem Valentinstag überreicht. Mit einem riesigen, roten Herzluftballon in Händen, hatte er ihr erklärt, dass sie ab nun auch mehr Ausflüge an Land machen würden. Er hatte gemerkt, dass seine Liebe zu Schiffen für Antonia mit der Zeit immer anstrengender wurde, ohne entsprechenden Ausgleich.
Beim Dorfladen parkierte sie ihr Auto halb auf dem Trottoir und eilte in den Laden. Sie benötigte noch Briefumschläge und diverse andere Sachen, die sie für weitere Bewerbungsschreiben verwenden würde. Gerade füllte sie ihren Einkaufs-korb, als sie ein herannahendes Traktorrattern hörte. Mit einem unguten Gefühl trat sie zum grossen Frontfenster und schaute hinaus, just in dem Moment, als das Gefährt um die Kurve brauste, direkt auf das unglücklich parkierte Auto zu, das zur Hälfte auf die Strasse ragte. Der Traktor war viel zu schnell, ein Ausweichen unmöglich und somit blieb nur eine Vollbremsung.
Antonia begann mit unguter Vorahnung zu schreien und zu fluchen und liess den Einkaufskorb fallen.
Bevor Jaron den überdimensionalen Traktor zum Stehen brachte, brach dieser nach rechts aus und rammte mit voller Wucht den geparkten Wagen. Er schob ihn mehrere Meter weit und fuhr ihn schließlich gegen eine massive Eisenstange, an der gelbe Wanderwegweiser befestigt waren. Kreischend rannte Antonia hinaus und starrte in eine wirbelnde Staubwolke. Als sich diese allmählich verzog, erblickte sie ein rotes, metallenes Wrack, das zuvor ihr Auto gewesen war. Die Scheibenwischer geknickt, die Räder schief, auf beiden Seiten eingedrückt und die Warnblinker noch fleissig eine Gefahr signalisierend, gab der Rest des Sportwagens ein trauriges Bild ab. Antonia rang nach Luft.
Jaron kletterte fluchend aus dem Traktor. Mit zerknirschtem Gesichtsausdruck begutachtete er den zerquetschten Trümmerhaufen. Zügig lief er um den Traktor und atmete erleichtert durch, als er sichergestellt hatte, dass seinem Fahrzeug nichts passiert war.
Und dann trafen sich ihre Blicke. Beide waren erstmals sprachlos. Diese Stille wurde jedoch durch ein grelles, kurzes Quietschen und einen anschliessenden lauten Aufprall beendet. Der verbogene, geknickte Wegweiser konnte der Schwerkraft nicht länger standhalten und fiel mit einem dumpfen Schlag auf das zerbeulte Dach des Wracks. Unter den gelben Wegweisern waren zwei Kistchen mit Geranien an der Stange befestigt gewesen. Auch diese entleerten sich quer über den gesamten Blechhaufen und die gespaltene Frontscheibe. Der Trümmerhaufen war mit Blumenerde und vielen kleinen, roten Röschen verziert, was die Situation noch absurder machte.
Sichtlich erleichtert darüber, dass keine Personen zu Schaden gekommen waren, betrachtete Jaron das Unglück. Er konnte sich aber ein Lachen ob dieses bizarren Bildes kaum verkneifen. Überspielend räusperte er sich, auf der Suche nach den richtigen Worten. Er richtete den Blick auf Antonia, die gleich zu platzen schien. Ausgerechnet ihr musste diese Schrottkarre gehören. Jaron bemühte sich um einen reuigen Tonfall: „Ich bezahle den Pannendienst und gebe dir zweitausend Franken für den Wagen, ich denke, das ist angemessen.“ Er beobachtete sie von der Seite und wartete auf ihre Reaktion.
Die Lebensgeister kehrten bei Antonia auf einen Schlag zurück, bei diesem Versuch der Wiedergutmachung: „Ein angemessenes Angebot? Ich glaube, ich höre nicht recht! Es ist nicht einmal vierundzwanzig Stunden her, dass du zuerst mich und anschliessend Frau Wyss beinahe umgefahren hast! Ganz zu schweigen von diesem leidigen Streitgespräch danach!“ Antonia kam immer mehr in Fahrt, doch ihre Stimme versagte und sie musste tief Luft holen, bevor sie etwas ruhiger weitersprechen konnte. „Du hast mich offenbar kein bisschen ernst genommen und jetzt schau, was du angerichtet hast!“ Ihre Tonlage wurde schon wieder schriller, während sie auf ihren Wagen deutete. „Mein, mein“, stammelte sie, „mein wunderschönes Auto ist total zerstört.“
In diesem Moment sauste ein Junge auf seinem Trottinett vorbei. Als er das immer noch blinkende, geranienübersäte, total zerbeulte Auto sah, musste er herzhaft und laut lachen, bevor er um die Ecke Richtung Schulhaus bog.
Jaron versuchte, die Situation zu retten: „Ich gebe dir auch gern zweitausendfünfhundert Franken, aber mehr war das gute Fahrzeug wirklich nicht wert.“
Antonia rang entrüstet nach Luft und zischte ihn wütend an: „Und wie wäre es erstmal mit einer Entschuldigung? Das ist ja wohl das Mindeste!“ Ihre Wangen waren mittlerweile purpurrot.
„Aha! Und wie wäre es, wenn du dich erstmal bei mir entschuldigen oder dich nach meinem Wohlergehen erkundigen würdest?“ Jaron fand offensichtlich Gefallen an der Kabbelei mit dieser Furie. Es schien ihn zu amüsieren, sie dauernd derart aus der Fassung zu bringen. Merkbar gespannt wartete er, wie sie auf seine Provokation reagieren würde und setzte noch einen obendrauf: „Mein Traktor hat schliesslich das Zwanzigfache von deiner Mühle gekostet.“
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Antonia schnappte abermals nach Luft: „Jetzt soll ich mich entschuldigen? Mühle? Was bist du eigentlich für ein selbstgerechter Affe?“ Sie überlegte ernsthaft, handgreiflich zu werden.
„Naja, wenn wir es genau betrachten, darfst du hier eigentlich gar nicht parkieren“, zufrieden deutete er auf das Parkverbotsschild, das über den Wegweisern angebracht war und nun in leuchtendem Rotblau auf dem zerbeulten Autodach lag. „Oder habe ich hier ein markiertes Parkfeld übersehen? Oder gar einen Parkeinweiser? Oder ist es für dich normal, dein Auto einfach da abzustellen, wo es dir gerade beliebt?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen und voller Schadenfreude zog sich Jaron elegant aus der Affäre.
Antonia schaute auf das Parkverbotsschild, das ihr tatsächlich erst jetzt auffiel. Tränen des Zorns traten ihr in die Augen und sie sehnte sich nach einem Ausweg aus dieser beschämenden Situation.
Jaron stichelte nicht weiter, sondern zog sein Handy hervor und rief den Pannendienst an. Währenddessen näherte sich Antonia vorsichtig dem Wrack und holte ihre paar Habseligkeiten aus dem Wagen.
„Sie sind in zehn Minuten hier. Finden wir jetzt eine Lösung, die für uns beide halbwegs stimmt, bevor du mich mit deinem Blick endgültig erdolchst?“
Antonia musterte ihn böse, bevor sie tief einatmete und sich selber sagen hörte: „Du stellst mich als deine Haushälterin und Arbeiterin auf deinem Hof an.“
Jaron riss ungläubig die Augen auf. Hatte sie das gerade ernsthaft gesagt?
Um Haltung zu bewahren, stellte Antonia sich aufrecht hin, stemmte die Hände in die Hüfte und erwiderte stur seinen Blick.
Jaron schüttelte leicht überfordert den Kopf. „Gute Frau, nur um sicher zu gehen, du bist nicht im Auto gesessen, als ich eben reingedonnert bin und hast etwas von der Wucht abbekommen?“
Sie wich nicht aus und starrte ihn immer noch todernst an. „Du bist schuld, dass ich es nicht rechtzeitig zu meinem Vorstellungstermin schaffe. Diesen Job kann ich vergessen. Und so schnell finde ich keine Arbeit mehr, ohne Auto!“
Jaron hob die Hände zur Abwehr und wollte sämtliche Anschuldigungen von sich weisen, doch in dem Moment stoppte der Pannendienst neben ihnen.
„Wir sehen uns morgen um sieben Uhr bei dir im Stall!“ Jaron erntete noch einen eindringlichen Blick, bevor Antonia sich umdrehte und ihn mit dem Pannendienst zurückliess.
Am nächsten Morgen, mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen, stand Antonia pünktlich um sieben Uhr neben Jaron im Stall. Er war gerade mit der letzten Kuh beschäftigt.
„So, hier bin ich. Wo kann ich anfangen?“
Jaron drehte sich zu ihr um, richtete sich auf und zog die Augenbrauen hoch. Antonia trug ein leuchtend rotes Kopftuch und dunkelgraue Latzhosen.
„Hör zu, Frau! Wie heisst du eigentlich?“
„Antonia Gisler!“
„Hör zu, Toni …“
„Niemand nennt mich Toni! Alle rufen mich Antonia. Das war schon immer so und wird auch so bleiben.“, gab sie hochmütig von sich.
„Hör zu, Toni, ich kann dich nicht beschäftigen. Erstens habe ich keinen Nerv für so etwas und zweitens arbeite ich lieber allein.“ Er nickte ihr mit einer eindeutigen Geste des Abschieds zu, zog den vollen Milchkessel unter der Kuh hervor und wollte an Antonia vorbei zur Milchsammelstelle gehen. Unbeirrt stellte sie sich vor ihn und erklärte ihm klar und deutlich: „Ich gehe nirgendwo hin! Du hast etwas wieder gut zu machen. Es soll dir eine Lehre sein, so rücksichtslos, wie du mit deinen Mitmenschen umgehst. In diesem Affentempo durch unser schönes Dorf zu brettern, aggressiv und egoistisch. Ich hätte gestern vielleicht einen Job bekommen und wegen dir hat es nicht geklappt. Und ...“
Jaron winkte ab, seufzte und zeigte auf den Eimer mit Wasser. „Du kannst den Kühen die Schwänze waschen, während ich ihnen Gras in die Barni fülle. Danach besprechen wir dieses Arbeitsverhältnis bei einer Tasse Kaffee, einverstanden?“ Antonia schmunzelte und war augenblicklich zufrieden. Diesen Kampf hatte sie gewonnen.
Die Tage und Wochen vergingen. Es gab keine Veränderungen im Umgang zwischen den beiden. Jaron war schweigsam, wie immer, und sah in Antonia die Arbeitskraft, die sie war. Antonia schmerzte der Rücken und die Muskeln waren verspannt von der harten Arbeit. Wenn Jaron beim Bauunternehmen seinen Dienst schob, blieb umso mehr Arbeit am Hof an ihr hängen. Immer wieder hatte er Feuerwehrübung und sie übernahm das Melken und Ausmisten im Stall. Sie wusste, dass sie Jaron sehr viel Arbeit abnahm. Doch der Preis dafür war hoch. Der Seifenschaum in der Dusche floss jeden Abend schmutzig in den Ausguss. Abends brannten ihr die Augen so sehr vor Müdigkeit, dass an einen Krimi im Fernsehen oder an ein gutes Buch nicht zu denken war. In ihr kamen vermehrt Kindheitserinnerungen hoch, die sie längst vergessen hatte. Sie erinnerte sich gut, dass sie ihren Eltern immer wieder beteuert hatte, niemals Bäuerin werden zu wollen. Das duftende Heu, der Wind im Haar, die strahlende Sonne, die die Haut bräunte, das waren die schönen Seiten dieses Berufs. Doch die harte körperliche Arbeit, die dreckverschmierten Hände und Kleider, die Haare, die am verschwitzten, salzigen, staubverklebten Gesicht hafteten, das war die Kehrseite der Medaille. Oder die Maschinen, die plötzlich im unpassendsten Moment den Geist aufgaben und repariert werden mussten.
Solche Zwischenfälle hatten Antonia und Jaron schon viele Nerven gekostet. Einmal hatte ihr Telefon mitten in der Nacht schrill die erholsame Ruhe durchbrochen. Schlaftrunken war Antonia aus dem Bett geklettert und hatte Jarons Stimme vernommen, ganz ausser Atem. Eine Kuh kalbte und der Tierarzt hätte erst eine Stunde später vor Ort sein können. Er habe zu wenig Kraft und brauche noch zwei Hände mehr, meinte er nur, woraufhin Antonia durch die kalte Nacht zu ihm hinuntereilte. Zusammen sassen sie auf dem schmutzigen Stallboden. Ihr ganzes linkes Hosenbein war von feuchtem Mist durchtränkt und klebte an ihrer Haut, doch es war ihr egal. Sie folgte den Anweisungen.
Zwei kleine Hufe ragten regungslos aus der Kuh, die mittlerweile kraftlos auf dem Boden lag. Jaron hatte das Ende eines schmalen Seils um die zarten Beinchen gebunden und am anderen Ende einen grossen Ast in die Schlaufe gedreht. Seine Hände ergriffen die eine Seite des Astes.
„Antonia, du umfasst das andere Ende des Astes“, erklärte er ihr schnell, „und nach jeder Wehe ziehst du, alles klar?“
„Alles klar!“ Noch während Antonia die Worte sprach, zog sie kräftig am Ast.
„Wenn die Kuh Wehen hat, habe ich gesagt!“, wiederholte Jaron vorwurfsvoll.
„Entschuldigung, wie soll ich das merken, ich hatte noch nie Wehen!“
„Ja, ich auch nicht!“, erwiderte er müde und gereizt, als sie die Kuh wieder schnauben hörten. „Jetzt ziehen!“ Und beide zogen am Seil, bis das Kalb endlich zum Vorschein kam. Jaron kniete sich hin und versuchte, das Kälbchen mit Stroh trocken zu rubbeln, doch es rührte sich nicht. „Ich fürchte, dieses Mal hat es nicht geklappt.“, traurig sah er auf das tote Kälbchen. Die Kuh versuchte aufzustehen, doch es gelang ihr nicht. Betroffen schauten sie sich an.
„Ich bringe das Kälbchen raus. Kannst du hier ein wenig sauber machen? Ich bin gleich zurück, mache dann fertig und du kannst wieder schlafen gehen. Entschuldigung, dass ich dich aus dem Bett geholt habe.“ Niedergeschlagen brachte Jaron das tote Kalb weg.
Antonia stand zerknirscht neben der Kuh und redete mitfühlend auf sie ein: „Oh, du armes, tapferes Mädchen! Du hast alles richtig gemacht.“ Sie wollte einen Eimer Wasser und Tücher holen, doch die Kuh wurde zunehmend unruhiger. Antonia blieb stehen und wollte gerade Jaron rufen, als plötzlich zwei neue Hufe zum Vorschein kamen.
„Noch ein Kalb! Noch ein Kalb!“
Jaron kam hereingestürzt: „Was meinst du?“