Undurchsichtig - Jeannine Jentsch - E-Book

Undurchsichtig E-Book

Jeannine Jentsch

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Beschreibung

Edi von Allmen aus Gimmelwald findet nach dem Tod seiner Grossmutter alte Briefe und vergilbte Fotos. Auch ein kostbares viktorianisches Schmuckstück gibt ihm Rätsel auf. Gerade diese Entdeckung scheint so überhaupt nicht zu seiner verblichenen Bergbauernfamilie zu passen. Als er sein geliebtes Alpendorf fluchtartig verlassen muss, erinnert er sich an die verborgenen Dokumente. Kurzentschlossen stürzt er sich ins Unbekannte und sucht Zuflucht in einer verfallenen Jugendstil-Villa. Unversehens wird er mit seiner bis dahin unbekannten Familiengeschichte konfrontiert. Er taucht ein in alte Geheimnisse, rätselhafte Todesfälle und ein Leben im Luxus. Doch ein mysteriöser Fluch macht ihm und den anderen Bewohnerinnen der Villa schwer zu schaffen. Edi muss seine Grenzen überschreiten und sich Ereignissen stellen, die er sonst nur aus Horrorgeschichten kennt. Wird es ihm gelingen, den Fluch der Villa zu brechen?

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Seitenzahl: 456

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass sämtliche Figuren und Geschichten frei erfunden sind. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Situationen sind purer Zufall.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1.

«Denkst du, Grossvater hat mir je verziehen, dass ich den Betrieb nicht übernehmen wollte?» Edis Hals schnürte sich bei diesen Worten zusammen und es war nur ein raues Murmeln, das er über seine Lippen brachte.

Es fiel ihm schwer zu sprechen. Die Traurigkeit lähmte seinen Brustkorb und legte sich wie eine dunkle, kalte Gestalt um seinen Körper.

Es brannten noch so viele Fragen auf seiner Seele, und doch wusste er nicht recht, was jetzt wichtig war. Was wollte er ihr noch mitgeben? Und gab es vielleicht etwas, was sie ihm sagen wollte?

Er versuchte tapfer zu bleiben, blinzelte die Tränen weg und wartete klamm auf die Antwort.

Stumm starrte er auf seine Finger, die ihre kalten Hände auf eine Weise umklammerten, als wären sie festgewebt. Am liebsten wollte er zudrücken, als könnte er sie so festhalten und dem Tod entreissen.

Der Kloss sass rau in seinem Hals. Als sie nicht antwortete, hob er den Kopf und richtete die Augen auf sie. Doch seine Grossmutter lag ruhig und mit einem liebevollen Gesichts aus druck auf dem Bett.

Ihre faltige Haut war bleich und zart wie Seidenpapier. Blaue Adern schimmerten an ihrer Schläfe. Der Kopf war auf dem gestärkten leinenen Spitzen-Kopfkissen weich gebettet. Noch auf dem Sterbebett strahlte sie dieselbe Grazie aus, wie er sie bei niemandem sonst je erlebt hatte.

Seine Grossmutter wirkte seelenruhig und er entdeckte keinen Funken Angst in ihrem Blick. Doch Edi spürte, wie schwer ihr das Atmen fiel. Sein Herz zog sich zusammen. Wenn er ihr diesen Schmerz doch nur irgendwie abnehmen könnte!

«Du weisst, dass dir Grossvater niemals böse war.» Sie lächelte milde, die Augen ins Leere gerichtet, als würde sie tief eingetaucht in vergangenen Bildern verweilen.

Obwohl ihre Kräfte sichtlich schwanden, sprach sie weiter: «Gott weiss, ich wollte nie eine Bäuerin werden. Wenn mir als junges Fräulein jemand gesagt hätte, dass ich mein Leben als Bergbäuerin verbringe, hätte ich ihm das niemals geglaubt. Doch wie das Leben so spielt –, nachdem ich deinen Grossvater kennengelernt hatte, wollte ich nie einen anderen Mann haben als ihn. Und er hat mir ein wunderschönes Leben beschert. Kein bequemes, und es war auch nicht immer einfach, doch das Gute überwiegt. Und das allergrösste Geschenk warst du.»

Edi konnte die Tränen nun nicht mehr zurückhalten. Sie glitten heiss über seine stoppeligen Wangen und liessen seinen Blick verschwimmen. Seine Lippen bebten, doch er versuchte stumm zu weinen, denn er wollte keines ihrer Worte verpassen.

«Deine Eltern hätten den Hof auch nicht übernommen. Du hast die schöpferischen Talente deines Vaters geerbt, Edi. Es wäre eine Schande, wenn du sie für etwas anderes verschwenden würdest. Du hast alles richtig gemacht. Bis zum heutigen Tag. Und auch in der Zukunft wirst du dein Bestes geben, das weiss ich.»

Edi wollte aufschluchzen, doch er schluckte die aufsteigenden Gefühle hinunter. Langsam zog er seine rechte Hand aus dem gemeinsamen Griff und streichelte vorsichtig über ihre feinen, silbernen Haare.

Mit den anderen Fingern umfasste er beide Hände der zerbrechlichen Frau. Er wollte und konnte sie nicht gehen lassen. Sie war ihm das Liebste, was er noch hatte. Sobald sie ihre Augen ein letztes Mal schloss, war er allein.

Die Tränen, die anfangs unregelmässig aus seinen Augen perlten, rannen nun unaufhaltsam über seine Wangen und den Hals, bis in den Kragen seines Hemdes. Seine Lippen bebten und das Herz zog sich kummervoll zusammen. Immer wieder wurde er von einer unerträglichen Kalte durchflutet.

Suchend blickte er auf, versuchte sich an irgendetwas Hilfreiches zu klammem, das ihn vor dem aufkeimenden Weinkrampf bewahrte. Er wollte einigermassen Haltung bewahren und hier nicht gleich zusammenbrechen.

Sein Blick blieb an dem schwarz-weissen Hochzeitsfoto seiner Grosseltern auf dem Nachttisch hängen. Er betrachtete seinen Opa.

Edi hatte ihn stattlich, stark und rechtschaffend in Erinnerung.

Es schien zu funktionieren. Während er seinen Grossvater betrachtete, schien ein wenig von dessen Stärke auf ihn überzufliessen. Edi atmete durch und blickte wieder ein wenig gefasster zu seiner Oma.

Nur das Ticken der Wanduhr in der hölzernen Stube nebenan erfüllte die Stille, die nun wieder eingetreten war.

«Egal, was du tust, mein Schatz, du hättest mich oder deinen Grossvater nie enttäuschen können.»

Edi konnte sich nach diesen Worten nicht mehr zurückhalten. Schluchzend legte er seinen Kopf auf den Brustkorb seiner Grossmutter, ganz so wie früher, als er noch ein Kind gewesen war.

Ihr Herz schlug nur noch schwach, wie Schmetterlingsflügel. Die Worte brannten sich wie Feuermale in sein Innerstes. Wo nahm diese wunderbare Frau nur diese Liebe her? Und das, wo er wochenlang nur in den Wirtshäusern herumgelungert war, ohne Aussicht auf baldige Arbeit.

Sie liebte ihn mehr, als er es verdient hätte. Und jetzt, wo er ein letztes Mal für sie stark sein wollte, hatten die Gefühle einmal mehr die Kontrolle über ihn übernommen. Die zierliche kleine Frau war bis zum Schluss stärker gewesen, als er es jemals war und wohl jemals sein würde.

«Ich weiss nicht, was ich ohne dich tun soll.», stiess er tränenerstickt hervor.

Sie vergrub ihre Finger in seinen rotgoldenen Haarschopf.

«Edi, o mein Edi.», flüsterte sie milde und streichelte mit ihrem Daumen über sein Haar. «Hab keine Angst vor dem Neuen.» Sie atmete schwer und fuhr etwas stockender fort: «Du musst dich an deine Träume erinnern. Du hattest so viele davon, als du noch ein kleiner Junge warst. Verliere dich in diesen Sehnsüchten. Sehnsucht schreit nach Erfüllung, und das wird dich antreiben.» Ihr Streicheln wurde langsamer. «Höre immer auf deinen Instinkt und dein Herz. Sie werden dich führen, wie sie es damals bei mir taten.»

Mit diesen Worten vernahm Edi den letzten Atemzug seiner Grossmutter. Ihre Hand glitt langsam von seinem Kopf und verharrte regungslos neben seinem Gesicht. Er schluchzte und setzte sich auf. Die Stuhlbeine der Stabelle knarrten auf dem hölzernen Boden. Sein Blick war starr auf die Grossmutter gerichtet. Jetzt hatte er niemanden mehr.

Sein Herz brannte. Die Zeit stand still. Er betrachtete ihr zufriedenes Gesicht. Seine Grossmutter war tot. Wirklich tot. Es fühlte sich an, als ob ihm jemand die warme Decke weggenommen hätte. Leise summte Edi das Schlaflied, das sie ihm als Kind immer vorsang, wenn er nachts Angst hatte. Doch es war mehr ein Wimmern als eine Melodie, also liess er es wieder bleiben. Regungslos sass er da, seinem Schmerz ausgeliefert. Er wusste nicht, wie lange.

Plötzlich spürte er eine warme Hand auf seiner Schulter. Der Doktor war gekommen.

2.

«Wann ist die Beerdigung?»

«Morgen um elf Uhr, in Lauterbrunnen.»

Die dumpfen Schläge des Vorschlaghammers hallten nicht nur über den Dächern des noch ruhigen Dorfes wider, sondern auch spürbar in Edis Schädel.

Jeder Stoss löste einen wirbelnden Schmerz in seinen Schläfen aus und liess ihn seine Augen permanent zusammenkneifen. Seine Hände umklammerten den groben Pfähl, den sein Nachbar mit dynamischen Hieben in den Boden rammte. Edi versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren als den üblen Geschmack in seinem Mund.

Ein frischer Windhauch, der ihm just in diesem Moment um die Nase strich, half ein bisschen.

Die Morgenluft vermochte seine Lebensgeister zu wecken, und die Kälte vertrieb auch den Drang, sich pausenlos übergeben zu wollen, zumindest auf imaginäre Weise.

Sie standen noch im Schatten. Die höchsten Wipfelspitzen in der Tannenschweife über ihnen, oben auf dem Bergkamm, erstrahlten in den ersten Sonnenstrahlen. Wenn er hinunter ins Tal schielte, war da noch alles finster.

Der Himmel leuchtete frisch. Kein Wölkchen war zu sehen, dafür einzelne letzte Sterne, die noch ausflimmerten und dem aufkeimenden Tageslicht Platz machten.

Er hatte letzte Nacht wieder zu lange in der Gaststube gesessen. Die Lichter gingen irgendwann aus und der Wirt musste ihn vor die Tür stellen. Alle anderen Gäste waren längst gegangen. Er war wieder einmal der Einzige gewesen, der kein Ende sehen wollte.

Die brummenden Kopfschmerzen, die sich nun von einer Seite zur anderen zogen, waren wohl die gerechte Quittung dafür.

Erste Sonnenflecke flackerten allmählich über die Tauperlenwiese und der krautige Duft von Moos drang in die Nase. Feiner Dampf stieg aus dem ausgekühlten Boden. Edi genoss den Moment. Er liebte das Dorf und diese spürbare Verbundenheit, die er dafür empfand. Das heimische Gefühl legte sich wie eine wohltuende Salbe auf sein einsames Herz.

Er suchte mit seinen schweren Bergschuhen Halt im steilen Gelände. «Danke, dass du mir diese Woche Arbeit gibst. Es ist gerade nicht leicht.»

«Schon gut.» Hans keuchte, während er den schweren Holzschläger auf den Pfosten niederschlug. «Leider kann ich dir nicht mehr anbieten. Es ist traurig, was mit der Sägerei passiert. Wieder ein Unternehmen weniger im Dorf. Und ihr habt alle den Job verloren? Also ist der Betrieb jetzt stillgelegt?», erkundigte er sich überflüssigerweise, denn die Nachricht hatte im Dorf schon längst die Runde gemacht.

«Die Bude ist dicht.»

Edis eisige Finger kribbelten, während die Sonnenstrahlen langsam die starren Glieder zu wärmen begann.

Edi liess den Blick über ein paar Wanderer schweifen, die die enge Dorfstrasse hinaufstiegen. Das Glockengeläut von den Kühen auf der Weide nebenan deutete darauf hin, dass auch sie auf die Urlauber aufmerksam wurden. Die Wandergruppe blieb stehen und zückte die Fotoapparate. Lachend fotografierten sie die gemächlichen Tiere und kraulten sie zwischen den Hörnern.

«Sind die alle arbeitslos?» Hans wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiss von der Stirn. Es lagen noch etliche Pflöcke hinter ihm auf dem feuchten Boden. Die ganze Weide musste eingezäunt werden.

«Roland und Beat haben in der Schreinerei in Lauterbrunnen eine Anstellung gefunden. Für mich war leider kein Platz mehr.» Edi bückte sich und hob schnaubend den nächsten Pfahl auf.

Immer wenn er seinen Kopf senkte, hämmerte der Kopfschmerz intensiver. Sobald er wieder aufrecht stand, wechselte er zurück in ein erträglicheres Pochen. Edi atmete tief durch und wartete einige Sekunden, bis das schmerzhafte Klopfen wieder ein wenig nachliess.

Sie stiegen auf dem rutschigen Gras ein paar Schritte höher und Edi positionierte den nächsten Pfosten.

«Bis wie weit suchst du denn? Grindelwald, Interlaken oder versuchst du nur hier im Tal eine Stelle zu bekommen?»

«Ich nage noch an der Hoffnung dass ich hier im Dorf oder oben in Mürren eine Anstellung finde. Egal was, Hauptsache Arbeit.»

«Das wird schwierig aber ich höre mich auf jeden Fall um. Hast du schon auf der Winteregg nachgefragt? Ich hörte, dort sei eine Hilfskraft ausgefallen. Einer der Zusennen hatte wohl vor wenigen Tagen einen Unfall. Aber ich weiss nicht, ob sie schon Ersatz für ihn haben.»

«Herr von Allmen?» Eine fremde Stimme liess die beiden Männer herumfahren. Der Pfarrer von Lauterbrunnen stand hinter ihnen. Er atmete schwer und sein Kopf war nassgeschwitzt. Er versuchte sichtlich, auf am steilen Hang das Gleichgewicht zu halten. «Hätten Sie wohl einen Moment für mich? Es gibt noch einiges für die Beerdigung morgen zu besprechen.»

Edi blickte zu Hans, der ihm zunickte. «Ich mache derweil allein weiter.»

«Gehen wir hinunter.» Edi umfasste fürsorglich den Ellenbogen des betagten Pfarrers. Gemeinsam stiegen sie hinunter zum ebeneren Weg. Bei einigen sorgfältig aufgeschichteten, harzig duftenden Holzbeigen blieben sie stehen.

«Ich habe Sie telefonisch nicht erreicht, weshalb ich mich nun auf den Weg zu Ihnen gemacht habe. Wie ich sehe, sind Sie tüchtig bei der Arbeit.» Der Geistliche lächelte ihm aufmunternd zu. Er wusste wohl über die Umstände der Sägerei Bescheid.

Da Edi keine Antwort darauf gab, fuhr er fort: «Hätten Sie mir wohl ein paar Informationen über Ihre Grossmutter, die ich morgen in der Kirche vorlesen kann? Erinnerungen, Erlebnisse - vielleicht etwas über ihren Werdegang?»

Edi blickte in das faltige Gesicht seines Gegenübers, würfelte das eben Gehörte zusammen, und dann dämmerte ihm allmählich, dass er jetzt wohl mit etwas Besonderem heraus rücken musste.

Er schluckte und begann fieberhaft zu überlegen. Sem Kopf fühlt sich leer an. Es kam ihm keine Idee - kein Blitzgedanke, der gepasst hätte. Er hob seinen Arm und vergrub das Kinn sinnierend zwischen Daumen und Zeigefinger. Krampfhaft überlegte er, was er dem Pfarrer erzählen könnte.

Vor seinem inneren Auge sah er seine Grossmutter, wie sie in der Küche stand, in ihrer geblümten Schürze, und den Abwasch erledigte. Wie sie mit der vollen Giesskanne im Gemüsebeet herumging. Wie sie Konfitüre einkochte. Wie sie abends in ihrem Sessel sass, die Lesebrille säuberlich auf der Nase und ein Buch las.

«Nun, ehrlich gesagt, ich fürchte, ich kann Ihnen nicht allzu viel sagen.» Edi realisierte nüchtern, dass er nicht viel über seine Grossmutter wusste, obwohl er mehr als die Hälfte seines Lebens bei ihr verbracht hatte. «Ich weiss nur, dass sie als junge Frau hierherzog, aber ich kann Ihnen nicht sagen, woher – oder ob sie noch Familie hatte. Darüber sprach sie nie.» Edi war erschrocken über diese Erkenntnis und fühlte sich furchtbar, weil er sich nie Gedanken darüber gemacht und sie nie danach gefragt hatte.

«Nun, können Sie mir irgendwelche Besonderheiten über sie verraten? Darüber, was sie gerne machte oder ihre Hobbys? Handarbeiten? Garten?»

«Na ja, das Übliche halt.» Edi versuchte sich zu konzentrieren. Reue umklammerte plötzlich sein Herz. Er liebte diese Frau so über alle Massen und wusste im Grunde genommen nichts von ihr. Sein Magen krampfte sich plötzlich zusammen. Er wusste nicht, ob es am Whisky von letzter Nacht lag oder an der Scham, die er gerade empfand.

Angestrengt überlegte er, was er dem Pfarrer erzählen könnte. «Dass mich meine Grosseltern mit zwölf Jahren aufgenommen haben, nachdem meine Eltern bei diesem Autounfall umgekommen sind, wissen Sie ja.»

Der Pfarrer nickte und holte ein ledernes Notizbuch mit einem Stift aus der Innentasche seines Jacketts. «Sie war eine selbstlose und gütige Frau.» Er lächelte selig.

Edi überlegte weiter und plötzlich sprudelte es aus ihm heraus: «Sie spielte unglaublich gut Klavier. Komplizierte, klassische Stücke. Und sie beherrschte mehrere Sprachen. Ich habe sie nie so sprechen hören, doch sie besass und las griechische und sogar lateinische Bücher. Sie konnte mir jedes Wort übersetzen, auf das ich zeigte. Ich staunte jedes Mal darüber. Sie lehrte mich das Schachspielen, so wie sie es auch schon meinen Vater und meinen Grossvater gelehrt hatte. Damit haben wir viele Abende verbracht.»

«Das überrascht mich nicht zu hören. Obwohl sie wie die anderen Bauersfrauen jeden Tag hart zu arbeiten hatte und sich nicht anders kleidete, stach sie doch immer aus der Masse hervor. Mir werden die geistreichen Gespräche sehr fehlen, die ich mit ihr jeweils nach der Predigt führen durfte.»

Edi legte die Stirn in Runzeln, als er die Worte des Geistlichen hörte. «Mir fehlt sie auch sehr.» Er kniff die Augen zusammen und blickte zum Schwarzmönch hinüber. Die Sehnsucht nach ihr liess ihm wieder die Tränen in die Augen schiessen.

Beide starrten wortlos auf die uralten Häuser des Dorfes, die sich in die steilen Hänge duckten und tapfer den rauen Elementen der Berge zu trotzen schienen.

Edis Blick wanderte zum Chalet seiner Grosseltern. Als

er vorhin seine Eltern erwähnt hatte, waren ihm augenblicklich die grauenhaften Bilder ihres Ablebens in den Sinn gekommen. Zum ersten Mal wollten sie in die Ferien reisen. Gemeinsam mit seinen anderen Grosseltern, den Eltern seiner Mutter, die ein eigenes Auto besassen, waren sie auf dem Weg ins Tessin. Edi erinnerte sich gut an den Moment, als ihnen in einer Kurve plötzlich der andere Wagen auf ihrer Strassenseite entgegenkam. Er hörte noch die gellenden Schreie seiner Mutter, bevor es laut knallte. Dann wurde alles schwarz. Aufgewacht war er allein in einem Krankenhaus. Alle sprachen Italienisch. Er

hatte wie durch ein Wunder überlebt. Nur eine Platzwunde über seiner linken Braue musste genäht werden. Die Polizei hatte ihn in den Stechelberg gefahren, wo seine Grosseltern schon auf ihn warteten.

Die Narbe über der linken Augenbraue war heute noch sichtbar und erinnerte ihn bei jedem Blick in den Spiegel an diesen verdammten Tag.

Der Pfarrer schien seinen düsteren Gemütszustand zu erahnen, als er seinem Blick folgte und ebenfalls zum Haus hinüber schaute.

«Wissen Sie, Gott belohnt uns in schwierigen Zeiten mit einem aussergewöhnlichen Geschenk. Mit einer inneren Stärke. Er lässt sie in uns heranwachsen, und irgendwann, meist erst viel später und wenn es erforderlich wird, können wir daraus schöpfen. Sie werden genau wissen, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist. Sie werden diesen göttlichen Beistand dann erkennen, überwältigend in seiner Beschaffenheit. Er steht einzig und allein nur Ihnen zu und niemand anderem sonst. Viele Leute trachten nach dieser inneren Stärke, doch nur wenigen wird sie zuteil.»

«Sie meinen, diese innere Stärke sei dann das Geschenk dafür, dass ich den Tod meiner Eltern miterleben musste? Dass ich jetzt, nach dem Ableben meiner Grossmutter, mutterseelenallein bin? Dass ich ohne Familie dastehe? Ohne Arbeit? Ohne Idee, wie es für mich weitergeht?»

«Ich will damit sagen, dass die wahren Helden ihre Stärke in grösstem Leid erlangten und damit Grosses vollbrachten. Nur der liebe Gott kennt unseren Weg und unser Schicksal. Wir Menschen begreifen es oft erst sehr viel später.»

«Na, dann habe ich ja wenigstens etwas, worauf ich mich freuen kann.» Edi wusste nicht so recht, was er von diesem geistlichen Geschwafel halten sollte. Vermutlich versuchte ihn der Pfarrer einfach zu trösten. Er brachte ein höfliches Lächeln zustande, obwohl ihm nicht danach zumute war.

«Ich schaue mal, was ich aus diesen Notizen mache, und begebe mich nun wieder auf den Weg hinunter ins Tal. Wir sehen uns morgen», sagte der Pfarrer.

Edi nickte dem alten Mann noch einmal zu und sah ihm nach, wie er in seinem schwarzen Gewand zügig in Richtung Gondelstation davonstiebte.

3.

Am späten Nachmittag hatten sie ihre Arbeit beendet und Edi kehrte nach Hause zurück - zu seinem Haus. Er stand vor dem alten Chalet und fühlte sich bei diesem neuen Gedanken nicht nur unbehaglich, sondern auch einsam.

Es graute ihm davor, einzutreten und das Wesen seiner Grossmutter zu spüren, sie jedoch nirgends zu sehen. Sie stand nun nicht mehr in der Küche oder draussen bei ihren Obstbäumchen.

Die Gedanken schmerzten und eine trostlose Leere breitete sich in seinem Innern aus.

Er öffnete das Zauntörchen und beschritt das Grundstück. Ein platt gedrückter Saumpfad führte über einen gepflegten Rasen zum uralten Bauernhaus. Ein bunter Garten veredelte das Grundstück. Das Gemüse war bald erntereif. Die Sommerblumen blühten in leuchtenden Farben. Viele Insekten schwirrten um die duftenden Stauden herum.

Dahinter lag der kleine Stall mit der Scheune. Hans hatte ihn nach dem Tod seines Grossvaters gepachtet. Da die Tiere momentan auf der Alp weilten, wirkte alles verlassen und leer.

Edi dachte daran, wie einsam und unbewohnt es auch drinnen war. Alles wirkte plötzlich anders und befremdlich. Er wollte da nicht hinein gehen. Widerstrebend stand er vor der hölzernen Eingangstür.

Seine Finger spielten in der Hosentasche mit dem metallenen Schlüsselbund. Prüfend blickte er auf seine Armbanduhr. Das Wirtshaus war um diese Uhrzeit nur von Wandertouristen besucht. Auch in Mürren war noch nichts los. Er blickte sich suchend um und entdeckte den vollgestopften Briefkasten.

Seufzend schlenderte er hin und nahm die Post heraus. Unzählige Kondolenzkarten und zwei grosse Briefumschläge füllten seine Hand. Bestimmt waren es beides Absagen auf seine letzten Bewerbungen.

Edi schloss den Briefkasten und starrte für einige Sekunden ins Leere. Ein schweres Gefühl, das seinen Ursprung in seinem Herzen hatte, breitete sich in seinem Körper aus und er spürte, wie ihm die Scham in die Wangen schoss. Auch der Nacken begann unangenehm zu kribbeln. Nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch wurde er eingeladen.

Sein Blick schweifte zum Stall hinüber und den dahinterliegenden steilen Hang empor. Dort oben war die Sitzbank seiner Grosseltern – ihr gemeinsamer Platz. Dort hatte Grossvater der Grossmutter den Heiratsantrag gemacht. Sie verkündete ihm dort, dass sie ein Kind erwartete. Wichtige Entscheidungen wurden dort getroffen. Auch, als der zweite Weltkrieg tobte und die Armut gross war, stiegen sie mit ihren Sorgen dort hinauf und suchten nach Lösungen, ohne den Kummer allzu sehr auf Edis Vater zu übertragen, der damals gerade erst zwölf Jahre alt war. Sie genossen auf dieser Bank Zweisamkeit und führten Streitgespräche.

Weder Edi noch seine Eltern durften je dort hingehen, der Platz gehörte ausschliesslich ihnen beiden. Als der Grossvater starb, verbrachte seine Grossmutter viel Zeit dort oben. Doch als sie körperlich den steilen Hang nicht mehr bewältigen konnte, war sie nur noch in Gedanken dort hinauf geklettert.

Edi blickte sinnierend zu dieser Stelle und bekam auf einmal den Drang dort hinzugehen. Er fackelte nicht lange, legte die Briefumschläge auf das Fensterbrett neben der Haustür und marschierte das unebene Gelände hoch. Der Pfad ging an duftenden Alpenblumen und unzähligen Schmetterlingen vorbei.

Oben angekommen, atmete er schwer. Sein Herz pumpte und der Schweiss drang aus allen Poren. Die Sonne schien stechend auf ihn herab. Er blickte zur hölzernen Bank und liess den verbotenen, so intimen Ort auf sich wirken.

Es war eine einfache Sitzbank, ein Teil eines halbierten Baumstamms mit quadratischen Füssen. Der Platz war umkränzt von hohem Gras, bemoosten Steinen und zwei prachtvollen Bergföhren.

Edi setzte sich und fühlte sich seinen Grosseltern plötzlich ganz nah. Seine Hände strichen über das verwitterte Holz. Durfte er denn wohl hier sein oder war das immer noch ihr Platz? Einerseits fühlte es sich falsch an, auf der Bank zu sitzen, und trotzdem spürte er auf eigenartige Weise ihre Liebe. Dasselbe sentimentale Gefühl beschlich ihn wie früher als Junge, wenn er unartig gewesen war und von den Grosseltern Schelte erwartete - und diese ihn nur gutmütig ansahen, schmunzelnd den Kopf schüttelten und die Sache auf sich beruhen liessen. Das sass meist tiefer als jede Strafe. Sie hatten nie ein böses Wort verloren, sondern ihn mit Zuneigung und beständigen Regeln geführt und geleitet.

Tränen stiegen ihm in die Augen. Er blinzelte sie weg und schaute sich das Panorama an. Von hier oben sah man ganz Gimmelwald. Er blickte zuerst zur Äbeni Flue, dann hinüber zum Mittagshorn. Sogar vom Tanzbödeli erhaschte er einen Blick. Kein Wunder, dass das hier ihr heiliger Platz gewesen war. Die Sorgen erschienen hier so klein, neben den gewaltigen Steinriesen ringsum. Doch wie sollte es für Edi bloss weitergehen?

«Habt ihr eine Idee, wie ich weitermachen soll?» Er flüsterte die Worte ins Leere und malte sich für einen Moment aus, dass er jetzt ein mystisches Zeichen von seinen Grosseltern erhalten würde, ganz so wie in den rührseligen Romanen, die seine Mutter früher so gerne gelesen hatte.

Er lächelte, als er sich daran zurückerinnerte, wie sie ihm und seinem Vater jeweils die gesamte Zusammenfassung des Buches schilderte, sobald sie am Ende angekommen war. Edi und sein Vater zogen sie dann gerne auf, weil sie sich immer so für diese kitschigen Geschichten begeistern konnte.

Die Zeit verging auf einmal sehr schnell. Die Sonne stahl sich allmählich über die Bergkämme davon und der Abendschatten wanderte den steilen Hang hinauf.

Edis Magen knurrte vor Hunger und er überwand sich nun endlich nach Hause zu gehen. Als er sich erhob und zum Haus hinunter steigen wollte, blieb sein Blick an etwas hängen, das in den letzten warmen Sonnenstrahlen unter der Föhre glitzerte.

Verwandert ging er zum Baum, bückte sich und griff danach.

Seine Finger mussten sich durch das hohe Gras wühlen, bis er das funkelnde Etwas zu greifen bekam. Es war mit feuchtem Moos umwachsen und Edi musste mit Gewalt daran ziehen, um es loszubekommen. Dann richtete er sich wieder zu seiner vollen Grösse auf und schaute verdutzt auf das verdreckte Gebilde in seiner linken Hand.

Es war ein filigranes Ohrschmuckstück. Er fuhr mit dem Daumen darüber, um den gröbsten Schmutz zu entfernen. Das Kleinod bestand aus geschliffenen, strahlenden Steinen. Es waren doch wohl keine echten Diamanten? Und was hatte das gute Stück hier zwischen den Steinen unter dem Dreck zu suchen?

Edi starrte irritiert auf das Schmuckstück. Wenn es echt war, musste das Ding ein Vermögen wert sein. Es sah uralt aus. Viktorianisch. Edi ging in die Hocke und suchte den Boden nach dem zweiten Ohrstecker ab. Doch es blieb bei dieser einen rätselhaften Entdeckung.

Zuhause legte er das Schmuckstück auf den alten Tisch in der Wohnstube. Dann durchwühlte er den Vorratsschrank in der Küche, bis er sich für eine Büchse Ravioli und eine Büchse mit russischem Salat entschied. Während er die Ravioli in der Pfanne warm werden liess, schüttete er den russischen Salat in eine Schüssel, holte die Tube Mayonnaise aus dem Kühlschrank und drückte sie komplett aus. Nachdem er die Mayonnaise mit dem Salat vermengt hatte, streute er noch ein wenig Aromat darüber und wartete geduldig, bis die Ravioli heiss waren.

In der einen Hand die Schüssel mit dem russischen Salat, in der anderen die heisse Pfanne, kehrte er zurück in die Stube und stellte das Essen auf den Stubentisch.

Er schaltete den Röhrenfernseher ein und wartete ab, ob er erst noch an der Antenne drehen musste. Der Ton erklang, während das Bild noch einen Moment auf sich warten liess. Sein Magen knurrte erneut vor Hunger. Als das Bild endlich zu flackern begann, setzte er sich an den Tisch und verschlang gierig die dampfenden Ravioli.

Die Wiederholung des Spielfilms von gestern Abend lief. Edi hatte einen Teil davon noch gesehen, bevor er ins Wirtshaus gegangen war. Aufstehen und den Sender wechseln wollte er jedoch nicht, weil er schlicht zu hungrig dafür war, also entschied er sich, den Film eben nochmals zu schauen.

Während er kaute, schweifte sein Blick immer wieder vom Fernseher zum Ohrschmuck, der unweit seines Tellers lag. Wie zum Teufel war das wertvolle Schmuckstück dort hinauf gekommen? Soweit er wusste, hatte sein Grossvater die Bank höchstpersönlich extra für seine Grossmutter gebaut, und das Land gehörte seit Generationen seiner Familie.

Von diesen konnten sich bestimmt niemand solch teuren Schmuck leisten, und seine Grosseltern weiss Gott auch nicht, die hatten ja selbst von der Hand in den Mund gelebt.

Edi löffelte die Tomatensosse der Ravioli aus und machte sich auf ins Wirtshaus.

4.

In der Gaststube ging es feuchtlustig zu und her. Die Männer am Stammtisch waren gut drauf. Sie spielten Wettnageln. Dabei wurden zehn Nägel in einen Holzklotz gesteckt, und diese musste man jeweils in zwei Schlägen mit einem Hammer hineinschlagen. Wem dies gelang, der hatte gewonnen. Während der Verlierer die nächste Runde zahlte, bekam der Sieger eine kleine Flasche Wein.

Für Edi als Schreiner war es ein Leichtes, die Nägel in zwei Streichen in den Klotz zu schlagen. Also stand er immer als Sieger da und hatte mittlerweile schon sechs Flaschen Wein gewonnen. «Der ist gut im Tee zum Heuen!», lachte er, als er eine weitere Flasche in Empfang nahm.

«Du darfst jetzt bald nicht mehr mitspielen, so macht es ja gar keinen Spass», lallte Johann.

«Kommt, wir singen einen!», rief der alte Postbote und stimmte das Jodellied von Jakob Ummel 'ds Bärnbiei’ an. Alle stimmten sofort mit ein. Auch Edi sang aus vollem Halse mit: «Bärner Füscht u Bärner Gange, hei scho mängs in Egi gha; chumm cho luege eis bim Schwinge, da gsehsch mänge chäche Maa.»

Die nächste Runde wurde ausgeschenkt und Edi hörte für eine Weile schweigend dem Geplänkel der anderen zu. Die fröhliche Stimmung begann auf einmal zu kippen.

«Wisst ihr, was das Gute an diesem Land ist? Unsere Demokratie. Jeder von euch hat die Wahl, selbst in die Politik zu gehen und etwas zu verändern. Pausenlos beschwert ihr euch über dieses und jenes. Immer wieder landen wir bei denselben Debatten. Also werdet entweder aktiv oder hört auf, euch jeden Abend über denselben Mist aufzuregen! Nur vom Rummaulen ändert sich nichts.» Edi lallte bereits und zeigte dabei auf die anderen. Er erntete einige wütende Blicke.

«Als Erstes würde ich solchen Schmarotzern wie dir den Geldhahn abdrehen, weil du frech vom Staat kassierst. Nicht arbeiten gehen, aber hier jeden Abend auf Kosten der Arbeitenden rumsaufen! Such dir endlich einen Job, wie jeder vernünftige Mann, der etwas auf sich hält.»

Die barschen Worte von Fritz drangen scharf wie Pfeilspitzen in sein Innerstes und Edis Bauchraum zog sich heftig zusammen. Bitterkalter Zorn kroch seinen Nacken hoch und seine Kehle fühlte sich trocken an. Edi fühlte, wie die Härchen am Hinterkopf zu kribbeln begannen und es ihm vor Scham die Hitze in die Wangen trieb.

Gläser klirrten und die hitzige, biergeschwängerte Atmosphäre begann zu schwelen. Die Augen der anderen Betrunkenen richteten sich auf die beiden Streithähne.

«Wenn ich du wäre, würde ich lieber schauen, was die Ehegattin den lieben langen Tag so treibt, oder was denkst du, weshalb man sie die Dorfmatratze nennt?», grölte Edi.

Eine donnernde Faust traf ihn am Kinn und er kippte rückwärts mit dem Stuhl um.

Hart schlug er auf dem Boden auf. Sein Kiefer schmerzte und er schmeckte Blut. Wütend versuchte er aufzustehen, was jedoch mit dem Alkohol, den er intus hatte, nicht allzu einfach war. Er rappelte sich fluchend auf, zog sich an der Tischkante hoch, packte den anderen am Schlafittchen und holte aus.

Doch der andere wich seiner Faust aus und entzog sich seinem Griff. Bevor Edi ein weiteres Mal ausholen konnte, packte ihn jemand von hinten. Der Wirt zog ihn rückwärts aus der Kneipe.

Edi torkelte, und versuchte Halt an der Lehne eines Gartenstuhls zu finden, als Fritz wütend heraus stolperte. «Wo bist du? Ich bin noch nicht fertig mit dir!»

Edi hatte nur auf diesen Moment gewartet. Er verpasste dem Mann einen Kinnhaken und eine weitere Faust in den Magen, doch der liess sich nicht aus der Fassung bringen. Er stürzte sich schreiend auf Edi und landete ein paar schmerzhafte Treffer.

Harte Körperteile trafen weiche Körperteile. Edis Nase pochte unangenehm und sein Hemd war bereits voller Blut.

Er holte aus und traf den anderen Mann mit voller Wucht auf den Wangenknochen.

Der Schmerz in den Handknöcheln brachte Edi zum Aufheulen. Das Auge seines Gegners schwoll an. Und als Edi noch einmal zuschlagen wollte, hielt sich der andere schützend die Hände vors Gesicht. Edi hörte wütendes Keuchen.

Beide Männer konnten sich kaum auf den Beinen halten. Sie torkelten aufeinander zu, Fritz riss schreiend an Edis Jacke und wollte ihm das Knie in den Magen rammen. Doch Edi wich aus und stiess ihm den Ellenbogen in den Hals. Röchelnd ging der andere zu Boden.

Edi realisierte erst jetzt, was hier passierte. Wie zur Hölle hatte das alles nur so aus dem Ruder laufen können?

Er hatte den Moment verpasst, als sich die Stimmung änderte und Streitlust zu Aggressivität wurde. Edi schnappte nach Luft und wischte sich das Blut von der Nase. Der andere lag immer noch röchelnd am Boden.

Die drei restlichen Männer vom Stammtisch taumelten aus der Kneipe und begutachteten die Situation.

«Schlägereien sind scheisse. Man kann nur verlieren. Aber manchmal geht’s einfach nicht anders», sagte Edi. Er versuchte, entwaffnend zu grinsen, und zog die Schultern hoch. Doch die Männer schüttelten nur die Köpfe.

Der Wirt half Fritz auf die Beine. «Geht’s? Ich bringe dich heim. Komm.»

«Geh nach Hause, Edi. Für dich gibt’s hier heute nichts mehr.» Der alte Postbote zeigte die Strasse entlang, die zu Edis Haus führte.

«Von euch habe ich sowieso die Nase gestrichen voll.», lallte Edi, rieb sich das Kinn und torkelte über die knirschenden Kieselsteine der Gartenterrasse. Er blieb mit der Jacke an einem Stuhl hängen, doch es kümmerte ihn nicht. Er lief einfach weiter und der Stuhl kippte um. Über die zwei Stufen, die auf die Dorfstrasse hinunter führten, stolperte er und fiel auf sein Knie. Ein stechender Schmerz schoss durch seine Glieder und er hörte das Gelächter der anderen. Doch die Leere in seinem Herzen war viel quälender. Langsam trottete er durch die pechschwarze Nacht nach Hause.

5.

Die monotone Stimme des Nachrichtensprechers im Radiowecker holte Edi jäh aus seinem traumlosen Schlaf.

Er kam zu sich, doch die Augenlider waren noch zu bleiern, um sie zu öffnen. Erst jetzt spürte er die hämmernden Kopfschmerzen. Sie waren schlimmer als die gestrigen. Seine Zunge fühlte sich trocken an und schmeckte nach Blech. Auch die Unterlippe drängte sich in sein Bewusstsein. Sie war grösser als gewohnt und brannte. Er roch den Whisky und den schalen Zigarettenrauch, wenn er ausatmete, und ekelte sich vor sich selbst.

So, wie es sich anfühlte, trug er immer noch seine Jeans. Edi blieb mit geschlossenen Augen liegen und versuchte sich an gestern Abend zu erinnern, doch es war unmöglich, die einzelnen Fragmente, die sein Gedächtnis hergab, so zu einem Ganzen zusammenzufügen, dass es halbwegs Sinn ergab.

Dafür holte ihn ein anderer Gedanke aus dem duseligen Halbschlaf: Heute war die Beerdigung. Er schlug seine Augen auf.

Edi verzog widerwillig das Gesicht. Es graute ihn davor aufzustehen. Auf die Blicke der Leute und deren Mitleidsbekundungen konnte er verzichten, ebenso auf die Fragen, wie es ihm gehe und was er jetzt mit seinem Leben anstellen würde. Und schon gar nicht wollte er miterleben, wie seine Grossmutter mit dem Sarg in den Boden versenkt wurde.

Obwohl das Bedürfnis, einfach im Bett zu bleiben, sehr verlockend war, stand er auf und ging in die Küche. Seine Sinne waren noch benebelt, der Restalkohol wohl noch nicht ganz abgebaut. Während der heisse Kaffee durch den Filter in die Kanne träufelte und der herbe Duft durch die Küche strömte, trank er gierig ein Glas kaltes Wasser. Es vermochte die trockene Kehle nur spärlich zu benetzen, und in seinem Bauch begann es eigenartig zu blubbern. Edi rülpste und kratzte sich am Hinterkopf.

Obwohl die schwarze Brühe erst zur Hälfte durchgelaufen war, schenkte er sich eine Tasse ein und setzte sich an den Küchentisch. Sein Blick klärte sich allmählich und er strich mit den Fingerkuppen über die geblümte Tischdecke.

Mittlerweile war sie schon ziemlich fleckig von seinen Mahlzeiten, und Grossmutter hätte sie längst gewaschen. Seine Gedanken verpufften, als er sein Hemd erblickte, das er letzte Nacht achtlos auf einen Küchenstuhl geworfen hatte.

Nun erinnerte er sich auch wieder an die Schlägerei und daran, warum seine Lippe geschwollen und aufgeplatzt war. Er stöhnte, ergriff seine Jacke, die auf dem Boden lag, und entdeckte den Riss im Stoff. Ein Blick auf die Küchenuhr verriet ihm, dass er noch zwei Stunden Zeit hatte, bis er zur Beerdigung musste.

Er öffnete den Kühlschrank. Bis auf ein Stück bräunlichorange verfärbte Butter, ein paar verdorrte Karotten und eine Flasche Ketchup war er leer. Doch im Tiefkühlfach fand er noch eine Pizza. Edi drehte den Herd auf und schob sie in den Ofen. Danach ging er in die Schlafstube seiner Grosseltern und holte das Nähkästchen seiner Grossmutter aus deren Kleiderschrank. Er wusste genau, wo sie es lagert, weil sie unzählige Male seine Kleider hatte flicken müssen.

Er suchte eine Nähnadel und einen passenden Faden. Dabei räumte er Klöppelspitzen, Knöpfe und verschiedene Fadenspulen heraus. Als er das Gesuchte nicht fand, hob er das innere, lose Fach an und entdeckte ganz auf dem Boden des Kästchens ein abgewetztes Buch aus schwarzem Samt. Verwundert griff er danach, und noch während er es aus dem Nähkasten nahm, glitten vergilbte schwarz-weiss Fotos heraus. Die Bilder wirkten uralt, die Ecken waren verbogen und zum Teil eingerissen.

Edi sah diese Fotos zum ersten Mal. Achtlos warf er die Jacke, die immer noch auf seinem Schoss lag, auf den Tisch.

Gebannt betrachtete er das erste Bild. Es zeigte zwei kleine blonde Mädchen. Beide trugen dieselben weiss gebauschten Spitzenkleider. Ein Mädchen hatte eine grosse Schleife im Haar, das andere hielt ein Blumensträusschen in den Händen. Edi entging der wertvolle, geschnitzte Chippendale-Stuhl und die aufwendig verarbeitete Vase hinter den Mädchen nicht. Der Stuhl hatte wohl schon zu dieser Zeit ein Vermögen gekostet.

Er runzelte die Stirn und betrachtete das zweite Foto. Es zeigt ein Ehepaar. Die Frau hatte einen kleinen Jungen auf dem Schoss. Ihre Kleidung und die Frisur liessen erahnen, dass dieses Bild aus den Jahren um 1900 oder 1910 stammte. Bevor Edi zum nächsten Bild wechselte, blieb sein Blick noch mal im ernsten Gesicht der Frau hängen. Dieser Ausdruck ging ihm nah, doch er konnte sich nicht erklären, warum. Wer waren diese Leute?

Er wollte das Foto gerade weglegen, als er plötzlich innehielt. Er traute seine Augen nicht recht und griff nach dem Schmuckstück, das er gestern auf den Stubentisch gelegt hatte.

Er verglich den Ohrschmuck mit demjenigen, den die Frau auf dem Bild trug. Es war exakt derselbe! Edi betrachtete noch einmal das Gesicht auf dem Bild. War diese Frau bei der Bank gewesen und hat das Schmuckstück dort verloren? Oder hatte Grossmutter etwas damit zu tun?

Er betrachtete das nächste Bild. Es zeigte wieder dieselbe Frau und eines der beiden kleinen Mädchen. Es war wohl das ältere der beiden. Neben ihr war eine andere Frau. Sie standen neben einer Staffelei.

Moment mal! Edi betrachtete die Frau eingehend. Irgendwoher kannte er sie. Das war doch diese Clara von Rappard, die berühmte Malerin, die in Matten auf dem kleinen Rugen lebte. Seine Grossmutter bat Edi einmal, sie zu einer Vernissage in Interlaken zu begleiten. Das ist jetzt ein paar Jahre her. Die beiden Frauen mussten sich wohl näher kennen, denn sie wirkten auf dem Foto vertraut miteinander. Verrückt! Warum hatte seine Grossmutter diese Fotos?

Aufgeregt sah er auf das nächste Bild. Es zeigte wieder das Ehepaar, einen kleinen Jungen und die beiden Mädchen. Dieses Mal posierten sie mit zwei Männern, die Armeeuniformen trugen. Es folgten noch weitere Bilder, immer mit demselben Paar. Der Kleidung und dem Schmuck zufolge waren es wohl Persönlichkeiten aus dem gehobenen Stand. Das letzte Bild zeigte wieder die beiden Mädchen, jedoch waren sie da älter, vielleicht vierzehn und sechzehn Jahre alt. Sie sassen in einem schwarzen Oldtimer. Hinter ihnen zeigte sich eine prächtige Jugendstilvilla. Edi betrachtete die Villa genau. Irgendwoher kannte er dieses Haus.

Stimmengewirr riss ihn aus seinen Gedanken. Draussen gingen ein paar lachende Wanderer vorbei. Edi rieb sich die immer noch pochende Stirn. Seine Hand rutschte zum linken Ohr und er begann mit seinem eigenen silbernen Ohrring zu spielen, während er auf das Foto starrte. Er war sich nicht sicher, doch er glaubte sich vage zu erinnern, wo er dieses Haus schon gesehen haben könnte. Als er letztes Jahr eine amerikanische Touristin um den Finger wickeln wollte, lud er sie zu einer romantischen Schiffsfahrt auf dem Thunersee ein. Dabei betrachtete er ein Haus in Oberhofen, das ihm aus irgendeinem Grund damals aufgefallen war. Und es sah diesem hier verdammt ähnlich.

Edi legte die Fotos in das Album zurück und warf das Bündel auf den Tisch. Danach widmete er sich wieder seiner Jacke und versuchte den Faden durch die Nadel zu ziehen, die er mittlerweile gefunden hatte. Er blinzelte und kniff die Augen zusammen. Dann machte er den Faden nass, indem er ihn kurz durch den Mund zog. Er fokussierte sich nur auf dieses kleine Loch und den Faden, der sich immer wieder verbog, statt endlich durch die Öse zu gleiten.

Plötzlich verstärkten sich Edis Kopfschmerzen.

Das Pochen veränderte sich in ein unerträgliches Stechen, welches sich quer über seinen gesamten Schädel zog.

Er lehnte sich zurück und versuchte sich zu beruhigen. Mit geschlossenen Augen dachte er noch einmal an die Fotos zurück, an die ernste Frau mit ihren strengen Gesichtszügen, und spürte dabei nicht, wie er in einen Dämmerschlaf hinüberglitt.

Die Wirklichkeit verschwamm zu einem milchigen, wohligen Zustand. Der Kopfschmerz war weg. Edi fühlte sich wohl und geborgen. Wärme strömte ihm entgegen. Sie fühlte sich fast wie ein warmer Sommerwind an, und er spürte, wie sich ihm ein surrealer Traum zu offenbaren begann.

Er tauchte in Pastellfarben ein. Viel Rosa, ein helles Grün und sanftes Blau leuchteten ringsum auf. Plötzlich war er umgeben von hauchzarter Spitze, die ihn wie ein funkelnder Schleier umhüllte, – fast so wie früher, als er noch ein Kind war und sich draussen in die frisch gewaschenen Leintücher schmiegte, die seine Grossmutter ^m Trocknen aufgehängt hatte. Eine wärmende Brise erfasste erneut sein Gesicht. Dann begann er sich im Kreis zu drehen, als würde er fliegen. Unter seinen Fingerkuppen spürte er deutlich das seidige Gewebe, das ihn immer mehr und mehr einhüllte. Es war ein ausserordentlich eigenartiges Erlebnis!

Er glitt mit seinen Händen durch die zarten Farben, die ihn wie eine Wolke umgaben, und drehte sich fliegend im Kreis. Langsam wurde es lichter und lichter, – bis sich das Leuchten gänzlich auflöste und sich in einen zarten Nebel verwandelte. Goldenes Licht schien hindurch. Alles erstrahlte in einem Zauber, der immer mehr und mehr erwachte.

Edi blickte fasziniert in das goldene Eicht, das immer intensiver leuchtete. Eine Gestalt zeichnete sich mit einem Mal ab, verdichtete sich - und dann erblickte er seine Grossmutter. Sie hatte ihre menschliche Form angenommen, als ob sie leibhaftig vor ihm stehen würde.

Sie lächelte ihn an. Ihr schweres, blumiges Parfum drang in seine Nase. Edi lächelte ebenfalls. All seine Traurigkeit und sein Nummer waren verschwunden. Er spürte nur noch Liebe. Sie sprachen kein Wort, blickten sich nur an und lächelten. Edi spürte, wie sein Herz warm wurde. Für einen Moment war alles wieder gut. Bis ein hartes Klopfen ihn von seiner Grossmutter wegriss.

Edi öffnete die Augen. Sie begannen sofort unangenehm zu brennen und tränen. Erst jetzt nahm er das rauchdurchflutete Zimmer wahr. Er hustete, als der beissende Rauch in seine Lunge drang. Das laute Hämmern ertönte erneut, gefolgt von einem durchdringenden Fluchen, weil die Tür verschlossen war.

«Edi, mach sofort die Tür auf!» Hans und seine Frau Elsbeth standen draussen. Elsbeth blickte durch das Fenster herein und winkte aufgeregt.

Edi stand auf, durchschritt mit eiligen Schritten die Stube und öffnete die Tür.

Hans stürmte herein. Er folgte dem Rauch in die Küche und zog die verkohlte Pizza aus dem Ofen. «Junge, verdammt noch mal! Was zum Teufel tust du?», schrie er aufgebracht.

Elsbeth packte Edis Schultern, zog ihn an sich und drückte ihn fest.

Edi fühlte sich unbehaglich, doch er liess die Umarmung zu. «Edi, du hast es schwer im Moment. Aber denk daran, dass wir immer für dich da sind. Oder, das weisst du doch? Mach dich jetzt bereit, die Beerdigung geht bald los», flüsterte sie in sein Ohr und strich ihm mütterlich über das Haar.

6.

Die Kirche war zum Bersten voll und bis zum letzten Platz besetzt. Edi hatte schon damit gerechnet, dass viele Menschen erscheinen würden, und er wusste auch, dass seine Grossmutter recht beliebt gewesen war. Doch dass sich so viele Leute von ihr verabschieden wollten, hatte er nicht erwartet.

Trotz der spärlichen Informationen, die er dem Pfarrer preisgeben hatte können, war es diesem doch noch gelungen, eine schöne Rede zu kreieren.

Edi sass zuvorderst auf der hölzernen Bank, starrte in die üppigen Blumenarrangements und sog jedes Wort auf, das der Geistliche auf der Kanzel über seine Grossmutter sagte.

Mit einem beissenden Kloss im Hals und einem Herzen, das vor Traurigkeit fast zersprang, rang er um Selbstbeherrschung, damit er nicht vor allen Menschen losheulte. Ihm war elend zumute. Er fühlte sich ausgelaugt und krank.

Plötzlich kam ihm der Traum wieder in den Sinn. In diesem Moment war alles gut gewesen. Es war warm, er fühlte sich geborgen und nicht mehr einsam. Das Parfum seiner Grossmutter drang plötzlich wieder in seine Nase.

Edi hob den Kopf und blickte sich um. Neben ihm sassen Hans und Elsbeth, hinter ihm die Damen von der Kirchgemeinde. Der Duft löste sich wieder auf und Edi sank in sich zusammen. Tränen schossen ihm in die Augen. Schnell wischte er mit dem Handrücken darüber, bevor sie für die anderen sichtbar wurden.

Dann setzte er sich wieder aufrecht hin und atmete tief durch. Die Abdankung war offenbar vorüber, denn die Orgel begann plötzlich zu spielen.

Die Leute erhoben sich. Die Tür wurde geöffnet und Edi stand ebenfalls auf. Allein schritt er zum Ausgang, die Trauergemeinde ging ihm hinterher. Er spürte die Blicke der zum Teil noch sitzenden Menschen auf sich und setzte sich die Sonnenbrille auf. Es wurde dadurch zwar unglaublich dunkel um ihn, doch er fühlte sich wenigstens den neugierigen Blicken nicht mehr so ausgeliefert. Der sonnendurchflutete Ausgang kam zum Glück immer näher.

Auf einmal fiel ihm in der hintersten Reihe sitzend eine Gestalt auf. Er betrachtete die Person und bereute für einen Moment schon wieder, dass er die Sonnenbrille trug. Die hereinstrahlende Sonne war zu hell, um die Frau im Schatten deutlich erkennen zu können. Er konnte nur feststellen, dass sie zierlich war und alt sein musste. Doch es waren nicht diese Merkmale, die sie auffällig machten, sondern ihre Aufmachung.

Die Frau trug ein schwarzes Seidenkleid und einen dunklen Hut, dessen Spitze ihr Gesicht komplett verhüllte. Um den Hals glänzte Goldschmuck, der in dieser unübersehbaren Grösse von unschätzbarem Wert sein musste. Sie stach regelrecht aus der Menge hervor. Wer war sie?

Elsbeth und Hans drängten Edi zum Ausgang, weil er offenbar den Trauerzug aufhielt. Edi nahm sich vor, später nochmals nach der Frau zu sehen, wenn die Beerdigung vorüber war.

Das Sonnenlicht schien stechend auf die Trauernden runter, während der Sarg in die Erde hinabgelassen wurde. Weisse Rosen bedeckten den hölzernen Deckel. Edi musste sich zusammenreissen. Seine Knie waren weich und er ballte die Hände zu festen Fäusten. Szenen von der Beerdigung seiner Eltern kamen in ihm hoch. Damals stand er nur wenige Meter weiter weg vom Grab als jetzt.

Später folgte die Beerdigung seines Grossvaters. Auch das war ein schrecklicher Moment in seinem noch jungen Leben gewesen. Doch immer war seine Grossmutter bei ihm. Stets hatte sie ihn fest mit ihren warmen, starken Armen umschlungen und flüsterte tröstende Worte in sein Ohr. Jetzt stand er allein da. Um nicht laut loszuweinen, blinzelte er die Tränen weg und hob seinen Blick zum rauschenden Staubbach. Er betrachtete die zartgesponnenen Schleier des Wasserfalls, die lautlos auf den Talboden hinunterglitten.

Er erinnerte sich an das Gedicht von Goethe, das seine Grossmutter ihm beigebracht hatte. Jedes Mal sagte sie es auf, wenn sie in Lauterbrunnen auf den Zug warteten und zum stäubenden Wasserfall hochschauten. Voller Begeisterung und erfüllt mit innerem Feuer erzählte sie die Geschichte, wie Johann Wolfgang von Goethe in Lauterbrunnen seine Ferien verbrachte und ein Gedicht schrieb, weil er vom Staubbach so in den Bann gezogen wurde. Gesang der Geister über den Wassern. Edi hatte den Geschichten seiner Grossmutter immer gerne gelauscht, denn sie erzählte stets unterhaltsam und kurzweilig.

Um sich weiter abzulenken, sagte Edi innerlich das Gedicht auf und der Schluss kam ihm heute besonders bedeutsam vor: «... Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!»

Seine Grossmutter war eine so wundervolle, einzigartige Person gewesen. Sie hatte sich für das harte Leben einer Bergbäuerin entschieden und brachte nebenbei viel Zeit und Liebe auf, um ihm und seinem Grossvater ein schönes Leben zu ermöglichen. Spiele. Bildung. Lachen. Sie füllte das Haus mit Musik und Büchern. Sie brachte das leckerste Essen auf den Tisch. Sie pflegte sie gesund, wenn jemand krank war, und hatte stets ein offenes Ohr, wenn Edi oder sein Grossvater von Sorgen oder Problemen gequält wurde. Falls es so etwas wie Wiedergeburt und Reinkarnation wirklich geben sollte, wie Goethe es in seinem Gedicht beschrieb, musste seine Grossmutter im nächsten Leben als Fürstin auf die Welt kommen und durfte niemals mit harter Arbeit und irgendeinem Schmerz gequält werden.

Edi blickte hinunter auf den Sarg, der jetzt tief im Boden angekommen war. Warum hatte er sie nie gefragt, wie ihr früheres Leben verlaufen war? Woher sie kam und ob sie Geschwister hatte?

Mit einem Mal kam ihm die schwarz gekleidete Frau aus der Kirche wieder in den Sinn. Wo war sie jetzt? Edi überflog mit den Augen die anwesenden Gäste, doch sie war nirgends zu entdecken. Sie musste wohl gleich nach der Trauerrede gegangen sein.

Als die Trauernden um ihn herum sich zu regen und miteinander zu sprechen begannen, spürte Edi plötzlich, wie alle Blicke auf ihm lasteten. Jetzt kam der mühsamste Teil. Also stellte er sich hilfesuchend neben den alten Pfarrer, der ihm wohlwollend zunickte und neben ihm stehen blieb. Es bildete sich eine Reihe, und jeder der unzähligen Gäste reichte ihm die Hand und bekundete sein Beileid.

Edi empfand diesen Vorgang alles andere als tröstlich. Am liebsten wäre er davongerannt. Für diesen Teil der Beerdigung hatte er zuhause extra den Flachmann frisch aufgefüllt. Doch er verpasste die richtige Gelegenheit, um einen Schluck daraus zu nehmen.

Alle starrten auf seine blutverkrustete Lippe und sein geschwollenes Auge, das trotz der Sonnenbrille sichtbar war. Auch zum Rasieren hatte die Zeit nicht mehr gereicht. Seine rotgoldenen Haare fielen ihm bei jedem Luftzug wild in die Stirn.

Edi gestand sich ein, dass auch der teure Anzug ihn wohl nicht ansehnlicher machte und er vermutlich eher lächerlich damit aussah. Aber Grossmutter hätte sich gewünscht, dass er ihn heute trug, also hatte er sich dazu überwunden. Und wieder musste er an sie denken, während er einen Händedruck nach dem anderen über sich ergehen liess.

Zwei teure Anzüge hingen in seinem Schrank. Auch sein Grossvater hatte ein paar besessen. Es hatte einige wenige Anlässe gegeben, die der Grossmutter enorm wichtig gewesen waren. Und da reichte ein einfacher Anzug aus einem beliebigen Versandhandelskatalog nicht. Es musste teure, massgeschneiderte Kleidung vom Schneider sein. Auch sie selbst hatte ein paar aussergewöhnlich luxuriöse Kleider im Schrank. Darauf hatte sie besonderen Wert gelegt, und sie pflegte sie auch immer besonders gut.

Er schmunzelte, als er daran dachte, wie sie ihn immer panisch zurechtwies, wenn er einen dieser Anzüge trug, damit nur ja kein Schaden daran entstand.

Edi realisierte gerade noch rechtzeitig dass er wohl mit seinem heiteren Gesicht den gerade kondolierenden Gärtner verwirrte. Dieser warf jedenfalls gerade seiner Frau, die neben ihm stand, einen verstohlenen Blick zu.

Edi blickte hilfesuchend zum Pfarrer, der ihm gutmütig zunickte. Ganz zum Schluss standen Hans und Elsbeth vor ihm.

«So Edi, jetzt hast du es überstanden. Der Leichenschmaus noch und dann ist es vorüber. Wollen wir?», fragte Hans.

Edi schaute mit zusammengekniffenen Augen in Richtung des Restaurants, wohin die Menschentraube gerade steuerte. Erneut spielte er nervös mit den Fingern am Schlüsselbund in seiner Hosentasche. Die Vorstellung mit all diesen Leuten in einem Saal zu sitzen und gekochten Schinken zu essen, schnürte ihm die Kehle zu.

Es widerstrebte ihm dahinzugehen. Bisher hatte er sich einigermassen zusammenreissen können und stand seiner Grossmutter bis zur letzten Minute bei. Doch länger hielt er nicht durch.

Er wusste nicht, worüber er mit all diesen Menschen reden sollte. Er wollte nicht sprechen. Mit niemandem. Und ihre Blicke hielt er auch nicht länger aus.

«Ja, geht voraus. Ich komme gleich.»

Er wartete ab, bis die beiden mit dem Pfarrer ausser Sichtweite waren, blickte noch einmal auf das Grab seiner Grossmutter und nahm endlich einen gossen Schluck aus seinem Flachmann. Dann machte er sich durch das hohe Gebüsch hinter ihm aus dem Staub, das den Friedhof umzäunte.

Edi spürte die Ästchen und spitzen Domen, die durch seine Hosenbeine stachen, doch das war ihm egal. Er musste hier weg. Er schwankte den Hang hinunter bis zur Lütschine und folgte dem Fluss abseits der Strasse, bis zur nächsten Bushaltestelle. Im Moment wollte er nur eines: diesem ganzen Zustand entfliehen.

7.

Laut aufstöhnend vergrub Marie ihre Hände in seinen Haaren. Immer wieder bäumte sie sich in Ekstase auf und bedeckte Edi dabei mehr und mehr mit dem zerwühlten Bettlaken.

Sein Blut pochte durch seinen heissen Körper. Die rhythmischen Bewegungen ihrer Hüften steigerten seine Erregung ins Unermessliche.

Ein Aufschrei löste sich plötzlich von Maries Lippen, den er mit seinem Mund aufnahm und an sie zurückgab, als auch er zum Höhepunkt kam. Die innere Spannung entlud sich in einer himmlischen Explosion. Sein ganzes Gewicht senkte sich auf sie nieder. Sein Gesicht nah an ihrem Hals, blieb er völlig benommen neben ihr liegen.

Marie hatte ein besonderes Talent, seine innere Leere durch rauschhafte Empfindungen zu benebeln. Er war froh, dass sie heute mit genauso viel Hingabe bei der Sache war, wie die letzten Male.

Er hatte Maries Ehemann heute Morgen unter den Trauergästen gesehen und ihn dabei beobachtet, wie er mit den anderen im Wirtshaus verschwand. Der hatte immer Sitzleder, wenn es etwas gratis gab. Edi blieb also noch etwas Zeit, bis der Gehörnte zurück in Gimmelwald war.

Kurze Zeit später kuschelten sie eng umschlungen und zufrieden im Bett.

«Ich kann dir einfach nicht widerstehen, Edi. Sobald du mit deinen niedlichen Sommersprossen und deinem Welpenblick an meinem Gartenzaun stehst, flüstert mir das Teufelchen die unanständigsten Dinge ins Ohr», säuselte Marie in seidigem Ton.

«Dieses Teufelchen ist mir sympathisch», gab Edi matt zurück.

Ein Klicken liess die beiden auffahren.

«War das etwa die Haustür? O mein Gott, Karl kommt nach Hause!» Marie schrak auf und stiess Edi mit dem Knie so heftig von sich weg, dass er aus dem Bett fiel. Im Eiltempo rappelte er sich auf, zog sich die Unterhose an und schlüpfte in die Jeans. Schon wurde die Klinke der Schlafzimmertür hinuntergedrückt.

Marie hatte die Tür vorsorglich abgeriegelt, doch das Schloss sah nicht allzu stabil aus. «Moment, ich komme.» Sie verstellte ihre Stimme mit einem rauchigen Unterton, sodass es sich verschlafen anhörte.

«Mach bitte die Tür auf.» Die Klinke wurde rauf und runter gedrückt. «Mach sofort auf! Ist da sonst noch jemand drin?» Karls Stimme wurde laut. Er polterte gegen die Tür.

Edi schlüpfte barfuss in seine Lederboots. Die Socken und das Hemd stopfte er sich kurz entschlossen in die weiten Hosentaschen. Sein Herz raste - und es fühlte sich richtig gut an!

Mit flinken Bewegungen öffnete er das Fenster, schnappte sich noch das Jackett auf dem Boden und stieg so geräuschlos wie möglich hinaus in den Garten. Er warf Marie einen Handkuss zu, als Karl die Tür mit einem lauten Poltern aufstiess und ihn mit hochrotem Kopf ansah.

Er raste zum Fenster und versuchte Edi noch zu kriegen, doch der rannte schon übermütig durch den Garten und sprang über den niedrigen Gartenzaun. Er vernahm lautes Gebrüll und Gezeter aus dem Schlafzimmer, bevor er um die Ecke bog und so lange rannte, bis er auf der Dorfstrasse stehen bleiben musste.

Er stützte sich mit einer Hand an einem Lattenzaun ab, mit der anderen wischte er sich die Haare aus der Stirn. Edi musste erst einmal nach Luft schnappen, weil er so schnell gerannt war. Trotzdem konnte er ein Grinsen nicht unterdrücken. Was für ein Nervenkitzel! Er lachte aus vollem Hals und versuchte gleichzeitig seinen Atem zu beruhigen.

Zwar tat ihm Marie ein bisschen leid, doch die wusste sich schon zu helfen. Sie hatte ihre Methoden, wie sie ihren Karl wieder zahm machen konnte. Und der Esel wusste auch, dass Marie die einzige Frau war, die freiwillig bei ihm blieb und hier niemals weggehen würde. So einfach war es nämlich nicht, eine Frau in diesem abgelegenen Bergdorf zu halten. Und sie blieb bei ihm, weil er ihr dafür ein sehr bequemes Leben bot. Karl verdiente gut, als hoher Angestellter bei der Bahn.

Den Gedanken daran, wie sein nächstes Zusammentreffen mit ihm wohl aussehen würde, verdrängte Edi fürs Erste. Vermutlich würde es schmerzhaft werden.