traumtief - Barbara Nelting - E-Book

traumtief E-Book

Barbara Nelting

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Beschreibung

Eine junge Frau - ein düsteres Geheimnis Seit ihrer Kindheit träumt Rosa diesen einen Traum. Zum Studium allein in Freiburg beginnen die Fäden ihrer mysteriösen Traumgestalt sie auch tagsüber zu umfangen, pfuschen ihr in eine aufkeimende Liebesbeziehung und machen sie zunehmend zur Getriebenen. Auf den Spuren der Vergangenheit ihrer Ahnen sucht Rosa verzweifelt einen Ausweg. Doch wird sie ihn finden?

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Seitenzahl: 150

Veröffentlichungsjahr: 2022

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traumtief

Bilder der Vergangenheit

Für meine liebe Familie, die immer an mich glaubt, für meine Bücher malt und zeichnet, sie probeliest und immer wieder neu inspiriert!

Barbara Nelting

traumtief

Bilder der Vergangenheit

© 2022 Dr. Barbara Nelting

Cover design von: Luzie Nelting

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

ISBN Softcover: 978-3-347-52682-2

ISBN Hardcover: 978-3-347-52683-9

ISBN E-Book: 978-3-347-52684-6

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Der Traum

Der Kuss

Das Grab

Der Dolch

Der Rausch

Der Stammbaum

Aussprachen

Die Begegnung

Die Mutter

Das Pensionat

Das Geständnis

Das Frühstück

Leere Herzen

Die Einladung

Die Ausstellung

Der Verrat

Epilog

Der Traum

Solange sie denken konnte, hatte Rosa diesen einen Traum. Manchmal wurde sie vor seinem schlimmen Ende wach, meistens jedoch nicht. Manchmal konnte sie sich morgens nicht an ihn erinnern, meistens jedoch leider schon.

Er begann immer gleich: Sie war 4, vielleicht auch schon 6 Jahre alt und spielte mit anderen Kindern auf einer Waldlichtung. Die Atmosphäre hätte friedlicher nicht sein können: Die Kinder lachten und waren ausgelassen, die Sonne schien und die Vögel zwitscherten. Da Rosa diesen Traum so gut kannte, war sie stets jedoch schon an dieser Stelle voll düsterer Vorahnungen. Unzählige Male hatte sie versucht, den Verlauf zu ändern, beispielsweise auf einen Baum zu klettern oder den Wald zu verlassen – natürlich immer vergebens. Denn schon änderte sich die Stimmung: Es wurde dunkler, das Rauschen aufziehender Winde übertönte Vogelstimmen und Kinderlachen. Plötzlich war Rosa allein auf der Lichtung. Sie schlang die Arme um sich, denn auf einmal war es ihr kalt in dem dünnen Sommerkleidchen, was sie trug. Zur Kälte hinzu kam die Angst. Die Lichtung war nicht mehr so hell, wie sie hätte sein sollen, aber immer noch relativ sicher im Verhältnis zum Wald, der definitiv dunkler war, als er hätte sein sollen, und alles andere als sicher.

Dann hörte sie die Hilferufe. Es war eine Kinderstimme, die helle, aufgeregt-verzweifelte Stimme eines gleichaltrigen Mädchens, welches ihren Namen rief: „Rosa, hier bin ich! Bitte hilf mir! Rette mich!“ Wieder und wieder tönte es zu Rosa her. Trotz ihrer Angst zog es sie jedes Mal wie magnetisch angezogen dorthin, hinein in den Wald. Einmal von den Bäumen umgeben, schien es, als würde sich die Stimme entfernen oder gar Versteck mit ihr spielen: mal kam sie von hinter dem Baum zu ihrer Linken, mal aus dem Gebüsch rechts von ihr. Jedes Mal an dieser Stelle wusste Rosa dennoch, dass sie nicht aufgeben durfte. Sie musste dem fremden Mädchen helfen, es aus seinem Leid erlösen.

Kurz vor ein paar übermannsgroßen Felsen, die sie wegen des Dämmerlichts nur schemenhaft erkennen konnte, holte sie die Andere ein. Oder hatte diese die ganze Zeit hier gestanden und Rosa lediglich die Akustik des Nebels einen Streich gespielt? Jedenfalls stand das rotgelockte Mädchen mit dem Rücken zu ihr und bewegte sich in eine Höhle hinein, die durch die Felsen gebildet wurde.

Obwohl alles in Rosa „Falle! Das ist eine Falle!“ schrie, folgte sie der Anderen jedes Mal.

Erst tief im Inneren der Höhle drehte sich das fremde Mädchen um. Obwohl die Lichtverhältnisse dies eigentlich unmöglich machten, erkannte Rosa klar und deutlich – sich selbst! Es war wie in die spiegelglatte Oberfläche eines Sees zu blicken, zumindest zu Beginn. Dann streckte die Andere eine Hand in ihre Richtung aus und wie eine an den Fäden gezogene Marionette hob auch Rosa eine der ihren. Im selben Moment, an welchem ihre Finger sich trafen, passierte das, was Rosa allnächtlich zu verhindern suchte und was ihr doch nie gelang: Sie löste sich auf. Sie stürzte in den See, der ihr Spiegelbild gezeigt hatte! Tiefer und tiefer trudelte sie, erfüllt mit einem namenlosen Entsetzen, welches die vollständige Auslöschung ihrer Existenz, allem, was sie ausmachte, was sie war und je gewesen war und jemals hätte sein können, in ihr auslöste.

Niemals erreichte sie den Grund, sondern erwachte stets erstickend um Luft ringend, gebadet in kalten Schweiß und doch zitternd vor Kälte. Immer durchflutete sie Erleichterung, dem furchtbaren Schicksal wieder einmal entronnen zu sein, alles nur geträumt zu haben. Und doch war da jedes Mal auch ein kleiner Teil, der genau dies bedauerte, der eine Sehnsucht verspürte nach dem anderen kleinen Mädchen ebenso wie nach der ihr Selbst auslöschenden Verschmelzung mit ihm. Da Rosa diesen Teil nicht verstand, hieß sie ihm zu schweigen. Schon in ihrer Kindheit, als sie tatsächlich ein Mädchen im Alter der Kinder ihres Traumes gewesen war, träumte sie wie beschrieben. Als sie sich einmal der Mutter offenbart hatte, war deren Reaktion eine sonderbare gewesen.

„Hör auf damit, davon zu träumen, Rosa“, hatte sie der Tochter fest gesagt, „ich verbiete es Dir!“

Erst viel später war Rosa klar geworden, wie abwegig diese Forderung gewesen war. Als Kind hatte sie mit wachsender Verzweiflung nächtelang versucht, nicht zu träumen und sich allmorgendlich mit bittersten Selbstvorwürfen gequält, dass es ihr wieder nicht gelungen war. Nicht jedoch deren Inhalts wegen erinnerte sie sich noch heute an die Worte der Mutter, sondern wegen der Veränderung, die sie dabei an ihr beobachtet hatte.

Ihre Mama war eine liebenswürdige, fürsorgliche und verständnisvolle Mutter. Doch als Rosa ihr von ihrem Traum erzählt hatte, war es, wie als ob sich eine Maske über das Gesicht der Mutter legte. Die Maske eines anderen Menschen, einer strengen, harten, sorgenvollen Person. So sehr hatte Rosa diese Metamorphose erschreckt, so unerwünscht war ihr dieser Mensch, der ihr plötzlich so verurteilend gegenüberstand, dass sie die Sache mit ihrem Traum nie wieder ansprach.

Erst gegenüber Joelle brach Rosa Jahre später ihr Schweigen. Ausgerechnet Joelle! Ihre schwarzhaarige, rehäugige und kapriziöse Schulfreundin, die mit ihrem langbewimperten Augenaufschlag sämtlichen Jungs der Oberstufe den Kopf verdrehte und schon mit 17 mehr Männerherzen gebrochen hatte als Andere das über ihr ganzes Leben fertigbrachten. Joelle, neben der sich die eigentlich ebenfalls zierliche und flirtkompetente Rosa fühlte wie ein zu dickes Baby. In diesem Sommer waren die beiden Freundinnen gemeinsam auf ein Zeltlager nach Südfrankreich gefahren. „Abenteuercamp“, hatte es geheißen und „wir werden zu PfadfinderInnen, machen Feuer, sammeln Muscheln und beklettern Felsen und Bäume“. In Wahrheit waren sie vor allem hier, um Alkohol zu trinken und Jungs aufzureißen.

Schon mit Beginn ihrer ersten Erfahrungen mit Alkohol vor etwa 2 Jahren hatte Rosa bemerkt, dass sie sich, wenn sie betrunken zu Bett ging, sicher sein konnte, dass der Traum kam. Als Benefit der Betäubung erlebte sie ihn jedoch als lange nicht so bedrohlich, wie, wenn sie nüchtern war.

Joelle als Halbfranzösin hatte keinerlei Probleme damit, nicht nur bei den Jungen innerhalb des Camps zu landen, sondern auch bei den Einheimischen, unten am Strand. An diesem Abend hatte sie es aber ausnahmsweise einmal zu der Freundin ins gemeinsame Zelt geschafft. Mitten in der Nacht erwachte Rosa von einem schrillen Schrei. Erschrocken riss sie die Augen auf und sah – nichts. Es herrschte tiefste Dunkelheit. Unsicher, ob es womöglich sie selbst gewesen war, die geschrien hatte, auch wenn es sich nicht danach anfühlte, rief Rosa halblaut: „Joelle?! Bist Du wach?“

„Rosa? Bist Du es?“, kam es zweifelnd zurück.

„Äh, ja, natürlich – wer soll ich denn sonst sein?“ Rosa war irritiert. „Du? Macht es Dir etwas aus, wenn ich Licht mache?“, fragte Joelle verunsichert weiter.

„Klar, mach halt!“

Es folgte ein Rascheln, dann ein gedämpftes Fluchen, als Joelle sich ihre Finger auf der Suche nach der Taschenlampe im Reißverschluss des Schlafsacks klemmte. Dann wurde es hell – und noch heller, da ihr die Freundin mit der gefundenen Lampe direkt ins Gesicht leuchtete. „Hey, was soll denn das, sag mal, spinnst Du?“, schnappte Rosa ärgerlich, „was ist denn los mit Dir?“

Offenbar erleichtert, ihre Freundin als dieselbige identifiziert zu haben, legte Joelle die Lampe zur Seite, ließ sie aber angeschaltet.

„Weißt Du, das war völlig gruselig eben. Ich war auf dem Klo und gerade, als ich wieder reingekommen bin ins Zelt, hast Du gerufen, na ja, eher gemurmelt: „Nein! Lass mich, ich will das nicht!“ Ganz verzweifelt hast Du geklungen!“

Rosa konnte sich gut vorstellen, an welcher Stelle ihres Traumes sie sich da befunden hatte.

„Na, und dann hab ich mich über Dich gebeugt, weil ich Dich wecken wollte. Und dann“, Joelles Stimme brach, „dann konnte ich Dich plötzlich sehen! Obwohl es genauso dunkel war wie jetzt gerade, wenn die Taschenlampe nicht an wäre, war Dein Gesicht auf einmal in Licht getaucht. Nur, dass es gar nicht so richtig Dein Gesicht war, sondern irgendwie durchscheinender, wie ein Hologramm oder so. Und dann – dann bin ich weg von Dir und hab einfach nur geschrien!“

„Joelle, was hast Du gestern mit André eigentlich geraucht?“, fragte Rosa, die selbst in den vergangenen Tagen des Lagers den ein oder anderen Joint gepafft hatte.

„Na ja, schon genau das, was Du denkst! Aber daran lag es nicht. Ich hab mir das nicht eingebildet, Rosa, ich schwörs!“

„Ist ja gut, ich glaubs Dir ja!“ Natürlich glaubte Rosa ihrer Freundin zwar insoweit, als dass diese anscheinend eine seltsame Wahrnehmung gehabt hatte, zweifelte jedoch an deren realem Korrelat.

„Na gut“, Joelle atmete hörbar ein und wieder aus, „jetzt bist Du jedenfalls wieder Du selbst. Sag mal, was träumst Du denn da eigentlich immer?“

„Wieso immer?“, ging Rosa sofort in die Defensive.

„Also, die Nächte, die ich hier war, hast Du allesamt völlig unruhig geschlafen, um Dich geschlagen und manchmal sogar gesprochen!“ Also erzählte Rosa ihrer Freundin von ihren Traum, während sich beide Mädchen erneut in ihre Schlafsäcke kuschelten. Im Licht der zwischen ihnen liegenden Taschenlampe konnte Rosa sehen, wie Joelles ohnehin schon runde Augen größer und größer wurden. „Das ist ja krass“, befand sie, „das kann doch kein Zufall sein, dass Du das immer träumst. Das muss doch eine Bedeutung haben!“

Rosa zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht bist Du als kleines Kind ja mal im Wald verlorengegangen oder in einen See gefallen“, mutmaßte Joelle, „hast Du Deine Mutter mal gefragt?“

Auch wenn Rosa lange schon kein 4- oder 6-jähriges Mädchen war, sah sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter, die in diesem Moment so gar nicht wie ihre Mutter ausgesehen hatte, noch so präzise vor sich, als sei es gestern gewesen. Wie das kleine Mädchen, das sie damals gewesen war, schreckte sie innerlich vor der harten Maske zurück, drehte sich von ihr weg und antwortete der Freundin entsprechend ausweichend: „Ja, hab ich, aber da ist nichts.“ Mit der Schroffheit ihres Statements setzte sie auch dem nächtlichen Gespräch einen Schlusspunkt.

Bevor sie die Taschenlampe ausschaltete, fragte Joelle: „Mich gruselt´s immer noch ein bisschen. Kann ich Deine Hand halten beim Einschlafen?“ Rosa war verblüfft, aber auch angerührt von dieser direkten Frage. War das – neben ihrem Aussehen – auch Joelles Geheimnis bei den Jungs? Glasklare und direkte Kommunikation ihrer Bedürfnisse?

Als sich Rosas Hand um Joelles schloss, fühlte auch sie selbst sich wunderbar geborgen. Den Rest der Nacht schliefen beide tief und traumlos.

Der Kuss

Doch auch das war nun schon lange her. Manchmal sehnte Rosa sich nach der Einfachheit ihres Lebens, als Jugendcamps in diesem noch die maximalste Aufregung und eine verpatzte Mathearbeit der größte anzunehmende Unfall waren.

Joelle hatte sie aus den Augen verloren. Das letzte, was sie von ihr gehört hatte, war, dass die Freundin sich bei einem Au Pair – Jahr in Kanada unsterblich verliebt und daraufhin ihren Aufenthalt im Land der Bären und Ahornblätter verlängert hatte – auf unbestimmte Zeit, hieß es.

Rosa selbst hatte sich nach dem Abitur für ein Geschichtsstudium entschieden und war dafür nun schon seit 3 Semestern in Freiburg. Irgendetwas nicht näher benennbares hatte sie trotz ihrer norddeutschen Herkunft in den Süden der Republik gezogen. Und mehr noch: ihre eigentliche, auch dies eine unbestimmbare, ihr zuvor eher unbekannte, Sehnsucht galt den Bergen jenseits der Grenze. Den hoch aufragenden Schweizer Alpen, die man bei klarer Sicht vom Gipfel des Freiburger Hausbergs, dem Schauinsland, in der Ferne erahnen konnte.

Wieso das so war, wusste Rosa nicht. Vielleicht hatte es etwas mit den Wurzeln ihrer Familie zu tun. Mit ihrem erst vor wenigen Jahren erwachten historischem Interesse hatte sie jene (zumindest auf mütterlicher Seite) im süddeutschen Raum detektiert. Die Wirrungen des zweiten Weltkriegs hatten die urgroßelterliche Familie immer weiter in den Norden gespült, so dass Rosa selbst in Hamburg aufgewachsen war.

Doch ihre Herkunft war definitiv nicht das, was Rosa im Kopf hatte, als sie sich an diesem Abend durch die Gassen der Altstadt in Richtung ihres Zieles bewegte.

Nein, Rico war es, dem ihre Gedanken galten. Rico war ein spanischer Kommilitone, mit dem sie auf dem Freiburger Weinfest vor zwei Wochen einige vergnügliche Stunden verbracht hatte. Obwohl Rico den badischen Weißwein als „Limo“ verlachte und auch Rosa lieber kräftige Rotweine trank, war ihnen die „Limo“ nach ein paar Gläsern ordentlich zu Kopf gestiegen. Arm in Arm waren sie, mehr schwankend denn gerade, von Stand zu Stand gezogen. Vom angenehmen Kribbeln, welches Rosa jedes Mal sprudelblasengleich durchwandert hatte, wenn er ihr tief in die Augen geschaut oder ihre Hand genommen hatte, genau davon wollte sie mehr. Am besten direkt heute!

Das Weinfest war vorbei, doch gab es da zum Glück im Schatten des Münsters diese Weinbar. Dort wollten sie sich heute (mit der Schar ihrer anderen Studienkollegen) treffen. Als Rosa auf den Marktplatz einbog, fuhr ihr Blick wie jedes Mal hoch an den Türmen des Münsters. Wie immer löste der Anblick des alten Gemäuers in ihr eine Mischung aus Schaudern und Wohligkeit aus. Seltsam vertraut fühlten sich das Ziffernblatt am Portal, die Wasserspeier und sogar die Dachschindeln an – so, als sei sie auch vor ihrem Hinzug nach Freiburg schon unzählige Male hier gewesen und – habe was? Rosa konnte nicht fassen, ob die Vertrautheit eine gute oder schlechte Sache war. Immer, wenn sie versuchte sich über ihre genauen Gefühle klar zu werden, entwischten sie ihr. Und auch hier wusste sie nicht, ob sie das traurig oder froh stimmen sollte.

Energisch schob Rosa jedenfalls an diesem Abend ihre verworrenen Überlegungen zur Seite und näherte sich der ausgemachten Weinbar. Schon von weitem sah und hörte sie ihn: Rico!

Dank nicht nur spanischer, sondern über 3 Ecken auch puertoricanischer Wurzeln war sein Teint von gerade der Bräune, die durchschnittliche Europäer auch durch wochenlange Besuche von Solarien nicht erreichen konnten. Die Attraktivität seiner Gesichtsfarbe wurde verstärkt durch das Blitzen weißer Zähne, wenn er lachte, was er gerne und oft tat. So auch gerade wieder. Umringt von einer Wolke Studentinnen, erzählte er irgendeine Story, dabei fiel ihm eine seiner schwarzen Locken immer wieder ins Gesicht.

Ja, Rico verteilte seinen Charme und seine Aufmerksamkeit gerne großzügig und recht gleichmäßig unter seinen Kommilitoninnen, von denen es hier in Freiburg, zumal in der geisteswissenschaftlichen Fakultät, mehr als genug gab. Dafür, dass sein Lachen exklusiv ihr galt und nur sie die Adressatin seiner witzigen Sprüche wäre - dafür wollte Rosa heute sorgen.

Der Start war auf jeden Fall schon einmal gut: Als Rico sie entdeckte, trat er aus der Gruppe hervor und begrüßte sie mit einem Kniefall: „Seid willkommen, hochwohlgeborene Weinfürstin!“

Instinktiv und ohne darüber nachzudenken erwiderte Rosa den Knicks lachend mit einer eleganten in einen Tanzschritt eingebauten Verbeugung. Rosa, für die Ballett trotz einiger frühkindlicher Probestunden ein Buch mit 7 Siegeln geblieben war und die sich auch durch die zu einem späteren Zeitpunkt folgende Tanzschulzeit nur mit Ach und Krach durchgemogelt hatte, ohne zum Gespött der ganzen Gruppe zu werden! Aus welchem magischen Hut hatte sie diese Miniatur-Performance jetzt bloß gezaubert?

Rico jedenfalls schien sie zu gefallen, denn er sagte: „O la la, nicht nur eine exzellente Historikerin, sondern auch noch eine hübsche Primaballerina, was nicht alles in Dir steckt, Rosa!“

Als Antwort kniff sie ihm neckend in die Wange und setzte sich dann zu ihm.

Der Abend nahm seinen Lauf. Auch hier gab es ausschließlich badische Weine, denen sie reichlich zusprachen. Wie immer, wenn sie etwas trank, konnte Rosa sich auch heute in durchaus angenehmer Weise von sich selbst distanzieren: Probleme waren plötzlich weniger wichtig und die Stimmen um sie her verschmolzen zu einem entspannten Rauschen. Die neidischen Blicke ihrer Freundinnen hingegen bemerkte Rosa sehr wohl, als Rico auch die nächsten Stunden ausschließlich bei ihr sitzen blieb. Wie sie selbst waren auch die Anderen als Singles zum Studium nach Freiburg gekommen, in der Hoffnung, in der schönen Stadt im Breisgau die große Liebe oder zumindest einen netten Flirt zu finden. Eine Hoffnung, die deutlich limitiert wurde durch das geringe Angebot an Männern - zumindest, wenn man bzw. frau nicht bei den technischen oder mathematischnaturwissenschaftlichen Fakultäten hausieren gehen wollte.

Tja, Mädels, Pech gehabt, dachte Rosa recht zufrieden mit sich selbst, den Rico geb´ ich erstmal nicht mehr her.

Schließlich wollten einige von ihnen weiterziehen, vielleicht noch etwas tanzen. Die Mehrheit sprach sich fürs „Räng Teng Teng“ aus, eine in Rosas Augen eher schmuddelige Kneipe samt kleiner Tanzfläche im Freiburger Szeneviertel Sedan. Rosa zögerte. Vielleicht hatte sie in der Vergangenheit ja ein bisschen zu viel Zeltlager gehabt – aber sich nach der gehobenen Weinbar jetzt in so einen Schuppen zu bewegen, kam für sie nicht in Frage.

Sie nahm Rico beiseite und sagte ihm dies.

„Ach Rosa, komm schon!“ Das „s“ in Rosa sprach er aus wie ein deutsches „ß“, wodurch ihr eigentlich langweiliger Name deutlich an Charakter gewann, wie sie fand.

Als er ihre beiden Hände in die seinen nahm, war es, als durchfahre sie ein elektrischer Schlag. Zugleich schalteten ihre Sinne in eine Art „hyper-alert“ – Zustand. Jede einzelne Furche und Schwiele an Ricos Händen nahm sie nun ebenso überdeutlich war wie ihr eigenes plötzlich doppelt so schnell schlagendes Herz. Mit einer Fremdgesteuertheit, die weit über ihre vorherige Distanzierung hinausging, löste sie ihre Hände aus seinen und legte sie an Ricos Hinterkopf. Mit Nachdruck zog sie ihn zu sich hinunter und legte ihre