Gold wie deine Seele - Barbara Nelting - E-Book

Gold wie deine Seele E-Book

Barbara Nelting

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Beschreibung

Der Mann, der auf der Intensivstation eines Krankenhauses erwacht, erinnert sich an nichts. Nicht, woher er kommt, wie er hergekommen ist, ja, nicht einmal, wie er heißt. Bald wird klar, dass er den Menschen seiner Umgebung überlegen ist, ihre Gefühle lesen und sie beeinflussen kann. Der junge Pfleger Jonas nimmt den attraktiven und faszinierenden Namenlosen mit zu sich nach Hause. Bis die beiden Männer zueinander finden und sich dem Fremden seine Mission offenbart, muss einiges geschehen – hier und in dessen Heimatwelt. Und das ist erst der Anfang ...

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Seitenzahl: 395

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Barbara Nelting

Gold wie deine Seele

Roman

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2024

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte: MONIR – stock.adobe.com

Jozefklopacka – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-733-0

ISBN 978-3-96089-734-7 (ebook)

Inhalt:

Der Mann, der auf der Intensivstation eines Krankenhauses erwacht, erinnert sich an nichts. Nicht, woher er kommt, wie er hergekommen ist, ja, nicht einmal, wie er heißt. Bald wird klar, dass er den Menschen seiner Umgebung überlegen ist, ihre Gefühle lesen und sie beeinflussen kann.

Der junge Pfleger Jonas nimmt den attraktiven und faszinierenden Namenlosen mit zu sich nach Hause. Bis die beiden Männer zueinander finden und sich dem Fremden seine Mission offenbart, muss einiges geschehen – hier und in dessen Heimatwelt. Und das ist erst der Anfang ...

1

Stimmengewirr:

„Oh Gott, oh Gott, das kann doch nicht …!“

„Wir müssen …“

„Die Geräte spielen verrückt!“

„Wiederbeleben …“

„Der Chef soll …“

Herunterfahren!, befahl ihm, der nicht wusste, wer er war, eine Stimme, die nicht zum hektischen Stimmengewirr um ihn passte. Sie schien in ihm zu sein. Ohne zu zögern, folgte er ihr. Nicht wissend, was er tat, holte er tief Luft und zog sich in sich zurück. Schloss die Augen und wurde ruhig.

Sofort verblassten die Stimmen um ihn her zu einem undeutlichen Murmeln, klangen mit der Zeit auch weniger aufgeregt.

Nach einigen Momenten öffnete er die Augen erneut. Sie waren immer noch golden, verstrahlten jetzt jedoch nicht mehr das Licht der Sonne. Auch seine Fingerspitzen, die Funken gesprüht hatten, pulsierten nun nur noch leicht und ausschließlich für ihn selbst wahrnehmbar.

Ohne zu verstehen, wo, noch wer er war, betrachtete er seine Umgebung. Weiße Wände. Blaubekittelte Menschen, die er vorerst ausblendete. Auch die Decke, die seinen Körper bedeckte, war weiß. Zumindest nahm er an, dass sein Körper darunter verborgen lag, denn das war es, was er sah, wenn er seinen Blick an sich hinabwandern ließ. Er befahl seinem rechten Fuß zu winkeln. Prompt kräuselte sich die Bettdecke. Er hieß sein linkes Bein sich zu heben. Brav bewegte sich das Weiß des Lakens auch hier. Dann wäre das ja schon einmal geklärt, wenn auch nicht, wieso er seinen Körper nicht spürte. Er glitt in einer vorsichtigen Bestandsaufnahme tiefer in sich hinein und glich, was er fand, mit den Menschen um ihn herum ab. Er hatte keine Haare, sie schon. Dunkel erinnerte er sich, dass sein Schädel hatte kahl sein müssen für das, was er zuletzt getan hatte, was auch immer das war. Vielleicht sollte er jetzt für neue Haare sorgen, damit er nicht auffiel. Golden würden sie sein, wie seine Augen.

Halt!, sagte es in ihm, langsam! Wenn sich dein Äußeres zu schnell verändert, fällst du erst recht auf! Also blieb sein Kopf, wie er war.

Langsam ließ er die Worte der Menschen seiner Umgebung in seinen Verstand einsickern. Zumindest sein Hör- und Verstehvermögen schien keinen Schaden genommen zu haben bei dem, was um alles in der Welt ihm zugestoßen war. Oder hatte er dies hier geplant?

Die Blaukittel wunderten sich immer noch über den taubstummen, aber offensichtlich wachen „Patienten“. Das Wort kannte er nicht, aber er begriff, dass sie ihn damit meinten. Eifrig waren sie damit beschäftigt, sich das, was sie zuvor so aufgeregt hatte, gegenseitig auszureden. Augen, deren Widerschein blendete? So ein Humbug, vermutlich war es das Licht der von draußen hereinscheinenden Sonne gewesen. Ja, auch an den Händen. Und die Sache mit den EKG – Salven solcher Amplituden konnte doch niemand überleben und man sah doch, dass sich der Mann hier bester Gesundheit erfreute, zumindest physisch. Also musste da eben wohl das Aufnahmegerät gesponnen haben. Na ja, jetzt geht es ja wieder, seht doch, ein perfekter Sinusrhythmus.

Er schloss von Neuem die Augen. Außer, dass er hier noch niemals gewesen war, wusste er nichts. Erlebte er vielleicht gerade eine Wiedergeburt, die Nidation seiner Seele in einem neuen Körper? Doch wieso dann diese innere Stimme, die ihm riet? Sollte er sie in diesem Fall nicht in seinem alten Leben zurückgelassen haben, damit sie ihm nicht in sein neues pfuschte? Sowie er nach dem, was er einstmals über Reinkarnation gewusst hatte – anscheinend gewusst haben musste! – griff, entzog es sich ihm und hinterließ eine unangenehme, schwammige und nicht ganz weiße Leere. Die Entdeckung, nein, die Entstehung dieses blinden Flecks in seinem Inneren versetzte ihn in Panik. Ohne, dass er etwas dagegen tun konnte, beschleunigten sich seine Atmung und sein Herzschlag erneut. Er wusste, dass es nur eine Frage von Sekunden wäre, bis die Monitore, an denen er hing, wieder ausschlugen. Diese verräterischen Dinger. Also gut. Wenn er den Aufruhr in sich nicht beruhigen konnte, musste er eben die Geräte zum Schweigen bringen - und fertig!

Es war geradezu lächerlich einfach. Ein einziger Impuls genügte und die Bildschirme zeigten eine Nulllinie. Die Blaubekittelten begannen schon wieder zu lamentieren, doch glücklicherweise nicht über ihn, da er ja offenbar bei Bewusstsein war, sondern über die Unzuverlässigkeit der Technik. Selbst hier auf Intensiv! Alles wegen der Sparmaßnahmen! Das seien Zeiten!

Er lächelte. Innerlich, nur für sich. Sie sollten nicht sehen, dass er sie verstand und Gefühle zeigte. Gefühle waren gefährlich. Mehr noch: falsch, zumindest für ihn. Das wusste er, doch woher?

Egal. Er erlaubte sich einen kurzen Moment der Zufriedenheit und des Rückzugs in sich selbst, wurde jedoch gestört durch eine Wahrnehmung zu seiner Rechten. Aufmerksamkeit. Bewunderung. Begierde? Vorsichtig öffnete er ein Auge und blickte in helles, klares Blau. Rund um die Pupillen hatte es die Farbqualität von Wasser, in dessen Wellen er sich verlor, bevor er ins Schwarz der Mitte fiel. Ein junger Mann. Nein, ein Junge, korrigierte er sich. Er wirkte fehl am Platz unter den erwachsenen Frauen und Männern, die ihn umringten. Und doch war er ebenso gekleidet wie sie, blauer Kittel, blaue Hose. Der Ton biss sich unglücklich mit dem seiner helleren Augen.

Der Junge, so begriff er sofort, stellte seinen Weg hier hinaus, in die Freiheit dar. Er und die Gefühle, die er ihm entgegenbrachte. Sie machten ihn nur allzu anfällig für Manipulation und Täuschung. Doch noch nicht jetzt. Er spürte, dass alle ihn Umringenden und langsam ihre Gemüter Beruhigenden ihm für den Moment wohlgesonnen waren. Ja, vermutlich wollten sie sein Bestes. Gleichzeitig ahnte er, dass sie nicht den geringsten Schimmer hatten, was „das Beste“ für einen wie ihn sein könnte.

Für einen wie ihn. Ein weiterer Abgleich erbrachte dasselbe Ergebnis wie vor wenigen Minuten. Äußerlich glich er bis auf seine momentane Haarlosigkeit der Spezies um ihn her. Und doch wusste er, dass sie nicht so waren wie er. Neben seinem tiefen, untrüglichen und uralten Wissen, dessen Quelle er nicht ergründen konnte, sagte ihm dies auch die Logik. Wenn sie mit derselben Schärfe wahrnähmen wie er, dann hätte er sie nicht so leicht täuschen können. Dann hätten sie gewusst, dass die jetzt tote Linie auf dem Monitor rechts von ihm sehr wohl seinem Herzschlag entsprach, auch in jenem Moment, als das Organ in seiner Brust mit einer Kraft schlug, die ihnen fremd war.

Je mehr er nachdachte und sich auf den Fluss seiner kausal miteinander verbundenen Gedankenketten einließ, desto stiller wurde die ihm ratende Stimme, die ihn bis hierher immer wieder mit mehr wertenden denn nützlichen Kommentaren begleitet hatte. Das ärgerte ihn einerseits – er wollte ihrer habhaft werden, ihr kommandieren und sie zwingen, ihm sein verlorenes Inneres zu offenbaren. Gleichzeitig erfüllte ihn ihr Schweigen mit einer grimmigen Zufriedenheit. Denn was taugte ein Ratgeber, der sich nicht erklärte? Der ihn mit schnippischen Befehlen traktierte, ohne dass ihm, der alles vergessen hatte, deren Sinn einleuchtete?

Immerhin, die Stimme hatte ihn bis zu diesem Punkt durchgebracht. Dennoch wollte er sich von jetzt an lieber auf die Eindrücke seiner Sinne und seinen Verstand verlassen – und war überrascht, als die Stimme genau hierzu ihre ausdrückliche Zustimmung äußerte.

Später, am Abend, als es ruhig geworden war, war es leichter, seine Sinne wandern zu lassen und die Umgebung mit ihnen abzutasten. Denn das musste er ja: Seines Gedächtnisses beraubt, musste er sich der vorhandenen Möglichkeiten bedienen, um die notwendigen Informationen zu sammeln und aus ihnen zusammenpuzzeln, was hier vor sich ging. Zuallererst einmal musste er herausfinden, wer er war. Was er hier wollte und wie er hierhergekommen war.

Zuvor hatten sie unter Verwendung verschiedener Sprachen versucht, ihn zum Sprechen zu bewegen. In unregelmäßigen Abständen waren Menschen an seinem Bett aufgetaucht und hatten es mit immer wieder neuen Mundarten probiert. Es erfüllte ihn mit Befriedigung, dass er jeden Einzelnen verstand. Eine Befriedigung, die er wie jede andere Reaktion sorgsam hinter einer starren Maske der Gleichgültigkeit verbarg. Zwar war er sich recht sicher, ihre Sprachen auch mit eigener Stimme sprechen zu können. Doch dann müsste er dies auch. Reden. Sich erklären. Besäße er auch nur eine Antwort auf ihre unzähligen Fragen!

Selbst die erste, scheinbar einfachste, überforderte ihn. Wie es ihm ginge. Mit sich, in seinem Kopf, fühlte er sich abgesehen von der Erinnerungslosigkeit wohl. Sein Körper jedoch sagte etwas anderes. Jeder Muskel, soweit er sie unauffällig, wenn die Blaukittel nicht hinsahen, durchgetestet hatte, gehorchte seinen Befehlen. Seinen Leib konnte er aber weiterhin nicht spüren. Nicht den Kontakt des Lakens mit seiner Haut. Nicht die Stelle, wo die Nadel, mit der sie ihn im Laufe des Abends stachen, in dieselbe drang. Und ebenso wenig den Eintritt noch den Weg jener schmalen Schläuche, die in ihn führten. Dennoch war er sich sicher, dass das, was die Decke verbarg und was wohl trotz allem sein Körper war, ihm gehorchen und ihn von hier forttragen würde, wenn er es ihm denn befahl.

Nicht, dass er das gemusst hätte. Ohne es ausprobieren zu müssen, wusste er, dass er sich sowie andere Dinge auch ohne Muskelkraft bewegen konnte. Allein durch die Macht seiner Gedanken. Die Menschen hier vermochten es offenbar nicht. Fast den ganzen Tag verbrachten einige von ihnen ausschließlich damit, scheinbar sinnlose Utensilien hin und her zu tragen.

Auch auf die anderen Fragen wüsste er keine Antwort. Wie er hierhergekommen sei. Warum er nicht auf den Verkehr geachtet habe und einfach auf die Straße gelaufen sei. Ob er Familie habe.

Familie. Das Wort, das in all ihren Sprachen ähnlich klang, war ihm fremd. Er fragte sich, ob es so etwas dort, wo er herkam, nicht gegeben hatte. Nein, er wusste nicht exakt, was es bedeutete. Und doch erzeugten die Gefühle der Menschen, wenn sie hiervon sprachen, ein vages Sehnen in ihm. Denn Familie, das war es, wo es sie hinzog, die Spätschichtler, wie sie sich ihm vor Stunden vorgestellt hatten. Jetzt, am Ende des Tages, verließen sie ihn und das Gebäude, in dem er sich befand. Krankenhaus, hatten sie es genannt. Ein Haus der Kranken also. War er krank?

Familie - ein warmes, behagliches Gefühl, untermalt von Vorfreude. Nicht jeder freilich schien über eine solche zu verfügen. Auch nicht der Junge, den er nun, als er seine Sinne im Schutz der beginnenden Dunkelheit weiter und weiter wandern ließ, in einem anderen, entfernten Raum ausmachen konnte. In ihm fand er keine Vorfreude auf Familie.

Der Einstich. Die Schläuche in seinem Körper. Alles in ihm wehrte sich gegen diese Verletzungen seiner physischen Integrität. Er wunderte sich, dass – egal, wie viel Mühe er sich gab, sie zu täuschen – die Kurven auf den Monitoren nicht schon lange wieder ausschlugen als Korrelat seiner Abwehr gegen ihre medizinischen Maßnahmen, wie sie es nannten. Vielleicht erhöhte die Tatsache, dass er seinen Leib nicht spürte, seine Toleranz für diese doch ein wenig, in einen für sie nicht messbaren Bereich. Er wusste, dass die Menschen hier, die sich selbst als Ärzte und Pfleger bezeichneten – auch das Worte, die es in seiner Sprache nicht gab, wohl aber etwas, was deren ungefährer Bedeutung nahekam –, glaubten, die Lebensvorgänge in seinem Körper nur mit diesen primitiven und martialischen Methoden kontrollieren zu können. Mit den Schläuchen und mit den von seiner Brust abgehenden Kabeln, die an ein eilig neu herbeigeschafftes Gerät angeschlossen worden waren. Seitdem war ein Teil seiner Aufmerksamkeit permanent damit beschäftigt, ihnen eine möglichst gleichmäßige Kurve auf den Monitoren zu präsentieren. Das natürlich konnte so nicht weitergehen, zumal die Täuschung ihm Kraft kostete, die er für seine Regeneration benötigte. Es musste eine permanentere Lösung für dieses Problem her – oder er hier weg!

Ohne die geringste Ahnung warum, war er sich erneut sicher, dass sein Volk solche primitiven Hilfsmittel nicht benötigte. Eben so wenig, wie er mit jemandem sprechen musste, um zu erfahren, wie dieser sich fühlte. Oder ein Ding berühren, um es zu bewegen. Die Umgebung hingegen, in welcher er hier gelandet war, war von geradezu erdrückender Stumpfsinnigkeit. Dieser Fakt überzeugte ihn mehr noch als alles andere davon, dass er hier völlig fremd war. Nicht nur in diesem Haus, das sie Krankenhaus nannten, sondern auch in dieser Stadt, diesem Land – dieser Welt? Fremd – und daher auch falsch? Aus Versehen gestrandet an unbekannten Gestaden, verirrt und verloren für alle Zeiten? Er erschrak vor der Welle des Selbstmitleids, die ihn überschwemmte und die Kurven des Monitors trotz seines Gegensteuerns prompt von Neuem zum Zittern brachte.

„Sie sollten versuchen zu schlafen!“

Die dunkelblonde, magere und Verdrossenheit ausstrahlende Nachtschicht-Ärztin, die vor einer halben Stunde zum Dienst erschienen war und sich als Doktor Reikert vorgestellt hatte, redete trotz seiner reaktionslosen Miene mit ihm, als führten sie einen Dialog.

„Ich weiß ja, dass das mit dem ganzen Gepiepe hier nicht ganz einfach ist“, fuhr sie fort.

Das ganze Gepiepe. Das hatte er, ebenso wie das Brummen der Kästen in der Decke, das permanente Gerede der Menschen und das Summen aller anderen Geräte, schon vor Stunden ausgeblendet. Zu stark pfuschte es ihm in die Wahrnehmung der eigentlich wichtigen Dinge hinein.

„Doch ich habe gute Neuigkeiten für Sie. Vielleicht können Sie nächste Nacht schon ungestört schlafen. Nach Protokoll endet Ihre 24-stündige Überwachungszeit morgen Nachmittag, sodass wir Sie, wenn bis dahin alles glattgeht, verlegen können. Zwar würden wir schon gern noch herausfinden, warum Sie nicht reden können …“

Können?, dachte er amüsiert. Ich will nicht, das ist alles!

„… aber das werden die Kollegen von Station sicherlich noch bewerkstelligen!“, gab sich die Ärztin überzeugt. „Aber nun ruhen Sie sich aus!“

Während sich die Schritte der Frau langsam entfernten - sie ging in das, was sie „Stationszimmer“ nannten -, dachte er über das nach, was er gehört hatte. Die Vorstellung, dass sie ihn morgen schon woanders hin „verlegten“, erfüllte ihn mit Panik. Zwar war es ihm in den bisherigen Stunden nicht gelungen herauszufinden, wer er und warum er hier war. Doch hatte er eine gewisse Vertrautheit mit seiner Umgebung und sich selbst etablieren können. Eine Sicherheit in einer ganz und gar unsicheren Situation. Eine Vertraut- und Sicherheit, die er verlöre, wenn sie ihn verlegten!

Er war so tief in Gedanken und dem Bemühen seinen panisch beschleunigten Herzschlag zu regulieren versunken, dass er das erneute Kommen Frau Reikerts erst bemerkte, als sie bereits wieder an seinem Bett stand. Sie hantierte mit einer mitgebrachten Ampulle herum und leerte diese in die Flasche, die über einen dünnen Schlauch mit seinem Arm verbunden war.

„So. Das wird Ihnen helfen, ein wenig Ruhe zu finden!“ Die Worte der Ärztin klangen seltsam gedämpft. Als er begriff, dass sie ihm ein Betäubungsmittel verabreicht hatte, war seine erste Reaktion Unglaube, gefolgt von Wut. Er würde sich von dieser sensorisch unterentwickelten Spezies doch nicht sein Bewusstsein nehmen lassen! Einige Sekunden kämpfte er noch mit der Müdigkeit und Schwere in seinem Kopf, bevor er sich ihr ergab und in den bitter benötigten Schlaf fiel.

2

„Meint Ihr, es geht ihm gut?“

„Wem denn, Kor-Jece? Wenn du eine Antwort von mir erwartest, musst du dich schon deutlicher ausdrücken!“

„Verzeiht, Meister. Ich spreche natürlich von Ahir-Ran. Sicher seid doch auch Ihr in Sorge um ihn, oder?“

„Ah, Ahir-Ran.“ Ben-Son-Virs ernste und von Falten gezeichneten Züge wurden durch ein Lächeln erhellt, welches seine Augen gerade so erreichte. „Ja und nein, Kor-Jece. Selbstverständlich sind meine Gedanken stets bei meinen Schülern und dieser Tage insbesondere bei Ahir-Ran. Und doch sorge ich mich nicht um ihn. Du weißt wie ich, dass wir keinen Besseren hätten auswählen können.“

„Dann glaubt Ihr, er ist gut angekommen ... dort?“, fragte Kor-Jece und erschauderte unwillkürlich beim Gedanken an dieses „Dort“. Die andere Seite, auf der sich Ahir-Ran jetzt vermutlich oder eher hoffentlich befand. In der feindlichen Anderwelt, die sie hier gleichermaßen verachteten wie fürchteten.

„Nichts bei seiner Aussendung deutete darauf hin, dass es anders sein sollte. Du warst doch dabei, Kor-Jece!“, entgegnete Ben-Son-Vir tadelnd.

Auch wenn er seinen strengen Lehrmeister nur ungern verärgerte, konnte der Eleve ein weiteres Erschaudern nur mühsam unterdrücken. Die Erinnerung an Ahir-Rans Entsendung trug nicht dazu bei, seine Sorgen zu verringern. Im Gegenteil. Die Atmosphäre geballter telepathischer Macht war fast greifbar gewesen, als die Ältesten, Weisesten und auch einige Schüler wie er sich an diesem Tag an den Händen genommen hatten. Nach und nach hatten sie den Ring um den in ihrer Mitte stehenden Ahir-Ran geschlossen und waren ihm näher und nähergekommen. Mit jedem Schritt hatte sich die knisternde Spannung im Inneren ihres Kreises verdichtet.

Obschon lediglich am Rand und nicht wie sein Freund in der Mitte des Geschehens, war der Druck für Kor-Jece kaum auszuhalten und er hatte sich gefragt, wie es Ahir-Ran in dessen Zentrum ergehen mochte. Schließlich begann dessen Silhouette zu flimmern, löste sich zuerst an den Rändern, auf – und verschwand endlich ganz.

Ja, Ahir-Ran war sein Freund. Oder zumindest das, was einem solchen am nächsten kam, in Anbetracht dessen, was sie, wie auch ihre Mitschüler, waren. Gemeinsam gehörten sie der Gemeinschaft angehender Seelenleser an. Nur, dass er, Ahir-Ran, sich jetzt allein und auf sich gestellt in einer Umgebung befand, die Kor-Jece sich aller Lehrbücher zum Trotz nicht einmal vorstellen konnte.

„Und wie kommt er wieder zurück?“, fiel es ihm plötzlich ein. „Woher weiß der Rat, wann er ihn wieder zurückholen muss, wenn wir doch keine Möglichkeit der Kommunikation haben?“

„Vertrauen, junger Eleve, Vertrauen!“, mahnte Ben-Son-Vir. „Wir werden ihn nicht zurückholen, weil wir es nicht müssen. Von dort aus gibt es andere Wege hierher als andersherum. Bislang hat jeder Gesandte, der seine Mission erfolgreich erfüllt hat, hinterher auch wieder zu uns zurückgefunden.“

Abgesehen von denen, die ihren Auftrag nicht erfüllt hatten und als für immer verschollen galten, natürlich. Doch das sagte Ben-Son-Vir nicht. Über solche Enttäuschungen wurde ein Mantel des Schweigens gebreitet. Was jedoch Ahir-Ran betraf, so schloss Ben-Son-Vir ein solches Scheitern von vornherein aus.

„Darf ich dich daran erinnern, dass dein Mitschüler sich freiwillig gemeldet hat?“, fragte Ben-Son-Vir streng. Der durchdringende Klang seiner Stimme dröhnte unangenehm in Kor-Jeces Ohren. Nichts wünschte er sich mehr, wie seinen Blick abzuwenden. Doch die stahlgrauen Augen des Meisters hielten ihn ebenso gefangen wie die Macht seiner Worte. Nicht zum ersten Mal wunderte Kor-Jece sich darüber, wie jemand, der so alt war, alle Jüngeren wie beispielsweise ihn selbst derart in seiner Gewalt halten konnte. Kein einziges Haar auf Ben-Son-Virs scharf geschnittenem Schädel hatte eine andere Farbe als Grau und die Furchen seines Gesichts zogen sich, wie sein Schüler wusste, über die gesamte Oberfläche seines Körpers fort.

„Ahir-Ran sähe es sicher nicht gern, dass du seine Kompetenzen in seiner Abwesenheit anzweifelst!“, schloss Ben-Son-Vir und lockerte seinen Griff um Kor-Jeces Seele ein wenig.

„Ja, Meister“, antwortete Kor-Jece ergeben und senkte seinen feuerroten Schopf. Er würde sich in Geduld – und Vertrauen – üben. Natürlich würde er das. Wie hatte er nur zweifeln können?

3

Während er, dessen Name, wie wir ahnen, der des Entsandten Ahir-Ran war, nach einer undefinierten Dauer der Schwärze zwischen Schlaf und Wachsein driftete, wusste er, dass es so nicht zu sein pflegte. Nein. Üblicherweise war er mit einem Schlag wach. Zumindest, seit …

Nach dieser Erinnerung konnte er nicht greifen, sie entfleuchte ihm wie ein glitschiger Aal. Aber die anderen, die mussten irgendwo in ihm noch vorhanden sein. Ahir-Ran wusste es. Während der Monitor rechts von ihm zum Leben erwachte und seine zunehmende Erregung in Kurvenform wiedergab, kehrten die Bilder zu ihm zurück. Wenige nur, aber immerhin. Wenn er die Augen normalerweise aufschlug, blickte er üblicherweise in einen blauen Himmel. Und dann … dann stand er auf, nachdem er das Laken zurückgeworfen hatte, das ihn bedeckte. Ja, es war ein Laken … eine weiche Decke … irgendein angenehmes Textil. Danach ging er … zur Tür? Nackt war er dabei stets, ja, unbekleidet und – allein? Nein. Da waren andere, dicht bei ihm. Aber wer waren sie …? Egal! Weiter! Er stand auf und dann … zog er den Vorhang beiseite und …

Verdammt! Mit einem Ruck und dem Geklirr von Geschirr landete sein Bewusstsein im Hier und Jetzt. Er war nicht dort, wo auch immer dort war, sondern hier, im Krankenhaus, einem fremden Ort in einer unbekannten Welt. Während er den Geräuschen um sich lauschte, nahm ihn die Schlafdroge ein weiteres Mal in ihren Griff. Sie zog ihn mit sich, hinfort von der Oberfläche, hinein ins Unterbewusste. Da waren sie wieder, seine Erinnerungen! Wie Treibgut schwammen die Fragmente auf dem Meer seiner Seele. Er musste nur danach greifen und versuchte genau das ein weiteres Mal. Also. Er stand jeden Morgen auf, zog den Vorhang beiseite und sah ... ins Grün. Ein Wald? Nein, es waren Behausungen, überwachsen von Gras. Der Anblick rührte etwas in ihm. Sehnsucht? Heimweh? Vielleicht könnte er …

„Guten Morgen, Mister Unbekannt!“, brach Frau Doktor Reikerts Stimme für diesen Morgen endgültig den Bann des Schlafes.

„Ich hoffe, Sie haben wohl geruht und ich entschuldige mich dafür, Sie geweckt zu haben! Gleich wird die Frühschicht eintreffen und bald mit der Visite beginnen. Dann wird an Schlaf für Sie ohnehin nicht mehr zu denken sein.“

So fröhlich und offensiv sie ihn ansprach, fiel es ihm schwer, ihr nicht zu antworten und damit preiszugeben, dass er sie verstand.

„Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. Nach der komplikationsfreien Nacht hege ich keine Zweifel, dass man Sie heute schon auf Normalstation verlegen wird – und wir uns somit nicht wiedersehen!“

Doktor Reikert legte ihm eine Hand auf die Schulter. Das Gefühl ihrer Berührung erschreckte ihn fast zu Tode, was er ebenso wie seine anderen inneren Reaktionen sorgsam verbarg. Aber doch: Er spürte sie! Sein Körpergefühl war zurückgekehrt! Noch Minuten, nachdem sich die offenbar durch ihren baldigen Dienstschluss euphorisierte Ärztin entfernt hatte, badete er in der ihn durchströmenden Flut der Erleichterung. Mit seinem Körpergefühl hatte er ein Stück von sich zurück! Sicher würde es jetzt nicht mehr lange dauern, bis auch der Rest seiner Selbst in Form seiner Erinnerungen zu ihm zurückkehrte!

Fürs Erste blinzelte er, nachdem Doktor Reikerts Präsenz sich entfernt hatte, mit den Augen und blickte hiernach nicht etwa in einen blauen Himmel, sondern auf das eintönige Muster einer weißen Krankenhausdecke. Quadratisch aneinandergereihte Platten. Eine jede maß in etwa einen mal einen Meter. Dieser mathematische Begriff existierte in seiner Sprache (seiner Wirklichkeit!) nicht. Doch die hier verbrachten Stunden hatten ihm auf dem Boden seines vorherigen Wissens dafür ausgereicht, nun ganz selbstverständlich die hiesigen Maßeinheiten zu verwenden. Einmal ein Meter, dann folgte eine gräuliche Fuge, dahinter dann die nächste Platte. Fuge, Platte, Fuge. Und so weiter.

Ein regelmäßiges Muster, das anzuschauen ihn von dem ablenkte, was er nun eigentlich nicht mehr ignorieren konnte. Sein Körper.

Da waren zum einen die von seinen Verletzungen herrührenden Schmerzen, auch wenn er spürte, dass jene bereits fast vollständig verheilt waren. Ja, der raschen Gesundung seiner Nervenverbindungen war es zu verdanken, dass er sich selbst nun wieder wahrnahm. Wenn sein Geist nur ebenso schnell heilen und seine Erinnerungen wiederherstellen würde! Und doch: Das Zwicken und Reißen in verschiedensten Regionen seines Körpers störte zwar sein Wohlbefinden latent. Dafür, es in den Hintergrund zu schieben, benötigte er jedoch nur einen geringen Aufwand. Er ahnte, dass er es trainiert haben musste, Schmerzen zu erleiden, auszuhalten und zu ignorieren.

Was er aber kaum beiseiteschieben konnte, sondern im Gegenteil mit der Wucht eines Orkans gegen sein Bewusstsein hämmerte, war das, was sie ihm angetan hatten. All die kleinen Stellen, an denen sie die Unversehrtheit seines Körpers verletzt hatten, ja, mehr noch, sich ihre Instrumentarien in sein Inneres hervorgewagt hatten! Das kleine Schläuchlein in seiner rechten Ellenbeuge. Ein weiteres an seinem linken Schlüsselbein, dessen Ende durch eine seiner Hauptvenen bis fast in sein Herz reichte. Die Kontaktflächen der Metallstifte auf seiner Brust, die seinen Herzschlag an den Monitor weiterleiteten. Ein weiteres Schläuchlein an der Innenseite seines linken Handgelenks, turbulent umspült von seinem wild fließenden Blut. Und – das allerschlimmste! – ein Fremdkörper in seiner Harnröhre, der bis in seine Blase reichte.

Ach was, Eleve!, sagte seine tadelnde innere Stimme, die, wie er sich mittlerweile zusammengereimt hatte, irgendeinem ehemaligen Lehrer gehören musste. Dieser Körperteil ist schwerlich dein wichtigster, der deiner größten Sorge bedarf!

Beim Spott in der Stimme regte sich eine Erinnerung in ihm. Nein, sein Penis war nicht sein wichtigster Körperteil. Nicht seiner und nicht derer, mit denen er zusammen gewesen war. Eine Gruppe … von … Schülern?! Der ein oder anderen Art?! Der Gedanke entglitt ihm. Und ihr wichtigster Körperteil war natürlich … der Kopf, oder? Das Denken und das … Fühlen … – aber nicht ihrer eigenen Emotionen?!

Verdammt, es war zu frustrierend! Dass er sich gedanklich weniger um seine Geschlechtsorgane als um die Wiederherstellung seines Gedächtnisses kümmern sollte, war ihm jedenfalls klar.

Das änderte jedoch wenig daran, dass ihn die Vorstellung, wie jemand, als er bewusst- und hilflos gewesen war, seinen Penis nicht nur berührt, sondern etwas dort eingeführt hatte, mit brennender Scham erfüllte. Er wusste: Auch das war falsch.

Akzeptiere das Gewesene, gegen das du machtlos warst!

Er starrte nach oben – ein Meter weiß, 2 Zentimeter grau, ein Meter weiß – und versuchte, das gleichförmige Muster der Platten wie eine dämpfende Decke über seine Gefühle zu legen.

Das ganz reale Treiben um ihn her bekam er trotz seines inneren Rückzugs im Hintergrund mit. Die Ankunft des Frühdienstes. Die Übergabe der Ärzte und Pfleger im Stationszimmer. Wenn er sich Mühe gegeben hätte, hätte er sogar verstanden, was sie über ihn sagten. Doch wozu der Aufwand? Es waren ohnehin nur blödsinnige Vermutungen, die sie in ihrer Hilfs- und Ahnungslosigkeit anstellten. Er begriff, dass auch seine Arroganz eine erlernte war, die nur zu einem kleinen Teil von dem herrührte, was er in den letzten Stunden an eigener Überlegenheit erlebt hatte, und zu einem größeren von dem verursacht worden war, was ihm vorher jemand gesagt hatte. Über diesen Ort hier, diese Welt. Den er dennoch gezielt angesteuert hatte, um …?!

Sich in den Regungen, Stimmen und Emotionen der Menschen dort im Stationszimmer zu versenken, lenkte ihn wirkungsvoll sowohl von der schamvollen Pein seines misshandelten Körpers ab als auch von seinen vergeblichen und damit fast schmerzhaften Versuchen, ins Reich seiner Erinnerung vorzudringen. Die Ärzte und Pfleger waren größtenteils müde, aber dennoch vorfreudig und arbeitswillig. Bereit also, ihre eigenen Gefühle und ihr innerstes Bedürfnis nach Schlaf zur Seite zu schieben, um das zu tun, weswegen sie hier waren. Anderen zu helfen. Damit konnten sie doch kaum von schlechter Gesinnung sein, oder?

Auch den Jungen identifizierte er wieder. Der hatte ihm schon auf dem Weg von der Umkleide ins Stationszimmer einen, wie er selbst glaubte, unauffälligen Seitenblick zugeworfen. Wenn sie ihn heute anderswo hinbrächten, wie es Frau Doktor Reikert angekündigt hatte, müsste er sich zuvor dessen Unterstützung vergewissern. Ihm ein Zeichen geben und damit erstmals, seitdem er hier war, seine äußere Gleichgültigkeit durchbrechen.

Vielleicht müsste er das sowieso, damit sie seinen Körper von den störenden Schläuchen und Nadeln befreiten.

Er hatte Glück. Das taten sie ohnehin, zumindest großteils, bevor sie ihn auf die, wie sie es nannten, Normalstation verlegten. Auch wenn ihm mittlerweile wieder eingefallen war, dass Ärzte und Pfleger in seiner Sprache als Heiler galten, war er sich sicher, dass er selbst kein solcher gewesen war. Die Funktion der meisten Schläuche in ihm, auf die Heiler seines Volks sicher nicht angewiesen waren, war ihm fremd. Mit Ausnahme der Kleber auf seiner Brust, über deren Entfernung er dankbar war. Befreit atmete er durch. Endlich konnte er seinem Herzschlag wieder freien Lauf lassen, ohne, dass es direkt jemanden aufschreckte. Das war auch deshalb angenehm, weil er jetzt nicht mehr der ihn ständig regulierenden inneren Stimme Folge leisten musste, die ihn in den letzten Stunden mehr und mehr auf die Nerven gefallen war. Ständig hatte sie ihn daran erinnert, ruhig zu bleiben. Nur den Schlauch in seiner Ellenbeuge und leider auch den in seiner Harnröhre beließen sie.

Das CT, durch das sie ihn „auf dem Weg nach oben“ noch „fahren wollten“, erwies sich als metallische Apparatur mit einer ringförmigen Vorrichtung, die um seinen Kopf rotierte. Hart und kalt drückte sich die Unterlage gegen seinen Rücken, als sie ihn dort platzierten. Weil er nicht wusste, ob dieses kühle und gefühllose Gerät ihnen seine Andersartigkeit enthüllen konnte, konzentrierte er sich während der Untersuchung auf die andere anwesende Präsenz. Es war dies ein Mann, auf der anderen Seite der Glasscheibe, wohl ein weiterer Arzt. Falls jener Zeichen des Aufruhrs zeigte, wollte Ahir-Ran beruhigend auf ihn einwirken.

Konnte er das tatsächlich? Den Arzt über die Entfernung hinweg beeinflussen, im Zweifel mit seinem Willen dessen überschreiben? Er wusste es nicht. Bislang hatte er sich darauf beschränkt, die Emotionen der Menschen zu registrieren. Ob er sie auch verändern konnte, war ihm unklar. Dennoch riet ein Instinkt ihm zur Wachsamkeit.

Diese erwies sich jedoch als unnötig. Gelangweilt an seinem Tee schlürfend sah der Mann zu ihm herüber und tippte dabei etwas in seine Tastatur.

Als er wieder in seinem fahrbaren Bett lag und zwischenabgestellt vor dem CT-Raum stand, ergab sich endlich eine Gelegenheit, den Jungen, der ihn hergebracht hatte, anzusprechen. Einmal noch schickte er seine Aufmerksamkeit in die nähere Umgebung, um ganz sicherzugehen, dass niemand außer ihnen in Sicht- oder Hörweite war.

„Hey“, sagte er leise. Die fremde Sprache schmeckte ungewohnt auf seinen Lippen.

Obwohl er nichts anderes zu tun hatte, war der Junge in Gedanken verloren und erschrak bei Ahir-Rans Ansprache. Gehetzt sah er sich um. Als er begriff, dass der Mann im Bett mit ihm geredet hatte, trat er näher und stammelte fassungslos: „Sie … Sie können …!“

Bevor er selbst gewusst, was er vorgehabt hatte, schnellte Ahir-Rans Hand unter der Decke hervor und legte sich auf den Mund des Jungen: „Scht!“, gleich darauf gefolgt von einem beruhigenden: „Ich tu dir nichts!“, als er der Panik in dessen blauen Augen gewahr wurde.

Befriedigt registrierte er, wie die Angst des Jungen in Aufregung, ja, auch Erregung umschlug. Das Zentrum bildete der Bereich dessen Gesichts, auf dem seine Hand lag. Irritiert nahm Ahir-Ran diese zurück. Galt es hier als Akt der Zuneigung, sich den Mund zuzuhalten?

„Ich tu dir nichts!“, bekräftigte er noch einmal. „Doch ich brauch deine Hilfe. Kannst du nachher, nach Dienstschluss, zu mir kommen?“ Er hatte das Wort oft genug gehört, um zu wissen, was es bedeutete. Dies hinderte jedoch seine Zunge nicht daran, über die ungewohnten Silben zu stolpern.

Benommen nickte der Junge, die Miene voller Verwunderung und das Gemüt voll sich überschlagenem Aufruhr. Seine Augen, deren Farbe sich auch heute wieder mit der seiner Kleidung biss, glänzten und sein dichtes braun gelocktes Haar schimmerte im Neonlicht des Krankenhausflurs.

Glücklicherweise zerstörte der Röntgenarzt ihren Moment der Zweisamkeit, der dem Jungen die Freigabe erteilte, den Patienten „auf Station“ zu bringen. Dieser brauchte nicht einmal seine besondere Gabe, um die aus jeder Faser des Jungen strömende Neugier detektieren. Seinem von ihm auserkorenen Retter standen die ungestellten Fragen förmlich ins Gesicht geschrieben, gut sichtbar für jedermann. Fragen, die er immer noch nicht beantworten konnte!

Die Station „oben“ unterschied sich vor allem darin von der „unten“, dass er und die anderen Patienten in Dreierzimmern untergebracht waren, in denen im Gegensatz zum ständigen Gepiepe der Intensivstation relative Ruhe herrschte. Eine Stille, die ihm half, seine Gedanken zu ordnen. Sollte er nun, da er hier war, seine Strategie ändern und offiziell zu sprechen beginnen? Würde das sein Fortkommen beschleunigen? Doch er scheute die aufgeregte Reaktion, die er von den Heilern in einem solchen Fall antizipierte. Er ahnte, dass sich ihre freundliche Fürsorge nur allzu schnell in ein bohrendes Interesse verwandeln könnte, welches ihm gefährlich werden konnte. Überhaupt wurde ihm mit jeder Minute klarer, die er sich hier, in seinem neuen Zimmer, aufhielt, dass er wegmusste und seine innere Unruhe wurde sekündlich größer. Nicht nur, dass er einen Auftrag hatte, von dem er noch immer nicht wusste, was er beinhaltete, nein, er vermeinte auch eine zunehmende Bedrohung auszumachen. Je länger er hierblieb, im Fokus vieler wissenschaftlich geschulter Augen, desto größer würde sie.

Gleichwohl wehrte er sich nicht, als eine Pflegerin ihn im Bett aufrichtete und ihm etwas zu trinken einflößte. Es fühlte sich an, als habe er seit einer Ewigkeit nichts getrunken. Ungewohnt, als müsste die Muskulatur seines Halses den Schluckvorgang von Neuem lernen. Dabei hatte er doch erst gestern, vor seinem Aufbruch … oder?

Weg! Einfach fort war er, der gerade aufgeblitzte Schimmer einer Erinnerung!

Das Wasser, was ihm die Kehle hinabrann, schmeckte brackig und nach dem Material des milchig-durchsichtigen Gefäßes, was die Frau ihm an die Lippen hielt. Nicht gerade ein sinnlicher Wohlgenuss, aber immerhin auch kein Gift, wie ihm ein offenbar für solche Sachverhalte installierter Sensor seines Inneren mitteilte.

4

Er brauchte nicht lange auf den Jungen warten. Oder kam ihm die Zeitspanne nur so kurz vor, weil er zwischenzeitlich noch einmal eingeschlafen war? Er war sich nicht sicher, ob sich in der einen an seinem Arm hängenden Infusionsflasche, die ihn von „dort unten“ nach „hier oben“ begleitet hatte, ein weiteres Beruhigungsmittel befand. Derart manipuliert zu werden oder dies zumindest vermuten zu müssen, fühlte sich überhaupt nicht gut an und war ein weiterer Grund, warum er fort von hier musste. Selbsterhalt. Und das andere. Sein Auftrag, der ihm nach wie vor nicht in den Sinn kommen wollte.

Dank seiner Dienstkleidung gelangte der Junge (der Pfleger) unbeachtet in das Zimmer, welches er (der Patient) mit zwei anderen Liegenden teilte. Ganz bewusst dachte Ahir-Ran ihre momentanen Rollenbezeichnungen mit. Um sich der Hilfe des Jungen zu vergewissern, wäre es sicher von Vorteil, dessen Sprache fehlerfrei und flüssig zu beherrschen. Kluges Kerlchen, dachte Ahir-Ran, als sein braun gelockter Besucher die Vorhänge links und rechts seines Bettes zuzog.

Mit geröteten Wangen nahm der Junge auf einem Hocker zu seiner Linken Platz und schaute ihn an. Die ihm aus jeder Pore entströmende Aufregung faszinierte und amüsierte Ahir-Ran, der nicht wusste, dass er so hieß, gleichermaßen. Vielleicht war es diese unbefangene, jugendliche Begeisterung, die ihn so jung wirken ließ. Jetzt aus der Nähe konnte er nämlich sowohl die Lachfalten um seine Augen als auch die durchaus männliche Behaarung seiner Arme erkennen. Nein, dies hier war gar kein Welpe mehr – auch wenn die Unbeherrschtheit seiner Gefühle selbiges vermuten ließ. Andererseits: Wer war er, darüber zu urteilen? Schließlich hätte sein wild pochender Herzschlag die Apparaturen der Ärzte zum Zerspringen gebracht, wenn er sie nicht zu ihrem eigenen Schutz manipuliert hätte.

„Hallo! Da bin ich! Wer bist du? Und was willst du von mir?“

Auch die Stimme des Jungen – anders konnte Ahir-Ran einfach nicht von ihm denken – war aufgeregt, rau zwar, doch seltsam verhuscht klingend. Die Verwendung des „Du“, der vertraulicheren Form der zwei möglichen hiesigen Anreden also, entging ihm nicht. Nun. Auch wenn seine innere nörgelnde Stimme fand, dass ihm ein Mehr an Respekt gebührte, geschah es ihm nur recht. Schließlich hatte er den Jungen als Erster geduzt, früher am Tag, unten, vor dem CT. Höflichkeitsform hin oder her – etwas erreichen würde er nur, indem er auch jetzt wieder sich der ungewohnten, neuen Sprache bediente. Ganz vorsichtig ließ er die Worte über die Lippen perlen:

„Auf deine erste Frage habe ich keine Antwort. Was die zweite betrifft: Bring mich hier heraus! Bitte! Das heißt: wenn du das kannst!“, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.

„Ok. Du willst also nicht verraten, wer du bist, und von hier abhauen, ehe es jemand herausfindet“, schlussfolgerte der Junge.

Wenn du wüsstest, dachte Ahir-Ran. Oder: Wenn es doch bloß so einfach wäre!

„Das geht prinzipiell in Ordnung für mich. Und übrigens: Ich heiße Jonas!“, fuhr der jetzt nicht mehr namenlose Pfleger fort, ohne eine Bestätigung seiner Vermutung abzuwarten. Sein Lächeln enthüllte eine kleine Zahnlücke und süße Grübchen. Auch die vielen winzigen bräunlichen Sprenkel auf Jonas’ Wangen fielen Ahir-Ran jetzt erst auf. Sommersprossen, verriet ihm irgendeine unbekannte Informationsquelle. Photosensible Pigmentveränderungen, welche manche Menschen dieser Welt aufweisen. Moment! Dieser Welt?

Bevor er den Gedanken weiterverfolgen konnte, fuhr Jonas fort: „Wenn ich dir helfen soll, musst du mir gegenüber aber schon noch was rauslassen! Immerhin riskier’ ich meinen Job für dich! Ich mach mich doch nicht strafbar, wenn ich dir zur Flucht verhelfe?“

Ahir-Ran sah ihn verständnislos an.

„Strafbar?“, echote er. Was bedeutete das? Wieso sollte irgendjemand Jonas bestrafen? Und wofür?

„Ich meine: Nicht, dass wegen dir nachher die Polizei vor meiner Tür steht!“, präzisierte Jonas, ohne dass sich für seinen Gesprächspartner hierdurch irgendetwas klärte.

„Nein, nein. Keine Sorge!“, versuchte er Jonas dennoch zu beruhigen. Doch dessen Bedenken ließen sich nicht so leicht ausräumen.

„Du kannst dich auch einfach selbst und gegen ärztlichen Rat entlassen, weißt du. Das ist nicht verboten“, schlug Jonas vor.

„Dann lassen sie mich einfach so gehen? Auch ohne Klärung meiner Identität?“, zweifelte Ahir-Ran.

„Na ja. Du musst halt was unterschreiben …“ Jonas’ Stimme verklang im Raum.

Während ihres Gesprächs war ihm Jonas immer nähergekommen, sodass es für Ahir-Ran ein Leichtes war, nach dessen Händen, die auf seiner Decke lagen, zu greifen. Den Mächten des Schicksals sei Dank war es das jetzt wieder!

Die Berührung fühlte sich unerwartet gut an. Vielleicht aber genoss er es auch einfach nur, wieder Herr seines Körpers und seiner Empfindungen zu sein.

„Bitte!“, sagte er. „Bitte, hilf mir!“

Er hatte einstmals (wo?) gelernt, dass er die Macht seiner Fähigkeiten sparsam und nur, wenn es wirklich notwendig war, einsetzen sollte. Um eine Notlage handelte es hier zweifelsohne. Was jedoch die Dosis betraf– bei der muss er sich vertan haben. Als er in Jonas’ glasige Augen sah und dessen entrücktem „Ich tu alles für dich“-Statement lauschte, wurde ihm klar, dass es die Hälfte an Suggestion und Charme auch getan hätte.

„Das ist gut“, antwortete Ahir-Ran daher betont sachlich und rückte innerlich ein Stück von ihm ab.

„Ich verfüge über keine Kleidung“, fuhr er fort.

Jonas rieb sich die Augen. Sein verblüffter Gesichtsausdruck ließ ihn noch jünger wirken. Vermutlich dank seiner Profession, die schließlich fortwährend rasche Reaktionen in unvorhergesehenen Situationen erforderte, fing er sich jedoch erstaunlich schnell.

„Keine Kleidung?! Wie bist du denn dann eigentlich hierher …“, murmelte Jonas, bevor er sich selbst unterbrach. „Ach, vergiss es! Ich kann dir eine Hose und Kasack aus der Kleiderkammer besorgen. L, oder?“, bot der Pfleger dann an und musterte Ahir-Ran, der seinen Blick ratlos erwiderte. „Schuhe hast du wohl auch keine? Welche Schuhgröße hast du denn?“, zeigte Jonas sich pragmatisch. Wenn Ahir-Ran nur gewusst hätte, wovon er redete!

„Ich ... ich weiß es nicht“, gestand er und kam sich unendlich dumm vor. Jonas’ konsternierter Blick machte es nicht besser.

„O-kay“, sagte er gedehnt. „Eine große Auswahl gibt es eh nicht. In der Umkleide steht halt immer eine kleine Sammlung vergessener Schlappen. Aber – wenn du erlaubst?!“

Schon merkwürdig, dachte Ahir-Ran, dass er jetzt gefragt wurde, bevor der andere mit seiner freien Hand die verblasste Krankenhausdecke lupfte. Gestern und auch heute Morgen noch hatten die Ärzte und Pfleger an seinem Bett und ihm achtlos herumgerupft, ganz so, als existiere er als lebendiges, denkendes Wesen nicht. Als hätte allein der Gebrauch von Sprache ihn für Jonas nun wieder auf eine höhere Stufe gestellt!

„44, schätze ich“, befand der Pfleger nach Inspektion seiner Füße. „Okay. Ich flitz’ dann mal schnell runter. Und du … bleibst, wo du bist, ja?“

Machte Jonas sich etwa über ihn lustig? Egal, sein Lächeln und zumal sein fast freiwilliges Hilfsangebot waren so nett, dass er dies ruhig durfte.

Als er das Zimmer verließ und Ahir-Ran da erst bemerkte, dass sie bis dahin die ganze Zeit Händchen gehalten hatten, warf Jonas Ahir-Rans Mitpatienten einen prüfenden Blick zu. Beide Herren waren offenbar zu sehr mit sich und ihrem Leiden beschäftigt, um vom Geschehen an Ahir-Rans Bett Notiz zu nehmen. Ebenso glücklicherweise wie die Pflegekräfte der Station, von denen Jonas auf seinem Weg hinaus kein Lebenszeichen entdeckte.

Einige Minuten später war er wieder bei Ahir-Ran. Gerade rechtzeitig, um ihn dabei zu erwischen, wie er sich den venösen Zugang aus der rechten Ellenbeuge zog.

„Nicht doch!“, rief Jonas erschrocken und stürzte ans Patientenbett, ohne sich die Zeit zu nehmen, die Vorhänge von Neuem zu schließen. Mit nach einem weiteren Kontrollblick auf die anderen Zimmerbewohner gesenkter Stimme zischte er: „Was machst du denn da? Willst du verbluten?“

„Ach was! Das heilt“, antwortete Ahir-Ran und streckte Jonas seinen Arm hin. Er konnte es sich nicht verkneifen, zur Bekräftigung seiner Worte die Blutgerinnung und das Neuwachstum der Haut ein wenig zu beschleunigen. Vor den Augen beider Männer stoppte die Blutung und die kleine Wunde wuchs zu.

„Das …! Was …?!“, stammelte Jonas, starrte noch einen Moment fassungslos auf Ahir-Rans Arm und ihm dann ins Gesicht. „Wie hast du das gemacht?“, wollte er wissen.

Zufrieden registrierte Ahir-Ran Jonas’ Gefühle. Er spürte Verwirrung, Unglaube und Verwunderung, nicht jedoch Angst oder Schrecken.

„Magie!“, antwortete er grinsend und wusste dabei nicht, ob er dieses Wort aus Jonas’ oder seinem eigenen Hirn gepflückt hatte. So oder so schien es in Verbindung mit seinem launigen Gesichtsausdruck die richtige Erwiderung gewesen zu sein, um die entstandene Spannung zwischen ihnen aufzulösen.

„Klar!“, konterte Jonas spöttisch. „Den Trick musst du mir später auf jeden Fall mal zeigen!“ Im nächsten Moment wurde er ernst. „Ok, der Zugang ist also schon mal raus!“, konstatierte er und schaute, ganz in seine beruflichen Muster fallend, auf Ahir-Rans sich unter der Decke abzeichnende Silhouette. „Den Katheter hast du aber noch, oder?“, meinte er. Es war weniger eine Frage denn eine Feststellung.

Als die Hand seines Patienten unter die Decke fahren wollte, um auch diesen Fremdkörper selbst zu entfernen, legten Jonas’ Finger sich um sie.

„Nichts da!“, befahl er. „Der ist geblockt. Sich so ein Ding unentblockt selbst zu ziehen, tut verdammt weh. Das willst du nicht, glaub mir! Ich erledige das!“

„Aber …“ Zu seinem Entsetzen spürte Ahir-Ran, wie er errötete. Warum, wusste er selbst nicht so recht. Was er jedoch wusste – was auch immer das wert war! –, war, dass ihm dies zuletzt vor Monaten, wenn nicht Jahren, passiert war.

Dennoch befolgte er Jonas’ Forderung und wartete geduldig, dass er das notwendige Zubehör holte. Beschämt musste Ahir-Ran sich eingestehen, dass der angekündigte Schmerz ihn schreckte.

Feigling, raunte prompt die ihm mittlerweile vertraute innere Stimme verachtungsvoll.

„Keine Sorge!“, beruhigte ihn Jonas, als er wiederkam, die Vorhänge schloss und die Decke beiseite schlug. „Ich weiß, was ich tue. Ich mach das schließlich beruflich und täglich mehr als einmal!“

Ach ja? Die Gefühle, die Ahir-Ran von Jonas empfing, waren alles andere als professionell, sondern eine Mischung aus Aufregung, Begierde und Freude. Auch hatte Jonas’ Gesicht die Farbe eines reifen Apfels angenommen. Seine behandschuhten Hände zumindest waren ruhig, als sie sich dem Schlauch an Ahir-Rans bestem Stück näherten und begannen, dort herumzuhantieren. Ahir-Ran konzentrierte sich auf das Bündel blauer Kleidung, welches Jonas für ihn mitgebracht und auf dem Hocker neben seinem Bett abgelegt hatte. Er bemühte sich, an nichts zu denken. Nichts zu fühlen war jedoch unmöglich!

Ahir-Ran seufzte, erst vor unbehaglicher Überraschung, als der Schlauch durch sein Inneres schabte, dann vor Erleichterung, als er fort war.

„So, das bist du los!“, sagte Jonas mit deutlichem Vergnügen in seiner Stimme.

Endlich frei! Erlöst von allem, was in ihn gesteckt und ihn damit auf eine unbestimmte Art beschmutzt und erniedrigt hatte, über die er nicht weiter nachdenken wollte!

„Danke!“, sagte er voll überbordender Erleichterung und sah Jonas ins Gesicht. Erst an dessen Reaktion erkannte er, dass er nicht achtgegeben und vergessen hatte, die Sichtbarkeit seiner Emotionen herunterzuregulieren. Gut, dass wenigstens kein ausflippender Monitor mehr an mir hängt und das Ganze aufzeichnet, dachte er in einem Anflug von Galgenhumor, während Jonas ihn bewundernd anstarrte.

„Deine … deine Augen!“, hauchte er. „Sie leuchten!“

Ahir-Ran widerstand der Versuchung, den Pfleger auf suggestive Weise dazu zu bringen, das Gesehene sofort zu vergessen. Jonas, der ihm bis hierher schon so geholfen hatte und ihm gleich hoffentlich sein endgültiges Fortkommen ermöglichen würde, hatte es nicht verdient, ein weiteres Mal getäuscht zu werden.

Ahir-Ran blinzelte zweimal und fragte dann lächelnd: „Wieso? Was soll mit meinen Augen schon sein?“

Er wusste, dass sie jetzt wieder wie die eines jeden anderen aussahen.

„Aha. Dann habe ich mir das also nur eingebildet?“, spottete Jonas. „So wie wir alle gestern?“

„Vielleicht“, äußerte Ahir-Ran sich vage.

„Wie auch immer – ich bin gespannt auf deine Erklärungen“, meinte Jonas und deutete dann auf die Klamotten. „Wir sollten uns beeilen. Dass hier wie überall Personalmangel herrscht, heißt nicht, dass nie einer vorbeikommt – vor allem, wenn man’s gerade nicht braucht! Wie ist es – benötigst du Hilfe beim Umziehen?“

Allein die Frage war eine Unverschämtheit. Eigentlich. Uneigentlich konnte Jonas die Antwort seines weiterhin namenlosen, autonomiebedürftigen Patienten ganz gut erraten und fügte daher hinzu: „Ansonsten: Das Bad ist dort!“

Er wies auf eine den drei Patientenbetten gegenüberliegende Tür, die genauso schmucklos wie der Rest des Raumes war.

Das Bad. Obschon Ahir-Ran das Wort unbekannt war, vermutete er, dass dieses der Ort wäre, an dem er sich umziehen sollte. Oder vielmehr anziehen, denn das merkwürdige, sackige und an seinem Rücken offene Gewand, was er momentan anhatte, als Kleidung zu bezeichnen, wäre weitaus übertrieben!

Als er die große Schüssel sah, die wie das gesamte Interieur dieses Raumes mit einer weiß glänzenden Oberfläche überzogen war, begriff Ahir-Ran, dass jene zum sich erleichtern gedacht war. Er wusste, dass er das nicht nötig hatte. Nichts anderes als die Leerung seiner Blase war schließlich der Zweck des erst soeben entfernten Schläuchleins gewesen. Abgesehen davon konnte er dank seiner Fähigkeiten das Innere seines Körpers so deutlich visualisieren, als besäße er dort Augen, und somit den geringen Füllungszustand seiner Blase erkennen. Dennoch war es ihm ein Bedürfnis, mit dem Urinieren sein Innerstes auch von möglichen – vielleicht nur eingebildeten – Fremdpartikeln zu befreien.

Als er sich von dem kalten Sitz erhob, fiel sein Blick auf - sich selbst! Zwar kannte er das glatte, schimmernde Material nicht, mit dem die gesamte ihm gegenüberliegende Wand bedeckt war. Doch das Phänomen einer Spiegelung seines Abbildes beispielsweise in der Oberfläche von Seen war ihm nicht unbekannt. Dort, wo er herkam, benötigte man keine Spiegel. Schließlich konnten alle Angehörigen seines Volkes, und damit auch er sich selbst, auch ohne diese Hilfsmittel perfekt visualisieren.

Nur, dass ihn an diesem Tag der Anblick seines Ebenbilds doch überraschte! Die golden schimmernden Augen, seine gerade Nase, das ausdrucksstarke Kinn – all das war, wie er es erwartet und von innen heraus bereits genau so wahrgenommen hatte. Nun. Die nach hinten hin spitz zulaufenden Ohren musste er bei seiner inneren Musterung und beim Vergleich mit den hiesigen übersehen haben! Fassungslos fuhr er mit der Hand an die besagte Stelle und erfühlte mit den Fingern, was seine Augen sahen. Der feine, dicht unter der Haut liegende Knorpel hatte hier für ein Zusammenwachsen der Ohrmuschel gesorgt, die bei Jonas wie allen beobachteten Pflegern und Ärzten rund zu sein pflegte. Gut, dass seine anderen Absonderlichkeiten sie bislang davon abgelenkt hatten, diesem Detail seines Äußeren Beachtung zu schenken!