Traumtöten - S. Maria Eckert - E-Book

Traumtöten E-Book

S. Maria Eckert

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  • Herausgeber: Verlag Kern
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Marina findet ihren Freund Alexander blutüberströmt mit weit aufgerissenen Augen auf dem Wohnzimmerteppich – und ihr Leben gerät aus den Fugen. Sie landet nach einem Nervenzusammenbruch in der geschlossenen Psychiatrie. Es wird angenommen, dass sie sich selbst das Leben nehmen will. Marina ist wild entschlossen, den Mörder ihres Freundes zu finden. Doch sie ist eingesperrt und umgeben von den Mitpatienten, die sich aufgrund ihrer psychischen Störungen seltsam und unberechenbar verhalten. Welche Rolle spielt Marinas beste Freundin Liliana? Mysteriöse Ereignisse und anonyme Briefe versetzen auch sie in Panik. Und bald gerät auch ihr Leben in Gefahr…

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte bei der Autorin

1. Auflage, Oktober 2019

Autorin: S. Maria Eckert

Cover/Layout/Satz: Brigitte Winkler

Bildquelle Titelmotiv: © Adobe Stock | chainat

Lektorat: Dorothea von der Höh, Kevelaer

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

Sprache: deutsch

ISBN: 978-3-95716-316-5

ISBN E-Book: 978-3-95716-296-0

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

S. Maria Eckert

Traumtöten

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Über die Autorin

Kapitel 1

Die Bilder ihres toten Freundes, wie er so reglos, blutüberströmt, mit weit aufgerissenen Augen auf dem einst elfenbeinfarbenen Wohnzimmerteppich lag, drängten sich Marina unweigerlich auf. Sie verspürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Abwechselnd wurde ihr warm und kalt. Heiße Tränen tropften auf ihr DIN-A3-Papier, auf das sie einen sicheren Ort, ja eine Wohlfühloase malen sollte. So hatte es die Kunsttherapeutin verlangt. Doch einen sicheren Ort, an dem sie sich wohlfühlte, ohne Alexander? Das kann nicht sein. Marina war erst dreiundzwanzig Jahre alt, doch hatten sie und Alexander bereits vier Jahre zusammengewohnt. Am vierten Jahrestag war sie von der Arbeit nach Hause gekommen und seitdem schien ihre Welt jeden Tag etwas mehr in sich zusammenzufallen. Wo früher Farben, Musik und Freude waren, blieben Marina jetzt nur noch Graunuancen, Stille und Trauer. Genau das spiegelte sich auch auf ihrem Blatt Papier.

„Frau Maier? Frau Maier?“ Die Stimme der Kunsttherapeutin ließ Marinas Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt gleiten. „Können Sie mir etwas über Ihr Bild sagen?“

Marina sah auf ihr grau schattiertes Blatt. Schemenhaft hatte sie mit Kohle ein Haus angedeutet. Ihr Haus. „Ich, ich kann nicht.“ Ihre zitternde, schwache Stimme erstarb.

Marinas Mitpatienten, alle ebenfalls wegen ihrer eigenen Probleme mitgenommen, erzählten kurz etwas über ihr jeweiliges Gemälde, doch die trauernde junge Frau hörte sie nicht. Es war wie ein gedämpftes Gemurmel weit weg in der Ferne.

Zurück auf der Station schien der Lärmpegel sie zu erschlagen. Ein Autist, der die ganze Zeit lauthals schrie, war letzte Nacht eingeliefert worden. Seitdem lag er im Isolierungszimmer, vermutlich fixiert. Pfleger diskutierten mit Suchtpatienten, die eine höhere Medikamentendosis verlangten, da sie der Entzug so quälte. Und zu allem Überfluss lief Klara, eine schwergewichtige Frau um die sechzig, halb entblößt im Gang auf und ab. Sie schien mit ihren Stimmen zu reden. Seit vier Wochen befand sich Marina nun schon in der geschlossenen Psychiatrie. Sie fragte häufig nach einer Verlegung auf die offene Station, jedoch schienen ihr die Psychologin Frau Richter und die Oberärztin Frau Dorn noch nicht zu vertrauen. Sie befürchteten, dass sie sich etwas antun könnte.

Daheim hatte es die hübsche Rothaarige nach dem fürchterlichen Tod ihres Freundes nur zwei Monate ausgehalten, ehe sie nervlich zusammenbrach und die Nachbarn den Notarzt informierten. Sie gaben an, laute Schreie aus Frau Maiers Haus gehört zu haben. Doch daran konnte sich Marina nicht mehr erinnern. Sie wachte einfach im nächsten Albtraum auf. Bereits ein paar Tage später hatte sie eigentlich die Klinik verlassen wollen, doch hatte sie einen Gerichtsbeschluss wegen Eigengefährdung über vorläufig sechs Wochen bekommen. Eigengefährdung. Sie hielten die junge Deutsch-Russin für suizidal aufgrund ihrer Äußerungen, die sie bei der Einweisung von sich gegeben hatte. Damals hatte sie geschrien, dass alles keinen Sinn mehr machte und sie zu Alexander wollte. Wie sehr sie diese Sätze inzwischen bereute!

Im letzten Monat war mit Marina viel geschehen. Natürlich trauerte sie weiterhin um ihren verstorbenen Freund, doch hatte sie zwischendurch ein paar Stunden, in denen sie sich ablenken konnte und sich besser fühlte. Meistens hatte sie diese seltenen hellen Stunden mit Josy. Josy war eine Mitpatientin und aktuell wegen Alkoholabhängigkeit in der Klinik. Sie war jedoch therapiemotiviert und wollte unbedingt ein Leben ohne die flüssige Droge führen können. Sie hatte sich selbst eingewiesen, um Hilfe beim Entzug zu bekommen. Sie wäre schon längst auf die offene Suchtstation verlegt worden, wenn sie dort nicht aus früheren Alkoholexzessen zwei Patienten kennen würde. Dies hatte sie der Oberärztin Frau Dorn anvertraut, und diese hatte gesagt, dass es wohl besser wäre, sie würde den Entzug auf der geschlossenen Station durchziehen. Wenn man ernsthaft versuchte, von Drogen und Alkohol wegzukommen, war es eine allgemeine Regel, dass man versuchen sollte, sich von den alten noch konsumierenden Freunden abzukapseln. Inzwischen war Josy zu einer Freundin geworden, mit der der Klinikalltag weitaus erträglicher war.

„Frau Maier, bitte ins Stationszimmer!“ Die Durchsage übertönte sämtliche Gespräche auf der Station und Marina machte sich auf den Weg. Geschickt wich sie Klara aus, die versucht hatte, sie im Vorbeigehen anzufassen.

Als sie sah, wer da vor dem Stationszimmer stand, zeigte sich auf Marinas Gesicht das erste Lächeln, seit sie mit Josy vorgestern Karten gespielt hatte.

„Marina!“ Liliana umarmte ihre Freundin fest und schien sie kaum mehr loslassen zu wollen.

„Lilly, danke, dass du da bist.“ Dankbar hielt Marina die Hand ihrer besten Freundin.

„Können wir nach draußen gehen?“ Liliana sah die Krankenschwester fragend an.

„Sie müssen mir ein Formular unterschreiben, dass Sie die Aufsicht übernehmen, und bitte kommen Sie nach einer Stunde wieder. Wenn dies nicht der Fall ist, müssen wir die Polizei informieren.“

„Ganz schön streng hier“, sagte die Besucherin und unterschrieb.

Schwester Tina schloss ihnen die Tür auf und die beiden Freundinnen gingen eilig hinaus. Es war ein wunderschöner Sommertag und eine leichte Brise strich Marina durchs Haar. Sie schloss die Augen und atmete tief durch.

„Wie lange wirst du noch hier drinbleiben müssen?“ Lilianas Stimme hatte einen besorgten Unterton.

„Ich weiß es nicht. Übermorgen ist Oberarztvisite, vielleicht erfahre ich da mehr. Es kommt drauf an, ob sie den Richter noch mal um eine Verlängerung der vorläufigen Unterbringung bitten oder mich für nicht mehr suizidal halten“, sagte Marina mit einer dramatischen Geste.

Die beiden schlenderten durch den gut gepflegten Garten. Hier und da sah man Patienten, die Besuch von Angehörigen hatten. Einige lagen sich weinend in den Armen, andere lachten unbeschwert. Liliana brannte es unter den Nägeln, ihre beste Freundin zu fragen, ob sie Neuigkeiten von der Polizei gehört hatte. Der Mord an Alexander wurde weiterhin untersucht. Auch sie war durch den Tod dieses Mannes erschüttert gewesen. Ihr hatte viel an ihm gelegen. Zu viel.

„Wollen wir uns auf die Bank da drüben setzen?“ Marina deutete auf eine einsam gelegene Bank im Schatten.

„Gern.“

„Gibt’s sonst was Neues?“ Liliana versuchte, diese Frage in einem so beiläufigen Ton wie nur möglich zu stellen. Sie betrachtete ihre Freundin. Marina schien ins Leere zu schauen. Dann sah sie ihr direkt in die Augen.

„Nein. Da wir nicht verheiratet waren, sagt mir kaum jemand was. Die kommen nur, um mir Fragen zu stellen. Allerdings habe ich gestern mit Alexanders Mutter telefoniert, und sie meinte, dass es noch keine entscheidenden Hinweise gibt, nur das bereits Bekannte. Er wurde in unserem Haus mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen.“ Marinas Kehle schnürte sich zu und ihre Stimme erstarb augenblicklich. Tränen rollten ihr wie so oft über das blasse Gesicht. Liliana legte einen Arm um ihre Freundin und versuchte, sie zu beruhigen. Auch ihre Augen waren glasig. Viel mehr sprachen die beiden nicht miteinander.

Als die Stunde fast um war, gingen sie gemeinsam zurück zur Station. Bei ihrer Ankunft durchsuchte Schwester Tina Marinas Hosen- und Jackentaschen. Offenbar wurden in letzter Zeit vermehrt Drogen auf die Station geschmuggelt.

„Mach’s gut, meine Süße.“ Liliana gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange.

Marina seufzte schwer. Sie war nun wieder allein. Allein unter Fremden. Allein unter fremden psychisch Kranken. Zumindest so lange, bis Josy von der A-Gruppe zurückkam.

Marina ging in den Speisesaal und konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, denn der Autist war nicht mehr im Isolierungszimmer, sondern saß am Tisch und warf mit einem Nutellabrötchen nach ihr.

„Jens!“, rief Schwester Tina und kam eilig herbei.

Marina schüttelte den Kopf und holte sich eine Tasse Kaffee.

„Was für eine Scheiße hier drin, he?“ Josy stand grinsend hinter Marina und wich nun einer leeren Tasse aus, die quer durch den Raum geworfen wurde. „Ich finde es hier gemeingefährlich“, verkündete die Alkoholikerin sarkastisch. „Lass mal in den Raucherraum gehen, ja?“

Marina zögerte nicht und schloss sich Josy an. Im Raucherraum war es tatsächlich neblig, da die Fenster sich nur einen Spalt öffnen ließen, zum einen wegen Flucht-, zum anderen wegen Suizidgefahr. Marina und Josy zündeten sich eine Zigarette an und schlossen sich Maik und Björn beim Kartenspielen an.

„Taschenjeld raus, mene Damen!“, verkündete der euphorische Björn. Das war das Höchste an Niveau, das Marina hier an Ablenkung übrig blieb. Seufzend nahm sie die ihr zugeteilten Karten auf die Hand, die mächtig versifft aussahen und sich auch so anfühlten. Jede einzelne Karte klebte. Es war widerlich. Und so stieg die Deutsch-Russin nach drei Runden Bierkopf aus. Die anderen drei spielten weiter, sie wirkten wie ein kleiner Stammtisch in der Dorfkneipe, dachte Marina. Sie atmete tief ein und schien praktisch zu spüren, wie sich das Nikotin in diesem Raum auf ihre Lungen legte.

„Ich leg mich hin, Josy.“ Mit diesen Worten ging Marina den Gang entlang, ignorierte Klara, die nun endlich ein T-Shirt über ihrem üppigen Busen trug, und öffnete die Tür zu Zimmer 015. Es war ein kleines und eines von den älteren Patientenzimmern. So hatte es kein eigenes Bad, sondern teilte sich eins mit dem Nachbarzimmer 016. Marina bewohnte momentan ein Zwei-Bett-Zimmer mit Klarissa, einer jungen Borderlinerin. Diese hielt sich jedoch permanent vor dem Stationszimmer auf und wartete, dass Pfleger Max zum Spätdienst erschien. Klarissa hatte mehr als nur ein Auge auf den jungen, muskulösen Pfleger geworfen.

Marina legte sich ins Bett und zog sich die Decke bis zum Kinn. Sie starrte minutenlang ins Leere und dann spürte sie plötzlich Wut in sich aufsteigen. Eine unglaubliche Wut. Jeder Muskel ihres Körpers schien sich anzuspannen. Ihre Finger taten weh, so sehr ballte sie die Fäuste. Das Gefühl der Wut übermannte sie und schien Besitz von ihr zu ergreifen. Wer auch immer Alexander umgebracht hatte, er würde es bereuen. „Ich werde dich finden und töten“, flüsterte Marina mit fester, entschlossener Stimme.

Sieben Monate vorher

„Liliana, meine Schönheit, gib mir noch einen Kuss.“ Alexander flüsterte diese Worte in ihr Ohr, während seine Hände sie unter ihrem T-Shirt streichelten. Sie tat wie geheißen. Sie hatte ihm noch nie widerstehen können. Bereits seit einem halben Jahr trafen sie sich regelmäßig mehrmals die Woche. Es gab Zeiten, da schien sie ihr schlechtes Gewissen Marina gegenüber gar zu zerreißen, doch die Stunden mit Alexander waren es wert. Er hatte Marina erzählt, dass er in seinem Verein Tischtennis spielen würde. Da er dies auch hin und wieder tat und seine langjährige Freundin ab und zu mitnahm, schien diese keinen Verdacht zu schöpfen. Liliana hatte inzwischen nichts mehr an, nachdem sie all ihre Kleidung mit reizvollen Bewegungen ausgezogen hatte, und genoss nun alles, was Alexander mit ihr tat. Sie genoss es, um genau zu sein, dreimal die Woche. Er lag jetzt über ihr und legte seine Hände um ihren schmalen Hals. Sie bekam weniger Luft. Erregung durchfuhr Lilianas Körper, und sie spürte, wie sie sich ihm hingab. Als wäre sie pures Wachs in seinen muskulösen Händen. Sie versank in Alexanders grünen Augen, fasste mit ihren Händen an seine Oberarme und vergaß alles um sich herum.

Als Liliana am nächsten Morgen in Alexanders Armen erwachte, hatte sie wie üblich zwiespältige Gefühle. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah Alexander an. Er schien sie im Schlaf beobachtet zu haben. Nachdenklich blickte sie in seine grünen Augen. Sie liebte diesen Mann abgöttisch und wollte ihn für sich allein. Der Gedanke, dass er mit ihrer besten Freundin schlief, widerte sie an und die Eifersucht brannte nun wieder wie ein Feuer in ihr. Wie hatte sie gestern noch annehmen können, dass der ganze emotionale Stress, die Eifersucht und das schlechte Gewissen dreimal Sex und Gesellschaft mit Alexander die Woche wert sein konnten? Aber so lief es jedes Mal. Seit so langer Zeit. Fast als wäre sie in einer emotionalen Zeitschleife gefangen, doch sie war nicht fähig, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, obwohl sie eigentlich eine selbstbewusste und mutige junge Frau war. Aber bei Alexander schien alles anders.

„Ich liebe dich.“ Alexander sagte diese drei Worte und sie klangen ehrlich.

„Liebst du Marina nicht?“ Die Worte huschten so schnell über Lilianas Lippen, als hätten sie nur darauf gewartet, dass sie den Mund aufmachte.

Der blonde Mann blickte überrascht auf. „Nein, das tue ich nicht … Nicht mehr. Sie … Sie hat sich verändert.“

Liliana zog die Augenbrauen hoch und sah ihren Liebsten fragend an.

„Du siehst sie nur einmal in der Woche und dann auch nur für zwei bis drei Stunden. Ich habe sie jeden Tag daheim, und glaub mir, irgendetwas stimmt nicht mit ihr“, rechtfertigte Alexander sich.

Das hörte Liliana zum ersten Mal und es überraschte sie, jedoch machte es sie auch wütend. Sie hatte noch nicht feststellen können, dass etwas mit ihrer besten Freundin nicht stimmen könnte. Es klang irgendwie nach einer sehr schlechten Ausrede. „Wieso verlässt du sie dann nicht?“, fragte sie misstrauisch.

Alexander schwieg. Die Frage schien ihm deutlich unangenehm.

„Das wäre doch die logische Erklärung, oder etwa nicht? Man liebt jemanden nicht mehr, also verlässt man diese Person!“, wetterte Liliana los.

„Bitte, können wir das Thema …“

„Nein!“ Die hübsche Brünette stand inzwischen neben dem Bett, die Hände zu Fäusten geballt. „Sag mir die Wahrheit! Seit Wochen weichst du dieser Frage aus! Du sagst, du liebst mich? Dann beweise es und sei ehrlich zu mir! Ich kann nicht ewig so weitermachen, das zerreißt mich innerlich. Wieso kannst du Marina nicht verlassen?“

Alexander schwieg, und es schien, als würde er Löcher in die Luft starren. Es war fast, als wäre die Zeit stehen geblieben, als hätte er sie nicht wahrgenommen. Nach einer langen Pause, in der Liliana wütend auf Alexander herabblickte, schaute er ihr ins Gesicht, und mit leiser, kaum vernehmbarer Stimme sagte er: „Ich habe Angst vor Marina.“

Kapitel 2

Der Besuch war Liliana schwergefallen. Sie saß im Bus und schaute durch das Fenster, doch sie konnte die vorbeifließende Landschaft kaum wahrnehmen, da sie so in Gedanken versunken war. Sie konnte sich Marina gegenüber nicht anmerken lassen, dass sie selbst in tiefster Trauer um Alexander war. Egal, was war, sie musste nun für ihre Freundin, die in der Psychiatrie festsaß, da sein. Komme, was wolle. Marina hatte so schlecht und blass ausgesehen. Ein kalter Schauer lief der Geliebten über den Rücken bei dem Gedanken an die Mitpatienten, die sie auf der Station gesehen hatte.

Als der Bus beim Friedhof hielt, stieg die junge Frau aus. Sie musste nicht suchen. Sie kannte den Weg zu ihrem geliebten Freund. Sie besuchte Alexander meist zweimal die Woche und goss die Blumen auf seinem Grab. Meist saß sie stundenlang vor dem Grabstein, weinte und erzählte dem Mann, den sie so sehnlichst vermisste, was es Neues gab und wie groß ihr Schmerz darüber war, dass sie ihn verloren hatte. Doch diesmal war es anders. Sie saß da und betrachtete den hellen marmorierten Grabstein. Er stach richtig aus der Menge heraus, die meisten anderen in der näheren Umgebung waren dunkel, teilweise ungepflegt, von der Witterung gegerbt. Sie las den dunklen eingemeißelten Schriftzug immer und immer wieder. Alexanders Name, in schöner verschnörkelter Schrift, brannte sich in Lilianas Netzhaut. Wer sollte Alexander umbringen und wieso? Hatte er ein Geheimnis? Ja natürlich, sie selbst war sein Geheimnis gewesen. Marina hatte jedoch nie von der Affäre erfahren, also konnte es ja wohl nichts mit ihr zu tun haben. Liliana fasste einen Entschluss. Sie konnte ihre Zeit nicht weiterhin damit vergeuden, an diesem Grabstein zu sitzen und zu weinen. Es war drei Monate her und sie musste sich langsam auf ihre neue Realität einstellen. Eine Realität ohne Sex mit dem Freund der besten Freundin. Eine Realität ohne Alexander, auch wenn dies schmerzte. Aber sie musste sich damit auseinandersetzen, um weiterzukommen. Liliana konnte nicht so enden wie Marina und am Ende auch noch eingewiesen werden. Sie durfte nicht weiter verdrängen und es nicht wahrhaben wollen. Keine Anrufe mehr auf Alexanders Handy, um seine Stimme auf dem Anrufbeantworter zu hören, keine Spaziergänge mehr zu ihrem Lieblingsplatz im Park. Es war nun wirklich an der Zeit, stark zu sein und sich zusammenzureißen. Es war, als ob Liliana plötzlich nach Wochen wieder klar sehen und denken konnte. Sie musste aufhören, sich selbst leidzutun, und ihr Möglichstes geben, um weiterzuleben.

„Was hast du mir verschwiegen, Alex?“, murmelte die nachdenkliche Liliana. Fest entschlossen, mehr über seinen Tod herauszufinden, um besser abschließen zu können, stand sie auf und blinzelte die letzten Tränen weg, die den Namen auf dem Grabstein verschwimmen ließen. Liliana klopfte sich die Erde von den Knien und stand auf.

Auf dem Weg zum Ausgang, vorbei an vielen bepflanzten Gräbern, fielen ihr zwei Männer auf, die zwei Reihen weiter hinten gestanden und sie offenbar beobachtet hatten. Rasch ging sie weiter bis zum quietschenden Tor, bevor sie sich noch einmal umdrehte. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass ihr Blicke folgten, und mit diesem Gefühl lag sie nicht falsch. Die beiden Männer, der eine groß und offenbar sehr sportlich gebaut und der zweite etwas kleiner mit auffallend hellem Haar, starrten zu ihr herüber. Ihre Blicke waren schwer zu deuten. Sah sie in ihren Augen Argwohn und Misstrauen? Liliana holte tief Luft, drückte die Klinke des quietschenden Tores herunter und drehte sich um.

Sie ging schnellen Schrittes zur menschenleeren Bushaltestelle. Wo vorhin noch Trauer und Schuldgefühle waren, empfand die hübsche Brünette nun etwas ganz anderes. Neugier und Unbehagen. Weshalb hatten die Männer sie beobachtet? Kannten sie Alex oder waren sie nur durch Zufall dort gewesen? Oder wurde sie nun paranoid? Ihre Buslinie kam. Sie stieg in den alten Bus. Es roch unangenehm muffig und die meisten Sitze waren verkrümelt. Sie setzte sich an ein Fenster, auf einen halbwegs sauberen Sitz, und überlegte fieberhaft. Liliana konnte sich das mit den Männern nicht eingebildet haben. Ob sie Alexander kannten? Oder war das jetzt alles absurd? Mit viel Mühe verscheuchte sie den Gedanken wegen der beiden Beobachter und dachte wieder an das, was Alex ihr möglicherweise verheimlicht haben könnte. Schließlich wird doch kaum jemand grundlos erschlagen. Aber selbst wenn er noch ein Geheimnis hatte, wo sollte sie anfangen?

„Marina kennt offensichtlich nur die Todesursache, aber von wem kann ich Informationen bekommen?“ Ihre Lippen bewegten sich kaum hörbar. Dinge auszusprechen, und sei es noch so leise, half Liliana stets, sich zu konzentrieren. Andererseits war es nun wirklich dumm, selbst herumzuschnüffeln, wenn die Polizei doch an dem Fall dran war. So überlegte Liliana hin und her, bis sie das Gefühl hatte, ihr Kopf rauchte.

Draußen wurde es nun dunkler, die Sonne würde bald untergehen. Noch drei Stationen. Die junge Frau kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Brillenetui, um ihre Sonnenbrille zu verstauen. Sie ertastete etwas Kühles und zog einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche. Das waren nicht ihre Schlüssel, sondern die von Marina und Alexander. Ihre beste Freundin hatte sie ihr überlassen, als sie eingeliefert worden war. Liliana sollte nach den Blumen sehen. Bisher hatte es Lilly einfach nicht über sich gebracht, das Haus zu betreten. Nicht das Haus, mit dem sie so schöne und intensive Erinnerungen verknüpfte. Sie wollte einfach neue Blumen kaufen. Andererseits musste sie irgendwann aus ihrer Komfortzone ausbrechen. Liliana saß da und schloss ihre Finger fest um die Schlüssel. Sie spürte leichten Schmerz in der Hand, als die Zacken der Schlüssel sich immer mehr in ihre Haut bohrten. Liliana schüttelte entschlossen den Kopf. Heute würde sie endlich mutig sein. Heute würde sie nach den Blumen sehen und ihre Angst, das Haus zu betreten, besiegen. Vielleicht fand sie ja sogar etwas in dem Haus, das ihr helfen würde herauszufinden, wieso das alles geschehen war. Große Hoffnungen machte sie sich nicht, denn die Polizei hatte bereits alles durchsucht. Aber irgendwas musste sie tun, außerdem war sie schon immer eine Hobbyschnüfflerin gewesen. Schon als Kind wollte sie Detektivin werden oder Agentin. Letztendlich hatte sie es dann zur Buchhalterin gebracht. Liliana arbeitete in einer kleinen Gemeinde als Kassenverwalterin.

Die junge Frau stieg nicht bei der dritten Station aus, sondern bei der siebten. Diese Gegend war recht schön, es gab einen Park und einen großen Spielplatz. An den Straßen entlang standen viele Häuser, einige renoviert und recht groß, andere klein und etwas älter wirkend. Wenige Gehminuten lagen zwischen ihr und dem Haus Nummer acht der Geranienstraße. Sie lief schnellen Schrittes, vorbei an spielenden Kindern in Vorgärten, und spürte ihr Herz in ihrer Brust laut klopfen. Sie war nervös.

Als sie um die Ecke der Geranienstraße bog, sah sie das kleine weiße Haus und ihre Herzfrequenz erhöhte sich nochmals. Sie war nicht mehr glücklich in diesem Haus gewesen, seit Marina zu einem Seminar gefahren war und Liliana sich mit Alexander im Wohnzimmer vergnügt hatte. Drei Tage am Stück. Nachdem Alex gestorben war, war Lilly die ersten Wochen Dauergast bei Marina gewesen. Anschließend hatte diese allein versuchen wollen, im Haus zurechtzukommen, hatte sich komplett abgeschottet und niemanden hereingelassen, bis schließlich die Polizei die Tür aufbrechen musste, um den Notarzt hineinlassen zu können. Es waren furchtbare Wochen bei Marina gewesen, denn Liliana hatte sich vorwiegend um ihre Freundin kümmern müssen, obwohl ihr Herz auch vor Trauer zu zerbrechen drohte.

Die Hobbydetektivin schüttelte ihr langes glattes Haar zurück und kam mit den Gedanken im Hier und Jetzt an. Sie stand jetzt am Fuß der kleinen Treppe und sah auf die Eingangstür. Sie war erneuert worden. Liliana stieg die vier Stufen zum Hauseingang hoch und sah sich instinktiv um. Niemand war zu sehen, die Fenster des Hauses waren dunkel und man konnte nichts hören.

Liliana drehte den Schlüssel zweimal im Schloss und vernahm das Klicken. Im Flur kam ihr der vertraute Geruch entgegen. Irgendwie hatte jeder Mensch seinen eigenen Geruch in der Wohnung, fand Liliana. So war es bei Alexander und Marina auch. Vor dem Vorfall war sie oft zu Besuch hier gewesen und nicht nur, um mit Alex zu schlafen. Nein, sie und Marina hatten gern Filme geschaut und zusammen gekocht. Mädelskram eben. Lilly blieb einen Moment still stehen, hielt inne und lauschte in das leere, dunkle Haus hinein. Dann gab sie sich einen Ruck und knipste das Licht an, sie legte ihre Tasche weg und zog die Schuhe aus.

Ihr erster Weg führte sie eine Etage höher in Alexanders Arbeitszimmer. Die Tür stand offen. Es sah so ordentlich wie immer aus. Marina musste gut aufgeräumt haben, nachdem die Polizei alles auf den Kopf gestellt hatte. Doch genau in diesem Punkt täuschte sich die Hobbydetektivin. Sämtliche Unterlagen und Ordner sowie wichtige Dokumente hatte das Paar in einem großen weißen Schrank hier aufbewahrt. Liliana fasste sich ein Herz und öffnete genau diesen Schrank. Prompt fielen ihr drei Ordner und ein Haufen Papiere entgegen. Sie blinzelte die Tränen weg, während sie ihren schmerzenden Zeh rieb. In den Ordnern waren Rechnungen, Papiere von der Telefongesellschaft und der Autoversicherung. Also nichts Ungewöhnliches. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Was hatte sie gehofft, hier zu finden?

Lilianas Blick wanderte durch den Raum und blieb an Alexanders Regalen an der Wand hängen. Dort stand ein dickes Buch, es sah aus wie ein Fotoalbum. Und tatsächlich, als Lilly es durchblätterte, waren dort Fotos aus Alexanders Kindheit eingeklebt. Sie blätterte ins hintere Drittel. Da waren Bilder von Alexander und Marina in Paris, von den beiden in London und von den beiden an der Ostsee. „Ich könnte kotzen“, murmelte die Hobbydetektivin. Dann folgten mehrere Seiten mit Alex’ Kumpels. Manche kannte Liliana von Geburtstagsfeiern, manche nicht. An einem Foto blieb ihr Blick hängen. Es zeigte fünf junge Männer. Sie standen um eine Tischtennisplatte herum. Alex lachte glücklich in die Kamera. Doch nicht seinetwegen starrte Liliana das Foto an, sondern wegen zwei Männern, die links von ihrem Geliebten standen. Einer von ihnen war kleiner als alle anderen und hatte sehr helles Haar und der andere schien groß und besonders athletisch. Das waren die beiden vom Friedhof. Also wurde sie doch nicht paranoid und anscheinend waren dies Leute aus seinem Tischtennisverein, den er sehr vernachlässigt hatte, woran Liliana nicht ganz unschuldig war. Aber wieso waren die beiden nicht zu seinem Grab gekommen, sondern zwei Reihen dahinter stehen geblieben? Lilly empfand diesen beiden Männern gegenüber höchstes Misstrauen und beschloss, bei den nächsten Friedhofsbesuchen die Augen offen zu halten. Sie stopfte die Ordner und Papiere wieder in den weißen Schrank und stellte das Fotoalbum zurück ins Regal.

Schuldbewusst sah sie sich die verdorrten Blumen auf der Fensterbank an. Sie war keine Expertin, aber nur ein bisschen Wasser würde da wohl nichts mehr bewirken. Liliana beschloss, dass sie keine Lust hatte, heute Abend die verdorrten Blumen aus den Töpfen zu befreien und wegzuwerfen. Ein anderes Mal. Das Foto lang ihr immer noch in der Magengrube. Egal, was es mit den beiden Männern auf sich hatte, sie hatten sich komisch verhalten. Liliana schlenderte durch das Haus und goss die Pflanzen, die noch nicht braun und vertrocknet aussahen. Sie setzte sich aufs Sofa im modern eingerichteten Wohnzimmer, doch sie hielt es nicht lange aus. Sämtliche Gespräche und Intimitäten mit Alex tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Es war Zeit zu gehen. Von Gefühlen übermannt zu werden und zu Hause zu sitzen, war in Ordnung, aber es war nicht okay, dabei auf der entweihten Couch der besten Freundin zu sitzen. Liliana zog sich ihre weißen Adidas Superstars an, schaltete das Licht aus und schloss die Haustür von außen ab. Den Schlüsselbund ließ sie in ihre Handtasche gleiten, ehe sie zurück zur Bushaltestelle lief.

Kapitel 3

„Was liegst du nur im Bett rum, Marina? Komm lieber mit und sieh dir die Show an, wie Klarissa versucht, den Pfleger zu beeindrucken!“, sagte Josy amüsiert.

„Ich will meine Ruhe, Josy.“ Marina drehte sich von ihr weg. „Nein, du willst dich in deinem eigenen Leid baden. Steh auf und komm mit. Sei kein Waschlappen.“

Josy besaß die Sensibilität und Feinfühligkeit eines Vorschlaghammers. Trotz allem hatte Marina sie gern, denn ein verbaler Tritt in den Hintern schien ihr ab und an ganz gutzutun.

„Marina, du wirst nie entlassen, wenn du nur rumliegst.“

Das war ein schlagendes Argument, dachte Marina und warf die Bettdecke zurück. Sie schlüpfte in ihre flauschigen blauen Hausschuhe und streckte sich. „Trägt sie wieder bauchfrei?“, fragte sie.

„Jep!“, grinste Josy und ging voran aus dem Zimmer. Marina schlurfte hinterher und strich sich mit den Händen die Frisur zurecht.

Und es war tatsächlich eine Show, Josy hatte nicht übertrieben. Die blond gelockte Klarissa stand in Hotpants und mit einem bauchfreien roten Oberteil im Türrahmen des Stationszimmers. Lässig lehnte sie im Rahmen und ihr Nabelpiercing kam dabei besonders gut zur Geltung.

„Hey, Max? Du gehst viel trainieren, oder? Ich bin auch ziemlich gut, was Sport angeht“, flirtete Klarissa los.

„Jaha! Matratzensport!“, schrie Josy laut über den Gang.

Klarissa warf ihr einen vernichtenden Blick zu und zeigte ihr den knallpink lackierten Mittelfinger.

„Kommt mal runter, meine Damen“, meldete sich der errötete Pfleger Max zu Wort.

Marina zog Josy mit sich in den vollen Raucherraum. Es war ekelhaft, als würde man durch eine Nikotinwand laufen. Marina hatte hier in der Klinik das Rauchen angefangen. Aus Langeweile. Tatsächlich rauchten hier sehr viele Patienten aus Langeweile, weil es nicht sonderlich viele Therapieangebote auf der geschlossenen Station gab.

Die beiden Freundinnen setzten sich in eine Ecke an einen noch freien kleinen Tisch. Hier drin war der Lärmpegel wieder enorm. Björn und Maik stritten sich laut, wer von beiden den jeweils anderen beim Spielen beschissen hätte. Von den zehn weiteren Mitpatienten kannte Marina die Namen nicht, da sie kaum mit jemandem sprach, außer mit Josy, und andere Leute mied. Sie hatte keine Lust, irgendjemandem zu erzählen, warum sie hier war und wie es ihr geht.

„Was geht’n in deinem hübschen Köpfchen vor, Marinaherzchen?“, flötete Josy grinsend.

„Josy, hast du schon mal daran gedacht, jemanden umzubringen?“

Überrascht zog Josy die Brauen hoch. Nach einer kleinen Pause sagte sie: „Na ja, meinen Ex hätte ich vielleicht erledigen sollen, oder am besten diese Schlampe, die mit ihm geschlafen hat.“

Marina sah sich im Raum um. Hoffentlich bekam Josy keinen schlechten Eindruck von ihr. „Versteh mich nicht falsch, aber ein Mensch, der jemand anderem das Leben nimmt, verdient es doch gar nicht, selbst weiterzuleben“, erklärte sie.

„Du willst für den Tod an deinem Freund also Rache nehmen? Erzähl das bloß nicht der Psychologin.“

„Hatte ich nicht vor, vielen Dank für den Hinweis“, sagte Marina ärgerlich.

„Schau mal, Süße, du sitzt hier drin fest, die Polizei, unser Freund und Helfer, untersucht doch den Mord, oder? Die werden das Arschloch bestimmt finden, und dann ist alles gut“, schloss Josy.

Marina fühlte sich missverstanden. Nichts wäre dann gut. Der Mörder würde ins Gefängnis wandern und dort zu essen bekommen und Karten spielen. Und nach einigen Jahren würde er rauskommen und sein Leben normal weiterleben können. Alexander konnte sein Leben nicht normal weiterleben, und auch sie selbst nicht. Aber Josy hatte recht, von hier drin aus konnte sie nichts machen.

Den restlichen Abend verbrachte Marina damit, Klara und dem Autisten Jens aus dem Weg zu gehen. Die Station war wie ein L aufgebaut, so gab es zwei Gänge mit Patientenzimmern, auf einem der Gänge lagen zusätzlich das Stationszimmer und daneben das Isolierungszimmer. Wenn man um die Ecke bog, konnte man neben weiteren Patientenzimmern den Raucherraum und weiter hinten unter anderem Zimmer 015 finden. Klara lief in diesem L immer auf und ab, so begegnete Marina der verwirrten Mitpatientin öfter. An Jens musste man vorbei, wenn man in den Speisesaal wollte, der gegenüber vom Stationszimmer lag. Dort malte er Mandalas aus, wenn er nicht gerade mit Tassen und Brötchen um sich warf.

Es wurde spät, und während Josy mit Björn und Maik noch Karten spielen wollte, beschloss Marina, dass es an der Zeit war, zu Bett zu gehen. Hier war sie momentan am liebsten. Wenn sie sich die Bettdecke über den Kopf ziehen konnte, hatte sie noch am ehesten das Gefühl von Geborgenheit. Außerdem fühlte sie sich einfach nur kraftlos und es kostete ihre ganze Antriebskraft, überhaupt aufzustehen.

Marina schlief in dieser Nacht sehr unruhig. Sie bügelte gerade Wäsche, als es an der Haustür klingelte. Eine schöne Frau mit braunen Haaren trat herein. „Ich bügle gerade, komm mit ins Wohnzimmer!“ Marina schwang wieder das Bügeleisen und ließ den Gast auf der roten Couch Platz nehmen. „Ich habe dir etwas zu sagen“, die Stimme der Brünetten klang recht ernst. „Ich habe Alexander getötet.“ Wie in Zeitlupe drehte sich Marina zu der Fremden. Diese stand auf und lachte, lachte immer lauter. Marina umschloss den Griff des Bügeleisens fester, es war, als würde sich ein roter Schleier über ihre Augen legen. Sie trat näher an die Fremde heran und schlug mit dem Bügeleisen auf deren Kopf ein. Nach dem zweiten Schlag lag die brünette Frau blutend und flehend am Boden. Doch Marina setzte sich auf den Bauch der Fremden und schlug immer weiter auf deren Kopf ein, so lange, bis sie verstummte und sich nicht mehr bewegte. So lange, bis sich eine Blutlache um den Kopf der Frau gebildet hatte. Lächelnd stand Marina auf und sah auf das entstellte Gesicht von Liliana herab.

„Und das hast du wirklich geträumt?“, Josy wirkte äußerst bestürzt und hatte sich zuvor an ihrem Frühstück verschluckt. „Pssst!“ Marina legte ihren Zeigefinger auf die Lippen und erinnerte ihre Freundin daran, dass sie nicht allein im Speisesaal saßen.

„Schon gut! Aber mal ehrlich, allein wegen deinem Traum solltest du hierbleiben.“ Jetzt grinste Josy. Sie konnte so schnell nichts aus der Fassung bringen, mal abgesehen von Alkohol.

„Denkst du, dass mir mein Unterbewusstsein damit etwas sagen will oder dass ich durchdrehe, Josy?“

„Wohl eher das Zweite“, schmatzte ihre Mitpatientin. „Liliana ist deine beste Freundin, sagtest du? Dafür war sie noch nicht oft hier, oder? Na ja, wenn sie nicht mit deinem Typ geschlafen hat oder sonst was, hat sie ja wohl keinen Grund, ihn umzubringen, oder? Also komm runter.“ Freundlicherweise hatte Josy ihren Bissen heruntergeschluckt, bevor sie Marina belehrte.

„Sag so was nicht! Das hätte Liliana und vor allem Alex nie getan! Er hat mich geliebt. Und tut es immer noch, egal, wo er jetzt ist!“, zischte Marina.

„Ist ja gut, du Verrückte! Kümmer dich heute lieber mal drum, dass du wenigstens einen Dreierausgang bekommst, dann können wir zusammen rausgehen.“

Die verschiedenen Ausgangsregelungen hatten Marina zu Beginn sehr verwirrt. Der Einzelausgang war der begehrteste, denn dann durfte man allein für eine bestimmte Zeit auf dem Klinikgelände herumspazieren. Zweier- und Dreierausgang waren die Abstufungen. Dabei mussten sich zwei oder eben drei Patienten zusammenfinden, um gemeinsam rauszugehen. Bisher hatte Marina nur Gartengang, also keinen Ausgang, sie durfte nur mit der Gruppe und dem Personal in den umzäunten Garten gehen. Einerseits war der Gartengang eine Erleichterung. Marina konnte sich endlich an der frischen Luft bewegen, andererseits fühlte man sich durch die hohen Zäune noch eingesperrter. Wie ein Tier im Zwinger.

In einem längeren Psychologengespräch an diesem Vormittag versuchte Frau Richter abzuklären, ob Marina momentan suizidal war. Wahrheitsgemäß konnte Marina all dies verneinen. „Alexander hätte nicht gewollt, dass ich mir etwas antue.“ Sie schlossen einen Non-Suizid-Pakt. Dabei musste Marina versprechen, sich während des Aufenthalts hier nichts anzutun. Anschließend setzte sich Frau Richter bei der Oberärztin Frau Dorn für einen Dreierausgang ein, dem die Ärztin glücklicherweise zustimmte.

Nach einem faden, ungesalzenen Mittagessen, mehreren Stunden des sinnlosen Rotierens zwischen Bett, WC und Raucherzimmer und einem viel zu frühen Abendessen um halb fünf durften sich Patienten für den Ausgang zusammenfinden. Letztendlich waren sie zu viert: Josy, Marina, Klarissa und ein gewisser Flo, ein ungefähr dreißigjähriger attraktiver Mann mit blondem Haar und verwaschenen Jeans.

„Wenn ihr in einer Stunde nicht zurück seid, lassen wir nach euch fahnden!“ Pfleger Max schien heute besonders gut drauf zu sein.

„Ja ja, wir kommen wieder“, murmelte Flo.

Die vier liefen durch die für sie kurz aufgeschlossene Tür nach draußen. Es war nicht so warm wie gestern und Klarissa hatte deutlich Gänsehaut am Bauch.

„Geiles Piercing“, bemerkte Flo und strich Klarissa zart über den Bauch.

Klarissa schien die Aufmerksamkeit zu genießen, nahm Flos Hand und sie schlenderten gemeinsam zu einer Bank in der Sonne. „Wir treffen uns dann in einer knappen Stunde hier und gehen gemeinsam wieder rein, ja?“, rief sie den beiden anderen über die Schulter zu.

„Na ja, dann haben wir ja jetzt unsere Ruhe“, stellte Marina fest.

Josy schien zufrieden. Die beiden Freundinnen schlenderten um den kleinen Teich und setzten sich auf eine abseits gelegene Bank. Marina sah Josy an, die heute besonders gut aussah. Sie hatte ihr schwarzes schulterlanges Haar zu einem kleinen Zopf gebunden und sich auffällig stark geschminkt. Perfekter Eyeliner und lange Wimpern ließen ihre blauen Augen noch größer erscheinen.

Marina selbst hatte die letzten Wochen kaum auf sich geachtet, so hatte sie lediglich ihre langen roten Haare gekämmt. Früher hatte sie sich besonders um ihr Äußeres gekümmert. Es gab sehr viele junge russische Frauen, die sehr aufgetakelt herumliefen. Marina war bis vor wenigen Monaten eine von ihnen gewesen. Sie investierte normalerweise viel Zeit und Geld in ihr Äußeres. Dazu gehörten regelmäßige Besuche im Fitnessstudio, auf der Sonnenbank und bei der Nageldesignerin. Marinas Eltern waren kurz nach ihrer Geburt mit ihr nach Deutschland gezogen, dennoch war sie zweisprachig aufgewachsen und hatte in den langen Sommerferien viel Zeit bei ihren Großeltern in Russland verbracht

„Was starrst du mich so an?“, fragte Josy misstrauisch.

Marina war kurz peinlich berührt, sie war so in Gedanken gewesen, dass ihr gar nicht aufgefallen war, dass sie ihre Freundin die ganze Zeit angestarrt hatte.

„Möchtest du jemand Bestimmten beeindrucken? Du hast dich ganz schön zurechtgemacht.“

Josy löste sofort den Augenkontakt und blickte auf den Teich. „Björn gefällt mir ganz gut.“

„Björn?“ Marina hoffte, sich verhört zu haben. „Du meinst den Björn, der aussieht, als hätte er bereits Dutzende von Jahren im Knast gesessen?“, fragte sie sicherheitshalber nach.

„Also er hat mir erzählt, es waren sechs Jahre. Aber weswegen wollte er mir nicht sagen, vermutlich was mit Drogen, denke ich“, antwortete Josy völlig unbeeindruckt.

Marina seufzte. Björn war ihr persönlich beim Kartenspielen als besonders unangenehm aufgefallen. Er sah richtig gefährlich aus mit seinen tätowierten Armen, dem Bart und zudem hatte er den Körperbau eines Türstehers. Aber vielleicht war sie einfach von zu vielen Vorurteilen behaftet. Nach einem längeren Gespräch, in dem Marina vorsichtig versucht hatte, ihrer Freundin von Björn abzuraten, und Josy zunehmend wütender geworden war, machten sich die beiden schließlich doch wieder versöhnt auf den Rückweg.

Klarissa und Flo saßen knutschend auf der Parkbank, die sie sich vorhin ausgesucht hatten. Flos Hände waren allerdings nicht zu sehen. Diese schienen das, was unter dem kurzen roten Top verborgen war, zu erkunden. Josy machte mit einem lauten Husten auf sich und Marina aufmerksam.

„Denkst du, wir sollten das einem Pfleger sagen?“, flüsterte Marina Josy zu, die schulterzuckend weiterlief.

Die vier erreichten den Eingang zur Station und wurden wieder durchsucht. Josy ging geradewegs in den Raucherraum, und Marina wusste auch, weshalb. Sicher war Björn dort. Das wollte und konnte sie sich nicht mit ansehen und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Die schwergewichtige Klara fluchte laut auf dem Gang und schien Marina heute gar nicht zu registrieren. In Gedanken an Alexander und das beunruhigende Gespräch mit Josy legte sich Marina ins Bett und schloss die Augen. Sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft, obwohl sie nur eine Stunde draußen verbracht hatte. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie wirklich noch nicht belastbar war und vermutlich draußen an jeder kleinen Hürde scheitern würde. Und wenn sie an ihren äußerst verstörenden Traum von letzter Nacht dachte, bekam sie Angst vor sich selbst. Was hatte so was in ihrem Unterbewusstsein zu suchen? Vielleicht war sie hier doch nicht so verkehrt.

Josy hatte sich neben Björn gesetzt und es schien bisher ganz gut für sie zu laufen. Sie unterhielten sich und lachten viel. Seine braunen Augen schienen zu leuchten, und er hatte süße Grübchen, wenn er lachte. So schnell hatte sich Josy noch nie in einen Mann verguckt. Ihr war bewusst, dass es vermutlich nicht die beste Voraussetzung war, sich für einen Typen zu interessieren, der mit ihr gemeinsam in der geschlossenen Psychiatrie festsaß. Anscheinend ging es ihm ähnlich wie ihr und er würde in wenigen Tagen auf die offene Suchtstation verlegt werden. Wenn sie mit ihm sprach, vergaß sie für einen Moment, dass sie sich in der Klinik befanden. Er legte seine Hand auf ihren Oberschenkel und zwinkerte ihr zu. Dann wurden die Karten neu gemischt und Maik gesellte sich zu ihnen. Der ältere Mann mit längerem grauen Haar schien nicht zu merken, dass er störte.

Nach drei Runden UNO war auch langsam Bettruhe angesagt. Nacheinander gingen die Patienten in die Waschräume oder wechselten sich in den Gemeinschaftsbädern ab.