Traumtunnel - Harald Lüders - E-Book

Traumtunnel E-Book

Harald Lüders

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Beschreibung

Mitten in der herrlichen Natur der Südtiroler Alpen liegt das Paradise Mountain Resort, ein Fünf-Sterne-Sanatorium, in dem die Reichen dieser Welt ihre Psycholeiden kurieren. Klinikchef Professor Carlos Mentoff experimentiert mit Trips in die virtuelle Realität - in Full HD unter der Datenbrille. Geht es um Heilung, Gehirnwäsche oder Erpressung? Diese Frage stellt sich der Frankfurter Journalist Mitch Berger, als er den Hilferuf einer bekannten deutschen Schauspielerin erhält. Ein rasanter Psycho-Thriller nimmt seine atemlose Fahrt auf. Pressestimme zur "Dunkelmacht" von Focus Online: "Ein rasanter Politthriller, in bester Tradition von John Le Carré und Frederick Forsyth."

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Seitenzahl: 486

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-717-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Jasmin Zitter, ZitterCraft, Mannheimunter Verwendung eines Motivs von vchalup – stock.adobe.com

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Harald Lüders

Traumtunnel

Inhalt

1
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Danksagung

Wenn es nicht so war,dann war es so ähnlich.

(jamaikanisches Sprichwort)

Virtuelle Realität:

Als virtuelle Realität, kurz VR, wird die Darstellung und gleichzeitige Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihrer physikalischen Eigenschaften in einer in Echtzeit computergenerierten, interaktiven virtuellen Umgebung bezeichnet.

Wikipedia

SPIEGEL – Gespräch mit Thomas Metzinger, Professor für Theoretische Philosophie, Universität Mainz, Leiter des Arbeitsbereichs Neuroethik, 7.5.2016.

SPIEGEL:

Herr Metzinger, für einen Bewusstseinsforscher muss diese Zeit eine spannende sein. Ich bin viele, die digitale Revolution macht es möglich …

Metzinger:

… ich kann völlig eintauchen in eine virtuelle Realität, ich kann eine Datenbrille aufsetzen und erleben, wie sich mein Ichgefühl verändert – und auch das, was ich für »bewusstes Erleben«, für »wirklich« oder »authentisch« halte. In diesem Jahr wird es vermutlich den Durchbruch auf dem Massenmarkt geben

SPIEGEL:

Sie haben es ausprobiert?

Metzinger:

Ich war als Ethiker während der letzten fünf Jahre an einem EU-Projekt beteiligt, bei dem es darum ging, das Ichgefühl in Avatare zu übertragen.

SPIEGEL:

Und das ist ernst gemeint?

Metzinger:

Natürlich. Entstanden sind dort sehr gute Körperbilder in der virtuellen Realität, im Grunde schon die ersten Modelle eines künstlichen Selbst.

SPIEGEL 19/2016

In der Ferne leuchtet golden ein schneebedecktes schroffes Felsmassiv. Davor zerrissene Nebelschwaden.

Er hat nicht die geringste Ahnung, wo er sich befindet, keine Erinnerung, wie er an diesen verzauberten Platz gekommen ist.

Ist ihm auch egal.

Er spürt Angst und tiefe Klarheit zugleich.

Ein violetter Blitz trifft seinen Kopf, schlagartig ist alles in ein gleißendes Licht getaucht.

Dann spürt er die Stille.

Und fühlt doch den tosenden, zerrenden Wind auf seiner Haut.

Das Schneefeld vor ihm leuchtet hellgrün und zartrosa.

Er erschrickt: Über dem Schnee, fast schwebend, ist da plötzlich eine Frau, die er kennt. Sie liegt auf dem Bauch, ihre Arme grotesk verdreht.

Er sieht eine blutbefleckte Hand, etwas sagt ihm, dass es die eigene ist.

Die Kälte trifft ihn wie ein Hammerschlag.

Er steckt bis zu den Knien im Schnee, sieht, dass er nur mit Jeans, einem dünnen Pullover und einer lächerlichen Windjacke bekleidet ist.

Er dreht sich zu der jungen Frau, sie ist verschwunden.

Er spürt Kälte in sich aufsteigen, fühlt seinen Körper von Minute zu Minute steifer werden.

Er muss hier weg, runter von dem Gletscher. Er versucht vorwärts zu kommen, bricht aber bei jedem Schritt bis zum Oberschenkel ein, versinkt in einem Meer aus Schnee.

Plötzlich bläst ein gnadenloser Wind von vorne, Eiskristalle bohren sich in seine rotglühenden Wangen. Er stolpert, Schnee umgibt ihn, er lässt sich fallen, gibt der Müdigkeit nach.

Er spürt die Erinnerung in sich aufsteigen, sieht das große Bett, die zerwühlten Laken.

Er sieht Hände, spürt einen Einstich in seinen rechten Arm. Dann eine Stimme: »Binde ihn gut fest, wer weiß, auf was für Ideen der kommt, wenn der Stoff nachlässt und er während der Fahrt aufwacht.«

Dann ist da nur noch Kälte und tiefe Dunkelheit.

1

Mitch Berger sieht mit Sorge, dass er bereits das zweite Glas eines vorzüglichen, aber nicht ganz leichten Rioja geleert hat. Er steht auf seinem Balkon, es ist immer noch kalt, aber endlich scheint, nach langen nebligen Tagen im Dauergrau, die Sonne und lässt in der Ferne die Scheiben der Hochhäuser glitzern.

Mitch trägt Lederjacke und Schal, er genießt die wärmenden Sonnenstrahlen.

Anderthalb Jahre ist es jetzt her, seit er seine Festanstellung bei Star TV, einer großen Fernsehproduktionsfirma, verloren hat. Mitch hatte sich einen Kampf bis aufs Messer mit einem Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz geliefert, der einen Anschlag auf ein Flüchtlingsheim geplant hatte. Eine rechte Seilschaft in den Sicherheitsbehörden wollte die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin stoppen. Mitch hatte den Anschlag verhindern können, war kurzfristig zu einem bekannten Mann geworden, allerdings zu einem ohne festen Job.

Er blinzelt in die Sonne, nimmt einen tiefen Schluck Wein und fährt sich mit der Hand über den kurz geschnittenen Kopf, zuckt dann höhnisch mit den Schultern:

»Super, drei Monate war ich der Held der Talkshows, gehörten mir die Schlagzeilen, jetzt ist der Hype vorbei und ich kämpfe mich von einem freien Job zum nächsten, muss die scheiß Hypothek weiter Monat für Monat abstottern.«

Er hat jetzt viel Zeit sich Sorgen zu machen.

An den geräumigen Balkon, von dem aus Mitch die Sonne hinter der Frankfurter Skyline bewundert, schließen sich vier recht große Zimmer und eine etwas altmodisch ausgestattete und vor allem selten genutzte Küche an. Mitchs Problem hat gut 130 Quadratmeter und gehört zu großen Teilen der Bank. Und die will Cash sehen, Monat für Monat, für einen freien Journalisten nicht ganz leicht. Wenn Mitch gelegentlich Kassensturz macht, ist das Ergebnis stets das Gleiche – er müsste die Ausgaben senken und die Einnahmen steigern.

Leichter gesagt als getan.

Die Wohnung hatte er seinerzeit gemeinsam mit Lilly, seiner großen Liebe, gekauft. Nur hat die längst den Koffer gepackt und sich auszahlen lassen. Immer häufiger denkt Mitch ans Verkaufen und schreckt doch jedes Mal davor zurück. Riecht zu sehr nach Niederlage.

Er bekommt im Moment wenig Jobangebote, gleichzeitig hasst er schlechten Wein, und seine Lieblingskneipen im Frankfurter Nordend sind leider auch nicht die billigsten.

Mitch betrachtet skeptisch das Glas in seiner Hand, geht dann schnell in die Küche und kippt den Rest des Weins in die Spüle.

»Mann, es ist zwanzig nach drei und dies ist schon das zweite Glas. Geht gar nicht.«

Er wirft die Kaffeemaschine an, macht sich einen Doppio Espresso Macchiato.

In ziemlich genau anderthalb Stunden hat Mitch einen Termin bei dem Frankfurter Bürochef eines bundesweiten Wochenmagazins.

Bis dahin muss er einen klaren Kopf haben, er braucht den Job, er braucht das Geld.

Neben der Kaffeemaschine liegt eine Zeitung mit einem fetten Bild des neuen amerikanischen Präsidenten »The Donald« Trump.

Mitch schüttelt sich, er findet den neuen Führer der freien Welt ekelhaft, er hasst dessen plumpe Körperlichkeit, hasst das vor Selbstbesoffenheit strotzende, stets rot angelaufene Gesicht. Das Schlimmste aber ist Trumps offizielles Familienbild. Da sitzt Donald inmitten der mit Gold und Kristall überladenen obersten Etage des Trump Towers, neben ihm steht seine Katalogschönheit Melania, rechts reitet der gemeinsame Sohn im dunklen Anzug todtraurig schauend auf einem riesigen Spielzeuglöwen. »Und so einer ist der Held der amerikanischen Arbeiterklasse, die Welt ist verrückt«, flucht Mitch vor sich hin.

Kriegt er später am Nachmittag den Job, dann wird sich Mitch intensiv mit Trump beschäftigen müssen. Der Mann mit den ultrareaktionären Ansichten ist nicht zuletzt durch eine ausgefeilte, äußerst clevere Social Media Kampagne an die Macht gekommen, und genau darum – so hat es eine Assistentin des Magazinchefs erzählt – soll es bei seinem Auftrag gehen.

Mitch macht sich frisch, betrachtet sich dabei wie immer kritisch im Badezimmerspiegel. Er sieht die müden Augen, sieht, dass er mal wieder ein paar Pfunde zu viel hat, bemerkt, dass seine Haare wieder etwas grauer geworden sind, stöhnt leise und schaufelt sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er stürzt in die Küche, legt noch einen Espresso nach und startet dann Richtung Innenstadt, das Büro der Hamburger Blattmacher liegt in einem Hochhaus im Frankfurter Bankenviertel.

In der U-Bahn fällt ihm auf, dass die jungen Damen, denen er hinterherschaut, ihn überhaupt nicht bemerken. »Fuck, so ist das mit Ende vierzig und leichtem Übergewicht, mein Junge«, tröstet er sich. Er hat sich damit abgefunden, dass sein Privatleben in Trümmern liegt.

»Book it under experience«, murmelt Mitch, als er die U- Bahn verlässt und zum Eingang des gegenüberliegenden Hochhauses strebt.

Ein Expressaufzug schießt in den zwanzigsten Stock, an einer imponierenden Glastür prangt das Logo eines der bekanntesten Blätter der Republik.

Als Mitch sich gerade bei einer blasiert wirkenden Schönheit anmeldet, klingelt sein Handy.

»Scheiße, entweder passiert nichts, oder gleich drei Sachen gleichzeitig.«

Er starrt auf das Display, erkennt die Nummer seines alten Arbeitgebers, die Sekretärin des Star TV Chefs ruft an.

»Mein lieber Mitch, wie geht es dir?«, flötet die stets freundliche Stimme der Chefsekretärin.

Die Dame wartet nicht auf eine Antwort, spricht einfach weiter: »Mitch, ich habe Post für dich. Hier liegt ein interessant aussehender Brief, adressiert an Mitch Berger persönlich.«

»Wieso interessant aussehend? Sag mir lieber, von wem er ist?«

»Keine Ahnung, es gibt keinen Absender, aber …«

»Ach nein, nicht schon wieder«, stöhnt Mitch, sein letztes großes Abenteuer hatte mit einem anonymen Brief begonnen, in dem Mitch verdeckte Aufnahmen der NSU-Mörder zugespielt wurden.

»Nicht wieder ein anonymer Brief, bitte.«

»Mitch, hör zu, das ist was völlig anderes, der Brief ist von einer Dame, und die muss eine ziemlich heiße Nummer sein.«

»Wie kommst du darauf? Hast du den Brief etwa aufgemacht?«

»Nein, natürlich nicht, aber der Umschlag ist aus feinstem Büttenpapier, leicht rosa, und er riecht nach einem verdammt teuren Parfüm. Dazu eine zarte, aber energische Handschrift. Wer immer das ist, die Dame hat Stil. Und sie hat DRINGENDPERSÖNLICH auf den Umschlag geschrieben, in knallrot.«

Plötzlich beginnt die blasierte Schöne vor ihm aufgeregt mit den Armen zu fuchteln: »Herr Dr. Baumeister ist jetzt frei.«

Mitch murmelt einige hektische Abschiedsworte in sein Handy, verspricht, sich gleich um den Brief zu kümmern.

Er stellt das Handy auf lautlos und betritt das Büro des Magazinchefs. Schlagartig ist er froh, ein sauberes Hemd und ein recht neues Jackett aus seinem chaotischen Schrank gefischt zu haben. Der Frankfurter Büroleiter des Magazins hat hauptsächlich mit Leuten aus der Wirtschaft und den Banken zu tun, und genauso sieht er aus: Er trägt einen Dreiteiler aus feinster Mohairwolle statt investigativem Schlabberlook.

Der Nadelstreifenredakteur deutet auf die schwarze italienische Designercouch, bittet Mitch Platz zu nehmen, wobei er ihn kritisch taxiert.

»Herr Berger, schön, dass Sie es einrichten konnten.«

Mitch nickt und kommt sich in dem sehr gediegenen Büro ziemlich deplatziert vor.

»Ich will von Ihnen einen Artikel über Trump, aber keinen Besinnungsaufsatz, der allen Liberalen erzählt, was sie ohnehin schon wissen, nämlich dass der Präsident der Vereinigten Staaten ein Arschloch ist. Ich will einen Artikel, der erklärt, warum ein Mann mit politischen Positionen, die reaktionärer sind als die eines Neandertalers, es gleichzeitig geschafft hat, den modernsten und effektivsten Netzwahlkampf zu führen, den die Welt je gesehen hat. Sagt Ihnen der Name Oxford Labs etwas? Nein. Haben Sie schon mal etwas von Theodore J. Weys gehört?«

Wieder verneint Mitch und rechnet mit einem baldigen Ende des Gesprächs.

Sein Gegenüber grinst, zieht die makellos sitzende Krawatte noch etwas gerader: »Gut, genauso habe ich es mir gedacht. Sie haben keine Ahnung, Sie sehen nicht so aus, als wären Sie im Netz und mit Social Media groß geworden. Und genau deswegen sind Sie der richtige Mann.«

Er knallt einen Stapel Papiere auf den Tisch. Oben drauf eine Hochglanzbroschüre der Firma Oxford Labs.

Knallige Schlagzeile: The Making of Donald Trump!

Darunter drei etwas dezentere Unterzeilen:

Wir besitzen Informationen über Vorlieben, Ängste und Wünsche von über 220 Millionen amerikanischen Bürgern.

Wir zeigen Ihnen, wie Sie jede gewünschte Zielgruppe identifizieren und ansprechen.

Wir sagen punktgenau das Verhalten bestimmter Wählergruppen voraus.

Darunter ein strahlendes Portrait von Mr. Theodore J. Weys, dem CEO der Firma.

Der Magazinchef sieht Mitchs ungläubiges Lächeln und macht eine abwehrende Handbewegung: »Nein, Herr Berger, langsam, das sind keine aufgeblasenen Werbefuzzis, diese Firma hat Trump wirklich zum Wahlsieg verholfen. Die Firma basiert auf der Forschungsarbeit eines psychologischen Instituts in Oxford. Die Wissenschaftler hatten damals via Facebook allen Usern einen kostenlosen umfangreichen Persönlichkeitstest angeboten, wenn dafür im Gegenzug die Nutzer alle Likes und Dislikes mit dem Institut teilen würden. Hunderttausende waren bereit mitzumachen. Wenn ich aber weiß, was jemand auf Facebook gefällt, dann kenne ich die Person verdammt gut. Mit 100 deiner Likes weiß ich mehr über dich als dein bester Freund, mit 200 mehr als deine dich liebende Lady. So entstand die größte Psychodatenbank der Welt. Machen wir es kurz – ich will Folgendes von Ihnen: Wir haben einen Insider aus der Firma an der Hand, einen Mann, der eine Menge weiß und der auspacken will. Es geht nicht nur darum, die hochgestreckten Facebook-Däumchen zu zählen, sondern auch um ganz andere Sachen. Sie fliegen nach London, treffen ihn, haben bis dahin alles gelesen, was es über Oxford Labs zu lesen gibt, und dann schreiben Sie vier bis fünf Seiten, spannend, enthüllend, aufwühlend. Ich will einen Text für ein breites Publikum. Ich will Polit–Feuilleton, gemischt mit einem guten Schuss echter Enthüllung.«

Der Magazinchef holt Luft und taxiert Mitch aufmerksam. »Glauben Sie bloß nicht, dass das eine leichte Geschichte ist. Ich will Sie auch verpflichten, weil Sie Erfahrung mit Geheimdiensten haben, weil Sie wissen, wie die Schlapphüte ticken. Unser Informant hat ein paar üble Andeutungen gemacht, da scheinen diverse Dienste mit im Boot zu sein, da werden sehr sensible und sehr private Daten meistbietend vertickt. Sozusagen als Nebenprofit. Das Hauptgeschäft ist natürlich Wählerbeeinflussung für große Wahlen.«

Leicht atemlos nimmt der Chef einen großen Schluck Wasser und setzt dann zum Schlussspurt an.

»Ihr Text muss den Leuten Angst vor dem großen Datenklau, vor dem gläsernen Menschen machen. Wenn Sie wollen, können Sie das gerne noch mit ein bisschen Sex aufpeppen, zum Beispiel: Wie entwickelt sich die Pornoindustrie im Zeitalter der virtuellen Realität? Aber das nur am Rande. War nett, Sie kennengelernt zu haben. Susan draußen hat ein Dossier mit allen Infos und den nötigen Kontaktdaten. An die Arbeit, Herr Berger.«

Der Nadelstreifenanzug steht jetzt vor Mitch, der rechte Arm schnellt nach vorne.

»Sollten Sie Rückfragen haben, rufen Sie morgen gegen Abend an, danach muss ich für eine Woche nach Hamburg und dann nach Rom.«

Kaum ist hinter ihm die schwere Bürotür ins Schloss gefallen, sieht Mitch auch schon Susan auf ihn zukommen, jetzt wirkt ihr Gesichtsausdruck weniger blasiert, eher dienstleistungsorientiert.

Susan drückt Mitch einen dick gefüllten Aktenordner in die Hand sowie einen verschlossenen Umschlag. »Darin«, Susans perfekt gepflegter Finger mit knallrotem Nagel deutet auf den Umschlag, »finden Sie den Namen und die Kontaktdaten des Informanten.«

Mitch strahlt sie an: »Danke Susan und ein wirklich sensationeller Nagellack. Man sieht sich.«

Als sich die Aufzugtür hinter ihm schließt, schaut Mitch etwas ratlos auf den prall gefüllten Ordner. »Immerhin ein Job, und – sollte der Insider echt heiße Infos haben – vielleicht sogar ein ganz spannender. Wird nur mühsam werden, sich die ganzen Fakten drauf zu schaffen. Mist, dass ich mich nie für Big Data und das ganze Zeug interessiert habe. Nun gut, jetzt ist ein Crash Kurs angesagt.«

Mitch läuft die kurze Strecke zur Redaktion von Star TV. Es ist laut hier unten und hektisch. Im Bankenviertel wird ständig gebaut, schwere Kräne verstopfen die ohnehin vollen Straßen. Mitch quetscht sich zwischen zwei Betonlastern durch, die ihre Ladung in die Baugrube eines neuen Wohnturms pumpen. Hier entstehen Luxuswohnungen für die Brexitflüchtlinge aus London, die Frankfurt einen neuen Immobilienboom bescheren sollen.

»Packt die Banker ruhig in ihre verdammten goldenen Legebatterien, dann verderben sie wenigstens nicht die Preise in meinem Viertel«, knurrt Mitch und steht dann mit gemischten Gefühlen in einer ihm nur zu gut bekannten Hochhauslobby. Jahrelang ist er hier morgens verkatert rein gestürmt, abends meistens schon mit einer Flasche Weißwein intus wieder raus. Hatte gut verdient in der Zeit, war aber alles Schmerzensgeld.

Wieder ein Aufzug, dann steht Mitch vor dem Frankfurter Büro von Star TV, seinem letzten Arbeitgeber. Vor anderthalb Jahren ist er hier rausgeflogen, auf dem Höhepunkt seines Duells mit einem rechtsradikalen Verfassungsschutzchef.

Er betritt den immer noch vertraut aussehenden Flur, folgt dem Schild »Chefredaktion« und steht vor der nächsten dienstleistungsorientierten Schönheit. Sie bewacht und versorgt Norbert Ahlers, den Chef von Star TV Frankfurt, den Mann, der Mitch gefeuert hat.

»Hallo Mitch, wie toll dich wiederzusehen, du kommst ja nie vorbei, eine Weile sah man dich ja wenigstens im Fernsehen, aber jetzt nie mehr. Gut schaust du aus, das freie Leben scheint dir zu bekommen.«

Küsschen rechts, Küsschen links, dann greift sie mit verschwörerischem Blick in eine der zahlreichen Ablagekörbe auf ihrem gläsernen Schreibtisch.

Mitch schaut auf die Tür zu seiner Rechten, Chantal schüttelt den Kopf. »Der Chef ist nicht da, keine Sorge, der hat die ganze Woche Termine in Berlin.«

Jetzt ist sie in dem Korb fündig geworden, hält Mitch einen tatsächlich leicht rosa Briefumschlag entgegen, wedelt ihn hin und her und schnuppert dann demonstrativ an ihm.

»Riecht irgendwie kostbar und selten. Wenn du die Dame treffen solltest, frag sie bitte was für ein Parfüm das ist, irgendwas zwischen Chanel und Jo Malone, toll.«

Mitch starrt auf den Umschlag – sein Name, darunter: DRINGENDPERSÖNLICH.

Er stöhnt, genauso hatte es das letzte Mal auch angefangen.

Chantal schaut ihn fragend an: »Willst du den Brief nicht aufmachen?«

»Sorry, nein. Briefe, die nach Parfüm riechen, öffne ich prinzipiell nur zu Hause bei Kerzenschein und einer guten Flasche Rotwein.«

Chantal spitzt die Lippen: »Ach komm, das ist gemein.«

Mitch winkt ihr zu, verspricht sich zu melden und verlässt das Büro, froh, keinen seiner früheren Kollegen getroffen zu haben.

Er ist jetzt zu Hause, knallt erst das Dossier Oxford Lab auf den Küchentisch, öffnet dann zur Feier des Tages eine gute Flasche Rotwein, und reißt dann den Umschlag auf.

Staunend liest er oben rechts in schöner schwungvoller Handschrift den Namen Vera Ferrata, eine der bekanntesten Schauspielerinnen des Landes. Gutaussehend, nicht mehr die Jüngste, immer wieder wegen ihrer Schönheitsoperationen und ihrer Affären in den Schlagzeilen der Klatschpresse. Mitch erinnert sich vage, sie einmal auf einem Ball in Berlin kennengelernt zu haben. Er nimmt einen tiefen Schluck und liest halblaut:

»Lieber Herr Berger, ich bewundere Sie seit Ihrem tapferen Auftritt in dieser Talkshow, als Sie diesen Verfassungsschutzboss angegriffen haben. Sie sind ein mutiger Mann. Letztes Jahr haben wir uns dann ja kurz auf dem Bundespresseball im Adlon kennengelernt. Ich brauche Ihre Hilfe, dringend. Bitte lesen Sie diesen Brief sorgfältig, bitte glauben Sie nicht, ich sei hysterisch oder betrunken.«

Mitch nimmt einen tiefen Schluck.

Dann liest er weiter. Madame Ferrata schreibt aus einem scheinbar richtig teuren Psychoresort in den Südtiroler Alpen. Paradise Mountain Resort heißt der Laden.

Mitch legt den Brief zur Seite, googelt den Schuppen.

Er sieht tolle Fotos von einem eleganten Haus, das in einem abgelegenen Seitental des Südtiroler Vinschgaus inmitten eines atemberaubenden Alpenpanoramas liegt. Er liest, wie aus dem gefeierten Gebäude eines italienischen Stararchitekten zunächst ein mondänes Sporthotel wurde, getauft auf den schönen Namen Paradies. Im Zweiten Weltkrieg verwandelte es sich in ein leicht verruchtes Erholungsheim für deutsche Wehrmachts- und SS-Offiziere. Nach dem Krieg stand das Haus lange leer und begann zu verfallen. Vor vier Jahren dann der Verkauf an einen Fonds, der daraus ein Refugium für Reiche und Schöne machte, die an Alkoholabhängigkeit, Drogensucht oder Psychodefekten aller Art leiden. Das Paradise Mountain Resort, kurz PMR genannt, war geboren.

»Gut ausgesuchte Zielgruppe«, murmelt Mitch.

Die Kundschaft ist illuster, Promis aus dem Show Business, Wirtschaftsbosse, Sportler, Politiker und nicht zuletzt Schauspieler wie Madame Ferrata. Ein Artikel nennt das PMR einen goldenen Käfig, einen Luxusknast für angeschlagene Seelen. Der Verfasser erregt sich über das strikte Internet-Verbot des Resorts: Handys, Tabletts, PCs, alle die gewohnten Begleiter des modernen Lebens müssen an der Rezeption abgegeben werden. Lokale Zeitungen berichten von Südtiroler Bürgern, die gegen die Schließungen einiger Wanderwege protestierten, erfolglos – die Sicherheitsbedürfnisse der prominenten Patienten gingen stets vor.

Aus den Zeilen der Madame Ferrata spricht Verzweiflung, sie schreibt, sie werde manipuliert, unter Drogen gesetzt. Man versuche ihr Schuldgefühle einzupflanzen, sie fühle sich gefangen, bedroht und einer Gehirnwäsche ausgesetzt. Sie werde an der Abreise gehindert.

Mitch ist einerseits geschmeichelt, dass eine so prominente Society Lady sich an ihn erinnert, andererseits hat er wenig Lust, sich von einer überdrehten Promidame einspannen zu lassen. »Wahrscheinlich absolviert die gerade auf ärztlichen Rat ihre fünfte Entziehungskur«, knurrt Mitch, stöhnt unschlüssig und greift dann doch noch mal in die Tasten. Er gibt Vera Ferrata ein. Ziemlich schnell stößt er auf Artikel, in denen von einem rätselhaften Autounfall berichtet wird, bei dem der Mann der Schauspielerin ums Leben kam.

Von einer schweren Nervenkrise von Vera Ferrata ist die Rede, aber mit keinem Wort werden Alkoholprobleme erwähnt.

Mitch ist unschlüssig, soll er sich da reinhängen und wenn wie?

»Ich bin kein verdammter Privatdetektiv und schon gar nicht für eine aufgekratzte Schauspielerin.«

Aber dann hat er keine Lust mehr zu grübeln, Mitch prostet sich zu: »Super, heute Morgen habe ich mich noch gelangweilt, jetzt habe ich einen amerikanischen Präsidenten und einen Filmstar an der Angel. Geht doch, letztes Mal waren es Nazis und Schlapphüte, jetzt die High Society. Es geht aufwärts. Cheers.«

2

Die Luft ist klar und frisch, immer noch ein wenig kühl, am tiefblauen Himmel leuchtet die herrlich wärmende Sonne. Das Licht verleiht dem Grün der Bäume einen silbrigen Hauch. In der Ferne und doch zum Greifen nah reflektieren schneebedeckte Gipfel das grelle Licht der Sonne.

Eine schmale Straße schlängelt sich atemberaubend steil nach oben, Haarnadelkurve reiht sich an Haarnadelkurve.

Das perfekte Alpenidyll.

Plötzlich Motorenlärm, das heisere Röhren hochgezüchteter Sechszylinder zerreißt die Ruhe. Wie im Formationsflug donnern zwei schwere Maserati Levante-SUVs in einem Abstand von maximal sechs Metern die Landstraße hoch. Gekonnt beschleunigen die Fahrer ihre 430 PS starken Wagen auf den kurzen Geraden, bremsen an den engen Kurven erst im allerletzten Moment. Beide Autos sind schwarz-metallic lackiert, auf den Türen ein schmaler Schriftzug in Gold – Paradise Mountain Resort.

Die hinteren Heckscheiben sind abgedunkelt, die jungen Männer am Steuer wissen nicht, wen sie diesmal in Meran abgeholt haben. Sie sind zu äußerster Höflichkeit und, noch wichtiger, zu hundertprozentiger Diskretion verpflichtet.

Straßenschilder fliegen vorbei – Attenzione: 10 tornanti, Achtung: 10 Spitzkehren – in Südtirol muss alles zweisprachig beschildert sein.

Die jungen Fahrer kennen die Strecke im Schlaf, mehrmals in der Woche holen sie Gäste in Meran, Bozen oder Innsbruck ab und bringen sie hierher ins obere Martelltal.

Die schweren Wagen fahren genau in der Mitte der Straße, sind aber jederzeit bereit, einem Wagen Platz zu machen, der talabwärts fährt.

Jetzt rasen die Maseratis durch einen kleinen Tunnel, dann öffnet sich zur Linken ein phantastischer Blick auf einen Stausee und die Berge mit ihren weiß leuchtenden Gletschern.

Es geht an einem halbgefüllten Parkplatz vorbei, hier endet für Touristen die Straße. Die beiden Autos fahren jetzt langsamer, überqueren den Parkplatz, nach etwa 100 Metern biegen sie links auf eine Holzbrücke ab. Die Brücke quert einen kleinen Fluss, an dessen Ufer ein etwa zwei Meter hoher Stahlzaun den Blick auf das dahinter liegende Grundstück unmöglich macht. Der Fahrer des vorderen Wagens tippt eine sechsstellige Nummer in ein metallisch glänzendes Display und ein schweres Tor schwingt geräuschlos auf.

Langsam rollen die Wagen auf einen gepflasterten Weg, und nach einer sanften Rechtskurve können jetzt die Gäste im Auto erstmals einen Blick auf das Haupthaus erhaschen, ein fünfstöckiges, halbrund gebautes gut 100 Meter langes Haus, extravagant karminrot gestrichen.

Die Fahrer achten darauf, die Passagiere zunächst auf der vom Hotel abgewandten Seite aussteigen zu lassen, denn hier öffnet sich ein sagenhafter Blick auf das Bergpanorama. Die Gipfel liegen in einem Halbkreis, einem monumentalen Amphitheater gleich.

Wunderbar klare Luft, unterlegt mit leichtem Kiefergeruch.

Die Gäste haben einen Moment Zeit zum Genießen, dann führen elegant uniformierte Pagen sie zum Empfang.

»Haben Sie noch einen Wunsch, Signora Ferrata?« Ein gutaussehender Kellner, Ende zwanzig mit dichtem dunklem Haar, beugt sich zu der blonden, tief gebräunten Dame, die an einem Ecktisch auf der großen Terrasse im dritten Stock des roten Hauptgebäudes Platz genommen hat. Nervös schaut sie auf. »Da ich ja keinen Champagner bekomme, bitte ein San Pellegrino mit Limone.«

Der Kellner zieht sich untertänig nickend zurück. »Kommt sofort, Signora.«

Vera Ferrata stöhnt leise auf und starrt auf ihre sündhaft teure Uhr.

Sie beobachtet ohne großes Interesse das Pärchen, das gerade aus dem ersten der beiden Maseratis aussteigt. »Sieht man selten«, murmelt sie leise vor sich hin, »ein Pärchen habe ich hier noch nie gesehen. Paartherapie auf knapp 2 000 Meter, vielleicht hilft es ja.«

Aus dem zweiten Wagen quält sich ein übergewichtiger Endsechziger, der so aussieht, als bräuchte er ein paar Bergtouren dringender als psychologische Betreuung.

Dann sieht sie, dass das Eingangstor wieder aufschwingt, diesmal rollt ein hellgrauer Bentley Continental mit Schweizer Nummernschild auf das Gelände.

Der Wagen steuert nicht zum Haupthaus, er biegt links ab, vorbei an den modernistisch wirkenden Anbauten aus Holz, Stahl und Glas, die sich bestens in die Landschaft einpassen. Der Bentley dreht jetzt am Pool vorbei Richtung Hubschrauberlandeplatz. Dort befinden sich Parkplätze für das Personal, hauptsächlich für die Ärzte. Der Wagen hält auf dem für den Chefarzt reservierten Parkplatz.

Die Fahrertür öffnet sich und ein mittelgroßer Mann, Anfang 50, gut trainiert, verlässt den Bentley. Der Mann hat dunkle Haare mit leichten grauen Strähnen, trägt Sonnenbrille und einen dunklen Anzug.

Vera Ferrata reagiert sofort auf sein Erscheinen, sie nestelt eine Zigarette aus einer derangiert aussehenden Packung Gauloises Filter. Plötzlich wirkt sie gar nicht mehr damenhaft, sondern angestrengt und angeschlagen.

Als sie sieht, dass der Mann Richtung Haupthaus geht, erhebt sie sich von ihrem Tisch, winkt und ruft: »Auf ein Wort, Professor Mentoff, bitte.«

Der dunkelgekleidete Herr mit Sonnenbrille schaut auf, winkt erst unwirsch ab, signalisiert dann aber, dass er vorbeischauen wird.

Im Foyer wird er an der Rezeption begrüßt: »Morgen Chef, Signora Ferrata hat oben auf der Terrasse zweimal Champagner bestellt. Sie war wütend, als die Bestellung verweigert wurde.«

»Danke, ich kümmere mich drum.«

Die Eingangshalle ist gut acht Meter hoch, man hat bei der Modernisierung des Haupthauses auf einige Zimmer im ersten und zweiten Stock verzichtet, um so der Lobby zu Höhe und luftiger Eleganz zu verhelfen. Die Eingangshalle samt Rezeption und Lounge erinnert mehr an ein Fünf-Sterne-Hotel als an ein Sanatorium oder an eine Klinik. Dies entspricht der Philosophie des Paradise Mountain Resorts und den Plänen ihres Chefs, des deutsch-brasilianischen Arztes Professor Mentoff. Er will sein Haus in der Öffentlichkeit auf gar keinen Fall als Krankenhaus oder Entziehungsklinik beschrieben sehen.

In allen Broschüren und Werbeauftritten bleibt bewusst eine gewisse Unschärfe. Klar ist nur die Botschaft – reiche und einflussreiche Menschen finden hier eine Antwort auf psychische Probleme aller Art. Depressionen, Burn-out, Suchtproblematiken oder sexuelle Schwierigkeiten werden hier in luxuriöser Umgebung angegangen. Das Paradise Mountain Resort wirbt mit modernsten Behandlungsmethoden, bietet auf knapp zweitausend Metern eine grandiose Umgebung, Ruhe und Abgeschiedenheit.

Und verlangt dafür richtig viel Geld.

Hier wird nicht jeder genommen, schon mancher schwerreiche Unternehmer aus Deutschland oder Österreich hat sich über eine Absage gewundert.

Professor Mentoff spricht leise in sein Handy, blickt dabei hinüber zu Vera Ferrata.

Jetzt nähert er sich dem Tisch, setzt die Sonnenbrille ab und funkelt die Schauspielerin aus dunklen Augen an. »Madame, ich dachte, wir seien uns einig, keine Diskussionen mehr in der Öffentlichkeit. Wir waren uns weiterhin einig, dass Alkohol in den nächsten zwei Wochen tabu ist, warum dann diese Peinlichkeit, hier Champagner zu bestellen, wo Sie doch genau wissen, dass dieser Wunsch nicht erfüllt werden wird.«

Frau Ferrata, die nicht gesehen hat, wie er gekommen ist, fährt erschreckt hoch, ihr Gesicht verzerrt sich, sie ballt ihre Hände zu Fäusten, faucht dann den Chefarzt an: »Ich traue Ihnen nicht mehr, warum glaubt mir keiner, dass ich mit dem Unfall nichts zu tun hatte? Ich habe ihn geliebt, habe nie den scheiß Sportwagen gefahren, warum zeigt mir Dr. Tanner immer wieder Bilder, die es gar nicht geben kann. Ich will hier weg, lassen Sie mich endlich raus.«

Mentoff packt sie hart am Handgelenk, zieht sie grob hoch und zischt dabei: »Ruhe jetzt. Nicht hier. Ich bringe Sie in Ihr Zimmer, dort können wir reden. Nicht hier.«

Entschuldigend blickt er zum Nachbartisch, an dem zwei italienische Herren interessiert die Szene beobachten.

Leicht schwankend erhebt sich die Diva, die jetzt den Tränen nahe zu sein scheint.

Mentoff legt seinen Arm um ihre Schulter, schiebt sie aus dem Terrassenbereich in den Flur.

»Los jetzt«, schimpft er, »ich habe langsam genug von Ihren Zicken.«

Im Frankfurter Nordend sitzt Mitch grübelnd in seinem Arbeitszimmer. Er hat den Ordner Oxford Labs in einen Sessel geworfen und liest alles über Paradise Mountain Resort, was das Netz so hergibt. Und das ist nicht wenig.

Es gibt keine Preislisten des Resorts, folgt man aber den Artikeln der Klatschpresse, dann werden hier Wochenpreise von bis zu 20 000 Euro aufgerufen und bezahlt.

Mitch schüttelt den Kopf: »Ist doch abartig, ein durchschnittlicher deutscher Arbeitnehmer könnte sich mit seinem Jahresgehalt gerade mal zwei oder drei Wochen in dem Schuppen leisten. Was zum Teufel bieten die da an, Champagnerbäder oder ein Doppelbett mit Ärztin auf dem Gletscher? Dekadenter Schwachsinn.«

Jetzt klickt er auf ein schmeichelhaftes Foto von Prof. Dr. Carlos Mentoff. Sein Vater war deutscher Auswanderer, die Mutter Brasilianerin. Carlos wurde in Belo Horizonte geboren, studierte Medizin, arbeitete zunächst als Psychiater, beteiligte sich dann an einer Klinik für kosmetische Chirurgie in Rio de Janeiro.

Die Klinik entwickelte sich zu einer Goldgrube, schon bald zog sich Mentoff aus dem operativen Geschäft zurück und begann sich wieder mit seinem alten Fach, der Psychiatrie, zu beschäftigen. Er veröffentlichte einige Artikel über neue Ansätze in der Konfrontationstherapie, die dafür warben, bei Phobien verstärkt die Möglichkeiten moderner digitaler Bildbearbeitung zu nutzen.

Mitch findet zwei Fotos von Mentoff, die im Paradise Mountain Resort aufgenommen worden waren. Das erste Bild zeigt Mentoff mit einer brünetten Schönheit, die Bildunterschrift spricht von Claire Bergmann, seiner persönlichen Assistentin. Das zweite Bild wurde für eine amerikanische Fachzeitschrift aufgenommen, es zeigt den Professor hinter einem großen Glasschreibtisch, der in einem minimalistisch eingerichteten Büro steht. Hinter dem Professor hängt an der Wand eine aufwendig gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie mit Widmung.

Die Bildunterschrift verrät, dass es sich bei dem Herrn auf dem Foto um den japanischen Nobelpreisträger Susumu Tonegawa handelt.

Wieder bemüht Mitch das Netz. Der Japaner wird als medizinisches Genie gefeiert, der schon mit Ende vierzig den Nobelpreis erhielt, damals für seine Arbeiten als Immunologe. Dann wechselt er die Fachrichtung, wendet sich der Hirnforschung und den Neurowissenschaften zu. Auf der Suche nach Möglichkeiten, Depressionen, Autismus und Alzheimer zu heilen, hat er begonnen, die Hirnfunktionen von Mäusen mit Hilfe von Glasfaserkabeln, die in das Gehirn der Tiere implantiert wurden, zu manipulieren. Ihm und seinem Team gelang es, durch Lichtimpulse ins Gehirn der Nager falsche Erinnerungen zu wecken, ein Blitz zuckt und die kleinen Kerle erinnern sich an einen Weg zum Fressnapf, den sie tatsächlich nie gegangen sich. »Bei den Mäusen geht es dabei immer nur ums Bumsen und ums Fressen«, denkt Mitch, »kommt mir irgendwie bekannt vor.«

Der klug und gütig aussehende Japaner betont die Chancen, die in seiner Arbeit liegen, warnt aber vehement vor Missbrauchsmöglichkeiten, sollten solche Experimente an Menschen gemacht werden.

Mitch schüttelt sich: »Scheiße, Laserblitze im Kopf von Mäusen. Warum macht der das? Bevor der erste Alzheimerpatient so geheilt wird, schicken die NSA und die Russen bereits die ersten Zombiearmeen mit Laserkabeln im Hirn gegeneinander in den Krieg. Mann, ich weiß nicht, ob es mir gefallen würde, wenn mein Arzt einen Hirnforscher hinter seinem Schreibtisch hängen hätte.«

Dann fällt ihm ein, dass Vera Ferrata von Manipulationsversuchen geschrieben hat.

Mitch schüttelt den Kopf, der Weg von Mäusen zu einer Filmdiva ist dann doch sehr weit.

Mentoff hat die Ferrata unsanft in einen Designersessel in ihrer Suite gedrückt.

Er spricht hektisch in sein Handy, dann wendet er sich an die immer noch erregte Patientin.

»Sie wissen, dass Sie ein massives Alkoholproblem haben. Sie sind auf starke Medikamente eingestellt. Erst wenn wir die reduziert haben, kann ich Sie gehen lassen. Ich muss Sie bitten, sich noch zwei bis drei Tage zu gedulden. Wenn Sie Dr. Tanner nicht mehr vertrauen, können wir jederzeit den Arzt wechseln. Wäre Ihnen eine Kollegin lieber? Es ist schade, weil Tanner meint, Sie hätten echte Fortschritte gemacht, würden sich aber immer noch massiv gegen diese Fortschritte wehren.«

Ruckartig wird die Tür zur Suite geöffnet. Ein Arzt im weißen Kittel, begleitet von einem kräftigen jungen Mann in Jeans und Pullover, stürmt in das Zimmer.

Die Ferrata blickt mit aufgerissenen Augen den etwa vierzigjährigen, stark übergewichtigen Arzt an, auf dessen geröteter Stirn Schweißperlen stehen. Abrupt wendet sie sich wieder dem Professor zu: »Verdammt, Sie verarschen mich! Gerade versprechen Sie Tanner abzuziehen, und eine Minute später stürmt er in mein Zimmer. Tanner lügt, ich habe nie das Auto gefahren, ich habe nie in diesem verdammten Sportwagen hinter dem Steuer gesessen. Ihr lügt alle! Ich will hier weg, und zwar jetzt! Lassen sie mich telefonieren, ich will sofort ein Taxi. Ich bleibe keine Sekunde länger in dieser Irrenanstalt!«

Weinend springt sie auf, will zur Tür stürmen, wird dabei von dem jungen Mann festgehalten.

Tanner blickt zu Mentoff, der nickt.

Jetzt hat Tanner eine Spritze in der Hand, der junge Mann umklammert die Ferrata, eine Hand bedeckt ihren Mund. Sie stöhnt, als Dr. Tanner ihr den rechten Ärmel hochschiebt und die dünne Injektionsnadel in ihrem Arm versenkt.

Sie kämpft gegen den starken Griff des jungen Mannes, dann beginnt sie zu zucken, ihre Glieder erschlaffen. Tanner und der junge Helfer tragen sie Richtung Bett, legen sie in Seitenlage, ein Kissen unter dem Kopf.

Mentoff schnauzt Tanner an: »Das ist keine gute Patientenführung, was Sie da abgeliefert haben, Tanner, sowas können wir uns nicht leisten. Sie sollen sie nicht mit dem Holzhammer behandeln, Sie sollen sie führen. Behutsam, sie mitnehmen. Bitte informieren Sie die Pflegerinnen, hier wird ab jetzt ständig jemand aufpassen. Ich erwarte Sie in einer Stunde in meinem Büro.«

Mentoff stürmt aus der Suite, Tanner dreht sich zu der betäubten Schauspielerin und wählt dann die Nummer der Pflegezentrale.

»Bitte einmal Rund-um-die-Uhr-Service in der Ferrata-Suite.«

In Frankfurt erhebt sich Mitch von seinem Schreibtisch. Er hat einige Stunden Akten gefressen, weiß jetzt viel über Oxford Labs, noch mehr über Social Media.

Mitch reckt sich, reibt die müden Augen, er verliert sich gerne vor dem Computer, erreicht bei der Arbeit manchmal eine sehr spezielle Art von Konzentration, die etwas Euphorisierendes hat.

Er starrt in den Spiegel.

»Siehst scheiße aus Junge, zu blass, zu müde, wieder ein paar Kilos zu viel. Mehr Sport wäre gut, aber mein Lieber, wem erzähle ich das.« Mitch zieht eine Grimasse vor dem Spiegel, zuckt resignativ mit den Schultern. Er fühlt sich merkwürdig traurig. Die Kämpfe um die freien Jobs sind hart – und hinter ihm lauern Konkurrenten, die deutlich jünger sind als er.

Doch dann grinst er: »Sei glücklich, Idiot, immerhin schreibt dir eine echte Diva. Wirst bald mal wieder Glück haben, auch im Privatleben, bist langsam dran.«

Er macht sich frisch, will nochmal raus. Er geht die paar Schritte zu seinem Lieblingsspanier, findet im Casa Pintor einen Platz am Tresen, hat sofort einen Rioja vor sich stehen und ganz nette Nachbarn. Trotzdem, seine Traurigkeit hat er mitgenommen.

Mitch muss an Amir denken, den kleinen achtjährigen Flüchtlingsjungen, der in seinem letzten Abenteuer eine große Rolle gespielt und den Mitch in den Monaten danach immer wieder getroffen hat. Leider ist Amir vor einiger Zeit mit seinen Eltern nach Dortmund gezogen. Mitch will es sich nicht eingestehen, aber der Kleine fehlt ihm. »Wahrscheinlich sehne ich mich ganz einfach nach einer spießigen Familie mit Mama, Papa und zwei Kindern. Bad luck, mein Freund, dafür ist es zu spät. Dafür bin ich immer an den entscheidenden Weggabelungen falsch abgebogen. Aber woher soll man vorher auch schon wissen, welche verdammte Kreuzung wichtig ist?«

Er hatte sich immer für den Weg entschieden, der kurzfristig der spannendere war. Immer hatten heiße Storys Vorrang gehabt vor gelebten Beziehungen. Neue Länder, neue Jobs, es ging immer um die Aufregung des Moments. Sein Leben war, eine Story im letzten Moment fertig zu kriegen, dabei zu sein, wenn irgendwo ein kleines Stück Geschichte gemacht wird. Doch langsam und unmerklich wurden diese Kicks abgeschmackter, die Leere fühlbarer.

Mitch bestellt gegen den Trübsinn noch einen Carlos Primeiro als Absacker, und spürt wieder einmal, dass der letzte Drink immer schon den schalen Geschmack des nächsten Morgens hat.

Im Zimmer des wachhabenden Arztes im Paradise Mountain Resort leuchte der rote Alarmknopf unter der Zimmernummer 508. »Oh nein, nicht schon wieder die verdammte Filmzicke«, stöhnt Dr. Tanner und wuchtet seinen schweren Körper von der Liege hoch, auf der er etwas geschlafen hat. Rot bedeutet, dass eine Pflegekraft Probleme in der Suite hat und die Hilfe des Arztes braucht. Das Haus ist zurzeit gut belegt, etwa 80 Gäste werden betreut. Man sagt Gäste im Paradise Mountain Resort, nicht Patienten. Etwa fünf von ihnen sind im sogenannten VIP-Programm, wie Mentoff seine Intensivbetreuung gerne nennt. Die Ferrata gehört dazu.

Tanner ist sauer, er bereitet eine Spritze mit Beruhigungsmittel vor, dosiert recht großzügig, er hat die Faxen dicke.

Als er die Tür zur Suite 508 öffnet, sieht er eine aufgelöste Pflegerin, die von der Ferrata übel beschimpft wird. Als die Diva Tanner sieht, lässt sie sofort von der Pflegerin ab und beginnt ihren eigentlichen Feind zu beschimpfen.

Wieder geht es um den Unfall, wieder geht es um einen Ferrari, in dem sie nie am Steuer gesessen habe. Tanner lässt sich auf nichts ein, knurrt böse: »Halten Sie das Maul«, und schnappt dann ziemlich grob den Arm und die Schulter der Schauspielerin.

»Halten Sie sie fest«, befiehlt er der Pflegerin.

Tanner rammt ihr die Nadel in den Arm, ihm ist jetzt völlig egal, ob er der Dame weh tut oder nicht.

Die Ferrata wankt, ihr Widerstand ist gebrochen.

Tanner und die Pflegerin legen sie auf ihr Bett, bringen sie in Seitenlage, mit einem Kissen unter dem Kopf.

Es ist 0:30 Uhr, als Tanner und die Pflegerin die Suite 508 verlassen.

3

Gegen 5 Uhr am frühen Morgen patrouillieren zwei Security-Männer mit einem Schäferhund über das Gelände. Vor dem Haupthaus wird der Hund unruhig, sträubt die Haare, knurrt.

Die Wachmänner umrunden ein perfekt geschnittenes Gebüsch und begreifen sofort, dass ihre ruhige Nachtschicht vorbei ist. Im Licht ihrer Taschenlampen sehen sie eine regungslose Frau, das blonde Haar ist blutverschmiert, der Kopf unnatürlich zur Seite geknickt.

»Scheiße Mann, die ist tot, die ist wohl aus dem verdammten Fenster gesprungen.« Der Lichtkegel der Taschenlampen richtet sich nach oben, im fünften Stock scheint tatsächlich ein Fenster weit geöffnet zu sein.

»Ich ruf den Tanner an.«

Sein Kollege schüttelt den Kopf. »Lass das, wir brauchen keinen Arzt, ich wecke den Chef.« Der Wachmann hat wie alle Security-Männer die Nummer von Vernon Graves gespeichert, dem amerikanischen Sicherheitschef der Klinik, dem engsten Vertrauten von Professor Mentoff.

»Chef, es gibt Ärger, wir haben eine Tote vor dem Haupthaus, ich glaube, es ist die blonde Deutsche, der Filmstar aus der Suite im fünften. Okay, wir warten.«

Nur wenige Minuten nach dem Telefonat erscheint ein schwarz gekleideter, durchtrainierter Enddreißiger am Fundort der Leiche.

Graves berührt mit zwei Fingern den Hals der Ferrata, versucht einen Puls zu finden. Er schüttelt den Kopf. »Habt ihr außer mir noch jemanden alarmiert? Nein, gut. Ihr beide geht nach oben, sichert Suite 508. Von außen. Ihr werdet das Zimmer nicht betreten. Ihr werdet niemanden rein lassen, ist das klar? Und bringt erst den Hund weg, ein Mann reicht da oben. Habt ihr richtig gemacht, mich zu alarmieren und keinen Arzt. Verdammte Sauerei.«

Graves steckt sich eine Zigarette ins Gesicht, inhaliert tief. Dann schaut er sich um, ob jemand in der Nähe ist. Er hat sein Handy in der Hand, wählt eine gespeicherte Nummer.

Es dauert lang, bis er die verschlafene Stimme von Professor Mentoff hört.

»Vernon, was gibt es zum Teufel, es ist kurz nach fünf.«

»Carlos, wir haben ein Problem. Die Ferrata liegt mit gebrochenem Genick vor dem Haupthaus. Entweder ist sie aus dem Fenster gesprungen, oder jemand hat sie rausgeworfen, könnte man ja auch verstehen, bei der anstrengenden Señora.«

»Die Ferrata, das gibt Ärger, verdammter Mist. Ist Tanner bei dir?«

»Nein, den haben wir außen vor gelassen, ich will den Schwätzer hier nicht.«

»Okay, ich komme.«

Mentoff knallt sein Handy auf den Schreibtisch, bemerkt kaum die Schönheit der frühen Stunde. Ein erstes, noch zartes Morgenlicht trifft die Berggipfel auf der anderen Seite des Tals. Mentoff bewohnt eine hypermoderne Villa auf dem Sonnenberg im Dorf Sankt Martin im Kofel, das Haus liegt direkt am Steilhang und hat eine spektakuläre Aussicht. Ein Obstgroßhändler hat die Villa gebaut, Mentoff zahlt monatlich ein Vermögen für eine der verrücktesten Immobilien Südtirols. Er greift wieder zum Handy: »Vernon, schick den Heli, dauert sonst zu lange. Ich bin in 15 Minuten auf der Wiese.«

Gut 20 Minuten später landet der dunkelblaue Agusta-Bell 206 Jet Ranger auf einer Wiese gleich neben der Bergstation der Seilbahn. Ein ziemlich verschlafen wirkender Pilot öffnet die Tür, Mentoff springt auf einen der vier Passagiersitze und gibt Zeichen zum sofortigen Start. Das Allison-Triebwerk heult auf, der Hubschrauber gewinnt schnell an Höhe und fliegt jetzt mit gut 250 Stundenkilometern das Martelltal hoch.

Mentoff weiß, der Tod eines der größten Stars des deutschen Kinos kann für ihn zum PR-Desaster werden.

Er hat keinen Blick für die Schönheit der Landschaft unter ihm, blassrosa leuchten jetzt die Berggipfel, das Tal selber noch nachtschwarz.

Um 6:15 Uhr erreicht der Jet Ranger den Landeplatz auf dem Gelände des Resorts. Vernon Graves duckt sich unter die noch kreisenden Rotorblätter, öffnet seinem Chef die Tür und begleitet ihn sofort zum Fundort der Leiche. Ein Security-Mann hält Wache, noch hat niemand vom Personal etwas bemerkt.

Mentoff trägt jetzt Gummihandschuhe, er inspiziert die Leiche. »Eindeutige Sturzverletzungen, Schädelbruch, diverse weitere Frakturen.« Er rollt den Ärmel des Pyjamas hoch, gibt einen wütenden Zischlaut von sich.

»Idioten, zwei frische Einstiche im rechten Arm und Hämatome im Bereich Oberarm und Schulter.«

Graves raucht hektisch, blickt fragend den Chef an. »Müssen wir die verdammte Polizei holen? Die werden überall rumschnüffeln.«

»Keine Alternative, das Ding hier wird Schlagzeilen machen, morgen Seite eins der BILD. Ruf die Polizei an, wir verlegen den Zeitpunkt des Fundes etwas nach hinten, sonst kommt sofort der Vorwurf, wir hätten zu lange gewartet. Los, ruf an.«

Graves greift zum Telefon, Mentoff blickt auf die Uhr – 6:35.

Um 7:15 Uhr flackert Blaulicht vor dem Tor des Paradise Mountain Resorts, ein Alfa Romeo der Polizei rollt auf das Gelände.

Am Morgen fühlt sich Mitch halbwegs fit.

Kalte Dusche, zwei Espresso, frisches Hemd – er starrt die zwei Stapel auf seinem Schreibtisch an.

Links liegen die Ausdrucke und Notizen zu Madame Ferrata und zum Paradise Mountain Resort, rechts liegt das Dossier zu den Wahlkämpfern von Oxford Labs.

Mitch wendet sich dem rechten Stapel zu. »Sorry, Madame Ferrata, aber diese Arbeit wird bezahlt.«

Mitch merkt verdammt schnell, dass es ihm nur schwer gelingt, sich auf sein Dossier zu konzentrieren. Er wird das quälende Gefühl nicht los, Frau Ferrata rufe tatsächlich nach Hilfe und er lasse sie hängen. Er tröstet sich mit dem Gedanken, dass eine Frau wie Vera Ferrata wahrscheinlich ein Dutzend solcher rosa Briefe verschickt hat. »Ein Held wird sich finden«, denkt Mitch und vertieft sich in die Oxford-Papiere.

Er staunt, wie viel kleine Facebook-Däumchen über ihre Besitzer verraten.

Wer männlich ist und die amerikanische Kosmetikmarke MAC mag, ist fast immer schwul. Fans der New Yorker Hip Hopper Wu-Tang Clan sind fast immer hetero. Mit durchschnittlich 68 Facebook-Likes kennt man die Hautfarbe der untersuchten Person, ihre sexuellen Präferenzen, und ihre politische Orientierung.

Als der Versuchsleiter des Instituts seine Ergebnisse erstmals veröffentlichte, bekam er zwei Anrufe – beide von Facebook. Eine Klageandrohung und ein Jobangebot.

Mitch muss lachen: »Super, eine Klagedrohung und ein Jobangebot, fragt sich, was bedrohlicher ist.« Er liest, wie die ernsthaften Akademiker des Instituts von einer Gruppe an die Wand gedrückt wurden, die schnell den möglichen kommerziellen Nutzen der Datensammlung und deren schlummernde Möglichkeiten erkannt hatten.

Es wurde Druck ausgeübt, es wurden kleine Kompensationen bezahlt, und plötzlich betrat die Firma Oxford Labs die Bühne. Sie bietet sich politischen Parteien an, verspricht Wählerprofile von einer bisher nicht gekannten Schärfe. Während es im amerikanischen Wahlkampf anfangs noch hieß, Hillary Clinton habe die besseren Leute an den Computern, bekam Trump maßgeschneiderte Lösungen angeboten. Gesucht wurden z.B. Wähler in Indiana, die Waffen besitzen und denen man einreden wollte, Hillary würde ihnen die geliebten Knarren wegnehmen.

Die Rechner von Oxford Labs spuckten ein paar tausend Waffenbesitzer aus – man hatte die Mitgliederlisten der National Rifle Association. Man hatte aber noch viel mehr. Es gab Psycho-Profile der Waffenfreunde, die auf deren Facebook-Likes basierten. Waffennarren mit Ängsten vor Verbrechern fanden plötzlich in ihrer Mail ein Video, auf dem dunkle Gestalten um ihr Haus schlichen. Als der Hausbesitzer zum Waffenschrank eilte, fand er die Tür versperrt: HILLARYNIMMTDIRDEINEGEWEHREWEG – hieß die Botschaft.

Lebensfroh gestimmte Waffenfreunde bekamen ein anderes Video, in dem ein Vater mit seinem Sohn von der Entenjagd zurückkehrte, beide eine Schrotflinte über der Schulter, eine stimmungsvolle Gegenlichtaufnahme. Hier lautete der Spruch: HILLARYWILLDIRDENSPASSMITDEINEMSOHNVERBIETEN.

Wer die Stimmung seiner Zielgruppe genau kennt, der kann punkten.

Trump verdankte seinen Sieg immer nur ein paar tausend Stimmen mehr, die aber wurden in den entscheidenden Bezirken der Swing States errungen. Dank Oxford Labs.

Die Polizisten lassen sich auf keine Diskussion ein. Während der eine Fotos von der Leiche macht, geht der zweite Beamte nach oben und kontrolliert Suite 508.

Das Zimmer wirkt unauffällig, das Fenster ist weit geöffnet, ein Stuhl steht dicht davor. Nichts deutet auf einen Kampf hin.

Der Beamte versiegelt das Zimmer.

»Der Raum bleibt solange verschlossen, bis die Kollegen der Spurensicherung eingetroffen sind. Kapiert?«, faucht er Mentoff an, der protestiert.

Ein Kastenwagen der Polizei rollt auf das Gelände, die Leiche wird abgeholt, sie geht nach Bozen – zur Obduktion.

In etwa zwei Stunden wird die Kripo eintreffen.

Professor Mentoff bittet Tanner und einige Ärzte in sein Büro. Ein karger strenger Raum, schöne alte Holzdielen, ein moderner Glasschreibtisch, an der Wand das Respekt heischende Foto von Susumu Tonegawa. Ebenfalls anwesend: Sicherheitschef Graves und Claire Bergmann, die sehr gutaussehende Assistentin des Professors. Sie ist Mitte zwanzig, brünett, eine auffallende Erscheinung.

Mentoff sitzt hinter seinem Schreibtisch, er hat sich umgezogen, trägt jetzt einen italienischen Maßanzug, weißes Hemd und eine etwas grelle Versace-Krawatte.

»Tanner, Sie waren der diensthabende Arzt. Nach dem Dienstprotokoll haben Sie kurz nach Mitternacht die Suite von Frau Ferrata betreten, darf ich fragen, warum?«

Tanner berichtet, wie immer etwas kurzatmig, von dem Alarm der Pflegerin, verschweigt aber seine enorme Wut. »Die Situation drohte zu eskalieren, es schien mir geboten, ihr eine Beruhigungsspritze zu geben.«

»Wie erklären Sie sich die Hämatome an Arm und Schulter der Toten?« Mentoff mustert Tanner sichtbar verärgert. Dessen bräsige Art nervt ihn, der Mann scheint keine Ahnung zu haben, wie gefährlich die Sache für das ganze Haus werden kann.

»Sie wehrte sich vehement gegen die Injektion, ich musste ein gewisses Maß an körperlichem Druck anwenden, um sie zu beruhigen.«

»Verdammt, Tanner«, jetzt explodiert Mentoff, »auf diese verdammten Hämatome wird der Rechtsmediziner abfahren, und die Kripo wird sich in sie verbeißen.«

Tanner zuckt die Schultern, beteuert, es sei medizinisch geboten gewesen, der Ferrata die Spritze zu verpassen.

»Wenn Sie mir misstrauen, Professor Mentoff, fragen Sie bitte die Pflegerin, die wird meine Angaben bestätigen. Als wir gegen halb eins das Zimmer verließen, lag die Ferrata auf dem Bett und wirkte, als würde sie in Kürze einschlafen.«

Mentoff bedankt sich, bittet die Runde zu gehen, nur Vernon Graves und Claire Bergmann bleiben beim Chef.

Mitch liest, bis ihm die Augen weh tun, er fühlt sich jetzt langsam informiert genug, um den Informanten anzurufen. Erst aber will er einen Happen essen. Da er wieder einmal auf Diät ist, springt er auf sein Fahrrad und steuert einen kleinen Japaner in der Innenstadt an.

Seine Standardbestellung Lachs Sashimi und ein Wasser, kein Reis, wird freundlich zur Kenntnis genommen. Ein winziges Lokal, am länglichen Tresen ist Banker neben Banker aufgereiht, die versuchen, feinste Sushi-Häppchen zwischen zwei Stäbchen zu halten, ohne sich dabei die stinkteuren Hermès-Krawatten zu versauen. Mitch mag die Banker nicht sonderlich, aber der Lachs ist toll und über dem Tresen hängt ein Trikot von Eintracht Frankfurt mit der Unterschrift von Makoto Hasebe, einem japanischen Gentleman, der für die Eintracht kickt und den Mitch schätzt.

Gut anderthalb Meter über dem Tresen ist an der Längsseite des kleinen Raumes ein Flachbildschirm verankert, auf dem nonstop ntv ohne Ton läuft. Da Mitch keinen Bock auf Unterhaltung hat, fällt sein Blick auf den Fernseher. Eine Pressekonferenz mit Schäuble, langweilig. Dann lässt Mitch fast seine Stäbchen fallen. Er blickt in ein bildfüllendes, sehr schmeichelhaftes Foto von Vera Ferrata. Mitch sieht die ernste Miene des Nachrichtensprechers, liest dann das Laufband – Selbstmord in den Alpen – Tragödie im Luxusresort – Filmstar Vera Ferrata tot. Mitch spürt, dass ihm kalt wird, er zahlt, bekommt jetzt auch die ersten Push-Meldungen auf sein Handy. Kein Zweifel, Vera Ferrata ist tot.

Dann meldet Spiegel Online, dass um 14 Uhr eine Pressekonferenz im Paradise Mountain Resort beginnen soll.

Mitch hofft, dass einer der Nachrichtenkanäle live dabei sein wird.

Er leidet plötzlich unter einem schlechten Gewissen.

Im Paradise Mountain Resort herrscht dicke Luft. Professor Mentoff hat die Abteilungsleiter in den ärztlichen Besprechungsraum gebeten.

Der Chef selber aber verspätet sich, er sitzt noch in seinem Arbeitszimmer. Vor dem Schreibtisch hat sich Vernon Graves aufgebaut, wütend, den Zeigefinger auf den Chef gerichtet. »Was soll der Schwachsinn, hier eine Pressekonferenz abzuhalten, bist du von allen guten Geistern verlassen? Stoppe das, sofort!«

Mentoff starrt Graves an. »Das habe ich nie angeordnet. Und bitte, mäßige deinen Ton.«

Die beiden hasten die geschwungene Treppe hinab, eilen an der Rezeption vorbei.

Sie stoppen kurz an der Tür zum Besprechungsraum. »Lass mich hier reden«, zischt Mentoff.

Die schwere Tür fällt hinter ihnen ins Schloss.

»Welcher Idiot hat zu der Pressekonferenz hier ins Paradise geladen? Ich habe keinerlei Lust, dass hier zig Journalisten quer über das Gelände laufen. Soviel Security-Leute haben wir nicht, um das zu kontrollieren.«

Mentoff schaut aus vor Wut noch dunkleren Augen in die Runde.

Claire Bergmann übernimmt sofort die Verantwortung. »Ich glaube, wir können jetzt nur mit allergrößter Offenheit agieren. Wie es aussieht, kann selbst ein bitterböser Staatsanwalt Tanner maximal vorwerfen, er habe die Ferrata etwas grob angepackt. Und vielleicht die Downer etwas zu stark dosiert. Nichts spricht für Fremdverschulden, das müssen wir der Presse in aller Ruhe erklären.«

»Danke, Claire, stimmt wie meistens bei dir, aber das werden wir der verdammten Presse nicht hier auf dem Gelände erklären. Alles, was mit Presse zu tun hat, läuft nicht ohne meine Zustimmung, kapiert? Hier geht es um unser Renommee. Ändere den Ort der Konferenz, versuche, den Saal im Waldheim zu kriegen.«

Claire hastet in ihr Büro, hat Glück und erreicht den Chef des Ausflugshotels Waldheim, das etwa fünf Kilometer vom Paradise Mountain Resort entfernt liegt. Jeder Journalist, der auf dem Weg zum Resort ist, muss dort vorbeikommen.

Claire Bergmann ist wütend, sie ist es nicht gewohnt, von Mentoff öffentlich in den Senkel gestellt zu werden. Sie benachrichtigt alle im Presseverteiler gelisteten Medien, nennt die neue Location.

Ihr Telefon klingelt, RAI und ntv haben sich bereits mit einer Liveübertragung angemeldet.

Mitch fühlt sich wie im falschen Film. Bis vor 24 Stunden hatte er kaum gewusst, wer Vera Ferrata überhaupt war, jetzt wird er von heftigen Schuldgefühlen geplagt. Hätte er helfen können, hätte er im Resort anrufen sollen, hätte er der Schauspielerin Mut machen können? Mitch rast nach Hause, will sich die Pressekonferenz im Fernsehen anschauen. Unterwegs ruft er zwei Kolleginnen von der Klatschpresse an. Er will wissen, was die Expertinnen von der Ferrata halten – ist sie eine Selbstmordkandidatin? Mit einer der beiden hat er vor Jahren mal eine unbedeutende Affäre gehabt. Natürlich begann das Telefonat mit: »Ach, dass du dich mal meldest.« Beide Damen halten die Ferrata für labil, betonen aber, dass sie nie als suizidgefährdet galt.

Mitch sieht jetzt bei ntv ein riesiges Fachwerkhaus mit großer Sonnenterrasse, ein typisches Ausflugslokal.

Ein Sprecher erklärt, dass dies das Waldheim sei, eines der größten Lokale im Martelltal, nur etwa fünf Kilometer von dem jetzt berühmten Paradise Mountain Resort entfernt.

Dann springt die Kamera nach innen.

Eine auffällige dunkelhaarige Schönheit begrüßt die Presse, stellt sich vor als Claire Bergmann, Assistentin der Geschäftsleitung.

Dann erteilt sie das Wort Herrn Professor Mentoff.

Der Chef des Paradise Mountain Resort trägt einen schwarzen Armani-Anzug mit einer etwas zu grellen Versace-Krawatte.

Er berichtet vom Fund einer weiblichen Leiche gegen 5:30 Uhr morgens.

Ja, bei der Toten handele es sich um Vera Ferrata. Er wolle den Ergebnissen der Gerichtsmedizin aus Bozen nicht vorgreifen, aber er und seine Kollegen hätten keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung gefunden.

»Ich verstehe Ihre professionelle Neugier, meine Damen und Herren, aber ich bin Arzt und Frau Ferrata war meine Patientin. Ich werde mich an keinerlei Spekulationen über irgendwelche Motive beteiligen. Wir fühlen uns unseren Patienten und unserem Schweigegelöbnis verpflichtet, auch über den Tod hinaus.«

Eines nur könne er sagen, Frau Ferrata habe sehr unter dem Unfalltod ihres Mannes vor wenigen Wochen gelitten. Sie habe sich Vorwürfe gemacht, habe Schuldgefühle gehabt.

»Nein, ich bin nicht bereit, auf weitere Fragen zu antworten.«

Mentoff verabschiedet sich mit einer arroganten Kopfbewegung und verlässt den Raum. Die Außenkamera fängt ihn wieder ein, Mitch sieht ihn einen schwarzen Maserati Levante besteigen und davonfahren.

Im Saal verkündet jetzt ein schick uniformierter Polizeisprecher, man habe die Obduktion in Bozen abzuwarten, danach werde die Polizei eine Erklärung abgeben.

Mitch vergisst seine guten Vorsätze, kippt einen Single Malt.

Er flucht: »So viele Zufälle kann es nicht geben, jemand, der Selbstmord begehen will, schreibt vorher keine Hilferufe. Oder vielleicht doch? Was weiß ich, wie so eine Diva tickt. Ich muss da hin, ich muss mich in dem Schuppen anmelden, muss meinen Alkoholismus therapieren lassen.« Ein toller Plan, Mitch weiß genau, dass er maximal zwei Tage im Paradise Mountain Resort bezahlen könnte. Ohne Auftraggeber leider zu teuer.

Im Resort sitzen Mentoff und sein Sicherheitschef in Mentoffs Büro bei einer guten Flasche Lagreiner.

Der Chef ist jetzt ganz zufrieden. »Okay, der Rechtsmediziner wird eine hohe Beruhigungsmittelkonzentration im Blut finden, das soll Tanner kommentieren, der weiß nichts anderes und wird deswegen am überzeugendsten wirken.«

»Wie sieht es mit anderen Drogen aus?«, will Graves wissen.

»Maximal geringe Spuren von Meskalin«, Mentoff lacht überlegen, »gut, sollten sie das finden, dann wäre die Erklärungslinie einfach. Privater Drogenmissbrauch, der von uns leider nicht unterbunden werden konnte. Hätte alles schlimmer kommen können.«

Die beiden Männer trinken noch einen Schluck Lagreiner und verlassen dann das Büro.

Mentoff und Graves gehen an der Rezeption vorbei in den hinteren Gang im Erdgeschoss. Ganz am Ende des Ganges stehen sie vor einer verschlossenen Stahltür mit der Aufschrift: ZUTRITTVERBOTEN, NURAUTORISIERTESPERSONAL.

Mentoff öffnet die Tür mit einem Schlüssel, steht jetzt in einem kleinen leeren Raum, an dessen hinterer Wand eine Aufzugstür metallisch glänzt. Mentoff tippt einen Code ein und dreht sich zu Graves um: »Vernon, ganz wichtig, alles Bildmaterial Ferrata muss gelöscht werden, und zwar auf allen Datenträgern. Sag den Videojungs Bescheid, denk aber auch an die Rechner, an die Zwischenspeicher in den Schnittcomputern!«

Graves nickt.

Mentoff betritt den Aufzug, dessen Türen sich leise hinter ihm schließen. Graves wartet einige Sekunden, greift dann in sein Jackett, angelt ein Handy hervor, drückt eine gespeicherte Nummer. Mit dem Telefon am Ohr verlässt er den Vorraum, verschließt sorgfältig die Tür. Endlich steht die Verbindung. Graves wirkt erleichtert, spricht sehr schnell, aber klar und konzentriert auf Englisch mit starkem amerikanischen Akzent.

4

Zwei Tage sind vergangen, in denen Mitch sich nur im Kreis gedreht hat.

Er spürt, dass etwas faul ist am Tod von Vera Ferrata. Er hat von der BILD bis zum Grünen Blatt alles gelesen, was sich die Dichter des Boulevards aus den Fingern gesogen haben.

Und das war eine ganze Menge.

Für Mitch verdammt schwer lesbarer Stoff. Die Ferrata war eine kapriziöse Diva, zweifellos eine labile Person, aber nie wurde sie mit dem Thema Suizid in Verbindung gebracht. Und das, obwohl die Damen und Herren von der Yellow Press gerne mit dem großen Hammer und den fetten Schlagzeilen arbeiten.

Okay, sie hat wohl unter dem Unfalltod ihres Mannes gelitten.

Über diesen Tod blieben alle Artikel – selbst für Boulevard-Verhältnisse – merkwürdig vage. Auf einer Landstraße nahe München hatte sich ein ziemlich neuer pechschwarzer Ferrari GTC4 um einen Baum gewickelt. Fahrer und Beifahrerin, das Ehepaar Ferrata, konnten sich mühsam selber befreien, doch kurz nach dem Eintreffen der Notärzte verstarb Herr Ferrata noch an der Unfallstelle an inneren Blutungen. Hartnäckig hielt sich ein Gerücht – nicht er, sondern sie habe am Steuer des Wagens gesessen.

Alles unklar, viel Spekulation, wenig Fakten. Mitch zuckt mit den Schultern, murmelt vor sich hin: »Verdammt, ich kenne diese Lady nicht, und eigentlich will ich mit ihr und dieser ganzen Schickeria nichts zu tun haben. Ich bin kein Privatdetektiv, der von ihr bezahlt wird. Ich bin freier Journalist und kann mir nur dann eine intensive Recherche leisten, wenn ich irgendeine Chance sehe, das Geld durch eine verkaufte Story wieder reinzukriegen. Habe ich eine Chance eine Ferrata-Story zu Geld zu machen? Nein, ich werde nicht plötzlich anfangen Klatsch zu kolportieren, nur weil ein rosa Briefumschlag toll gerochen hat.«

Er trinkt einen Espresso und spielt mit dem Gedanken die italienische Polizei anzurufen und von dem Brief zu erzählen.

Als er sich aber vorstellt, radebrechend am Telefon einem gelangweilten Italiener von einem busta rosa, einem rosa Umschlag zu erzählen, da weiß er, er lässt es besser.

Stattdessen greift er zu dem anderen Stapel auf seinem Tisch, öffnet den Umschlag mit den Daten des Informanten und liest: Mr. George Boultner, langjähriger ehemaliger Mitarbeiter von Oxford Labs, davor einige Jahre beim MI5 beschäftigt, dem britischen Inlandsgeheimdienst. Schon fühlt sich Mitch auf vertrauterem Terrain. Er greift zum Telefon, wählt eine verdammt lange Nummer, die mit 0044 anfängt.

Ein schnarrender Rufton, dann hat er eine sehr britisch klingende Stimme am Ohr.

Mr. Boultner ist cool, knapp, präzise. Er werde, sagt er, für Mr. Berger morgen ein Zimmer im Stanton Hotel in der Nähe der Shaftsbury Avenue, also mitten in der City, buchen. Der Schuppen sei ideal, zentral gelegen, unauffällig und für einen freien Journalisten bezahlbar. Für London alles andere als selbstverständlich. »Ich kann Ihnen auch eine Suite im Mayfair buchen, für schlappe 800 Pfund oder mehr am Tag, falls Ihnen das Stanton nicht standesgemäß erscheint«, näselt es aus dem Telefon. Mitch lehnt dankend ab.

Er soll in seinem Zimmer warten, Boultner werde gegen 14:30 Uhr vorbeikommen, dann könne man reden.

Mitch legt auf und bucht für morgen einen Flug mit der LH nach Heathrow.

Er ist froh, dass wenigstens an dieser Front etwas in Bewegung gerät.

Das Paradise Mountain Resort kehrt langsam zum Normalbetrieb zurück.