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"Treasureville" - eine beschauliche Kleinstadt mit brisanten gesellschaftlichen Strukturen. Val ist inmitten eines Bandenkampfes und weiss so gar nichts über die Hintergründe, die ihre Familie dabei spielt. Ein harmloser Jungenstreich bringt sie und ihre Freunde in Gefahr. Nur die Flucht kann sie retten. Aber wohin bringt sie Ben, ihr Beschützer? Und weshalb meldet sich ihre Familie nicht? Val ist voller Fragen - sie bleibt aber zunächst ohne Antworten.
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Seitenzahl: 236
Veröffentlichungsjahr: 2021
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Treasureville
Wo bleiben die denn?, dachte sich Valentina Smith, das kann doch nicht wahr sein! Sie hockte auf ihrem Überwachungsposten, ziemlich nahe bei der Tür. Sie hielt das Walkie-Talkie an den Mund und sprach leise hinein:
«Was macht ihr so lange da drin?! Es könnte uns jemand entdecken!»
Auf der anderen Seite meldete sich Harry Carter zu Wort:
«Ich weiss auch nicht was Lucas und Finn da so lange machen.»
«Und wo ist Mia?»
«Das weiss ich auch nicht. Mensch Val, das ist nicht so einfach wie Finn und Lucas dachten. Ich halte mich ausserhalb der Schulzeiten nie in diesem Scheissgebäude auf, vor allem nicht in diesem Trakt!»
In Valentina stieg langsam die Panik hoch. Wo zum Teufel war Mia Terence? Sie sprach nochmal zu Harry:
«Verdammt Harry, wo ist sie?! Sie könnte in Gefahr sein! Ist ihr was passiert?» Aus dem Walkie-Talkie drang Harrys angsterfüllte Stimme.
Er sagte nur: Lauf!
Als Valentina aufwachte, stand die Sonne schon recht hoch. Sie blickte sich um. Sie lag in einem Gartenhaus. Um sie herum stapelten sich Kisten mit Gartenwerkzeugen und Handschuhen. Neben ihr auf dem Boden lagen Finn Steinfield und Lucas Jenkins. Harry und Mia waren nirgends zu sehen. Vorsichtig rüttelte sie an Finns Schulter. Er schlug die Augen auf und sah sie müde an.
«Was is'n los, Val?»
«Wo sind Harry und Mia?»
Finn richtete sich auf und überlegte.
«Keine Ahnung, alles was ich noch weiss, ist, dass Harry zu uns gelaufen kam und uns nach Mia fragte. Lucas und ich hatten schon länger nichts mehr von ihr gehört. Harry meinte, er hätte Schritte gehört und hätte dich bereits vorgewarnt. Er hat auch gesagt, dass wir uns beeilen sollten, sonst würden wir entdeckt werden. Danach ist er los, um Mia zu suchen.»
«Ich weiss nur noch, wie ich gewartet hatte, weil ich dachte, dass er zu mir rauskommt, aber plötzlich seid ihr beide aus der Tür gekommen und habt mich mitgerissen. Ich weiss noch, dass wir die Strasse runtergerannt und über einen Zaun gesprungen sind. Dann bin ich hier aufgewacht.»
Sie begann sich Sorgen zu machen. Was mag wohl mit Harry und Mia passiert sein? Wessen Schritte hatte Harry gehört? Was ist vor ihrer Flucht mit Mia passiert? Mitten in ihren Überlegungen vernahm sie eine Bewegung. Lucas war aufgewacht. Er richtete sich auf und sah die anderen verwirrt an.
«Wo sind wir?»
Noch ehe jemand antworten konnte, öffnete sich die Tür und ein älterer Herr starrte sie an.
«Officer, hier sind die Penner, die ich heute Morgen gefunden habe.»
Zwei Polizisten traten hinter den Mann heran und sahen sich das Trio im Gartenschuppen an. Sie wurden mit scharfem Ton aufgefordert, herauszukommen. Ohne irgendwelche Gegenwehr zu leisten, liessen sie sich mitnehmen.
Auf der Polizeiwache sahen Finn, Lucas und Val endlich Harry wieder. Er sass bereits auf einem Stuhl und starrte vor sich hin. Val fiel ihrem besten Freund um den Hals.
«Bist du okay? Wo ist Mia?»
Harry sah sie aus müden Augen an. « Im Krankenhaus.»
Val liess ihn los und starrte zu Finn und Lucas rüber. Die beiden sahen ebenso geschockt aus wie sie selbst. Sie sah zurück zu Harry.
«Was ist mit ihr passiert?!»
«Ich habe sie in der ganzen Schule gesucht. Als ich sie fand, lag sie bewusstlos am Boden. Hinter mir hörte ich die Schritte. Ich wollte, dass sie aufwacht und hab ihren Namen gerufen. Doch die Schritte waren schneller bei mir als ich dachte. Ich drehte mich um und sah dem Hausmeister direkt in die Augen. Er rief, ohne zu zögern, die Polizei und die holten mich ab. Ein Krankenwagen nahm Mia sofort mit ins Krankenhaus. Ich habe keine Ahnung wie es ihr geht. Doch das Schlimmste von allem ist, dass diese verdammten Polizisten denken, ich hätte sie K.o. geschlagen. Nur weil der Hausmeister denen das so erzählt hat. Ich könnte den Typen umbringen.»
Sie schwiegen, bis plötzlich ein Polizist aus dem Büro kam und sagte: « Wir haben eure Eltern angerufen. Das heisst, wir konnten nur die Eltern von Ms. Smith erreichen, die anderen gingen nicht ans Telefon. Das heisst, ihr Drei könnt jetzt gehen. Und du, junges Fräulein, du bleibst hier bis dich deine Eltern abholen kommen.»
Der bedrohliche Ton in seiner Stimme jagte Val einen Schauer über den Rücken.
Es vergingen etwa zehn Minuten, die Val wie zehn Stunden vorkamen, bis ihre Eltern endlich im Präsidium erschienen. Val konnte ihren Gesichtern ansehen, dass sie definitiv etwas anderes vorgehabt hatten, als am Sonntagmorgen die Tochter im Präsidium abzuholen. Ihr Vater war sauer, ihre Mutter enttäuscht. Die Eltern sprachen mit den Polizisten, höflich und ruhig, so wie Val es von ihnen gewohnt war. Nach einer halben Stunde gingen Val und ihre Eltern zum Auto.
«Könnt ihr mich bitte zum Krankenhaus fahren?» Ihr Vater antwortete sofort: «Solange dir nichts fehlt, hast du dort nichts zu suchen. Wir fahren jetzt nach Hause und reden am Küchentisch erstmal über diese Sache. Du hast uns nämlich eine Menge zu erklären.» Wütend sank Val zurück in ihren Sitz und sah aus dem Fenster. Die ganze Fahrt nach Hause verlief schweigend. Manchmal konnte Val sehen, wie ihr Vater sie durch den Rückspiegel ansah.
Zu Hause ging die Familie direkt in die Küche zum Tisch und setzte sich. Ihre Mutter machte Kaffee und goss etwas Milch für Val in eine Tasse. Vals Vater begann zu sprechen: «Valentina Smith, kannst du mir und deiner Mutter bitte erklären, warum du heute Morgen mit deinen Freunden in diesem Gartenhaus warst? Ihr habt dort nichts zu suchen!»
«Ich weiss nicht, warum wir da gelandet sind. Nach diesem Zwischenfall ist alles aus dem Ruder gelaufen…»
«Das war nicht meine Frage» antwortete ihr Vater genervt.
«Soll ich dir jetzt erzählen, was passiert ist oder nicht?»
«Schrei deinen Vater gefälligst nicht an, hast du verstanden? Wir können sachlich darüber reden», sagte ihre Mutter streng.
Val sah sie bitter an: «Harry kam am Freitag nach der Schule zu mir und meinte, ob ich mich mit ihm, Finn und Lucas am Samstagabend treffen will. Vor Finns Haus. Ich habe mir nichts Böses dabei gedacht und bin hingegangen. Zur Sicherheit habe ich Mia mitgenommen. Als wir alle da waren, hat Finn Lucas gefragt, ob wir "das Ding" jetzt durchziehen sollen. Und Lucas hat geantwortet, dass das mit mir und Mia als Hilfe bestimmt noch besser funktioniert. Wir sind mit dem Fahrrad zur Schule gefahren und Finn, Lucas, Harry und Mia sind direkt in die Schule reingegangen. Alle haben ihren Posten eingenommen und Harry hat mir, bevor er reingegangen ist, eines seiner Walkie-Talkies in die Hand gedrückt. Damit wir in Kontakt bleiben, meinte er. Ich hatte die Aufgabe, beim Haupteingang aufzupassen, Harry war in der Nähe der Aula und Mia war zur Überwachung am Hintereingang postiert worden. Da es die Idee von Finn und Lucas gewesen war, gingen sie mit der Ausrüstung direkt an den ‹Tatort›».
Ihr Vater sah sie eindringlich an: «Was hattet ihr vor?»
«Finn und Lucas wollten die Wand neben der Tür zum Direktorenzimmer besprayen und dann die Eingangstür mit Panzerband zukleben, sodass man nicht mehr reinkommt. Ich habe das erst vor Ort erfahren.»
Sie konnte sehen, dass ihr Vater nicht sonderlich begeistert war.
«Ich habe das getan, weil ich keine Lust mehr habe, immer das brave Mädchen zu sein und ich wollte den anderen beweisen, dass ich auch cool sein kann!»
«Du gehst sofort auf dein Zimmer», sagte ihr Vater.
Val tat, was er befahl.
Nach kurzer Zeit kam ihre Mutter herein.
«Bereust du, was du getan hast? Sei ehrlich.»
«Ja, ein bisschen schon. Ich wollte dir und Dad keinen Ärger machen, aber es war so verlockend, das zu tun. Und ich muss zugeben, dass es Spass gemacht hat.»
«Einmal eine Dummheit zu machen, das gehört dazu. Solange es bei dieser einen Sache bleibt», sagte ihre Mutter mit Nachdruck.
Aus dem Wohnzimmer drang die Stimme ihres Vaters. Val sah ihre Mutter an.
«Was tut Dad da?»
«Er spricht gerade mit Finns Dad», meinte ihre Mum, «er möchte wissen, was sein Sohn für Einfälle hat und sie besprechen, wie wir als Eltern jetzt vorgehen werden.» «Werdet ihr es der Direktorin erzählen?»
«Das weiss ich nicht, Süsse. Ich glaube aber nicht, dass Finns Dad seinen Sohn in die Pfanne hauen wird. Aber wir erwarten von euch, dass ihr der Direktorin selbst die Wahrheit sagt.»
Sie gingen zurück ins Wohnzimmer und setzten sich aufs Sofa. Ihr Vater hatte gerade aufgelegt. Ihre Mutter sah ihn an: «Was hat Mr. Steinfield zu dir gesagt, George?»
«Nicht viel. Er war verdammt unfreundlich.»
«Jedenfalls hat er zu mir gesagt, dass mich das nix angehe und dass das auf keinen Fall nur Finns Idee sein könne, das sei völlig absurd.»
Val biss sich auf die Lippe. Sie wollte keinen Streit mit ihrem Vater, deshalb korrigierte sie ihn nicht. Den restlichen Tag verbrachte Val in ihrem Zimmer. Sie hörte Musik und zeichnete an ihrer Staffelei.
Am Nachmittag ging sie zu ihrem Vater ins Arbeitszimmer und fragte ihn erneut, ob er sie ins Krankenhaus fahren könne.
«Du hast meine Antwort heute schon einmal gehört. Ich glaube nicht, dass ich sie wiederholen muss.»
«Bitte!»
«Valentina, überleg doch mal, wo dein Tag heute angefangen hat. Wenn er zu Hause angefangen hätte, wäre ich nicht so hart. Aber du musst nun mal die Konsequenzen deines Handelns tragen. Die Antwort ist nein!»
Sie gab auf und fuhr mit dem Bus.
Als sie ankam, ging sie sofort zum Empfangstresen und fragte nach Mia Terence. Eine Hilfskrankenschwester führte sie zum Zimmer. Als Val die Klinke herunterdrückte, war sie nervös. Was war mit Mia passiert? Wie schlimm sah sie wohl aus?
Val trat in das Zimmer hinein. Sie hatte ein Loch im Bauch und ihre Hände zitterten ein wenig. Sie hatte Krankenhäuser noch nie gemocht. In dem Zimmer gab es drei Betten. Nur eines war besetzt, in diesem lag Mia. Als Val ihre beste Freundin sah, schlug ihr Herz noch schneller. Sie ging langsam auf das Bett zu. Als sie direkt neben Mia stand, schlug Mia die Augen auf.
«Val, was machst du hier?»
«Hey, Mia wie gehts dir? Was ist gestern Nacht passiert?»
«Ich weiss noch, dass ich gerade dabei war, mein Handy anzuschalten, um die Taschenlampe zu aktivieren. Ich hatte nämlich ein Geräusch nahe der Hausmeisterwohnung gehört. Ich dachte, der Typ sei wach geworden. Als ich das Handy angeschaltet hatte, rief ich Finn an. Ich wollte wissen, wie lange die zwei noch brauchen. Aber Finn ist nicht rangegangen. Ich hab Panik bekommen und wollte mir Harry zur Verstärkung rufen. Plötzlich hab ich einen kalten Atem in meinem Rücken gespürt und dann wurde alles schwarz. Hier bin ich wieder aufgewacht.»
«Du meinst, jemand war hinter dir?!»
«Ja, so muss es gewesen sein.»
«Hast du nur den Atem gespürt oder war da sonst noch was?»
«Ja, da war noch was. Diese Person hat was gesagt, aber ganz leise, ich habe es fast nicht verstanden. Sie sagte, dass wir uns nächstes Mal einen besseren Plan überlegen sollten…»
«Wie tönte die Stimme?»
«Eher männlich.»
Schweigen machte sich breit. Beide dachten darüber nach, wer es gewesen sein könnte.
Auf einmal klingelte Vals Handy. Es war ihr Vater. Sie wollte gerade rangehen, aber da legte ihr Vater schon wieder auf. Verwundert ging sie zurück zu Mias Bett und verabschiedete sich von ihr. Val verliess das Krankenhaus und fuhr mit dem Bus nach Hause.
Sie hatte kaum die Wohnungstür wieder geschlossen, da rief auch schon ihre Mutter aus der Küche: «Valentina, wir haben Besuch.»
Val ging neugierig ins Wohnzimmer und sah ihre Grandma auf dem Sofa sitzen. Sie begrüsste sie und ging in die Küche, wo ihre Mutter gerade Kaffee zubereitete.
«Mum, was macht Grandma denn hier?»
«Sie ist doch bloss zu Besuch, was hast du für ein Problem?»
«Ich hab kein Problem, ich hab nur nicht damit gerechnet, dass sie hier ist. Sonst wäre ich früher nach Hause gekommen.»
«Das macht nichts, ausserdem wolltest du zu Mia und ich wollte dich während des Besuchs nicht anrufen.»
Val half ihrer Mutter, den Kaffee ins Wohnzimmer zu bringen und setzte sich mit einem Glas Saft dazu. Ihre Grandma sah sie an und fragte: «Valentina, gehts dir gut? Du wirkst so abgelenkt.»
«Mir gehts gut Grandma, keine Sorge. Ich denke gerade nach.»
«Verstehe. Tja, bei euch Teenagern ist das so, ihr denkt viel nach.»
Ihre Grandma sah ihre Mutter mit einem eindringlichen Blick an. Val verschwand in ihr Zimmer.
Später am Abend wurde sie von ihrem Vater geweckt. Sie stand auf und ging in die Küche. Ihre Eltern sassen bereits am Küchentisch und assen zu Abend.
Irgendwann brach Val das Schweigen: «Dad, wieso hast du mich heute angerufen? Und wo warst du als Grandma da war?»
«Seit wann bist du diejenige, die die Fragen stellt?», gab ihr Vater zurück. Val verschlug es für einen Moment die Sprache.
Doch ihr Vater redete weiter: «Valentina, du hast mich dieses Wochenende schon genug enttäuscht, führ das doch bitte nicht fort. Was hast du heute gemacht? Ich dachte, du hättest nach unserem Gespräch heute Mittag etwas gelernt. Ich hatte dir doch gesagt, dass ich dich nicht ins Krankenhaus fahren werde.»
«Was willst du damit sagen?»
«Du solltest heute zu Hause bleiben und über dein Verhalten und das was war nachdenken. Stattdessen fährst du aus irgendeinem unwichtigen Grund ins Krankenhaus.»
Val entschied, darauf nichts zu antworten. Doch sie schwieg nicht: «Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wo warst du heute?»
Ihr Vater sah sie an und antwortete scharf: «Dir bin ich weder Erklärungen noch Rechenschaft schuldig!»
Dann stand er auf und ging ins Schlafzimmer. Val starrte ihm nach. Ihre Mutter sah ihr tief in die Augen: «Vergiss deinen Vater, er ist im Moment sehr müde und wütend. Du solltest dich lieber darauf konzentrieren, in der Schule nicht den Faden zu verlieren. Das wäre schade.»
«Ok Mum, ich verspreche es dir.»
Val ging in ihr Zimmer und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie lernte für Englisch und Französisch und löste die Matheaufgaben, obwohl sie überhaupt keine Lust dazu hatte. Bald wurde es spät und Val bemerkte gar nicht so richtig, dass die Zeit vergangen war.
Am nächsten Morgen wachte sie auf. Sie sah auf die Uhr. Die Leuchtziffern zeigten 6:34 an. Sie stand auf und ging ins Bad. Nach dem Frühstück ging es für sie mit dem Bus zur Schule.
Als Val ausstieg, entdeckte sie Harry schon von weitem. Er war nicht allein. Vor ihm standen ein paar ältere Jungs. Val zögerte nicht und ging sofort hin, denn die Jungs schienen sich mit Harry zu streiten. Als sie näherkam, hörte sie tatsächlich ein Streitgespräch.
«Ihr wart also die, die die Wand neben dem Direktorenzimmer verunstaltet haben… Was hat euch dazu gebracht?»
Harry antwortete schroff: «Das geht euch überhaupt nichts an, ist das klar?! Was meine Freunde und ich machen ist unser Ding, also mischt euch da nicht ein!»
«Sei gefälligst nicht so frech. Wir sind immer noch ein Jahr älter als du.»
Val kam ihrem besten Freund zu Hilfe.
«Hey, lasst Harry in Ruhe, es war nicht seine Idee!»
«Ach guckt mal, Harry hat jetzt schon einen Bodyguard. Wessen Idee war es dann? Etwa die von dir?» Val wusste, wenn sie jetzt Finn und Lucas verpfiff, würden diese Jungs direkt zur Direktorin gehen und ihr brühwarm die ganze Geschichte erzählen. Val wollte nicht, dass ihre Freunde Ärger bekamen. Also bejahte sie die Frage.
«Das war deine Idee? Wow, das ist ja mal ‘ne Überraschung, was Leute?»
Val dachte schon, dass die die Lüge geschluckt hätten, doch sie irrte sich.
«Es gibt nur ein kleines Problemchen», sagte der Typ, «wir glauben dir nicht. Also, wessen Idee war es wirklich?»
Doch Val beharrte auf ihrer Antwort.
Die Typen wurden langsam aggressiv, denn sie hassten es, wenn man sie anlog. Der Grösste von ihnen kam auf Val zu und packte sie am Arm. Harry wollte ihr zu Hilfe kommen, doch ein anderer hielt ihn fest. Er kam nahe an ihr Gesicht und zischte: «Wenn du mir nicht sagst, wessen Idee es war, dann verprügeln wir deinen kleinen Freund.»
«Ich hab doch schon gesagt, dass es meine Idee war», blaffte sie zurück.
Der Grosse nickte seinem Kumpel zu und der holte gerade aus, als Ben Jackson um die Ecke kam und rief: «Lass ihn los, Tim!»
Tim liess Harry sofort los.
Der grosse Typ widersprach Ben: «Wieso denn? Jetzt wäre es lustig geworden. Mann Ben, du bist so ein Spielverderber!»
Ben kam näher und gab zurück: «Alter Marc, du hast schon genug Ärger mit der Schulleitung, willst du noch mehr Nachsitzen und Sozialstunden kriegen?
Ich denke nicht. Ausserdem verprügelt man keine jüngeren Schüler, schon gar keine Mädchen.»
Ben war älter als Val und ging in eine Klasse über ihr. Es war schon lange kein Geheimnis mehr, dass sie ihn cool fand. Val wurde deshalb auch immer leicht rot, wenn er auftauchte. Und nach dieser Hilfeaktion mochte sie ihn gleich noch mehr. Ben klatschte mit Harry ab und fragte sie: «Hat der Idiot dir wehgetan?»
Val schüttelte den Kopf, aber Ben glaubte ihr nicht.
«Zeig mal deinen Arm her», meinte er und griff nach ihrem Arm, «siehst du, da ist alles blau.»
Er zeigte ihr den bläulichen Arm und sah ihr in die Augen.
«Das tut gar nicht so weh. Sind ja nur ein paar Flecken.»
Sie zog ihren Arm weg und spürte dabei einen leichten Schmerz. Ben drehte sich zu Marc um.
«Lass sie in Zukunft in Ruhe, sonst hast du ein Problem.»
Marc zischte Val beim Vorbeigehen ins Ohr: «Das ist noch nicht vorbei.»
Nach dieser Aktion war offensichtlich, dass Marc und seine Kumpels ein Problem mit ihr hatten. Und sie hatten ein Problem damit, wenn sie angelogen wurden. Harry sah Ben einen kurzen Moment dankbar an und ging dann weg.
Val wandte sich an Ben: «Wieso wollten Marc und die anderen Harry verprügeln? Ich versteh es einfach nicht, denn die haben noch nie mit uns gesprochen und haben sich noch nie für uns interessiert…»
Ben sah sie vielsagend an: «Weisst du sicher nicht was los ist?»
Val verneinte.
«Gut. Dann sollte es vorerst dabei bleiben. Es ist sicherer für dich, wenn du nicht zu viel weisst.»
Er sah ihr tief in die Augen, drehte sich mit einem Lächeln um und ging. Val verstand die Welt nicht mehr. Wovon sprach er? Warum war es sicherer, nichts zu wissen? Sie überlegte noch eine ganze Weile, als es schliesslich klingelte und der Unterricht begann.
Sie versuchte, sich während Mathe zu konzentrieren und zu verstehen, wovon der Lehrer sprach. Nach zwei Lektionen kam der Mathelehrer zu ihr und flüsterte: «Misses Taylor erwartet dich in fünf Minuten in ihrem Büro. Es scheint wichtig zu sein.»
Val nickte.
Das Direktorat lag ein gutes Stück entfernt von den Mathe- und Physikzimmern. Auf dem Weg hatte Val genügend Zeit, sich zu überlegen, worüber Mrs. Taylor mit ihr reden wollte. Sie fragte sich, warum sie zu ihr bestellt wurde. Hatten Marc und seine Kumpels sie verraten? Hatten sie tatsächlich den Mut gehabt, mit der Direktorin zu reden, ohne jegliche Beweise?
Als sie vor dem Direktorat stand, sah sie das erste Mal das Ergebnis ihres Streiches. Finn und Lucas hatten ganze Arbeit geleistet. Die gesamte weisse Wand neben der Tür war besprüht mit irgendwelchen Motiven und Wörtern. Val schämte sich. Wieso hatte sie eingewilligt mitzumachen? Was hatte sie sich dabei gedacht? Sie klopfte an und trat ein.
Mrs. Taylor sass erwartungsvoll hinter ihrem Schreibtisch und sah Val an. Ihr Gesichtsausdruck war angespannt, aber sie versuchte dennoch, freundlich zu wirken. Val stand etwas hilflos im Raum, als Mrs. Taylor sagte: «Hallo Valentina. Nimm doch bitte Platz. Möchtest du ein Glas Wasser haben?»
«Ja gerne.»
Mrs. Taylor ging zum Wasserspender und füllte ein Glas ab. Sie kam zurück und reichte Val das Glas. Sie bedankte sich und nahm gleich einen Schluck.
«Nun gut, kommen wir zum Grund dieser speziellen Sitzung. Ich denke, du wirst gesehen haben, was am Wochenende für eine Sauerei neben meinem Zimmer veranstaltet wurde. Du verstehst, es ärgert mich sehr, weil unsere Schule ohnehin nicht den besten Ruf hat. Durch diese Aktion siehts noch schlechter für uns aus.»
Sie machte eine kurze Pause. Val wurde immer nervöser, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen.
Mrs. Taylor fuhr fort: «Aber das ist nicht der Grund, warum du hier bist. Ich wollte mit dir über den Schulball reden, der demnächst ansteht. Jedes Jahr findet im Sommer ein Ball zu Ehren derer statt, die uns verlassen werden. Und ich möchte dir und deiner Klasse die Chance geben, diesen Ball zu organisieren. Ihr könnt euch dabei selbstverständlich etwas verdienen, ich würde sagen einen guten Betrag für die Klassenkasse und wenn ihr euch anstrengt, redet man vielleicht noch eine ganze Weile über den bisher besten Schulball.»
Val war erleichtert. Es ging doch nur um den Schulball und nicht um die Sache mit dem Graffiti.
Mrs. Taylor sah sie erwartungsvoll an: «Ich dachte mir, dass ich dir das Kommando überlasse, denn du bist die Klassenchefin.»
«Ich danke Ihnen sehr für diese grossartige Chance und wir werden uns anstrengen, um Sie nicht zu enttäuschen. Das verspreche ich.»
«Sehr gut. Ich gebe dir gleich die ersten Formulare mit und eine kleine Checkliste, die dir helfen kann an alles zu denken.»
Mrs. Taylor kramte in ihrer Schublade und zog ein Mäppchen hervor, in dem Val mehrere Blätter sehen konnte.
Mrs. Taylor überreichte ihr das Mäppchen: «Das sind die wichtigsten Unterlagen, die du brauchst. Falls du eine Frage hast, kannst du dich jederzeit an mich wenden oder an deinen Klassenlehrer. Mister Blank weiss Bescheid.»
«Vielen Dank, Misses Taylor.»
«Gut, dann geh mal zurück zu deiner Klasse und erzähl ihnen von eurer grossen Chance. Auf Wiedersehen, Valentina.»
«Auf Wiedersehen, Misses Taylor.»
Val gab der Direktorin die Hand und ging.
Als sie allein den Schulgang zurücklief, war sie zwiegespalten. Einerseits freute sie sich darüber, dass Mrs. Taylor die Graffiti-Aktion nicht mit ihr in Verbindung gebracht hatte, andererseits war sie auch zunehmend nervöser, denn wenn aufflog, dass sie dabei war, würde sie ihre Stelle als Klassenchefin verlieren und die grosse Chance für ihre Klasse würde flöten gehen. Was sollte sie tun? Sollte sie aussagen oder sollte sie den Mund halten und darauf hoffen, dass die ganze Sache irgendwann vergessen ging?
Sommer 1995.
Es war kurz vor Mittag, als Miranda Edwards ins Wohnzimmer lief und zu ihrer Tochter sagte: «Katherine, gehst du bitte für mich einkaufen?»
«Muss ich wirklich?», war die Antwort der 17-jährigen Katherine Edwards, die gerade auf dem Sofa lag und ein Buch las. Miranda sah ihre Tochter streng an. «Ich werde dir bestimmt keine Wahl lassen», sagte sie und streckte ihr Geld und einen Einkaufszettel hin.
Katherine rollte mit den Augen und nahm die Sachen entgegen.
«Wird’s bald?», fragte ihre Mutter genervt.
Die Liste war kurz, deshalb protestierte sie: «Aber da steht gar nicht so viel drauf und das kannst du doch in dieser Woche noch besorgen.»
«Katherine, ich werde mich nicht wiederholen. Dein Vater und ich haben nachher noch ein Meeting, deshalb gehst du jetzt», sagte ihre Mutter harsch und zeigte zur Tür. Wütend stand Katherine auf und verliess das Haus.
Die Sonne strahlte ihr ins Gesicht, als sie vor der Villa der Edwards auf den Kiesplatz trat, um ihr Fahrrad zu holen, das an einem Baum lehnte. Sie stieg auf und winkte ihrem Bruder Andrew zu, der im Garten mit dem Hund spielte. Andrew war vor einer Woche vom Dienst zurückgekommen, aber sein Urlaub würde bald wieder zu Ende sein. Er war seit einem Jahr bei der Army, was schon immer ein Traum von ihm gewesen war. Katherine konnte sich noch daran erinnern, dass Andrew immer gesagt hatte, dass er eines Tages Soldat werden will. Er war eigentlich genau der Typ dafür, weil er sie früher in der Schule immer vor den anderen verteidigt und beschützt hatte. Trotzdem war ihr nicht wohl gewesen, als er letztes Jahr zum Ausbildungscamp nach Fort Jackson aufgebrochen war und somit sein Traum zur Realität wurde. Natürlich wusste sie, dass in den ersten Wochen sowieso nichts Schlimmes passieren würde, weil er ja erst ausgebildet werden musste, trotzdem war die Angst davor, ihren Bruder im Krieg zu verlieren, ein ständiger Begleiter. Diese Angst verflog aber sofort, als er letzte Woche heimgekehrt war und sie ihn in den Arm nehmen konnte.
Ihr Weg führte sie aus ihrem Wohnquartier hinaus, auf die Hauptstrasse zu. Sie bog links ab und folgte der Hauptstrasse ein paar Blocks, bevor sie rechts abbiegen musste, um ins Stadtzentrum zu gelangen. Noch einmal links abbiegen und schon fuhr sie auf die Shoppingmeile zu. Dort steuerte sie zielstrebig den Supermarkt an und kaufte die gelisteten Dinge ein.
Sie wollte gerade die Tasche in ihrem Fahrradkorb verstauen, als sie von hinten gestossen wurde und die Tasche auf den Boden fiel.
«Hey, können Sie nicht aufpassen?!», rief sie aus und drehte sich um.
Sie sah in die Augen eines jungen Mannes, dessen Gesicht sie noch nie gesehen hatte.
«Bitte entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gesehen», sagte er verlegen und ging in die Knie, um die Tasche wieder einzuräumen.
Er hielt sie ihr entgegen und lächelte.
«Es tut mir schrecklich leid, ich bin so ein Tollpatsch. Kann ich das irgendwie wiedergutmachen?»
Seine Augen zogen sie in ihren Bann.
«Miss?», fragte er unsicher.
«Äh, nein ist schon okay, ist ja nichts passiert», erwiderte sie und lächelte ebenfalls. «Wow, so ein schönes Lächeln hab ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Wem gehört es denn?», fragte er.
«Sie sind ganz schön neugierig, dafür dass wir uns erst seit ein paar Minuten kennen», gab sie zurück.
«Wollen Sie mir nicht verraten, wie Sie heissen?»
Er klang ein wenig enttäuscht.
«Ich heisse Kate», antwortete sie.
Seine Augen wurden gross.
«So ein schöner Name, ich fürchte, da kann ich nicht mithalten», sagte er lachend. «Dann verraten Sie mir doch einfach Ihren Namen und ich kann entscheiden, ob er mir gefällt», schlug sie vor.
«Na schön, mein Name ist George.»
«Der ist doch auch toll», sagte sie.
«Sie müssen nicht höflich sein, Kate. Er ist nicht gerade sehr modern.»
«Dafür haben ihn schon grosse Könige getragen», erwiderte sie und zwinkerte ihm zu. «Was soll ich sagen, da haben Sie absolut Recht», gab er zu.
Beide mussten lachen.
«Tja dann. Danke fürs Einräumen der Tasche und, ähem… Vielleicht sehen wir uns mal wieder», sagte sie.
«Das hoffe ich doch. Bis dann, Kate», sagte er und winkte.
Er ging auf einen silbernen Sportwagen zu und stieg ein. Sie sah ihm nach, bis er hinter der nächsten Kurve verschwunden war.
«Wer war das denn eben?», ertönte es plötzlich neben ihr.
Kate drehte sich erschrocken zur Seite und sah ihre beste Freundin Olivia Harper auf sich zukommen.
«Oh, das war niemand», sagte sie schnell und umarmte ihre Freundin.
«Willst du mich verarschen? Ich hab euch gerade gesehen, er hat dich zum Lächeln gebracht.»
Sie räusperte sich.
«Darüber wird Matthew nicht erfreut sein», sagte sie mit ihrer strengen Stimme.
«Was hat Matthew damit zu tun?», fragte Kate verwirrt.
«Na bitte, jeder in der Schule weiss längst, dass Matthew auf dich steht. Hast du ihn mal gesehen, wenn er in deiner Nähe ist?»
«Äh, nein.»
«Er wird total nervös und weiss nicht mehr, was er sagen soll. Das ist nicht gerade typisch für ihn.»
Olivia lachte.
«Oh, ist das so?», fragte Kate abwesend.
Sie wusste natürlich, dass Matthew sie mochte. Immer wieder wurde sie darauf angesprochen, was allerdings klar war, denn in vielen dieser Fernsehshows waren der Quarterback und die beste Cheerleaderin ein Paar. Langsam fing das allerdings an zu nerven, denn offensichtlich war sie nicht an ihm interessiert. Sie wollte viel lieber wissen, wer dieser George war.
«Erde an Kate?», fragte Olivia amüsiert und zupfte an ihrem Shirt.
«Hm?»
«Du hast mir nicht zugehört, oder?»
«Nein, tut mir leid Liv, aber ich bin an Matthew nun mal nicht interessiert», sagte Kate und schwang sich auf ihr Fahrrad.
Liv sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
«Das ist nicht dein Ernst? Weisst du, wie viele Mädchen an unserer Schule davon träumen, dass Matthew Collins sie nur mal anschaut? Und dann kommst du, seine Herzensdame und bist nicht an ihm interessiert? Willst du mich verarschen?»