Treulose Seelen - Tim J. Radde - kostenlos E-Book

Treulose Seelen E-Book

Tim J. Radde

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Beschreibung

Verrat trägt vielerlei Gewänder. Ob er, gekleidet in Freundschaft, dem Nächsten in den Rücken fällt oder mit dem Schleier der Liebe das Herz betrügt. Eines ist dem gemein: Es sind treulose Seelen, die sich dieser Maskierung bedienen. Aus Furcht, Eigennutz oder Rachsucht – das ist die Frage. 14 Autorinnen und Autoren haben sich diesem vielschichtigen Thema gewidmet und ihre ganz eigene Interpretation dazu niedergeschrieben. Ob düster, zauberisch oder verträumt – für jedes (verräterische) Herz ist in dieser Anthologie etwas dabei.

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Seitenzahl: 400

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ähnliche


Treulose Seelen

-Eine Fantasy-Anthologie-

Vorwort

Im Sommer 2017 hatte ich die Idee, ein gemeinsames Projekt mit anderen Autoren auf die Beine zu stellen. Kurzgeschichten haben mich schon immer fasziniert, da der Autor wenig Platz hat, um seine Vorstellungen dem Leser zu verdeutlichen. Es muss klar und intensiv gearbeitet werden. Man kommt auf den Punkt.

Ich bin sehr froh, dass so tolle Schreiberinnen und Schreiber von meiner Idee überzeugt waren und sich mit mir an die Arbeit gemacht haben. Alle haben Verantwortung übernommen und diese Anthologie zu einem wirklich gemeinsamen Projekt gemacht.

Jede Kurzgeschichte dieser Sammlung hat das gleiche Oberthema: Verrat. Doch wie es umgesetzt und interpretiert wurde, blieb jedem selbst überlassen.

An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen und ein Anliegen unsererseits präsentieren.

Diese Anthologie ist bewusst kostenlos, da wir unseren Lesern etwas zurückgeben möchten. Ohne Leser gäbe es keine Autoren. Doch vielen Menschen ist dieses Privileg, Lesen zu können, nicht vergönnt. Deshalb unsere Bitte: Helft uns, etwas dagegen zu unternehmen!

Auf den Seiten www.plan.de/bildung-und-ausbildung/alphabetisierung.html und www.aktion-deutschland-hilft.de/de/fachthemen/bildung/alphabetisierung gibt es die Möglichkeit, durch Unterstützung und Spenden zu helfen. Es gibt viele Bereiche, wo mehr getan werden muss und in denen Organisationen Spenden dringend benötigen und verdienen. Doch jeder Mensch sollte die Chance bekommen, Lesen zu können.

Wir würden uns wirklich sehr freuen, wenn diese gute Sache von euch/Ihnen unterstützt werden würde und gespendet wird.

In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen unserer Anthologie!

Tim J. Radde, Herausgeber

Inhalt

Sternminztee: Ein verhängnisvoller Genussvon Anne Schmitz

Die rogodanischen Schriften: Alte Traditionen von Tim J. Radde

Wo ein Wille, da ein Dolch von Christian Milkus

SCHWERT & MEISTER: Das Licht der Welse von Florian Clever

Elesztrah: Das Versprechen des Jägers von Fanny Bechert

Die Dämonen der Stille von Joshua Tree

Erellgorh: Seelenstaub von Matthias Teut

Jamil: Der Anfang vom Ende von Farina de Waard

Der alte Magier: Verräter von Jürgen Schaaf

Der Dämon von Naruel: Der dritte Hüter von Janine Prediger

Die Magie der Bücher: Der Poet und die Nixe von Nadja Losbohm

Falaysia: Auferstanden von Ina Linger

Sternminztee: Ein verhängnisvoller Genuss

Von Anne Schmitz

Über dem Lagerfeuer hing ein gusseiserner Kessel, in dem frisches Quellwasser kochte. Jonas Schafhirte griff in sein Proviantbündel, um ein Säckchen mit grünem Tee hervorzuholen. Sorgfältig maß er zwei Lot ab und streute die getrockneten Blätter ins Wasser. Tief sog er den aufsteigenden Duft in die Nase. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihn. Er liebte diesen Tee.

Im Alter von zehn Jahren, es war sein erster Sommer allein in den Bergen gewesen, hatte er nahe einer Höhle die etwa kleegroßen Pflanzen entdeckt, die so betörend nach Pfefferminz und Zitrone rochen. Damals pflückte er zum ersten Mal die sternförmigen, grün-roten Blättchen und bereitete einen Tee zu. Seither trank er hier oben nur diese Sorte, die er Sternminz getauft hatte.

Hätte er vor nunmehr sieben Jahren gewusst, in welche Schwierigkeiten ihn der Tee bringen würde, hätte er ihn gemieden wie das Kaninchen den Fuchsbau.

Jonas goss sich eine Tasse Tee ein und nahm einen großen Schluck. Das heiße Getränk wärmte ihn mehr, als seine Kleidung aus grober Wolle es vermochte. Er strich sich durch das kurze, braune Haar und lehnte sich gemütlich an einen Felsen, den schönsten Moment des Tages auskostend. Die Schafe grasten in unmittelbarer Nähe, bewacht von den Hunden Pankas und Natu. Das Feuer knisterte leise und er genoss seinen Tee, während die Sterne über ihm am Firmament leuchteten.

»Ich habe es gut angetroffen«, sprach er zufrieden und kraulte Pankas‘ Kopf.

Ein Knacken durchschnitt die Stille der Nacht.

Sofort sprangen die beiden Hunde auf. Drohend knurrten sie in die Dunkelheit. Jonas griff nach seinem Hirtenstab, verharrte wartend. Mit einem Mal stürmten Pankas und Natu in den Wald und kehrten wenige Sekunden später, genüsslich auf Knochen kauend, wieder zurück. Jonas entspannte sich, als er den großen Mann erkannte, der hinter den Hunden her schritt. Es war Aonaran, der Einsiedler. Niemand wusste, wo genau er wohnte. Irgendwo in den Bergen, vermuteten die Leute. Er sei verrückt und gefährlich. Außerdem solle man ihm nicht zu nahe kommen, das verrate ja schon sein Äußeres. Seine Glatze bedeckten Symbole und Schriftzeichen, die angeblich nur er selbst zu entziffern vermöge. Ob Sommer oder Winter, er trug einen bodenlangen Pelzmantel aus Marder-, Wildschwein- oder Bärenfellen. An manchen Stellen schimmerten Schlangenhäute und sogar einige Adlerfedern waren eingenäht worden. Darunter kleidete er sich in Leinen. Schuhe trug er keine.

Jonas ließ den Hirtenstab sinken: »Mensch, Aonaran! Du hast mich erschreckt«, beschwerte er sich und bot seinem Gast mit einer Handbewegung einen Platz am Feuer an. Jonas gab nichts auf das Geschwätz der Leute und freute sich, dass der Einsiedler ihn ab und an besuchen kam.

»Ich habe extra einen Ast zerbrochen, damit du mich bemerkst!« Er lächelte. »Ich wollte sehen, wie es dir geht.«

Der junge Mann goss sich eine weitere Tasse Tee ein und reichte dem Einsiedler einen Wasserschlauch.

»Du trinkst immer noch diesen, wie nanntest du ihn doch gleich ... Sternminztee?«, erkundigte sich der Alte.

»Möchtest du auch einen?«, antwortete Jonas mit einer Gegenfrage.

»Nein, nein!«, Aonaran schmunzelte. »Das ist nichts für mich.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ich habe gehört, es gehen in letzter Zeit merkwürdige Dinge hier in den Bergen vor.«

Das war Jonas neu. Verständnislos blickte er den Einsiedler an. »Mir ist nichts aufgefallen.« Er berichtete Aonaran von den Begebenheiten der vergangenen Tage. »Alles in allem ist es ruhig diesen Sommer!«, schloss er seine Ausführungen.

»Ach, ist auch nicht so wichtig. Ich wollte dich nur bitten, auf der Hut zu sein«, sagte der alte Mann und erhob sich.

»Was soll mir schon passieren, ich habe ja Pankas und Natu ... und meinen Hirtenstab«, fügte er mit Blick auf den übermannshohen Stab mit einer Krümmung an der Spitze, der neben seinem Hirtenmantel lag, hinzu.

»Das ist gut, das ist gut«, Aonaran nickte zum Abschied und ging mit großen Schritten davon.

Jonas schaute ihm hinterher. Was war das denn für ein merkwürdiger Besuch? Aber, was sollte man von einem Einsiedler anderes erwarten. Schmunzelnd rollte er sich am Feuer zusammen und schlief bald darauf ein.

Ein Knurren weckte ihn. Jonas öffnete die Augen und blickte vor die gebleckten Reißzähne eines Bären. Die Lefzen emporgezogen knurrte das Tier drohend. Geifer troff aus seinem Maul. Der Gestank nach faulem Fleisch war Übelkeit erregend.

Jonas wollte schreien, doch kaum hatte er einen Ton herausgebracht, wurde ihm ein Knebel in den Mund gestopft. Er hustete und würgte, bekam keine Luft. Panisch wollte er aufspringen, konnte jedoch Hände und Füße nicht bewegen.

Der Bär brüllte. Jonas atmete stoßweise durch die Nase ein und aus. Sein Herzschlag raste. Was war hier los? Wo waren Pankas und Natu? Verzweifelt blickte er sich um. Unter den Beinen des Tieres hindurch sah er die Hunde reglos neben dem Feuer liegen. Heftig strampelte der Schafhirte, versuchte verzweifelt, sich von den Fesseln zu befreien.

»Ihnen geht es gut. Sie schlafen«, sagte eine tiefe Stimme. Der Bär tappte einen Schritt beiseite und ein kleiner Mann kam in Jonas‘ Blickfeld. Die langen, braunen Haare hingen ihm bis auf die breiten Schultern, der Bart bis auf den Bauch herab. Er wirkte ebenso zottelig wie das Fell des Bären. Auf dem ledernen Brustharnisch prangte ein Symbol - ein stilisierter Tatzenabdruck. Unbeeindruckt von Jonas‘ Winden und erstickten Rufen knotete der Fremde ein Seil um seine Mitte, stapfte zum Bären und befestigte das Seil an einem Gurt, der sich um dessen Brust spannte. Behände schwang sich der Mann auf den Rücken des Tieres, das sich daraufhin in Bewegung setzte.

Jonas wurde herumgerissen und über den felsigen Boden geschleift. Jede Gegenwehr war sinnlos und brachte ihm nur weitere blaue Flecken und Schürfwunden ein.

Was ging hier eigentlich vor? Er hatte noch nie einen zahmen Bären gesehen, geschweige denn einen Mann, der auf einem ritt. Was wollte der Fremde von ihm? Jonas unterdrückte die aufsteigende Angst, vielleicht war alles ja nur ein Missverständnis ...

Sie steuerten auf eine Höhle zu, die Jonas gut kannte. Sie war zwei Mannshöhen breit und ebenso tief, hervorragend geeignet, um Schutz vor schlechtem Wetter zu bieten, aber auch nicht mehr.

Der Bär blieb stehen. Jonas wuchtete sich herum. Ungläubig starrte er an seinem Entführer vorbei: Die Rückwand war verschwunden – ein Durchgang ins Innere des Berges tat sich vor ihnen auf. Rechts und links in den Wänden steckten Fackeln, die zischend und knisternd den Tunnel erhellten.

Das war unmöglich!

Jonas strampelte, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die des Bären. Er wollte nicht dort hinein. Doch es half nichts. Das Tier bemerkte seine Anstrengungen anscheinend gar nicht. Es zog ihn immer tiefer unter die Erde.

Sie passierten unzählige Gänge, Tunnel und Höhlen. Jonas‘ Haut war an vielen Stellen aufgescheuert und brannte entsetzlich. Lange würde er das nicht mehr aushalten.

Ein hoher, spitzer Schrei gellte durch die Stille.

»Lusara!«, zischte sein Entführer, sprang mit zum Kampf erhobenem Schwert vom Rücken des Bären. Suchend blickte er sich um.

Aus einer dunklen Nische tauchte neben Jonas eine junge Frau auf. Leise und anmutig wie eine Katze schlich sie auf allen vieren zu Jonas, beugte sich über ihn und hielt ihm ein Messer vor die Nase. Freundlich lächelnd flüsterte sie: »Lauf!« Mit einer fließenden Bewegung durchschnitt sie die Fesseln sowie das Halteseil, drehte sich um und parierte den Schwerthieb des Bärenmannes.

Während Jonas sich aufrappelte, riss er sich den Knebel aus dem Mund und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, davon. Hinter sich hörte er die Kampfgeräusche und das Brüllen des Bären.

Hals über Kopf sprintete Jonas in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Doch schon nach wenigen Abzweigungen wurde ihm bewusst, dass er die Orientierung verloren hatte und nicht wusste, wie er aus diesem Tunnellabyrinth herausfinden sollte. Als seine Kräfte schwanden, verlangsamte er seine Schritte.

Irgendwo muss es einen Ausweg geben, hoffte er inständig.

»Na, alles klar?«, fragte wie aus dem Nichts eine weibliche Stimme.

Jonas fuhr erschrocken herum. »Du?«

»Jap«, sagte die Frau, die ihn aus der Gefangenschaft gerettet hatte. »Ich dachte, du könntest Hilfe gebrauchen.«

Jonas grinste verlegen: »Das ist wohl nicht zu übersehen! Wie hast du mich gefunden?«

Die Frau umrundete Jonas und betrachtete ihn abschätzend. »Mein Name ist Lusara. Ich stamme vom Klan des Nachtsternes!« Sie band sich die langen, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und deutete auf ihr Wams, auf dem eine strahlende Raute prangte. Ihr Hemd und die enge Hose wirkten teurer als die einfache Kleidung des Bärenmannes. Die Lederstiefel reichten ihr bis zu den Knien.

»Ich kann dich riechen.« Sie trat dicht an Jonas heran und schnüffelte an ihm: »Hmmm, Pfefferminz und Zitrone. Du riechst nach Sternkraut!«

Jonas starrte sie so verständnislos an, dass Lusara lachen musste.

»Ich möchte dir einen Handel vorschlagen. Ich helfe dir hier heraus und du tust mir einen Gefallen!«

»Um was für einen Gefallen handelt es sich?«

Lusara blieb hinter ihm stehen, beugte sich über seine Schulter und flüsterte: »Ich will dein Blut!«

Jonas‘ Verstand brauchte einige Zeit, um das Gesagte zu verstehen. »Das ist doch nicht dein Ernst?!«

Bevor Lusara antworten konnte, dröhnte das Heulen eines Wolfes durch den Tunnel. »Komm erst mal mit.« Sie packte Jonas‘ Arm. »Hier sind wir nicht sicher!«

Nachdem ein zweites Heulen erklang, befand Jonas, dass es besser sei, dieser Frau zu vertrauen, als in die Fänge eines Wolfes zu geraten. Er ließ sich von ihr durch das Labyrinth führen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit traten Lusara und Jonas auf einen Sims hinaus und blickten über ein bewaldetes Tal, begrenzt durch steile Berghänge, die scheinbar bis zum Himmel ragten. Staunend betrachtete Jonas die vielfältigen Pflanzen und bunten Vögel, die Lichtspiegelungen, die die Sonne auf einen schmalen Wasserfall und einen Fluss, der sich durch das Tal schlängelte, zauberte.

»Es ist wunderschön«, hauchte Jonas.

»Jap«, stimmte ihm Lusara zu. »Und all das ist bedroht«, flüsterte sie traurig.

»Aber wieso?«

»Zur Zeit unserer Urahnen lebte dein Volk und meines in ständigem Krieg. Wir, das Volk der Basurer, lieben den Frieden und wollten uns vor der Bedrohung schützen. Aus diesem Grund haben wir mit Hilfe von Magie einen Canyon um unser Tal gezogen.« Als sie Jonas‘ ungläubiges Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Ich weiß, dass ihr aus eurer Welt die Magie vollständig verbannt habt. Aber es gab sie schon immer und es wird sie auch weiterhin geben.«

Jonas zuckte die Achseln. So ganz konnte er das nicht glauben.

Da erklärte Lusara weiter: »Ein mächtiger Zauberer erschuf einen Schutzwall, der den Canyon wie eine Kuppel überdeckte. Er lässt unser Land für eure Augen unsichtbar werden. Nur leider ...!«, Zorn schwang bei ihren Worten mit, »muss der Wall alle hundert Jahre erneuert werden. Und dies kann nur ein Mensch.«

Jonas stutzte: »Das scheint mir unlogisch. Warum sollte die Aufrechterhaltung des Walls ausgerechnet von euren Feinden abhängen?«

Lusara knurrte: »Um den Kontakt zur Außenwelt nicht zu vergessen, vielleicht.« Sie wedelte wild mit den Händen in der Luft. »Keine Ahnung. Wenn du mich fragst, ist der Zauberer einfach verrückt.« Missmutig starrte sie in die Luft, bevor sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig veränderte. Flehend sah sie Jonas an: »Würdest du uns helfen?«

»War deshalb der Bärenmann hinter mir her? Er wollte dasselbe wie du?«

»Nicht ganz ...« Lusara druckste herum. »Er wollte dich fangen und dich im Ganzen in den magischen Fluss werfen. Ich dagegen denke, es reicht, wenn wir dir ein wenig Blut abzapfen.«

Im Ganzen? Werfen? Blut abzapfen? »Ich glaube, du spinnst wohl«, gab Jonas erbost zurück. »Ich brauche mein Blut noch. Sucht euch jemand anderen!« Er verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und wurde sich im gleichen Moment bewusst, wie kindisch diese Geste aussehen musste.

Der Ruf eines Hornes scheuchte die Vögel im Tal auf.

Ohne davon Notiz zu nehmen, erklärte Lusara: »Ich verstehe ja, dass du verärgert bist, aber ... aber ... du bist der Einzige, der unser Tal retten kann. Du bist der Einzige, der unser Sternkraut gefunden und auch gegessen hat. Dein ganzer Körper riecht danach. Ohne die Kraft des Sternkrauts im Blut wird die Magie nicht entfacht.« Flüsternd fügte sie hinzu: »Dann wird unser Tal untergehen.«

Was sagte diese Frau da? Das Wohl des Tales lag in seinen Händen, vielmehr in seinem Blut? Das war doch verrückt! Was sollte er tun? Unschlüssig blickte Jonas in den Tunnel. Würde er ohne fremde Hilfe jemals den Ausweg finden und die Bergwiese, auf der Pankas, Natu und die Schafe warteten, wiedersehen? Er schaute zu der jungen Frau. Konnte er Lusara vertrauen? Hatte er überhaupt eine Wahl? »Ich werde euch helfen«, sagte er, »aber anschließend bringst du mich zu meiner Bergwiese zurück!«

Lusara nickte und gemeinsam folgten sie einem etwa eine Elle breiten Vorsprung, der sich in einer sanften Steigung immer weiter den Berg hinauf schlängelte.

Erschöpft und mit schmerzenden Muskeln erreichten sie eine Hochebene. Das ganze Volk der Basurer schien sich hier oben versammelt zu haben. Sie musterten die Neuankömmlinge neugierig. Den Bärenmann sah Jonas nicht.

Lusara brachte ihn zu einem Podest, auf dem ein großgewachsener, schlanker Mann stand, dessen weiße Tunika ihn umwehte. Auf seiner Brust leuchtete ein goldener Nachtstern. Lusara stieg auf das Podest und umarmte den Mann. Dieser sprach laut und deutlich: »Lusara, meine Tochter, hat sich in die verbotene Zone gewagt und unter Einsatz ihres Lebens ein Menschenopfer gefunden.« Jubelrufe erklangen.

Menschenopfer? Das Wort hämmerte in Jonas‘ Kopf, doch als Lusara ihm freundlich zulächelte, erinnerte er sich daran, dass sie ja nur ein wenig Blut brauchten ...

Lusaras Vater hob die Hände. Die Basurer verstummten. »Somit ist unser Volk gerettet und der Klan des Nachtsternes wird für weitere einhundert Jahre die Basurer regieren!« Applaus brandete auf. Die Anwesenden johlten und jubelten. Lusara und ihr Vater sonnten sich in dem tosenden Beifall. Majestätisch lächelten sie der Menge zu.

Jonas war nicht zum Jubeln zumute. So langsam begriff er, was vor sich ging. Es handelte sich nicht nur um die Rettungsaktion des Landes, sondern auch um Regierungsansprüche. Außerdem hatte der Bärenmann ihn gefunden und nicht Lusara. Jonas Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte nicht die Wahrheit gesagt. Was, wenn sie auch ihn angelogen hatte?

»Bringt ihn zur Brücke!«, hörte er Lusaras Vater rufen. Vier Männer in lederner Rüstung traten auf Jonas zu, kreisten ihn ein. Zwei packten ihn an den Oberarmen.

»Lusara!«, schrie Jonas verzweifelt und versuchte sich aus dem Griff der Wächter zu befreien. »Was soll das?« Als er den Blick der jungen Frau sah, gefror ihm das Blut in den Adern. Sie grinste ihn hinterhältig von unten herauf an. Gier und Hass in den Augen.

Rasend vor Angst trat Jonas um sich und schrie seine Wut heraus. Vor der kleinen Gruppe teilte sich die Menschenmenge. Am Rande einer Schlucht blieben sie stehen. Die Brücke stellte sich als ein schmales Brett heraus, das etwa vier Schritte in den Canyon ragte.

Zwei Wächter schoben den Schafhirten auf die Planke, die augenblicklich in Schwingungen geriet. Jonas ruderte mit den Armen, versuchte das Gleichgewicht zu halten.

Ein Raunen ging durch die Menge.

So leicht mache ich es euch nicht, dachte Jonas kämpferisch und stellte seine hektischen Bewegungen ein. Das Brett beruhigte sich. Wenn ihr wollt, dass ich dort hinunterfalle, müsst ihr mich schon stoßen.

Er sah sich um, sah den strahlend schönen Himmel über sich, in etwa hundert Meter Tiefe den wild sprudelnden hellroten Fluss, der sich durch die Schlucht schlängelte. Eine Welle der Ruhe überkam ihn oder war es die Gewissheit, gleich sterben zu müssen? Der gegenüberliegende Canyonrand war zu weit entfernt für einen Sprung. Dicht hinter ihm standen die Wachen. Ein schabendes Geräusch verriet Jonas, dass einer der Männer ein Schwert zog. Es gab keinen Ausweg. Er würde nicht entkommen.

Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen rechten Unterarm. Ungläubig starrte Jonas das Blut an, das aus seiner Pulsader quoll. Dann stießen zwei starke Hände ihn in die Tiefe.

Laut schreiend und mit Armen und Beinen rudernd fiel er bäuchlings dem Abgrund entgegen. Wind umwehte ihn und pfiff in seinen Ohren. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass sein Todesurteil schon gesprochen war, als der Bärenmann ihn gefangen genommen hatte. Und all das wegen eines Tees, dachte Jonas, schloss die Augen. Sekunden später schlug er auf.

Doch kein Wasser schloss sich um ihn, keine Flüssigkeit drang in seinen Mund und in seine Lungen. Anstelle des Rauschens des Flusses drangen entsetzte Schreie und Rufe der Basurer an sein Ohr.

Als Jonas die Augen öffnete, sah er, dass er sich auf dem Rücken eines gewaltigen Flugtieres befand. Es besaß keine Federn. Die Flügel bestanden aus einer ledrigen Haut, die auch den Körper überzog. Sie flogen in rasender Geschwindigkeit dicht über den Fluten durch die Schlucht.

»Das war knapp!«, rief ein Mann, der vor Jonas saß, gegen den Wind an.

»Aonaran!« Noch nie war Jonas so froh gewesen, den alten Einsiedler zu sehen. »Was machst du denn hier?«

»Mein Land retten und dich.«

Jonas robbte zu ihm und hielt sich am Mantel fest, dabei fiel sein Blick auf das Blut, das stetig aus der Wunde an seinem Arm tropfte.

»Sieh!« Der Alte deutete auf den Fluss. Hinter ihnen färbte sich das Wasser blutrot. »Die Magie braucht kein Menschenopfer. Etwas Blut reicht!«

»Woher weißt du das?«

»Ich bin der oberste Magier der Basurer! Ich habe den Wall erfunden.« Er lachte und lenkte sein Flugtier in eine Höhle hinein. In halsbrecherischem Flug brausten sie durch Tunnel und Gänge, bis sie schließlich bei der Bergwiese ins Freie flogen. Sie landeten.

»Vielen Dank, Aonaran!« Jonas rutschte vom Rücken des Flugtieres. Pankas und Natu sprangen auf den Hirtenjungen zu und begrüßten ihn freudig.

Aonaran griff in die Innentasche seines Mantels und förderte ein Ledersäckchen zutage. »Streue etwas auf deine Wunden, dann werden sie in Sekundenschnelle heilen!« Unruhig tänzelte das Flugtier. »Für die nächsten hundert Jahre sind die Länder der Menschen und der Basurer voneinander getrennt und das haben sie dir zu verdanken. Auf Wiedersehen.« Lachend flog er davon.

Jonas setzte sich auf seinen Schäfermantel, versorgte seine Wunde und sah der Sonne zu, die hinter den Bergen verschwand.

Über Anne Schmitz

Hallo zusammen,

mein Name ist Anne Schmitz. Ich schreibe nun seit etwas mehr als zwei Jahren. Zuvor habe ich meinen Kindern unzählige fantastische Geschichten erzählt. Die Kinder wurden älter und die Geschichten ausgefeilter. 2015 entschloss ich mich eine Fantasy-Geschichte für Kinder aufzuschreiben. So entstand »Keylam: Die Ankunft« gefolgt von »Keylam und der Stachel des Bösen«. Beide habe ich 2016 als E-Book veröffentlicht. Dieses Jahr kam der dritte und letzte Teil »Keylam und der goldene Kristall« (E-Book) sowie ein Taschenbuch, in dem alle drei Einzelbände enthalten sind, hinzu.

Außerdem habe ich Kurzgeschichten für mich entdeckt. Hier kann ich mich in den unterschiedlichsten Genres ausprobieren und Neues versuchen. (Eine Geschichte von mir ist in der Halloween Anthologie des Kelebek Verlages erschienen)

Zum Abschluss noch ein Ausblick auf das Jahr: Neben weiteren Kurzgeschichten werde mich an meinen ersten Fantasy-Jugendroman wagen. Ich bin schon ein wenig aufgeregt und freue ich auf die Herausforderung.

Die rogodanischen Schriften: Alte Traditionen

von Tim J. Radde

König Melacho Hattovan I. saß unruhig auf seinem Thron. Sein royales Hinterteil hatte sich noch nicht an das neue Sitzkissen gewöhnt, das den Herrschersessel nun zierte. Immer wieder verlagerte er sein Gewicht von der einen auf die andere Seite. Unzufrieden brach er seine Versuche, eine bequeme Position zu finden, ab und konzentrierte sich auf den Boten, der vor ihn getreten war.

»Du hast etwas gesagt?«, fragte er den Mann. Der Bote, der einen abgehalfterten und dreckigen Eindruck machte, zuckte zusammen, als der König das Wort an ihn richtete.

»Ja, Herr.« Ein Räuspern aus der Ecke der Senatoren ertönte, erneut erschrak der Bote. »Ja, Hoheit. Ich stamme aus der Eisernen Region, aus Alotek, Majestät. Ich war dort bis vor kurzem Stallmeister unter ...«

»Unter der Familie Fingrabor, ja, ich bin mit der Linie der ehemaligen Mächtigen vertraut. Und? Was willst du nun hier?«

Der Mann in der zerrissenen Kleidung sah Melacho fragend an. »Majestät? Ich habe doch gerade vorgetragen, was sich ereignet hat?«

Nun war es am König, verdutzt dreinzublicken. Sein Ärger über den Thron hatte dazu geführt, dass er den Vortrag des Boten offenbar verpasst hatte. Er vernahm das Tuscheln der Senatoren zu seiner Linken. Melacho musste den Vorfall herunterspielen, um sein Gesicht zu wahren. Der Herrscher der bekannten Welt spielte mit seinen dunklen Locken, zwirbelte eine besonders dicke Strähne um seinen Finger.

»Dann befiehlt dir dein König eben, es noch einmal zu wiederholen!«

Sein Ton war laut und durchdringend, sodass die leisen Gespräche der Politiker verstummten. Der Bote nahm sofort Haltung an.

»Es trug sich während eines Ausritts zu. Ich sollte die Familie und ihr Gefolge begleiten, um mich während des Rastens den Tieren zu widmen. Selbst der alte Wyndos begleitete uns, was seltsam war, denn ich hatte ihn davor schon lange Zeit nicht mehr außerhalb der Burgmauern gesehen.«

Der König hob die Hand, um für einen Moment nachdenken zu können. Wyndos Fingrabor war in einem Alter mit seinem Großvater, dem verstorbenen König Keran I.. Wyndos war einer der wenigen Ältesten der alten Herrscherfamilien, der seinen Zweitnamen nicht abgelegt hatte. Eigentlich war es nur dem Königshaus, sowie dem Geschlecht der Rogodans, erlaubt, den Namen ihres Familiengründers zu tragen. Doch die ehemals Mächtigen des Landes taten sich nach wie vor schwer damit, all den Zugeständnissen nachzukommen, die ihre Vorfahren gegeben hatten. Damals, als Hattovan sie besiegt hatte.

Melacho senkte den Arm. »Fahre fort.«

»Natürlich, Eure Hoheit«, sagte der Mann und nickte untertänig. »Unser Weg führte uns östlich zu einem Landsitz. Es war weit und breit das einzige Anwesen. Das Haus befindet sich auf einer Anhöhe, sodass die Bewohner jeden Winkel einsehen können. Mehrere der Begleiter und ich sollten davor warten, deshalb weiß ich nicht, wer der Gastgeber der Familie war, oder was dort genau beredet wurde.«

»Weshalb bist du dann hier, wenn du mir keine Neuigkeiten bringen kannst?«, wollte Melacho erzürnt von dem Boten wissen. Er hasste es, wenn jemand seine Zeit verschwendete. Doch dieses Mal zuckte der Bote nicht zusammen, sondern erwiderte den Blick des Königs eisern.

»Die Familie hat damit geprahlt, Majestät.«

»Womit? Sprich, Mann!«

»Sie wollen die bekannte Welt zurück zu ihrer alten Herrschaftsform führen. Sie wollen Euch und den Senat absetzen. Sie wollen den Familien ihre vorherige Macht zurückgeben.«

Es war so still im Thronsaal, dass Melacho dachte, jeder Anwesende könnte seine Atemzüge vernehmen. Weder die Senatoren der Regionen, noch die Senatorpriester wagten es, zu sprechen. Die Wachen standen starr da, ihre Lanzen fest im Griff. Die Musiker oben auf der Empore hatten urplötzlich ihr leises Spiel unterbrochen und blickten erschrocken auf ihn hinunter. Jetzt war es an ihm, dem König, etwas zu erwidern.

Melacho war sich bewusst, wie wichtig diese Antwort auf das Gesagte war. Doch es wollte ihm nichts über die Lippen gehen. Er saß da, geschockt, dass es tatsächlich jemand wagte, so offen über Hochverrat zu plaudern. War sich die Familie Fingrabor nicht bewusst, dass ihre Worte zu ihm gelangen würden? War es ihnen egal, da sie sich auf der sicheren Seite wogen? Und was, wenn dieser Mann hier von ihnen geschickt wurde, um ihn zu einer Reaktion zu provozieren? All diese Fragen drehten sich in seinem Kopf, es dauerte mehrere Momente, bis Melacho seine Gedanken ordnen konnte.

»Weshalb, und ich rate dir, mir die Wahrheit zu sagen, erzählst du mir davon? Du bist im Dienste der Familie Fingrabor, mit deiner Tat verrätst du deine Herren.«

Der Bote neigte sein Haupt. »Mit Verlaub, Majestät, doch ich bin nicht länger im Dienst der Familie. Ich habe am nächsten Tag meine Stellung aufgegeben und Alotek auf der Stelle verlassen. Mit dem besten Pferd des Stalls bin ich geflohen, um Euch warnen zu können. Ich war der Familie treu, doch ich bin meinem Land und meinem König treuer. Hoheit.«

Nun verbeugte sich der Mann tief vor Melacho und blieb in dieser Haltung. Der Herrscher hatte den Worten genau gelauscht und kam zu der Erkenntnis, dass der Bote die Wahrheit sprach. Er erkannte keine Lüge oder ein falsches Spiel darin. Vor ihm stand ein treuer Bürger, der einen Dienst an der bekannten Welt tat.

Melacho stand auf, ging auf den abgehalfterten Mann zu und bedeutete ihm, sich wiederaufzurichten. Anschließend reichte der König dem einfachen Untertan die Hand.

»Ich danke dir für deine Treue, ...?«, sagte Melacho, nach dem Namen des Mannes fragend. Dessen Gesicht hellte sich auf.

»Ninstan, Hoheit«, erklärte er voller Freude und ergriff die Hand ehrerfüllt.

»Du kannst dir meinem Dank sicher sein, Ninstan.« Melacho drehte sich zu den Wachmännern am Ausgang. »Holt Calansir und Abaro. Ich möchte sie in meinen privaten Gemächern empfangen. Und holt Ninstan hier vernünftige Kleider und weist ihm ein Zimmer zu. Er wird hungrig sein, Essen und Trinken sollen ihm gebracht werden.« Als letztes wandte er sich zu den Bänken links und rechts des Throns. »Der Senat ist zunächst entlassen.«

Die beiden Soldaten warteten bereits auf ihn, als er in seinem Kräuterzimmer eintraf. Er nannte es so, da er es zumeist nur dafür nutzte, um seinem großen Laster nachzugehen: dem Rauchen. Melacho besaß eine Sammlung von kunstvoll geschnitzten Pfeifen, die ihm sein Großvater vermacht hatte. Es waren die verschiedensten Ausführungen enthalten, äußerst lange und auch kurze Holme, unterschiedliche Mundstücke, eine jede war einzigartig und speziell angefertigt.

Es wunderte den König nicht, dass seine Kindheitsfreunde bereits ihre jeweiligen Pfeifen angesteckt hatten. Ihn begrüßten der herrliche Geruch und der Rauch, den er gerade in solch einer Zeit sehr schätzte. Die zwei saßen auf den Sesseln, die vor dem Kamin standen, beide zurückgelehnt in das Polster und die Kissen. Geschafft ließ sich Melacho ebenfalls auf eine der Sitzgelegenheiten fallen.

»Ah, tut das gut, endlich ein Sessel, auf dem mein Arsch nicht wehtut!«

Calansir, der sein Haar immer kurz geschoren trug, zog an der Pfeife und grinste. »Königliche Sorgen sind die schrecklichsten Sorgen.« Er sprach die Worte und ließ gleichzeitig den Rauch herausquellen. »Ist der Thron so schlimm unbequem, Eure königliche Weichheit?«

Melacho machte ein beleidigtes Gesicht. »Ich möchte dich mal sehen, wenn du den lieben langen Tag auf diesem Folterinstrument sitzen müsstest! Du würdest dich noch viel mehr beschweren!«

»Möglich, aber dieses Privileg überlasse ich mit Freuden allein dir!«, erklärte Calansir, dessen Größe dafür sorgte, dass sein Kopf über die Rückenlehne des Sessels hinausragte. Bei seiner muskulösen Statur war es beinahe ein Wunder, dass er zwischen die Seitenlehnen passte.

Abaro, dessen schulterlangen, blonde Haare schon mehr als einmal für Diskussionen zwischen dem Soldaten und seinem König gesorgt hatten, klopfte seine Pfeife in eine metallene Schale aus. Er wirkte nicht ganz so belustigt wie sein Waffenbruder.

»Majestät, weshalb habt Ihr uns zu Euch gerufen?«

Melacho runzelte die Stirn. »Weshalb so förmlich, Abaro? Möchtest du nicht auch deine Meinung zu den königlichen Backen abgeben, oder hast du eine weitere Verabredung?«

»Das ist ein Bild, was ich nicht in meinem Kopf haben will, Melacho«, sagte Abaro und runzelte zum Beweis, angewidert zu sein, die Stirn. »Hier im Palast habe ich immer das Gefühl, belauscht zu werden. Als ob deine Gattin hinter der Wand hockt und jedes Wort mithört.«

»Mach dir keine Sorgen, sie würde nicht dahinter passen!«, meinte Calansir und lachte laut. Melacho, der sich gerade eine Pfeife mit langen Holm und kleinen Kopf angesteckt hatte, musste ein Lachen seinerseits unterdrücken.

»Calansir, so kannst du nicht über die Königin reden!« Sein Tadel war wenig ernstgemeint und Calansir bleckte die Zähne. »So fürchterlich ist sie nicht, und auch nicht so füllig, wie du sie immer darstellst. Aber ja, sie wäre auch nicht meine erste Wahl gewesen. Doch, was blieb mir anderes übrig, meine königliche Mutter, der Eine habe sie selig, hatte sie ausgesucht. Sie hat den richtigen Namen. Was mich auch zu dem Grund bringt, weshalb ich euch gerufen habe.«

Beide der Soldaten machten ein interessiertes Gesicht. Abaro stand auf, um eines der Fenster zu öffnen. Melacho wusste genau, dass sein Freund nur ungern im Kräuterzimmer war und es noch weniger mochte, eine Pfeife selbst zu rauchen. Er war jemand, der an der frischen Luft sein musste.

»Geht es um die Königin?«, wollte Calansir wissen.

»Nein, aber um eine ehemalige Herrscherfamilie, die offenbar nicht mit ihrer jetzigen Stellung in der bekannten Welt zufrieden ist.«

Calansir zuckte mit den Achseln. »Wer ist das schon?«

»Lässt du mich nun erzählen, oder müssen wir uns noch mehr von deinen herzlich unlustigen Einwänden anhören?«, fragte Melacho, der zwar nicht verärgert über das Verhalten seines Freundes war, doch langsam ungeduldig wurde. Entschuldigend hob der riesenhafte Mann die Arme und rauchte seine Pfeife. Abaro setzte sich wieder zu ihnen.

Melacho erzählte, was ihm der Stallmeister aus Alotek berichtet hatte. Die beiden Hauptmänner der zwei Kasernen der Hauptstadt Jerobina hörten ihm aufmerksam zu, selbst Calansir unterbrach ihn nicht. Als der König verstummte, bemerkte Melacho, dass Abaros Blick ins Leere abgedriftet war. Es schien ihm, als ob sein Freund mit seinen Gedanken nicht mehr bei ihnen war. Er wurde aus seiner Beobachtung zurückgeholt, als Calansir in die Hände klatschte und diese voller Tatendrang aneinander rieb.

»Eine Reise steht an, habe ich recht?«, fragte er freudig. Auch Abaro schien nun aus seinen Gedanken gerissen worden zu sein.

»Dieser Verrat am Thron muss bestraft werden, keine Frage. Ich würde jedoch zur Vorsicht raten, Melacho. Womöglich erwartet der alte Wyndos genau diese Reaktion von dir. Die vorderste Priorität muss die Sicherheit des Landes und der Hauptstadt sein.«

Der König sah ihn interessiert an. »Was möchtest du mir damit sagen, Abaro?«

»Ich stelle einen Trupp zusammen und reite nach Alotek, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Wir reisen nicht als Soldaten. So fallen wir nicht auf und die Familie Fingrabor fühlt sich nicht bedroht.«

Calansir verdrehte die Augen und seufzte. Melacho wusste, dass der riesenhafte Mann schon immer Konflikte mit Gewalt lösen wollte und gern bereit war, Risiken einzugehen. Abaro hingegen war ein zurückhaltender Mann, der einen gut durchdachten Plan bevorzugte. Der König hatte die beiden nicht allein wegen Freundschaftsbanden gemeinsam so schnell und so hoch aufsteigen lassen. Sie waren wie ein zweischneidiges Schwert: Es war immer besser, zwei Möglichkeiten zu haben, seinen Feind zu besiegen.

Im Normalfall pflichtete Melacho Abaro zumeist bei, Vorsicht beinhaltete oft auch Weitsicht. Doch heute war etwas anderes. Der König zog kräftig an seiner Pfeife und genoss es, die Dämpfe zu inhalieren. Als sich der Rauch etwas verzogen hatte, setzte er sich vor.

»Weshalb sollte sich die Familie Fingrabor nicht bedroht fühlen? Sie bedrohen nicht allein meine Familie, nein! Sie bedrohen die gesamte bekannte Welt mit ihren Plänen. Wyndos und der Rest dieser Bande wollen mich stürzen, Abaro! Verstehst du, was das bedeutet? Ich kann es dir sagen, wenn du es nicht sehen willst. Krieg!«

Während Abaro etwas erwidern wollte, nickte Calansir zufrieden. »Hör auf deinen König, Abaro. Und weshalb solltest du allein den Spaß bekommen? In Jerobina ist zu wenig los, ich muss meine Klinge endlich wieder in etwas rammen! Die Schilde von Soldaten reichen mir nicht.«

»Ich will dir sicherlich nichts wegnehmen, mein Freund«, erklärte Abaro. »Und ich verstehe sehr gut, was dieser Verrat zur Folge haben kann. Genau deshalb will ich so bedacht vorgehen! Warum zu den Waffen greifen und eine Schlacht schlagen, wenn wir diesen Konflikt auch anders lösen können?«

Melacho erkannte von Neuem, wie unterschiedlich die beiden Männer waren. Doch dieses Mal hatte er das Gefühl, dass mehr hinter dem Plädoyer Abaros steckte. Ob er mehr vermutete, als er ihnen gegenüber zugeben wollte? Calansir hingegen runzelte die Stirn.

»Manchmal verstehe ich nicht, weshalb du Soldat geworden bist. Wenn du dein Schwert nicht benutzen willst, solltest du wohl eher in die Politik gehen! An dir ist ein großartiger Senator verloren gegangen.«

Trotz ihrer Unstimmigkeiten musste Abaro lächeln. »Dann wäre ich ein Senator, der besser mit dem Schwert umzugehen weiß, als der Hauptmann der königlichen Streitmächte!«

Alle drei Männer mussten nun lauthals lachen. Melacho bemerkte, dass sie dies viel zu selten taten. Alles war nicht mehr so wie früher, als die drei gemeinsam in Camajira aufgewachsen und zu Männern gereift waren. Der alte Statthalter des Prinzenpalastes war der Meinung gewesen, dass der Thronfolger unheimlich davon profitieren würde, mit Jungen außerhalb seines eigenen Standes Umgang zu haben. Auf einem Spaziergang durch die Stadt, bei welchem Melacho und seine Leibwächter auf offizielle Kleider verzichtet hatten, war es dann geschehen. Drei halbstarke Jungen hatten ihn ohne Grund mit faulen Eiern beworfen. Doch noch bevor die Wachmänner hatten eingreifen können, waren Abaro und Calansir erschienen. Obwohl Calansir schon damals größer war als jeder in seinem Alter, hatten ihn die drei anderen überragt. Doch dies hatte beide Jungs nicht gestört. Wie selbstverständlich waren sie Melacho zur Hilfe geeilt und hatten den Werfern Dreck in die Augen geschmiert, um ihren Größennachteil zu egalisieren. Und auch wenn die Leibwächter danach dazwischen gegangen waren, hatte der damalige Prinz seine Helfer nicht vergessen. Noch an dem Tag waren die zwei Jungen in den Palast eingeladen worden. Seitdem waren sie unzertrennlich gewesen. Und auch wenn sie nun viel größere Pflichten hatten, so war ihre Verbindung noch immer stark.

Calansir paffte an seiner Pfeife. »Also ist es entschieden? Wir versammeln eine kleine Armee und ziehen aus?«

»Es scheint so, früher war es noch einfacher, dem König bessere Pläne zu empfehlen«, seufzte Abaro.

»Ja, ich beauftrage euch hiermit, die Armee der Königlichen Region einzuberufen!« Melacho stand auf und trat hinter die Sessel. »Und ich werde euch begleiten.«

Beide Soldaten wandten ihre Köpfe schlagartig zu ihm. Calansir konnte über die Lehne blicken und der König entdeckte ein draufgängerisches Grinsen in seinem Gesicht. Der Hüne nickte ihm anerkennend zu.

Abaro hingegen musste sich um die Rückenlehne herumstrecken, um dem König in die Augen zu sehen. Er schien Angst zu haben.

»Melacho, ich bitte dich, tu das nicht! Ein König hat nichts in seiner Armee zu suchen. Wozu hast du uns beide, wenn du deine Truppen selbst anführen willst? Es ist zu gefährlich!«

Der König hob die Augenbrauen. Er konnte verstehen, dass sich sein Freund Sorgen um ihn machte. Doch Abaro zweifelte an seinen Fähigkeiten, seine eigenen Soldaten zu befehligen. Das ging zu weit.

»Ich bin genauso ausgebildet worden, wie ihr zwei es seid. Ich mag vielleicht nicht die natürliche Stärke Calansirs oder deine Schnelligkeit und Technik haben. Dennoch bin ich ein fähiger Kämpfer! Traust du mir nicht zu, den Sieg über diese Familie zu erlangen?«

Abaro war nun aufgestanden und auf ihn zugeschritten. »Du weißt, dass ich es nicht so meine, wie du mich jetzt verstehen willst. Was ist, wenn unsere Feinde genau das wollen? Der König, außerhalb der sicheren Mauern von Jerobina, auf dem Land der Familie Fingrabor. Was passiert, wenn sie dich töten? Du hast keinen Thronfolger. Die bekannte Welt würde in Chaos verfallen. Genau das wollen die alten Herrscherfamilien.«

Melacho musste zugeben, dass die Worte seines Freundes Sinn ergaben. Sein Entschluss barg durchaus ein gewisses Risiko. Doch er wusste, dass er sich nicht in seinem Palast verkriechen konnte. Würde bekannt werden, dass sich eine der alten Familien gegen ihn aufgelehnt und er andere vorgeschickt hatte, seinen Namen zu verteidigen, würde seine Untertanen ihn für schwach halten. Und er wollte ein starker und guter König sein. Er konnte nicht anders.

»Ich habe mich entschieden und werde mich nicht umstimmen lassen. Danke für deine Sorge um mein Wohlergehen, Abaro. Ich weiß dies sehr zu schätzen. Doch Pflicht und Ehre verlangen, dass ich für meinen Vorfahren Hattovan eintrete. Ihr habt drei Tage, um alle Vorbereitungen zu treffen. Bis dahin.«

Die königliche Armee war mehr als zwei Monate unterwegs gewesen, bis sie Alotek erreicht hatten. Obwohl die gesamten Truppen beritten waren, kamen sie nicht schneller voran. Der König hatte beschlossen, diese Reise zu benutzen, um seinen Untertanen einen seltenen Blick auf ihr Oberhaupt zu gewähren. Wer nicht in der Nähe von Jerobina lebte, hatte in den seltensten Fällen einmal einen König von Nahem erblickt. Die Menschen, besonders die der Gildenregion und der Eisernen Region, waren begeistert, dass Melacho sie besuchte. Abaro hingegen hatte zerknirscht festgestellt, dass die Familie um Wyndos nun ganz sicher davon erfahren hatte, dass der König unter seiner Armee war. Doch der König fürchtete sich nicht.

Gut dreitausend fähige Soldaten waren jederzeit um sie herum, die ihr Leben bereitwillig geben würden, um ihn zu schützen. Um seine Sicherheit machte sich Melacho keine Sorgen. Vielmehr darum, ob er auch in der Umgebung rund um Alotek so herzhaft begrüßt werden würde.

Die Familie Fingrabor hatte wahrscheinlich alles darangesetzt, ihn in den Augen der Bürger zu denunzieren. Daher war es auch so wichtig, dass er sich ihnen allen zeigte. Melacho wollte die Unterstützung der einfachen Menschen nicht verlieren. Diese Leute waren einer der großen Vorteile gewesen, die Hattovan damals auf seiner Seite gehabt hatte.

Und doch hatte ihn gerade Abaro zur Vorsicht gedrängt. Je näher sie der Burgstadt kamen, desto intensiver waren die Sicherheitsmaßnahmen. Jeder, der den Reden des Königs beiwohnte, wurde genauestens auf versteckte Waffen kontrolliert. Anfangs hatte Melacho dies noch zu verhindern versucht, da er die Bewohner der umliegenden Dörfer und Städte nicht ebenfalls als Verräter darstellen wollte. Doch als Abaros Männer bei einem alten Greis ein Wurfmesser gefunden hatten, musste auch der König zugeben, dass die Maßnahmen begründet waren.

Der Einfluss der alten Herrscherfamilie schien groß zu sein, was Melacho traurig stimmte. Er selbst hatte nie das Gefühl gehabt, als König versagt zu haben, sodass seine Untertanen unzufrieden werden konnten. Calansir hatte gemeint, dass er sich diesen Vorfall nicht zu Herzen nehmen sollte. Sobald sie den Massen den Kopf von Wyndos präsentieren würden, waren jedwede Zweifel an seiner Position bereinigt worden. Er würde schon sehen.

Späher hatten keine größeren Ansammlungen von Kämpfern in der Nähe der Stadt entdecken können. Die Männer waren anschließend ohne Rüstungen sogar bis in die Burg vorgedrungen. Allem Anschein nach war die gesamte Familie nicht länger dort.

Melacho hatte sich von Ninstan eine Karte zeichnen lassen, die den Standort des Landhauses zeigte. Es war einen mehrstündigen Ritt entfernt, weshalb der König vorschlug, in Alotek zu bleiben und am nächsten Tag das Landhaus anzusteuern. Dieses Mal waren Calansir und Abaro einer Meinung. Die drei Männer saßen, einen Kilometer entfernt von der Stadt, im Kommandozelt. ‚Zelt’ war etwas zu viel gesagt, denn lediglich eine dunkelrote Plane war an vier Pfosten gespannt worden, die Seiten waren frei. Auch ihre Sitzgelegenheiten waren mehr als dürftig, sie hatten auf dreibeinigen Hockern Platz genommen. Was hätte Melacho für einen seiner Sessel gegeben, doch dies war keine normale Reise.

»Kommt nicht infrage! Wir wissen nicht, wie sehr die Bewohner der Stadt hinter der Familie stehen. Dort zu verweilen kann ich auf keinen Fall zulassen!«, schloss Abaro seine Rede, nachdem Melacho seinen Gedanken geäußert hatte. Calansir ließ seine Finger knacken.

»Genug gewartet, sage ich! Zwei Monate haben wir schon in Städten verbracht, wenn wir nicht gerade auf dem Pferderücken saßen. Lass uns tun, weshalb wir hier sind. Die Männer sind bereit!«

Melacho wusste, dass er keine Möglichkeit hatte, sich gegen beide Männer durchzusetzen. Er war zwar ihr Herrscher, doch so wichtig war ihm sein Wille nicht, um einen Streit mit ihnen vom Zaun zu brechen. Langsam nickte er.

»Gut, gut, wenn meine Hauptmänner mir diesen Rat erteilen, werden wir gleich aufbrechen.« Er sah von Abaro zu Calansir. »Erläutert mir noch einmal den Ablauf.«

»Die Späher reiten vor, um die Umgebung rund um diesen Landsitz auszukundschaften. Sobald wir genauere Informationen haben, mache ich mich mit einem Drittel unserer Streitkräfte auf, um das Gebiet zu umkreisen. Wir halten einen so großen Abstand, dass man uns von dem Gebäude aus nicht erkennen wird«, trug Abaro vor. Calansir hustete.

»Das Drittel der Männer, das mir untersteht, schließt einen weiteren Ring um die Verräter. Du«, und er deutete auf Melacho, »gehst auf direktem Wege zu dem Haus und verlangst, dass sich die Familie Fingrabor dir ausliefert.« Er setzte bei diesen Worten eine entnervte Miene auf. »Wenn sie direkt aufgeben, sparen wir uns das Blutvergießen. Warum auch immer.«

»Falls nicht«, fuhr Abaro fort, »rücken wir vor und nehmen den Landsitz ein. Sie werden keine Möglichkeit haben, zu fliehen. Und du bist allzeit von Soldaten umringt, die dich schützen.«

Melacho nickte zufrieden. Er hatte darauf bestanden, nicht in weiter Entfernung zurückgelassen zu werden, wie es Abaro am liebsten gewesen wäre. Wyndos und seine Kinder sollten nicht den Eindruck erhalten, dass er sie nicht selbst zur Rechenschaft ziehen würde. Dennoch wollte er sich nicht unnötig in Gefahr begeben.

»Wissen wir mittlerweile, wem dieses Landhaus gehört?«, fragte er seine Freunde. Calansir schüttelte den Kopf.

»Der Familie gehört es jedenfalls nicht. In der Stadt wusste keiner derjenigen, die unsere Leute gefragt haben, wer der Besitzer ist. Und es spielt auch keine Rolle. Er wird sich mit ihnen ergeben, oder sterben. Mir ist beides recht.«

Die drei Männer standen am Rand eines kleinen Waldstücks. Dort sollten die Späher dem König und seinen Hauptmännern direkt Bericht erstatten. Sie warteten schon eine Weile, was sie nicht gerade positiv stimmte. Waren die Kundschafter aufgefallen und gefasst worden? Die Abenddämmerung war auf dem Vormarsch, weshalb er die Züge seiner beiden Freunde nur noch undeutlich erkennen konnte. Da erinnerte sich Melacho an etwas, das er von seinen Truppen aufgeschnappt hatte.

»Abaro, ich habe da etwas gehört, was mich fröhlich und traurig zugleich stimmt.« Er schlug dem blonden Mann freundschaftlich auf die Schulter. »Ich habe einem Gespräch der Männer beigewohnt, wo ein Soldat behauptet hat, dass er dich mit einer Frau aus einer Heilstätte gesehen hat. Ihr zwei schient euch näher zu kennen, nur nach Freundschaft schien es nicht auszusehen.«

Der König grinste, was die anderen beiden nicht sehen konnten. Im Halbdunkeln konnte Melacho ebenfalls nicht genau erkennen, wie Abaro auf seine Worte reagiert hatte.

»Stimmt das, du alter Hund?«, wollte Calansir interessiert wissen. »Hast du eine Gefährtin gefunden und es nicht für nötig gehalten, uns davon zu erzählen? Sind wir dir so peinlich?«

Abaro zögerte. Er schien nicht zu wissen, was er zu ihnen sagen sollte. »Es...es ist noch nicht lang, dass wir uns...kennen. Und da wir ja nun so lange weg sind, weiß ich nicht, ob sie mich noch will, wenn ich wiederkehre.«

Melacho lachte. »Immer so bescheiden, mein Freund. Warum sollte sie dich nicht mehr wollen? Du bist doch ein guter Fang für jede Frau! Wie heißt denn die Glückliche?«

»Das ist sehr freundlich, Hoheit. Ihr Name ist Nistara.«

»Er wird immer untertänig, wenn ihm etwas unangenehm ist, ist dir das schon einmal aufgefallen, Melacho?«, meinte Calansir, dem der Spaß an dieser Situation anzumerken war.

»Ein wenig mehr Respekt mir gegenüber könnte dir manchmal gar nicht so schlecht stehen, du Riese!« Melacho zog Abaro näher an sich heran. »Nistara ist ein schöner Name, also wird er zu ihr passen, wenn sie dir den Kopf verdreht hat. Meinen Glückwunsch!«

Abaro klopfte dem König auf die Schulter. »Danke. Sie ist eine besondere Frau.«

Auch Calansir gesellte sich nun zu ihnen. »Du kannst sie uns vorstellen, wenn wir zurück sind. Jetzt verstehe ich auch, weshalb du so vorsichtig vorgehen willst. Jemand wartet zuhause auf dich!«

Sie lachten, doch Melacho wunderte sich. Weshalb hatte Abaro, wenn die Heilerin Nistara der Grund für seine Umsicht war, dann allein gehen wollen, um etwas gegen die Verräter zu unternehmen? Das passte nicht zusammen.

»Das mache ich«, meinte Abaro.

»Guter Mann. Und, Melacho, vermisst du deine Herzensdame ebenfalls?«, wollte Calansir wissen. Auch wenn Melacho nicht genau zugehört hatte, war ihm der Ton, den sein Freund angeschlagen hatte, nicht entgangen. Doch er beließ es bei einem Augenrollen, was Calansir nicht sehen konnte. So nah vor einem möglichen Kampf wollte er nicht diskutieren.

»Durchaus, ja. Sie ist immerhin meine Gattin. Sie entwickelt so langsam auch Interesse an meinen Geschäften, sie fragt immer öfter nach, wenn ich von meinem Tag erzähle.«

»Das wundert mich, hast du dir schon einmal zugehört?«, neckte Calansir ihn.

»Du bist doch nur neidisch, dass du noch keine Frau gefunden hast, der du von deinem Tag erzählen kannst«, versuchte der König den Spieß umzudrehen. Jetzt lachte Calansir erneut.

»Ich habe die einzige Dame, die ich brauche, immer an meiner Seite«, erklärte er und klopfte auf sein Schwert. »Mit ihr habe ich niemals Ärger, glaubt mir!«

»Reiter!«, rief Abaro und deutete auf Schemen, die immer deutlicher wurden, je näher sie kamen. Melacho zählte sie und bemerkte, dass zwei von ihren Spähern fehlten.

Die Männer hielten kurz vor den drei Freunden und stiegen ab, um sich vor dem König und ihren Hauptmännern zu verbeugen.

»Majestät, wir haben das Haus ausgekundschaftet«, berichtete einer von ihnen. Seine Züge konnte Melacho nicht ausmachen.

»Das ist mir schon klar. Sprich, wir wollen keine Zeit verlieren!«

Der Mann verbeugte sich erneut, wie es den Anschein hatte. »Natürlich, Eure Hoheit. Sie haben Kämpfer dort, wir konnten die Zelte erkennen. Fünfhundert Mann, grob geschätzt. Sie sind in Bereitschaft.«

»Wie ich es befürchtet hatte«, sagte Abaro zu ihm. Er wandte sich zu dem Reiter. »Weshalb fehlen zwei von euch?«

Der Späher hielt für einen Moment inne. »Wir...wir wurden entdeckt. Die beiden sind von Pfeilen getroffen worden.«

Alarmiert zog Abaro die beiden etwas zurück. »Wir müssen jetzt zuschlagen, bevor sie uns überraschen oder fliehen können!«

»Ja«, erwiderte Melacho nur. Er wusste genau, dass Abaro und Calansir erfahren genug waren, um die Situation richtig einschätzen zu können. Als der Hüne keine Einwände vorbrachte, rief Abaro die Befehle. Sofort kehrte Leben in das ansonsten stille Waldstück ein.

Ein plötzlicher, lauter Knall übertönte all ihre Vorkehrungen. Er erinnerte Melacho an ein Gewitter, der Donner war jedoch nicht nur zu hören. Ein Beben erschütterte sie, so stark, dass der König seinen festen Stand verlor. Etwas Vergleichbares hatte er bisher noch nie erlebt. Die Auswirkungen dieses Phänomens spürte er bis tief in seinen Körper.

Jeder von ihnen sah auf die Stelle, von der sie das Geschehnis vermuteten. Es kam aus einem weiteren Waldstück, das gegenüber von ihnen lag. Der Weg zu dem Landhaus teilte die Baumreihen.

Nun erblickte Melacho einen Lichtblitz, doch er kam nicht, wie ein Blitz, aus dem Himmel, sondern von der Erde. Unsicher sah er zu seinen beiden Hauptmännern.

»Los, schauen wir nach!«, rief Calansir kühn und machte ein Klatschzeichen, welches er mit seinem Trupp der Armee vereinbart hatte. Zögerlich, doch gehorchend, folgten die Soldaten ihrem Hauptmann.