Triskele - Miku Sophie Kühmel - E-Book

Triskele E-Book

Miku Sophie Kühmel

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Drei Schwestern treffen sich in der Wohnung der Mutter. Die zielstrebige Mercedes ist 48, die flatterhafte Mira ist 32, und Matea, die noch zuhause lebt, ist 16. Ihre Mutter Mone hat sich das Leben genommen und nur wenig hinterlassen: alten Schmuck, die Katze Muriel und einen Brief. Als drei Kinder aus drei Generationen sind sie mit der gleichen Frau aufgewachsen, aber nicht gemeinsam. Wer war Mone für jede einzelne von ihnen? Und was teilen die drei, wenn schon keine Erinnerungen? Matea, verschlossen und in sich gekehrt, muss sich bei ihrer ältesten Schwester in Berlin einleben und verbringt ihre Tage online. Mercedes vergisst manchmal, dass plötzlich ein Teenager bei ihr wohnt, und Mira fühlt sich, wie immer, überflüssig.  »Triskele« ist ein verträumter und raubeiniger Roman über Schwesternschaft und über den Zusammenhalt zwischen Frauen in fordernden Zeiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 295

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Miku Sophie Kühmel

Triskele

Roman

 

 

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Drei Schwestern aus drei Generationen. Eine Katze.  Und ein Trauerjahr.

 

Drei Schwestern treffen sich in der Wohnung der Mutter. Die zielstrebige Mercedes ist 48, die flatterhafte Mira ist 32, und Matea, die noch zuhause in der Altmarkt lebt, ist 16. Ihre Mutter Mone hat sich das Leben genommen und nur wenig hinterlassen: alten Schmuck, die dreibeinige Katze Muriel und einen Brief. Als drei Kinder aus drei Generationen sind sie mit der gleichen Frau aufgewachsen, aber nicht gemeinsam. Wer war Mone für jede einzelne von ihnen? Und was teilen die drei, wenn schon keine Erinnerungen? 

 

»Auch wenn Miku Sophie Kühmel mit genauem Blick auf die Schwierigkeiten schaut, die uns Frauen quer durch die Generationen herausfordern, erzählt sie diese komplexe Schwesterngeschichte mit einer erhebenden Leichtigkeit und einer spürbar großen Zärtlichkeit für ihre Figuren. So ist noch nie von Schwestern geschrieben worden!« Maria-Christina Piwowarski

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Miku Sophie Kühmel wurde 1992 als jüngste von drei Schwestern in Gotha geboren. Sie hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert – kurz in New York und länger in Berlin, wo sie heute lebt und arbeitet. Sie ist freie Schriftstellerin und produziert verschiedene Podcast-Formate. Nach Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften erschien 2019 ihr Debütroman »Kintsugi«. Sie erhielt unter anderem Stipendien des Alfred Döblin-Hauses der Akademie der Künste, des Künstlerhofes Schreyahn und der Stadt Gotha.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

auf meinem fensterbrett scheint die katze am frost gestorben zu sein.

Yayoi Kusama

Erbschein

Die Erblasserin Simone Zinnober,

geboren am 9.1.1955 in Arendsee,

deutsche Staatsangehörige,

zuletzt wohnhaft in Arendsee,

ist am 29.2.2020 in Arendsee verstorben.

 

Sie vererbt an ihre Kinder

Mercedes Zinnober, geb. in Arendsee am 21.3.1972

Mira Zinnober, geb. in Arendsee am 3.3.1988

Matea Zinnober, geb. in Arendsee am 3.10.2004

zu drei gleichen Teilen.

 

Dem Wunsch der Verstorbenen, die Katze Muriel als vierte Erbin einzusetzen, kann aus juristischen Gründen (§ 90a BGB) nicht nachgekommen werden.

Arendsee, den 26.3.2020

29.2.2020

 

Meine lieben Töchter,

 

mit ein bisschen Glück bin ich jetzt tot, und ihr seid wahrscheinlich nicht besonders überrascht. Ihr habt es kommen sehen. Ich weiß, dass ich manchmal sehr laut darüber nachgedacht habe. Das mag eine Zumutung gewesen sein. Überhaupt: Ich musste mir mein Leben lang anhören, was für eine schlechte Mutter ich war. Weil ich zu jung war, zu alt oder zu mittel. Weil ich zu viel arbeitete oder zu wenig. Und wenn ihr ab heute von mir erzählt, könnt ihr euch aussuchen, wie genau ich jede Einzelne von euch verhunzt habe. Und spätestens dann werdet ihr drei Grazien merken: Einmal alle vier Jahre an mich denken langt.

Gerade sitze ich in Omis Garten, und in der Datscha schaut Muriel Tatort. Das ist wohl eine der wenigen Sachen, die ich bereue, nicht zu erleben: Wie sie versuchen, dieses verdammte Rundfunkorchestergejazze noch mal zu modernisieren. Und wie wir auf die Straße gehen werden dafür, mit Transpis und Trillerpfeifen. Denn wenn es um unseren heiligen Sonntagabend geht, dann verstehen wir keinen Spaß, nein nein: Wir sind das Volk, du bist Deutschland, Einigkeit und Recht und Tatort. Aber das wird mich alles nicht mehr betreffen.

Mit Blick auf meine Bestattung habe ich ein paar Prospekte gewälzt, aber so richtig überzeugt haben mich weder Berge noch Meer. Wie ihr euch denken könnt, würde ich am liebsten in den Wald, aber in wirklichen Wald, nicht so einen peinlichen Friedforst. Nicht so abgezäunte Bäume, das ist nicht meins. Obwohl: So eine Nordmanntanne fänd ich schön, klar, die könnte man gleich dekorieren im Winter, und endlich könntet ihr euch miteinander um die Weihnachtskugeln und ihre Positionen streiten und nicht mit mir. Ich würde schmunzelnd zuschauen und manchmal einen Zweig schütteln, wenn wieder jemand versucht, mir so ein neues Designerstück anzuhängen, Rauchglas, mundgeblasene kleine Kunstwerke, bitte, wer denkt sich so was aus? Weihnachten ist da, um geschmacklos zu sein, angestaubt-bunt. Es sollte zwischen den Zähnen kleben und einem auf den Magen schlagen, sonst kann man’s eigentlich gleich lassen, wenn ihr mich fragt. Wobei das Gute ist, dass meine Meinung euch, spätestens jetzt, geflissentlich egal sein kann.

Möglich wäre auch ein Ahorn – natürlich nur wegen der Nasen im Herbst, ist klar. Ohne lange Nase kann man das nicht ertragen, dieses Gestehe an Gräbern. Oder ihr findet eine Kastanie, dann ist aber Helmpflicht angesagt im Herbst, und ich habe jede von euch Füchsinnen schon einmal heimlich ohne Helm Rad fahren sehen, aber wehe, das schleift sich ein. Ihr wisst, jetzt erst recht: Eulenaugen sehen alles –

Juni

In der Küche steht der Dreck. Was der erste Abend zu Beginn lang erwarteter Sommerferien so anrichten kann.

Die Decken in dieser Wohnung hängen so tief, als wären sie stetig ein paar Zentimeter abgesunken, seit ich vor zwanzig Jahren ausgezogen bin. Auf dem Weg vom Gästebett durch den Flur bis hierher an den Kühlschrank bin ich immer wieder gestolpert, über abgestrampelte Hosen oder aus den Regalen gezogene Bücher. Wir haben das Ausräumen bis jetzt vor uns hergeschoben. Nur in einer Ecke im Arbeitszimmer habe ich schon Platz geschaffen, als ich vor Wochen hier eingezogen bin, mit meinem Handgepäckkoffer aus Aluminium, der nur ein paar Kleidungsstücke enthielt. Das meiste waren Unterlagen, farbechte Materialproben, Technik für die Videotelefonate.

In dem kleinen, leuchtenden Fenster sehen meine Kolleginnen nur mich, und nur das obere Drittel, in der Regel in eine Bluse gehüllt, die ich nach dem Ende der Meetings sofort abstreife, um in weichem Jersey den Rest des Tages zu bestreiten. Doch für diese halbe Stunde setze ich mich zusammen, knote die Haare nach oben, und ansonsten sieht man nur die in Marineblau gestrichene Wand hinter mir. Weichgezeichnet durch die niedrige Datenübertragungsrate der Provinz, sind auch die nackten Nägel in der Wand nicht zu erkennen, und es scheint, als würde ich inmitten eines monochromen Yves-Klein-Gemäldes sitzen, einem Void der Kreativität, besonnen und eins mit dem Universum. Als Gesamtkonzept wirkt das so harmonisch, dass die ganze Agentur ihre Kondolenz schnell vergessen hatte und zum Tagesgeschäft übergegangen war. Auch, weil ich weiter meine Deadlines einhielt, erreichbar blieb und in gewohnt freundlich-gewaltfreiem Sermon auf E-Mails antwortete, wusste wahrscheinlich bald schon niemand mehr, dass ich bis zu Beginn der Sommerferien bei meiner minderjährigen Schwester eingezogen war, in die Wohnung unserer verstorbenen Mutter, und so ein Leben fernab all meiner Gewohnheiten und im Angesicht meiner verdrängten Kindheit führte. Ich hingegen kann noch genau abrufen, wie ebendieses monochrome Arbeitszimmer durch die Jahrzehnte gegangen war und dass ich dort noch unter Paisleymuster und Eichenfurnier pubertiert hatte; in einer anderen Zeit und in einem untergegangenen Land.

Ich ziehe die Kanne aus der Kaffeemaschine und gieße mir den kalten Rest von gestern Nachmittag ein; er ist hellbraun und eigenartig süßlich. Ich hatte vergessen, wie weich das Wasser in unserer Heimatstadt ist. Die tiefen Pastateller staple ich in den Topf. Vor ein paar Jahren hatte Mone das Geschirr mit Zwiebelmuster final verbannt und sich mit glatt-glänzend weißem Porzellan von Arcor eingedeckt.

Ich schiebe allen Abwasch an die Wand zwischen den alten Toaster und den neuen Blender – dass es so etwas in diesem Haushalt gibt, überrascht mich, er muss recht neu sein –, damit ungefähr genug Platz für meinen Hintern auf der Arbeitsplatte ist. Trotzdem werfe ich, bevor ich mich setze, schon auf die Hände gestützt, noch einmal einen schnellen Blick um mich, ob ich mich auch auf nichts draufsetze. Im Geiste bin ich noch immer der leicht übergewichtige Teenager, der ich einmal war.

In der Essecke hat sich eine Müllhalde angesammelt, leere Flaschen und Plastikverpackungen, von den Krümeln ganz zu schweigen. Es hat mich überrascht, wie viel Spezi in Mateas zierlichen Körper hineinpasst. Aber sie trinkt die Brausen wie Wasser, und wird von dem bisschen Extra-Koffein sicherlich nicht früher aufwachen als sonst. Ich bin froh um die Sommerferien und dankbar dafür, dass ich das Mädchen für die nächsten Wochen nicht mehr um halb sechs aus dem Bett scheuchen muss.

Die Uhr, die über der Tür zu ihrem Zimmer hängt und im Takt des roten Zeigers tickt, zeigt halb zehn. Da Mira ihre Ankunft für die Mittagszeit angekündigt hat, wird es vermutlich nicht vor fünfzehn Uhr werden. Ich atme schwer aus, zähle die Stunden, die mir bis zu ihrem Aufschlagen bleiben, und nehme mir vor, bis mindestens neun Uhr fünfundvierzig an dieser süßen kalten Tasse Kaffee zu trinken, den Wolken beim Sichverziehen zuzusehen, dem Zerren in meinem oberen Rücken nachzuspüren. Und sonst nichts.

Dabei flimmern, wie meist, wenn ich die Augen in dieser Wohnung halb schließe, die Erinnerungen an mir vorbei. Wie Trampelpfade von Geisterschuhen sehe ich die Wege, die ich als Kind hin und her gelaufen bin. Vom ersten Moment an, als wir nach Mones Tod die Wohnung betreten hatten, war alles wieder da gewesen. Anfang der achtziger Jahre hatten wir in diesen vier Wänden schon einmal Atemschutzmasken tragen müssen – immer wenn wir durch den Hausflur bis unters Dach stiegen, denn dort gab es angeblich massive Probleme mit Asbest. Bis heute weiß ich nicht genau, was Asbest sein soll. Es war wie ein Fluch, eine schummrige Wolke der Verunsicherung, und schon in der Grundschule fragte ich mich, ob es wirklich sein konnte, dass der Asbest eben genau vor unser Wohnungstür anhielt und höflich draußen wartete und wir deshalb den Mundschutz nur im Treppenhaus tragen mussten. Jetzt hängen unsere Stoffmasken für Einkäufe, hygienisch womöglich bedenklich, nebeneinander am Schlüsselbrett, und wenn ich die Wohnung verlasse, klopfe ich mich ab, kontrolliere: Telefon, Schlüssel, Portemonnaie, Maske.

Auch damals hatte sich nur die halbe Hausgemeinschaft daran gehalten, und viele von denen, die ich als Kind fürchtete, wohnen immer noch hier. Einige haben sich mittlerweile halbiert, sind schwindsüchtig oder verwitwet. Omi hatte Mone diese Wohnung vermitteln können, über Kontakte, und für mich ergab das Sinn: dass eben Omis Kontakte so alt sein mussten wie sie und wir deswegen die einzigen Leute im Haus waren, deren Haarfarbe nicht mindestens Salz und Pfeffer war.

Neun Uhr sechsundvierzig. Ich stelle die geleerte Kaffeetasse auf den Geschirrstapel und gehe ins Badezimmer. Die Lichter sind andere als früher – grelle LEDs – und meine Haare auch, denn mittlerweile reihe ich mich ein in die Mode der Hausbewohnerinnen. Ein störrischer weißer Vorhang springt über meine dunkelbraunen Haare. Ich stehe nur sehr kurz einfach da, dann beginne ich, die Liste abzuarbeiten: dreimal bürsten, vom Ansatz bis auf die Schlüsselbeine hinab, zwei Minuten Zähne putzen, Reinigungswasser, Brauenkorrektur, Lippenkorrektur. Als ich den Spiegelschrank auf der zweiten Seite öffne, bemerke ich, dass wir auch Mones Parfüms noch nicht aussortiert haben. Ich sprühe einmal mit der Schwertlilie in die Luft. Lieblich und schwer legt sich der Geruch um die Schultern – so wie früher alles hier gerochen hat, die Wäsche und die Pfannkuchen und die Lehne an der Couch, auf der sie allabendlich eingeschlafen war. Wie schon in den letzten Wochen stehe ich da und wünsche mir kurz, es wäre nicht Samstag und ich hätte wenigstens ein oder zwei Meetings. Dieser Moment dauert an, bis das Reißnagelgeräusch der Türklingel mich zurückholt.

 

Mira sieht wie immer sehr schön aus, auf diese zerwühlte Mira-Art. Ihre wachen, klaren Augen leuchten auch, wenn rundherum der Mascara verwischt ist.

»Was machst du denn schon hier?«

»Da staunste, wa?« Mira imitiert sehr gern sehr schlecht den Berliner Dialekt. »Schon gut«, fügt sie an, bevor ich reagieren kann, und lässt ihre modisch-abgegriffene Reisetasche beherzt fallen, verfehlt dabei um ein Haar die soeben vorbeischleichende Muriel.

»Oh Schwesterherz!«, und statt mich zu umarmen, bückt sie sich und streichelt der steinalten Russisch Blau über den Kopf, die Mira mit milchigen Augen mustert. Ich vergesse oft noch immer, dass es Muriel gibt. Sie ist hier eingezogen, lange nachdem ich fort war. Mone hat sie aufgenommen, weil sie nur drei Beine hat. Ein Mängelexemplar. Wenn schon so eine polierte Rassekatze, dann eine mit Behinderung. Wegen der Barmherzigkeit; obwohl wir noch nie religiös gewesen sind. Muriel bewegt sich lautlos und klaglos durch die Wohnung. Sie ist so groß wie ein Bügeleisen, und als Mira sie aufhebt und kost, sieht es ein bisschen aus, als würde die Katze sich ekeln. Die kleinen Schulterblätter unter dem Pelz drehen sich gegeneinander, ihr Schwanz kringelt sich ein. Weil sie aber von mir noch kein Frühstück bekommen hat, lässt sie die Umklammerung über sich ergehen. Schleimerin. Als könnte sie meine Gedanken hören, mustert sie mich, während Mira sie summend über die Schulter legt und in die Küche trägt.

»Huch, was war hier denn los? Bin ich zu spät zu ner Party?«

Mira kramt routinierter, als ich das von ihr erwarten würde, schließlich wohnt auch sie schon eine Dekade nicht mehr hier, eine Packung Kekse aus dem Schrank und setzt sich neben Muriel auf den Boden, die das Futter aus der kleinen Aluschale schlabbert und dabei unappetitliche Genussgeräusche von sich gibt – ein zerrendes Brummen ist das, verschlafen-befriedigt.

»Die Mercedes, die ist eben mehr ein Hundemensch«, hatte Mone damals gelacht, als ich das Kätzchen einfach hatte fallen lassen vor lauter Schreck, weil es seine kleinen Rasierblattkrallen aus- und in meinen neuen Kaschmirpullover hineingefahren hatte. Aber darin irrte meine Mutter. Grundsätzlich ist mir das Konzept Haustier von jeher suspekt, ich bin, wenn überhaupt, ein Menschenmensch. Fische sind ok.

Ich setze eine frische Kanne Kaffee auf, was Mira mit einem wohligen Seufzen von ihrem Platz zwischen Heizung und Katze aus quittiert und sich weiter mit Kekskrümeln bestreut. Mira ist deutlich die Hübscheste von uns, aber sie hat wirklich sehr große Vorderzähne, mit denen sie Gebäck schon immer ein bisschen genagt hat wie ein Backenhörnchen. Ich erinnere mich dunkel daran, ihr das einmal gezeigt zu haben, als wir jung waren. Guck, so machen das Chip und Chap im Fernsehen, und dann hatte das kleine blonde Mädchen, mit dem ich nur die Augenfarbe teilte, wie wild drauflosgenagt. Selbst jetzt hält sie die Kekse mit acht Fingern wie ein sehr großer Feldhamster.

»Haft du an die Kartonf gedacht?«

»Selbftverftändlif!«, antworte ich. Mir war noch beigebracht worden, dass sich so was nicht gehört, mit vollem Mund umherzusabbeln. Aber als ich die letzten Male mit Mone gefrühstückt hatte, war auch sie trotz Birchermüsli in den Backen nie um eine laute Antwort verlegen gewesen. Solche Regeln, merkte ich spätestens da, konnten sich ändern.

Die Kaffeemaschine brodelt. Unser Schweigen entfaltet sich noch immer mit großer Spannweite zwischen kurzen Sätzen. Trotzdem fühlt sich die Wohnung mit Mira zusammen schon ein Stück weniger verwaist an, auch wenn wir mathematisch gesehen mit ihr ein Waisenkind mehr sind. Ich will gerade die Tagesplanung ansprechen, als in meinem Augenwinkel Muriel auf drei und Mira auf vier Beinen hinüber zum Kinderzimmer wackeln und beide, Muriel mit der Pfote, Mira mit den Fingerknöcheln, an der Tür scharren und miauen.

Mateas Haare sind tagsüber glatt, aber vor elf stehen sie strubbelig nach den Seiten ab. So wird sichtbar, dass sie sich blonde und kupferne Töne eingefärbt hat. Sie verbringt überhaupt einen ausnehmend großen Teil ihrer Zeit mit Färben, Cremen, Striegeln und nennt das Selfcare.

»Matimatimati!«

Mira wickelt sich fröhlich um die nackten Beine derselben, die immer nur in überlangen T-Shirts schläft, die sonst so gar nicht in ihre Garderobe passen wollen: viele haben florale Muster oder Animal Print, auf den meisten steht eine Form von Fast Fashion Poesie, sporty spirit endless summer florida easy come miami beach easy go royal palmes avenue united states …

Ohne hinzuschauen, wuschelt Matea Mira durchs Haar, wenig überrascht, vermutlich haben sie während Miras ganzer Herfahrt gechattet. Dann machen sie irgendeinen Witz, den ich nicht verstehe, und lachen so laut, dass Muriel sich verschreckt durch den Türspalt hinter Matea hindurch ins Dunkle drückt.

 

Zu putzen ist einfacher, als direkt zu entrümpeln. Auch wenn es kontraintuitiv erscheint, zu säubern, was beim nächsten Handgriff vielleicht entsorgt wird, müssen wir uns über diese Reihenfolge nicht absprechen, wir sind uns einig. Ich staube die oberen Flächen ab, Mira saugt, wischt, poliert die Böden, und Matea trägt zusammen, was offensichtlich Müll ist, und schleppt ihn nach draußen, zweimal links, zu dem Käfig voller Tonnen an der Ecke. Der Weg dorthin ist noch immer derselbe, selbst wenn sich unter den politischen Umständen die dort aufgestellten Behälter immer mal wieder unterscheiden und ich dann Diskussionen mit meiner jüngsten Schwester führe, weil mir wirklich nicht in den Kopf gehen will, dass es dort keine Glascontainer mehr geben soll. Gegen Nachmittag klimpern wir also eine beträchtliche Menge Likörflaschen und Gurkengläser in den Kofferraum meines Wagens, der noch immer nach neuem Auto riecht. Ich beiße mir auf die Lippe und bete nur ganz leise für mich, dass er nun nicht für immer eine Note von Silberzwiebeln, Oliven, Grappa, Wermut und Roter Bete in sich tragen wird.

»Hier verändert sich einfach nie irgendwas, kann das sein?«

Miras große Augen tasten die Kleinstadt ab, die sich vor uns auf der Heckscheibe teilt. Hin und wieder lasse auch ich den Blick schweifen über eierschalenfarbene Doppelhäuser, Koniferenhecken, Hüpfkästchen auf den Gehwegen, Carports.

Ich will Mira gern widersprechen, dass sich die Dinge sehr wohl verändern, weil ich ihr gern widerspreche und sie es nicht leiden kann, wenn ich diskutieren will. Aber je mehr ich auf die Details achte, desto deutlicher scheint sie im Recht zu sein; der gleiche Zirkus plakatiert wie auch die letzten Jahrzehnte Laterne für Laterne – natürlich prangt auf jedem Plakat nun ein neongrüner Abgesagt!-Aufkleber, aber das Bild dahinter, der gruselige Clown auf dem Haflingerpferd, ist von jeher das gleiche. Auch sonst ist es schwer, ein Gegenargument zu finden. Als ich schließlich einwende, die Araltankstelle sei früher ja eine Esso gewesen, ist meine Zunge einigermaßen schwer. Doch Mira seufzt verträumt. Mit der Tankstelle verbindet sie allerliebste Erinnerungen und sagt fast euphorisch:

»Bis zur Tankstelle durfte ich gehen, bis dahin und nicht weiter!«

Tatsächlich hatte Mone ihr kurz vor dem Anbruch des neuen Jahrtausends verboten, allein bis in den Stadtkern zu laufen. Nur bis zur Tankstelle durfte sie Federball spielen, Roller fahren und mit dem Nachbarshund Schröder spazieren gehen. Die Regel war neu und hatte für mich in den Achtzigern nicht gegolten. Andererseits war zu der Zeit die Tankstelle kein so aufregender Ort gewesen, und die Innenstadt hatte mit wesentlich weniger bunten Schaufenstern und mehrstöckigen Drogerie-Tonträger-Spielwaren-Paradiesen gelockt. Kinderschänder gab es, laut Omi, in der DDR auch keine. Alles war eng, aber überschaubar, Arbeit war leicht zu finden, und eine Wohnung auch, und keiner musste Hunger leiden.

»KÖNNEN WIR ZUM ZIRKUS FAHRN?«

»Kannst du nicht lesen, Mira? Da stand doch abgesagt.«

»Aber die stehen trotzdem hinten am Platz, ich seh die jeden Morgen vom Bus«, sagt Matea vom Rücksitz, »die haben Tiger und Krokodile!«

Ihre perlmutt-schimmernde Bomberjacke blitzt mich aus dem Rückspiegel an.

»Und Piraten, was ist mit Piraten? Und Räubern? Und Cowboy und Indianer?«, hakt Mira nach, ich weiß, sie zitiert ein Buch, aber mir fällt nicht ein, welches. Nach ihrem abgebrochenen Studium ist sie durch geisteswissenschaftliche Institute getingelt, erst nach fünf oder sechs Semestern fanden wir heraus, dass sie nicht mehr wirklich studierte, gelesen hat sie in dieser Zeit aber unendlich viel – und ich fand, dass das eher wie ein jahrelanger Urlaub klang.

Ich verschlucke die Frage, ob sie »Indianer« als Wort noch benutzen sollte, und fühle mich wie ein Familienvater vor dem Sonntagsausflug, als ich verkünde, dass wir vorbeifahren könnten, sobald wir das Leergut los seien. Während Matea im Rückspiegel lächelt, setzt Mira sich eine Sonnenbrille auf und dreht das Radio laut.

»Ach du Schande, Radio Brocken. Dass es das noch gibt«, sage ich.

Mira will lachen, aber als eine Moderatorin euphorisch die folgende Sternstunde irgendeiner Boygroup ankündigt, schaltet sie das Radio wieder aus, auch, weil Matea Laute von sich gibt, als müsste sie sich gleich übergeben. Keine der beiden bemerkt, dass wir gerade an unserem alten Haus vorbeifahren – was eigentlich logisch ist, weil keine von ihnen es je betreten hat.

Unser Zimmer hatte einen Erker, und weil es nach Südwesten ausgerichtet war, hatten wir den ganzen Tag über Licht. Wenn ich dort, in den Sitzsack gemummelt, saß und las, ging rechts von mir die Sonne auf – der Schatten meines Kopfes verlief über den Tag einmal im Bogen auf dem Dielenboden um mich her, als wäre ich eine Sonnenuhr, und am Abend schien mir das orange Leuchten wärmend in mein linkes Ohr. Mone und ich lebten dort in einer Art Wohngemeinschaft, einer staatlich gestifteten. Schließlich brauchte es pro Kopf nur ein Zimmer, mit sozialistischen Formeln gerechnet, und ein Kinderkopf zählte höchstens halb so viel. Anderthalb Zimmer: Das waren der Raum mit dem Erker und die Kartoffelkammer. Der Rest der Wohnung war von Omi bewohnt. Omi, die mir auch mit Mitte vierzig schon uralt vorkam und die immer früh aufstand, um das gute Fleisch zu kaufen und mit Glück ein paar Erbsen im Glas. Daraus kochte Mone dann Essen für uns alle, weil Omi noch arbeitete und den ganzen Tag im Wald war. Omi kümmerte sich um Mone, und Mone konnte sich deshalb um mich kümmern, die zärtliche Hand weiterreichen.

Noch heute träume ich hin und wieder davon, in dieses Haus zurückzukehren und dort eine alte Frau zu sein, in Omis Schaukelstuhl vielleicht – doch das Haus ist kernsaniert und glatt geschmirgelt, vielleicht haben sie den Holzboden erhalten. Wahrscheinlicher ist, dass sie alles mit Terrakotta planiert haben. Landhausgefühle, hergestellt in den alten Schwesterländern, während sie den lokaltypischen braunen Putz mit K.u.K.-Gelb überstrichen haben, weil ihnen zu traurig und ostig erschien, was für mich ein vertrauensvoll blinzelnder alter Drache war, mit bröselig-schuppiger Haut, der unverwüstlich an der Straßenecke hockte, mit orangem Leuchten in den Augen und dem Erker, von dem aus ich bis zum Waldrand hinüberschauen konnte – und mir einbildete, zu erkennen, wie eine ganz kleine Omi auf die Lichtung gestiefelt kam, in ihren Wagen stieg und heimfuhr.

An den Containern sind wir für uns. Um die Wette schmeißen wir Gläser ein und rufen dabei die Farben WEISS GRÜN BRAUN WEISS WEISS BRAUN BRAUN.

Vielleicht ist es die Verlassenheit der Nebenstraße, in der die Luft sich staut. Vielleicht ist es, weil die Gläser nach dem Werfen zerbrechen, bald stehen wir jedenfalls in einer Wolke aus üblen Gerüchen. Fliegen surren um den Container wie wild, sie sind laut, der Boden unter unseren Schuhen ist klebrig, und als Matea das letzte Silberzwiebelglas eingelocht hat, sacken ihre Schultern nach unten. Sie lehnt sich mit der neuen Jacke, ich will erst intervenieren, an den vergilbten Weißglascontainer, zieht die Nase hoch. Als Mira und ich zu ihr gehen, wird Matea dabei immer kleiner, ein stilles Schluchzen entweicht ihr, viel Luft und kaum Stimme. Mira wickelt sich erneut um sie, diesmal obenrum, und ich bin mir nicht sicher, ob Matea das hilft, aber wenigstens rutscht sie so nicht zu Boden und verdirbt sich ihre Klamotten komplett. Es wird immer heißer, diese Straße ist wie ein Kessel. Anfang Juni sind die Sommertemperaturen noch ungewohnt, und die kleine Gasse heizt sich mächtig auf. In meinem Kopf rattert es, und ich versuche, mich zu erinnern, ob ich das Auto abgeschlossen habe, während Matea eine Stimme, wenn auch nicht ihre, wiedergefunden hat und nuschelt: »Die mochte sie am liebsten.«

Mira streichelt ihren Kopf, verzwirbelt zärtlich die blonden und kupfernen Strähnen zu Spiralen. Ich bin mir nicht sicher, ob das Matea beruhigen soll oder sie selbst, während sie nachfragt:

»Die Zwiebeln?«

»Ja. ›Wurschtperlen‹ hat sie dazu gesagt.«

»Wurschtperlen?«

»Ist ja widerlich«, entfährt es mir, und Matea nickt verheult.

»Ja, ultrawiderlich.«

Wir lachen. Nicht aus voller Kehle, aber immerhin lachen wir, jede ein bisschen, und Matea zittert etwas weniger. Es ist die Stille zwischen den Sätzen, die besonders schmerzt. Es ist eine Stille, in die Mone etwas sagen müsste, in der ich sie wenigstens anrufen können müsste und fragen, was wir tun sollten, was Matea jetzt beruhigen würde. Ihre Taten haben nicht immer für sie gesprochen – zu meiner Zeit war sie zum Beispiel entschiedene bis militante Vegetarierin gewesen, von wegen ›Wurschtperlen‹ –, aber wenn jemand reden konnte, dann sie. Dieses Talent habe ich nicht von ihr geerbt. Als Kind war es mir meist peinlich, wie viel sie sprach, und das auch noch mit jedem, der ihr begegnete. Als sie mich das erste Mal während des Studiums besuchte, grüßte sie auf einem Spaziergang durch den noch sehr schmutzigen Prenzlauer Berg einfach jeden, der uns über den Weg lief, bis uns einer, der sich bedroht fühlte, anging, »Willst du was, Alte?!«, und ich sie schnell an dem Arm packte, auf dem sie die zweijährige Mira trug, und davonzog. Sie hat dann immer gelacht, sich aus unangenehmen Situationen herausgelacht, »ist doch nicht schlimm, Mercedes!« Wie oft hatte ich das gehört. Ist doch nicht schlimm, wie eine Automarke zu heißen – ihrer Meinung nach ein antikapitalistischer Move, reclaim the name. Ist doch nicht schlimm, das selbst geschneiderte Kleid. Die geflickte Jeans. Und sie hatte auch nicht völlig unrecht. Gerade was Textilien betraf, war es in einer ostdeutschen Kleinstadt wie unserer undramatisch, immer das Gleiche zu tragen, bis auf ein paar wenige Ausnahmen, ein Paket hier und eine Tante aus Hessen da, hatten wir an, was es so gab. Wann immer das in späteren Gesprächen aufkam, in der WG am Küchentisch etwa, in der wir zu acht waren, immer aus drei oder vier Nationen und auch aus anderen Ecken Deutschlands, empfand ich das als völlig unrealistisch: dass es Probleme geben konnte, weil eine die Jacke aus dem Donnerstagsangebot bei Lidl trug.

Erst als meine Freundin Leni mich zu ihren Eltern in einen Vorort Stuttgarts mitgenommen hatte, verstand ich, was das in diesem neuen alten Land für ein himmelweiter Unterschied war. Ob sie Marke trugen oder nicht, ob sie Marke fuhren oder nicht, ob sie Marke aßen oder nicht. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob sie vor ihren Eltern geoutet war oder ob die nicht vielleicht doch einfach dachten, wir wären eben einfach richtig gute Freundinnen. Es war immer noch sehr kurz nach der Wende, jedenfalls noch nicht 1994, und Lenis Vater war Jurist – er muss sich bewusst gewesen sein, dass der 175er, wenn auch zuvorderst für Männer, noch galt. Aber im Haushalt von Lenis Eltern mit getrimmtem Rasen und Teppich auf den Treppenstufen war es nicht die Möglichkeit, dass ihre Leni außer der Reihe und mit mir tanzte und in ihrer bunt gemusterten Kinderzimmerbettwäsche noch ganz andere Sachen trieb, während die Eltern unten Kaffee kochten und genau vier Stücke der guten Tiefkühltorte auftauten. Es war ihnen schon genug der Rebellion, dass sie die Haare kürzer als bis zu den Schultern trug.

Was ich nicht verstand, war der freiheitliche Umgang mit den größeren Dingen; nach dem Studium etwa fragte Leni niemand. Sie war eingeschrieben für Kunstgeschichte (ohne Lehramt!), und solange ihre Eltern nicht wussten, dass sie wohl niemals mit einem Verlobungsring von einem Medizin- oder Juraball kommen würde, interessierte das alles wenig. Einmal tätschelte ihr Vater ihr lächelnd die Hand, während sie von den Plänen für ihre Abschlussarbeit erzählte, als wäre ihm daran am wichtigsten, dass seine Tochter sich nicht langweilte. Ich war zu dieser Zeit mit meinem Studium beinahe fertig und arbeitete nebenher, illustrierte auftragsweise und hatte mich mit Mone früh darauf geeinigt, dass ich Graphikerin werden sollte, weil das keine der Horrorkarrieren war, vor denen die improvisierte, weil postrevolutionäre Berufsberatung mich das Fürchten gelehrt hatte (»Als Bürokauffrau haben Sie doch viel mit Schreibwaren zu tun!«), aber eben auch keine, ja, brotlose Kunst.

Ich hatte alle meine Pflichtfächer belegt, aber schlich mich in den freien Stunden gern in die Vorlesungen der Kunstgeschichte. Am liebsten saß ich bei einem Professor, der über Großstadtexpressionismus um 1900 sprach. Leni saß in der letzten Reihe, machte aber einmal eine besonders bemerkenswerte Bemerkung. Ich weiß noch, dass es um Sterne ging. Sie war dabei weit zurückgelehnt, und ihre Stimme trug durch den ganzen Saal. Dass sie einen Kaugummi kaute, machte es noch lässiger. Für den Rest des Semesters setzte ich mich in ihre Peripherie. Ich hatte den Eindruck, dass sie meistens nicht zuhörte, ihre Beobachtungen waren aber so spannend und so konzis gefasst, dass ich der Überzeugung war, sie müsse zwei Gehirne haben: eines, das aufpasste und lauschte, und eines, das leise mit den Kommilitoninnen flüsterte und kicherte. Das erste hatte mich für sie eingenommen, das zweite musste ich gewinnen. Nur wie?

»Was, ›Lenin‹?«, fragte ich tumb nach, als ich mich in der Raucherecke dazu überwunden hatte, sie nach ihrem Namen zu fragen und ihr Feuer anzubieten, und sie sah mich für eine Sekunde an wie ein Reh auf der Fahrbahn. Dann lachte sie und sagte, das sei ihr wirklich noch nie passiert, »nein, Leee-niii!«. Ich nickte und rauchte ein bisschen schneller, lehnte mich an den warmen Sandstein des Unigebäudes. Leni. Das mochte ich. Den Klang. Sie rauchte Parisienne, was ich prätentiös und irgendwie toll fand. Fortan setzte ich mich in der Vorlesung neben sie, und zusammen verewigten wir unsere Zeichnungen auf den Klapptischen, mit meinen H6 Bleistiften in das alte Furnier. Und während ich eifrig und nervös zugleich ritzte, flüsterte sie:

»Meinen Namen nicht kapieren und selbst Mercedes heißen, echt.«

 

Der Zirkus ist genau der richtige Ort, an dem uns so ein Moment hätte passieren sollen: dramatisch und nostalgisch und aus der Zeit gefallen. Aber so ist das Leben nicht, ein paar große Gesten, die Highlights des Spiels zusammengeschnitten und dazwischen stimmungsvolles Stock Footage – die Umbrüche lauern im Kleinen. Ein Stolpern auf gebohnerter Treppe oder eine Ampelphase, die nicht abgewartet wird, können uns in der Mitte durchtrennen, und ein Nervenzusammenbruch passiert gegebenenfalls ungeduscht zwischen Gurkengläsern. Auf dem Vorplatz des Zirkus stehen wir dann einfach nur da, zwischen Wohnwagen und Käfigen. Keine Schwanenfrau am Eingang, kein Clown, der Popcorn verkauft. Einzig: der auf seiner Stange kauernde Graupapagei, der, als er unserer ansichtig wird, noch immer ruft: »süß oder salzig«. Die Höcker der Kamele und Dromedare hängen an den Seiten hinab, während die Träger sich dünne Beine in weiche Bäuche stehen, wie Ballons, aus denen ganz langsam die Luft entweicht.

Das um sich greifende Elend ist bei Tageslicht ohne kreischende Kinder und blinkende Plastikspielzeuge besonders schwer zu ignorieren. Daran ändert auch der höfliche Knicks der Elefantendame nichts, den Matea filmt und zu einem kleinen Loop schneidet. Die Elefantin sieht zart aus, wie aus Porzellan, feine Risse, die sich durch ihre Epidermis ziehen, und hauchdünne Ohren, von fern wie rosa Blütenblätter mit Sprenkeln, ihre Kissenfüße machen Schleifgeräusche, während sie vor uns hin und her pendelt, über ihren alten Augen liegt ein Netz gegen die Bremsen. Mira äußert ihr Bedauern darüber, dass die arme alte Dame nicht mehr einfach zum Fernsehen gehen, kein TV-Star werden kann, weil das ja auch niemand mehr schaut, dieses lineare Fernsehen, oder wenigstens zu YouTube, wobei Matea die Augen verdreht; wie immer, wenn eine von uns beiden versucht, eine internetaffine Bemerkung zu machen. Sobald ich meine, eines dieser Konzepte aus dem digitalen Raum begriffen zu haben, entwischt es mir schon wieder, hat sich aufgelöst, entmaterialisiert. Matea findet uns nur peinlich. Dabei ist sie es, die Miras Referenz nicht erkennt, als diese hinzufügt, zumindest wenn der Krieg käme, könnten wir diese graue Kameradin hier noch gut gebrauchen. Die Dromedare dagegen kämen ihr für Nahkampf eher ungeeignet vor. Matea und ich gehen einfach weiter, ohne das zu kommentieren, und legen die Hände auf weiche, warme Ponyschnuten. Das hilft nicht wirklich. Aber es vergehen fünfunddreißig Minuten, und vielleicht ist da doch dieser leichte Schub, den der Anblick dieses entzauberten Paradieses bedeutet. Der ein kleiner Antrieb ist, ein schwacher Trost, aber das notwendige bisschen Kraft zum Abschied gibt, bevor wir zurück in die Wohnung fahren. Und als wir dort ankommen, können wir beginnen, zu packen.

 

Mira arbeitet sich durch die Küchenschränke in Eiche rustikal, durch mehrere Dekaden Porzellan und Besteck – dass es zwischen dem aktuellen weißen und dem alten Zwiebelmuster auch eine petrolfarbene und eine zitronengelbe Phase gegeben hat, war mir gar nicht klar gewesen. Das meiste hiervon spenden wir, während Mati ihr eigenes Zimmer in Boxen verstauen soll.

Ich sitze im Schlafzimmer, packe für jede von uns eine Kiste mit Andenken – ein Tipp von witweninfo.de. Alle drei Boxen sind halb voll mit den fast unbenutzten Pullovern Mones; im Klimakterium hatte sie zu frieren aufgehört. Wir lauschen dabei nur dem wackligen Rhythmus der anderen: durch die Zimmertüren ein undeutliches Gerumpel. Ein Zeichen, dass wir alle da sind. Meine Hände riechen nach altem Staub, nach Zedernholzplättchen aus den Nullerjahren, Lavendelbeuteln aus den Neunzigern und Mottenkugeln aus den Achtzigern, während Schränke und Nachttische als ausgehöhlte Gerippe dastehen. Nur die alte Kommode im Flur, die drei Schubladen hat, jede unterschiedlich groß und auf ihre eigene Weise schwergängig, lassen wir. Die nehmen wir mit, wie sie ist, obwohl sie weder in meine, noch in Miras Einrichtung so recht passen wird. Sie ist eines der wenigen Möbel, die wir alle von jeher kennen und die keine Überarbeitung erfahren hat. Über ihren Ursprung wissen wir nichts, und es lebt niemand mehr, den wir fragen könnten. Die Kommode steht da, mit angelaufenen Messinggriffen und Kugelfüßen, darauf an einem staubigen Drahtgestell die großen Halsketten, die Mira bekommt, weil sie als Einzige von uns Schmuck trägt, und ein gar nicht so unansehnlicher Schminkspiegel, den ich einpacke, weil ich vorhabe, ihn in Mateas künftiges Zimmer zu stellen, das jetzt noch mein Büro ist.

 

Achteinhalb Stunden bevor der Speditionsservice Brandt, der hoffentlich nichts mit Markus Brandt aus meiner Abiturklasse zu tun hat, vor unserer Tür steht, verklebe ich die letzte Box. Obwohl die Pappkartons sich in allen Zimmern und selbst dem schmalen Flur stapeln, hallt die Wohnung nun unter unseren Schritten, als Mira und ich zu Mateas Zimmertür gehen, um ihr gute Nacht zu sagen, ihr vielleicht zuzusprechen, dass alles irgendwie – wenn auch nicht schön, dann erst mal neu und irgendwann wieder Gewohnheit – werde. So etwas in der Art habe ich jedenfalls im Kopf, aber üblicherweise redet Mira besser. Das hat schon mit Mone so funktioniert, und Matea hat immerhin die gleichen strengen Augenbrauen wie sie.

Als wir die Zimmertür öffnen, trifft den Boden ein Schlag: ein Bündel unaufgefalteter Umzugskartons kippt um und begräbt unter sich ein Wirrwarr aus Klitter. Ein Chaos aus Kabeln und Steckern und CD-Hüllen, sogar Laufwerke und außerdem ein Haufen Feenstaub: Perlen und Federn und Glitzer und glitzernder Kleber und glitzernde Scheren und Haarbänder und fluoreszierende Stifte, und überall verstreut liegt bunter Puffreis, von dem Matea zwei Beutel pro Woche verzehrt. Die Bewohnerin dieser Höhle stellt sich oben in ihrem Stockbett schlafend, sieht zu friedlich, zu eingekuschelt aus, begraben unter einem Wust aus Bettwäsche und Kleidungsstücken, erkennbar nur ihr braves Gesicht. An ihrem Fußende liegt Muriel und blinzelt uns arglos an.

Der Schrei steigt in meiner Kehle hoch und schwillt an, mir wird heiß, im Gehörgang fühle ich die tickenden Sekunden der Uhr über der Tür, noch sechseinviertel Stunden, und ich bin hundemüde und der Zeitplan wäre perfekt aufgegangen –

Doch bevor ich etwas sagen kann, drückt Mira mir wortlos einen Karton in die Hand, faltet ihrerseits einen auf, mit einem gezielten Schwingen der Unterarme, so leise das eben geht, in stiller Akzeptanz des gefälschten Dornröschenschlafes über unseren Köpfen – und wir beginnen zu packen. Mit zitternden Händen wickele ich Kabel auf. Wie ich Kinder hasse, denke ich, wie unzuverlässig, wie unnütz. Dabei trete ich auf Puffreis, der unter meinen Zehen knirscht, und sage nichts. Mira kümmert sich um den Feenstaub, verstaut Polaroidfotos, kleine Plüschtiere und Schulbücher. Nach einer Weile gehe ich in die Küche und hole die Lokalzeitung, bei der ich gern ein Praktikum gemacht hätte, hätte es sie damals schon gegeben, und reiße sie in handbreite Streifen, um kleine Technikteile, die ich nicht verstehe, Platinen und etwas, von dem ich glaube, dass es RAM-Riegel sind, sicher zu verpacken. Wie bei Ausgrabungen auf einem fremden Planeten gleitet Mateas Hab und Gut durch unsere vorsichtigen Hände. Irgendwann knackst