Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam  – Band 246 in der  gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski - Zweig Stefan - E-Book

Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam – Band 246 in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

Stefan Zweig schildert in diesem Buch den Charakter und das Wirken des von Rotterdam. Erasmus will sich nicht festlegen, sondern offen bleiben, was Martin Luther nicht versteht. Christentum ist für Erasmus nur das andere Wort für hohe und humane Sittlichkeit. "Die ganze Welt ist ein gemeinsames Vaterland", proklamiert Erasmus. Im zweiten Teil dieses Buches geht es um Johannes Calvin, den Reformator und Machtmenschen in Genf und seinen Kritiker Sebastian Castellio. Calvin lässt Michael Servet als angeblichen Ketzer lebend verbrennen. Humanismus gegen Machtmissbrauch! Mit vielen Bildern und Zusatzinformationen wird dieses Buch von Stefan Zweig neu herausgegeben. – Rezession: Ich bin immer wieder begeistert von der "Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechslungsreiche Themen aus verschiedenen Zeit-Epochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlicht hat. Alle Achtung!

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Seitenzahl: 541

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Stefan Zweig

Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam – Band 246 in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski

Band 246 in der gelben Buchreihe

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Herausgebers

Der Autor Stefan Zweig

Stefan Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam

Sendung und Lebenssinn

Blick in die Zeit

Dunkle Jugend

Bildnis

Meisterjahre

Größe und Grenzen des Humanismus

Der große Gegner

Der Kampf um die Unabhängigkeit

Die große Auseinandersetzung

Das Ende

Das Vermächtnis des Erasmus

Stefan Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt

Einleitung

Die Machtergreifung Calvins

Die „dicipline“

Castellio tritt auf

Der Fall Servet

Der Mord an Servet

Das Manifest der Toleranz

Ein Gewissen erhebt sich gegen die Gewalt

Die Gewalt erledigt das Gewissen

Die Pole berühren einander

Die maritime gelbe Buchreihe

Weitere Informationen

Impressum neobooks

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Herausgebers

Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche.

Dabei lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.

Im Februar 1992 entschloss ich mich, meine Erlebnisse mit den See­leuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzu­tragen. Es stieß auf großes Interesse. Mehrfach wurde in Leser-Reaktio­nen der Wunsch laut, es mögen noch mehr solcher Bände erscheinen. Deshalb folgtendem ersten Band der „Seemannsschicksale“ weitere.

2021 Jürgen Ruszkowski

Ruhestands-Arbeitsplatz

Hier entstehen die Bücher und Webseiten des Herausgebers

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Der Autor Stefan Zweig

Der Autor Stefan Zweig

https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/zweig.html

Stefan Zweig, * 28. November 1881 in Wien – † 23. Februar 1942 in Petrópolis, Bundesstaat Rio de Janeiro, Brasilien, war ein österreichisch-britischer Schriftsteller, Übersetzer und Pazifist. Zweig gehörte zu den populärsten deutschsprachigen Schriftstellern seiner Zeit.

https://de.wikipedia.org/wiki/Stefan_Zweig

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und starb am 23. Februar 1942 in Petrópolis, Brasilien. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig kam aus großbürgerlich-jüdischer Familie. Er studierte in Wien und Berlin Philosophie, Germanistik und Romanistik. 1904 promovierte er zum Dr. phil. Nach der Promotion bereiste er Europa, Amerika, Afrika und Indien. Während des 1. Weltkriegs war er zuerst propagandistisch im Wiener Kriegsarchiv, dann in offiziösen Missionen in der Schweiz tätig.

Romain Rolland, * 29. Januar 1866 in Clamecy, Département Nièvre – † 30. Dezember 1944 in Vézelay, Burgund, war ein französischer Schriftsteller, Musikkritiker und Pazifist. Er wurde 1915 als dritter Franzose mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Er engagierte sich zusammen mit Romain Rolland für den Frieden.

Nach Kriegsende lebte er bis 1933 mit seiner Frau Friderike in Salzburg.

Friderike Zweig, geborene Burger, * 4. Dezember 1882 in Wien – † 18. Januar 1971 in Stamford, Connecticut, USA, war eine österreichische Schriftstellerin.

Von ihr löste er sich im Zug einer Übersiedlung nach England, 1941 zog er weiter nach Brasilien, nach Petropolis im Bundesstaat Rio de Janeiro.

Stefan Zweig

Unter Depression leidend, nahm er sich dort gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lotte das Leben.

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Stefan Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam

Stefan Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam

https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/erasmus/titlepage.html

Ich versuchte zu erfahren,

ob Erasmus von Rotterdam bei jener Partei sei.

Aber ein gewisser Kaufmann erwiderte mir:

„Erasmus est homo pro se“

(Erasmus steht immer für sich allein).

Epistolae obscurorum virorum, 1515

Erasmus von Rotterdam

(Hans Holbein d. J.)

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Sendung und Lebenssinn

Sendung und Lebenssinn

Erasmus von Rotterdam, einstmals der größte und leuchtendste Ruhm seines Jahrhunderts, ist heute, leugnen wir es nicht, kaum mehr als ein Name.

Desiderius Erasmus von Rotterdam oder nur Erasmus genannt, * 28. Oktober 1466/1467/1469 in Rotterdam – † 11./12. Juli 1536 in Basel, war ein niederländischer Universalgelehrter: Theologe, Philosoph, Philologe, Priester, Autor und Herausgeber von über 150 Büchern.

Seine unzählbaren Werke, verfasst in einer vergessenen, übernationalen Sprache, dem humanistischen Latein, schlafen unaufgestört in den Bibliotheken; kaum ein einziges der einstmals weltberühmten spricht noch herüber in unsere Zeit. Auch seine persönliche Gestalt ist, weil schwer fassbar und in Zwischenlichtern und Widersprüchen schillernd, von den kräftigeren und heftigeren Figuren der anderen Weltreformatoren stark verschattet worden und von seinem privaten Leben wenig Unterhaltsames zu vermelden: ein Mensch der Stille und unablässigen Arbeit erschafft sich selten eine sinnliche Biographie. Aber sogar seine eigentliche Tat ist dem Gegenwartsbewusstsein verschüttet und verborgen wie immer der Grundstein unter dem schon aufgeführten Gebäude. Deutlich und zusammenfassend sei darum vorangesprochen, was uns Erasmus von Rotterdam, den großen Vergessenen, heute noch und gerade heute teuer macht – dass er unter allen Schreibenden und Schaffenden des Abendlandes der erste bewusste Europäer gewesen, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals. Und dass er überdies ein Besiegter blieb in seinem Kampf um eine gerechtere, einverständlichere Gestaltung unserer geistigen Welt, dies sein tragisches Schicksal verbindet ihn nur noch inniger unserem brüderlichen Gefühl. Erasmus hat viele Dinge geliebt, die wir lieben, die Dichtung und die Philosophie, die Bücher und die Kunstwerke, die Sprachen und die Völker, und ohne Unterschied zwischen ihnen allen die ganze Menschheit um der Aufgabe höherer Versittlichung willen. Und er hat nur ein Ding auf Erden wahrhaft als den Widergeist der Vernunft gehasst: den Fanatismus. Selber der unfanatischeste aller Menschen, ein Geist vielleicht nicht höchsten Ranges, aber weitesten Wissens, ein Herz nicht gerade rauschender Güte, aber rechtschaffenen Wohlwollens, erblickte Erasmus in jeder Form von Gesinnungsunduldsamkeit das Erbübel unserer Welt. Seiner Überzeugung nach wären beinahe alle Konflikte zwischen Menschen und Völkern durch gegenseitige Nachgiebigkeit gewaltlos zu schlichten, weil alle doch in der Domäne des Menschlichen liegen; fast ein jeder Widerstreit könnte vergleichsweise ausgetragen werden, überspannten nicht immer die Treiber und Übertreiber den kriegerischen Bogen. Darum bekämpfte Erasmus jedweden Fanatismus, ob auf religiösem, ob auf nationalem oder weltanschaulichem Gebiet, als den geborenen und geschworenen Zerstörer jeder Verständigung, er hasste sie alle, die Halsstarrigen und Denkeinseitigen, ob im Priestergewand oder Professorentalar, die Scheuklappendenker und Zeloten jeder Klasse und Rasse, die allorts für ihre eigene Meinung Kadavergehorsam verlangen und jede andere Anschauung verächtlich Ketzerei nennen oder Schurkerei. So wie er selbst niemandem seine eigenen Anschauungen aufzwingen wollte, so leistete er entschlossenen Widerstand, irgendein religiöses oder politisches Bekenntnis sich aufnötigen zu lassen. Selbständigkeit im Denken war ihm eine Selbstverständlichkeit, und immer sah dieser freie Geist eine Verkümmerung der göttlichen Vielfalt der Welt darin, wenn einer, ob auf der Kanzel oder auf dem Katheder, aufstand und von seiner eigenen persönlichen Wahrheit wie von einer Botschaft redete, die Gott ihm und ihm allein ins Ohr gesprochen. Mit aller Kraft seiner funkelnden und schlagenden Intelligenz bekämpfte er darum ein Leben lang auf allen Gebieten die rechthaberischen Fanatiker ihres eigenen Wahnes – und nur in ganz seltenen glücklichen Stunden lächelte er über sie. In solchen milderen Momenten erschien ihm der engstirnige Fanatismus nur als bedauernswerte Borniertheit des Geistes, als eine der unzähligen Formen der „Stultitia“, deren tausend Abarten und Spielarten er in seinem „Lob der Narrheit“ so ergötzlich klassifizierte und karikierte. Als der wahrhaft und vorurteilslos Gerechte verstand und bemitleidete er sogar seinen erbittertsten Feind. Aber im tiefsten hat Erasmus immer gewusst, dass dieser Unheilgeist der menschlichen Natur, dass der Fanatismus ihm seine eigene mildere Welt und sein Leben zerstören werde.

Denn des Erasmus Sendung und Lebenssinn war die harmonische Zusammenfassung der Gegensätze im Geist der Humanität. Er war geboren als eine bindende oder, um mit Goethe zu sprechen, der ihm ähnlich war in der Ablehnung alles Extremen, eine „kommunikative Natur“.

Johann Wolfgang von Goethe, * 28. August 1749 in Frankfurt am Main – † 22. März 1832 in Weimar.

Jede gewaltsame Umwälzung, jeder „tumultus“, jeder trübe Massenzank widerstrebte für sein Gefühl dem klaren Wesen der Weltvernunft, der er als treuer und stiller Bote sich verpflichtet fühlte, und insbesondere der Krieg schien ihm, weil die gröbste und gewalttätigste Form der Austragung inneren Gegensatzes, unvereinbar mit einer moralisch denkenden Menschheit. Die seltene Kunst, Konflikte abzuschwächen durch gütiges Begreifen, Dumpfes zu klären, Verworrenes zu schlichten, Zerrissenes neu zu verweben und dem Abgesonderten höheren gemeinsamen Bezug zu geben, war die eigentliche Kraft seines geduldigen Genies, und mit Dankbarkeit nannten die Zeitgenossen diesen vielfach wirkenden Willen zur Verständigung schlechthin „das Erasmische“.  Diesem „Erasmischen“ wollte dieser eine Mann die Welt gewinnen. Weil er in sich selbst alle Formen des Schöpferischen vereinte, in einem Dichter, Philologen, Theologen und Pädagogen, hielt er im ganzen Weltraum eine Bindung auch des scheinbar Unversöhnlichen für möglich; keine Sphäre blieb seiner vermittelnden Kunst unerreichbar oder fremd. Für Erasmus bestand kein moralischer, kein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Jesus und Sokrates, zwischen christlicher Lehre und antikischer Weisheit, zwischen Frömmigkeit und Sittlichkeit. Er nahm die Heiden, er, der geweihte Priester, im Sinne der Toleranz in sein geistiges Himmelreich und stellte sie brüderlich zu den Kirchenvätern; Philosophie war ihm eine andere und ebenso reine Form des Gottsuchens wie die Theologie, zum christlichen Himmel sah er nicht minder gläubig empor wie dankbar zu dem griechischen Olymp. Die Renaissance mit ihrem sinnlich frohen Überschwang, sie erschien ihm nicht wie Calvin und den anderen Zeloten als die Feindin der Reformation, sondern als ihre freiere Schwester.

Johannes Calvin, * 10. Juli 1509 in Noyon, Picardie – † 27. Mai 1564 in Genf, war einer der einflussreichsten systematischen Theologen unter den Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk, die Institutio Christianae Religionis, wird als eine „protestantische Summa“ bezeichnet.

Er anerkannte, sesshaft in keinem Land und heimisch in allen, der erste bewusste Kosmopolit und Europäer, keinerlei Überlegenheit einer Nation über die andere, und weil er sein Herz erzogen hatte, die Völker einzig zu werten nach ihren edelsten und geformtesten Geistern, nach ihrer Elite, so dünkten sie ihn alle liebenswert. Alle diese Gutgesinnten nun aus allen Ländern, Rassen und Klassen zu einem großen Bund der Gebildeten zusammenzurufen, diesen erhabenen Versuch nahm er als eigentliches Lebensziel auf sich, und indem er Latein, die Sprache über den Sprachen, zu einer neuen Kunstform und Verständigungssprache erhob, erschuf er den Völkern Europas – unvergessliche Tat! – für die Dauer einer Weltstunde eine übernational einheitliche Denk- und Ausdrucksform. Sein weites Wissen blickte dankbar ins Vergangene zurück, sein gläubiger Sinn vertrauensvoll der Zukunft entgegen. An dem Barbarischen der Welt aber, das Gottes Plan tölpisch boshaft mit fortwährender Feindseligkeit immer neu zu verwirren strebt, sah er beharrlich vorbei; nur die obere, die formgebende und schöpferische Sphäre zog ihn brüderlich an, und er hielt es für die Aufgabe jedes Geistigen, diesen Raum zu erweitern und zu verbreitern, damit er einmal wie das Himmelslicht einheitlich und rein die ganze Menschheit umfasse. Denn dies war der innerste Glaube (und der schöne, der tragische Irrtum) dieses frühen Humanismus: Erasmus und die Seinen hielten einen Fortschritt der Menschheit durch Aufklärung für möglich und erhofften eine Erziehungsfähigkeit des einzelnen wie der Gesamtheit durch eine allgemeinere Verbreitung von Bildung, Schrift, Studium und Buch. Diese frühen Idealisten hatten ein rührendes und fast religiöses Vertrauen in die Veredlungsfähigkeit der menschlichen Natur durch beharrliche Pflege des Lernens und Lesens. Als büchergläubiger Gelehrter zweifelte Erasmus niemals an der vollkommenen Lehrbarkeit und Erlernbarkeit des Sittlichen. Und das Problem einer völligen Harmonisierung des Lebens dünkte ihn schon gewährleistet durch diese von ihm als ganz nah erträumte Humanisierung der Menschheit.

Ein solcher hoher Traum war wohl angetan, wie ein kraftvoller Magnet aus allen Ländern die Besten der Zeit anzuziehen. Immer erschiene ja dem sittlich fühlenden Menschen die eigene Existenz unbeträchtlich und wesenlos ohne den tröstlichen Gedanken, den seelenerweiternden Wahn, auch er als einzelner könne mit seinem Wunsch und Wirken etwas hinzutun zu einer allgemeinen Versittlichung der Welt. Nur Stufe sei unsere Gegenwart zu einer höheren Vollkommenheit, nur Vorbereitung eines viel vollkommeneren Lebensprozesses. Wer diese Hoffnungskraft auf den sittlichen Fortschritt der Menschheit durch ein neues Ideal zu beglaubigen weiß, der wird Führer seiner Generation. So Erasmus. Die Stunde war seinem Gedanken europäischer Einigung im Geist der Humanität ungemein günstig, denn die großen Entdeckungen und Erfindungen der Jahrhundertwende, die Erneuerung der Wissenschaften und Künste durch die Renaissance waren seit langem wieder ein beglückendes, ein übernationales Kollektiverlebnis ganz Europas gewesen; zum ersten Mal wieder nach unzähligen bedrückten Jahren beseelte die abendländische Welt Vertrauen in ihre Sendung, und aus allen Ländern strömten die besten idealistischen Kräfte dem Humanismus zu. Jeder wollte Bürger, Weltbürger werden in diesem Reich der Bildung; Kaiser und Päpste, Fürsten und Priester, Künstler und Staatsmänner, Jünglinge und Frauen wetteiferten, sich in den Künsten und Wissenschaften unterrichten zu lassen, das Latein wurde ihre gemeinsame Brudersprache, ein erstes Esperanto des Geistes: zum ersten Mal – rühmen wir diese Tat! – seit dem Einsturz der römischen Zivilisation war durch die Gelehrtenrepublik des Erasmus wieder eine gemeinsame europäische Kultur im Werden, zum ersten Mal nicht die Eitelkeit einer einzigen Nation, sondern die Wohlfahrt der ganzen Menschheit das Ziel einer brüderlich idealischen Gruppe. Und dieses Verlangen der Geistigen, sich im Geist zu binden, der Sprachen, sich in einer Übersprache zu verständigen, der Nationen, sich im Übernationalen endgültig zu befrieden, dieser Triumph der Vernunft war auch der Triumph des Erasmus, seine heilige, aber kurze und vergängliche Weltstunde.

Erasmus – Zeichnung von Albrecht Dürer – 1520

Warum konnte – schmerzliche Frage – ein so reines Reich nicht dauern? Warum gewinnen immer wieder ebendieselben hohen und humanen Ideale geistiger Verständigung, warum das „Erasmische“ so wenig wirkliche Gewalt in einer doch längst über den Widersinn aller Feindseligkeit belehrten Menschheit? Wir müssen leider klar erkennen und bekennen, dass niemals ein Ideal breiten Volksmassen vollkommen Genüge tut, das einzig die allgemeine Wohlfahrt ins Auge fasst; bei den durchschnittlichen Naturen fordert auch der Hass sein düsteres Recht neben der bloßen Liebesgewalt, und der Eigennutz des einzelnen will von jeder Idee auch rasche persönliche Nutznießung. Immer wird der Masse das Konkrete, das Greifbare eingängiger sein als das Abstrakte, immer darum im Politischen jede Parole am leichtesten Anhang finden, die statt eines Ideals eine Gegnerschaft proklamiert, einen bequem fassbaren, handlichen Gegensatz, der gegen eine andere Klasse, eine andere Rasse, eine andere Religion sich wendet, denn am leichtesten kann der Fanatismus seine frevlerische Flamme am Hass entzünden. Ein bloß bindendes, ein übernationales, ein panhumanes Ideal dagegen wie das erasmische entbehrt selbstverständlich für eine Jugend, die ihrem Gegner kämpferisch ins Auge sehen will, das optisch Eindrucksvolle und bringt niemals jenen elementaren Anreiz wie das stolz Absondernde, das jedes Mal den Feind jenseits der eigenen Landesgrenze und außerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft aufzeigt. Immer werden es darum die Parteigeister leichter haben, welche die ewig menschliche Unzufriedenheit in eine bestimmte Windrichtung jagen; der Humanismus aber, die erasmische Lehre, die für keinerlei Hassleidenschaft Raum hat, setzt heroisch ihre geduldige Anstrengung auf ein fernes und kaum sichtbares Ziel, sie ist und bleibt ein geistaristokratisches Ideal, solange das Volk, das sie sich träumt, solange die europäische Nation nicht verwirklicht ist. Zugleich Idealisten und doch Kenner der menschlichen Natur, dürfen darum die Anhänger einer zukünftigen Menschheitsverständigung niemals im unklaren sein, dass ihr Werk ständig von dem ewig Irrationalen der Leidenschaft bedroht ist, sie müssen aufopfernd bewusst bleiben, dass immer wieder in den Zeiten eine Sturzflut des Fanatismus, geballt aus den Urtiefen der menschlichen Triebwelt, alle Dämme überfluten und zerreißen wird: fast jede neue Generation erlebt solch einen Rückschlag, und es ist dann ihre moralische Aufgabe, ihn ohne innere Verwirrung zu überdauern.

Die persönliche Tragik des Erasmus aber bestand darin, dass gerade er, der unfanatischeste, der antifanatischeste aller Menschen, und gerade in dem Augenblick, da die übernationale Idee zum ersten Mal Europa sieghaft überglänzte, in einen der wildesten Ausbrüche nationalreligiöser Massenleidenschaft hinabgerissen wurde, den die Geschichte kennt. Im Allgemeinen reichen jene Geschehnisse, die wir historisch bedeutsame nennen, gar nicht bis in das lebendige Volksbewusstsein hinab. Selbst die großen Wogen des Krieges ergriffen in früheren Jahrhunderten nur einzelne Völkerschaften, einzelne Provinzen, und im Allgemeinen konnte es bei sozialen oder religiösen Auseinandersetzungen dem Geistigen gelingen, sich abseits zu halten vom Getümmel, unbeteiligten Herzens vorüber zu blicken an den Leidenschaften des Politischen – Goethe dafür das beste Beispiel, der ungestört inmitten des Tumults der napoleonischen Kriege an seinem inneren Werk schafft. Manchmal aber, sehr selten in den Jahrhunderten, entstehen gegensätzliche Spannungen von solcher Windstärke, dass die ganze Welt wie ein Tuch in zwei Teile zerrissen wird, und dieser riesige Riss geht quer durch jedes Land, jede Stadt, jedes Haus, jede Familie, jedes Herz. Von allen Seiten fasst dann mit ihrem ungeheuren Druck die Übergewalt der Masse das Individuum, und es kann sich nicht wehren, nicht retten vor dem kollektiven Wahn; ein solcher rasender Wogen-Zusammenprall erlaubt keinen sicheren, keinen abseitigen Stand. Derart vollkommene Welt-Entzweiungen können sich entzünden an der Gegensatzreibung eines sozialen, eines religiösen und jedes anderen geistig-theoretischen Problems, aber im Grunde ist es immer für den Fanatismus gleichgültig, an welchem Stoff er sich entflammt; er will nur brennen und lodern, seine aufgestaute Hasskraft entladen, und gerade in solchen apokalyptischen Weltstunden des Massenwahnes zersprengt am häufigsten der Dämon des Krieges die Ketten der Vernunft und stürzt sich frei und lustvoll über die Welt.

In solchen furchtbaren Augenblicken des Massenwahns und der Weltparteiung wird der Wille des einzelnen wehrlos. Vergebens, dass der Geistige sich retten will in die abgesonderte Sphäre der Betrachtung, die Zeit zwingt ihn hinein in das Getümmel zur Rechten oder zur Linken, in die eine Rotte oder in die andere, zur einen Parole oder zur anderen Partei; keiner unter den Hunderttausenden und Millionen von Kämpfern braucht dann mehr Mut, mehr Kraft, mehr moralische Entschlossenheit in solchen Zeiten als der Mann der Mitte, der sich keinem Rottenwahn, keiner Denkeinseitigkeit unterwerfen will. Und hier beginnt die Tragödie des Erasmus. Er hatte als der erste deutsche Reformator (und eigentlich der einzige, denn die anderen waren eher Revolutionäre als Reformatoren) nach den Gesetzen der Vernunft die katholische Kirche zu erneuern gesucht; aber ihm, dem weitsichtigen Geistmenschen, dem Evolutionär, sendet das Schicksal den Tatmenschen entgegen, Luther, den Revolutionär, den dämonisch Getriebenen dumpfer deutscher Volksgewalten. Mit einem Schlag zertrümmert Doctor Martins eiserne Bauernfaust, was die feine, bloß mit der Feder bewehrte Hand des Erasmus zaghaft zärtlich zu binden sich bemühte. Für Jahrhunderte wird die christliche, die europäische Welt zerspalten, Katholiken gegen Protestanten, Norden gegen Süden, Germanen gegen Romanen – es gibt in diesem Augenblick nur eine Wahl, eine Entscheidung für den deutschen, den abendländischen Menschen: entweder papistisch oder lutherisch, entweder Schlüsselgewalt oder Evangelium.

Martin Luther, * 10. November 1483 in Eisleben, Grafschaft Mansfeld † 18. Februar 1546 ebenda, war ein deutscher Augustinermönch und Theologieprofessor, der zum Urheber der Reformation wurde. Er sah in Gottes Gnadenzusage und der Rechtfertigung durch Jesus Christus die alleinige Grundlage des christlichen Glaubens.

(Siehe Bände 95 bis 97 und 110 in dieser gelben Buchreihe!)

Aber Erasmus – dies seine denkwürdige Tat – weigert sich als der einzige unter den Führern der Zeit, Partei zu nehmen. Er tritt nicht auf die Seite der Kirche, er tritt nicht auf die Seite der Reformation, denn er ist beiden verbunden, der evangelischen Lehre, weil er sie aus Überzeugung als erster gefordert und gefördert, der katholischen Kirche, weil er in ihr die letzte geistige Einheitsform einer stürzenden Welt verteidigt. Aber rechts ist Übertreibung und links ist Übertreibung, rechts Fanatismus und links Fanatismus, und er, der so unabänderlich antifanatische Mensch, will nicht der einen Übertreibung dienen und nicht der anderen, sondern einzig seinem ewigen Maß, der Gerechtigkeit. Vergeblich stellt er sich, um das Allmenschliche, das gemeinsame Kulturgut aus diesem Zwist zu retten, als Mittler in die Mitte und damit an die gefährlichste Stelle; er versucht, mit seinen nackten Händen Feuer und Wasser zu mischen, die einen Fanatiker zu versöhnen mit den anderen: unmögliche und darum doppelt großartige Bemühung. Erst versteht man in beiden Lagern seine Haltung nicht und hofft, weil er milde spricht, man könne ihn für die eigene Sache gewinnen. Kaum aber dass sie beide begreifen, dass dieser Freie für keine fremde Meinung Ehre und Eid gibt und keinem Dogma Schützenhilfe leisten will, prasselt von rechts und links Hass nieder auf ihn und Verhöhnung. Weil Erasmus zu keiner Partei will, zerfällt er mit beiden, „den Guelfen gelte ich als Ghibelline und den Ghibellinen als Guelfe“.

Einen schweren Fluch spricht Luther, der Protestant, über seinen Namen aus, die katholische Kirche wiederum setzt alle seine Bücher auf den Index. Aber nicht Drohung und nicht Beschimpfung können Erasmus bewegen, zur einen Partei zu gehen oder zur anderen; nulli concedo, keinem will ich angehören, diesen seinen Wahlspruch macht er bis zum letzten wahr, homo per se, Mann für sich allein, bis in die letzte Konsequenz. Gegenüber den Politikern, den Führern und Verführern zur einseitigen Leidenschaft hat der Künstler, der Geistmensch im Sinn Erasmus', die Aufgabe, der Verstehend-Vermittelnde zu sein, der Mann des Maßes und der Mitte. Er hat an keiner Front zu stehen, sondern einzig und allein gegen den gemeinsamen Feind allen freien Denkens: gegen jeden Fanatismus; nicht abseits von den Parteien, denn mitzufühlen mit allem Menschlichen ist der Künstler berufen, sondern über ihnen, au-dessus de la mêlée, die eine Übertreibung bekämpfend und die andere, und bei allen denselben unseligen, unsinnigen Hass.

Diese Haltung des Erasmus, diese seine Unentschiedenheit oder besser sein Sich-nicht-entscheiden-Wollen haben die Zeitgenossen und Nachfahren höchst simpel Feigheit genannt und den klarsinnig Zögernden als lau und wetterwendisch verhöhnt.

Arnold Winkelried war ein schweizer Nationalheld, † 1366

In der Tat: Erasmus ist nicht wie ein Winkelried gestanden mit offener Brust gegen die Welt, dies furchtlos Heroische war nicht seine Art. Er hat sich vorsichtig zur Seite gebogen und verbindlich geschwankt wie ein Rohr nach rechts und links, aber nur, um sich nicht brechen zu lassen und immer wieder sich aufzurichten. Er hat sein Bekenntnis zur Unabhängigkeit, sein „nulli concedo“, nicht stolz vor sich her getragen wie eine Monstranz, sondern wie eine Diebslaterne unter dem Mantel versteckt; in Schlupfwinkeln und auf Schleichwegen hat er sich zeitweilig geduckt und gedeckt während der wildesten Zusammenstöße des Massenwahnes; aber – dies das Wichtigste – er hat sein geistiges Kleinod, seinen Menschheitsglauben, unversehrt heimgebracht aus dem furchtbaren Hassorkan seiner Zeit, und an diesem kleinen glimmenden Docht konnten Spinoza, Lessing und Voltaire und können alle künftigen Europäer ihre Leuchte entzünden.

Baruch de Spinoza, * 24. November 1632 in Amsterdam – gestorben am 21. Februar 1677 in Den Haag, war ein niederländischer Philosoph.

Gotthold Ephraim Lessing, * 22. Januar 1729 in Kamenz, Markgraftum Oberlausitz – † 15. Februar 1781 in Braunschweig, war ein bedeutender Dichter der Aufklärung.

Voltaire, * 21. November 1694 in Paris – † 30. Mai 1778 ebenda, war ein französischer Philosoph und Schriftsteller.

Als der einzige seiner geistigen Generation ist Erasmus der ganzen Menschheit treuer geblieben als einem einzelnen Clan. Abseits vom Schlachtfeld, keiner Armee angehörig, von beiden befehdet ist er gestorben, einsam, allein. Einsam, jedoch – dies das Entscheidende – unabhängig und frei.

Die Geschichte aber ist ungerecht gegen die Besiegten. Sie liebt nicht sehr die Menschen des Maßes, die Vermittelnden und Versöhnenden, die Menschen der Menschlichkeit. Die Leidenschaftlichen sind ihre Lieblinge, die Maßlosen, die wilden Abenteurer des Geistes und der Tat: so hat sie an diesem stillen Diener des Humanen fast verächtlich vorbeigesehen. Auf dem Riesenbild der Reformation steht Erasmus im Hintergrund.

Jan Hus, * um 1370 – † 6. Juli 1415 in Konstanz, war ein böhmischer christlicher Theologe, Prediger und Reformator.

Dramatisch erfüllen die anderen ihr Schicksal, all diese Besessenen ihres Genius und Glaubens, Hus erstickt in der lodernden Flamme, Savonarola am Brandpfahl in Florenz, Servet ins Feuer gestoßen von Calvin, dem Zeloten.

Girolamo Savonarola, * 21. September 1452 in Ferrara – † 23. Mai 1498 in Florenz, war ein italienischer Dominikaner, Bußprediger und Kirchenreformator.

Michel Servet, * 29. September 1511 in Villanueva de Sigena (Huesca) im damaligen Königreich Aragón, möglicherweise in Tudela (Navarra) – † 27. Oktober 1553, war ein spanischer Arzt, humanistischer Gelehrter und antitrinitarischer Theologe. Er wurde auf Betreiben Calvins als Ketzer verbrannt.

Thomas Müntzer, *  um 1489 in Stolberg, Grafschaft Stolberg – † 27. Mai 1525 bei Mühlhausen, Freie Reichsstadt, war ein Theologe, Reformator, Drucker und Revolutionär in der Zeit des Bauernkrieges.

Jeder hat seine tragische Stunde: Thomas Münzer zwickt man mit glühenden Zangen, John Knox nagelt man an seine Galeere, Luther, breitbeinig in die deutsche Erde gestemmt, dröhnt gegen Kaiser und Reich sein „Ich kann nicht anders“.

John Knox, * um 1514 in Haddington, East Lothian – † 24. November 1572 in Edinburgh, war ein schottischer Reformator und Mitbegründer der Presbyterianischen

Kirchen.

Thomas Morus, * wahrscheinlich 7. Februar 1478 in London – † 6. Juli 1535 ebenda, war ein englischer Staatsmann (Lordkanzler unter König Heinrich VIII. 1529–1532) und humanistischer Autor der Renaissance.

John Fisher, *  1469 in Beverley (Yorkshire) – † 22. Juni 1535 in London, war Bischof des Bistums Rochester in England und Kardinal. Er wird in der römisch-katholischen Kirche als Märtyrer und Heiliger verehrt.

Thomas Morus und John Fisher drückt man das Haupt nieder auf den mörderischen Block, Zwingli liegt, mit dem Morgenstern erschlagen, auf dem Blachfeld von Kappel, – unvergessliche Gestalten sie alle, wehrhaft in ihrer gläubigen Wut, ekstatisch in ihrem Leiden, groß in ihrem Geschick.

Huldrych Zwingli, * 1. Januar 1484 in Wildhaus – † 11. Oktober 1531 in Kappel am Albis, war ein Schweizer Theologe und der erste Zürcher Reformator.

Hinter ihnen brennt die verhängnisvolle Flamme des religiösen Wahnes ins Weite, die verwüsteten Burgen des Bauernkrieges zeugen lästernd für den von jedem Zeloten anders missverstandenen Christus, die zerstörten Städte, die geplünderten Gehöfte des dreißigjährigen, des hundertjährigen Krieges, diese apokalyptischen Landschaften, sie klagen die irdische Unvernunft des Nicht-nachgeben-Wollens vor den Himmeln an. Mitten aber aus diesem Getümmel, ein wenig hinter den großen Kapitänen des Kirchenkrieges und deutlich abseits von ihnen allen, blickt das feine, von leichter Trauer überschattete Gesicht des Erasmus. Er steht an keinem Marterpfahl, seine Hand ist mit keinem Schwert bewehrt, keine heiße Leidenschaft verzerrt sein Gesicht. Aber klar hebt sich das Auge, das blauleuchtende und zarte, das Holbein unvergänglich gemalt, und blickt durch all diesen Tumult der Massenleidenschaften herüber in unsere nicht minder aufgewühlte Zeit. Eine gelassene Resignation umschattet seine Stirn – ach, er kennt diese ewige Stultitia der Welt! –, doch ein leichtes, ganz leises Lächeln der Sicherheit spielt um seinen Mund. Er weiß, der Erfahrene: es ist der Sinn aller Leidenschaften, dass sie einmal ermüden. Es ist das Schicksal jedes Fanatismus, dass er sich selbst überspielt. Die Vernunft, sie, die ewige und still geduldige, kann warten und beharren. Manchmal, wenn die anderen trunken toben, muss sie schweigen und verstummen. Aber ihre Zeit kommt, immer kommt sie wieder.

* * *

Blick in die Zeit

Blick in die Zeit

Der Übergang des fünfzehnten in das sechzehnte Jahrhundert ist eine Schicksalsstunde Europas und in ihrer dramatischen Gedrängtheit nur der unseren vergleichbar. Mit einem Schlag erweitert sich der europäische Raum ins Welthafte, eine Entdeckung jagt die andere, und innerhalb weniger Jahre wird durch die Verwegenheit eines neuen Seefahrergeschlechts nachgeholt, was Jahrhunderte durch ihre Gleichgültigkeit oder Mutlosigkeit versäumten.

Bartolomeus Diaz, * um 1450/1451 in der Algarve – † 29. Mai 1500 am Kap der guten Hoffnung, war ein portugiesischer Seefahrer und Entdecker. Dias ist einer der wichtigsten portugiesischen Entdecker.

Wie an einer elektrischen Uhr springen die Zahlen: 1486 wagt sich Diaz als erster Europäer bis an das Kap der Guten Hoffnung, 1492 erreicht Kolumbus die amerikanischen Inseln, 1497 Sebastian Cabot Labrador und damit das amerikanische Festland. Ein neuer Kontinent gehört dem Bewusstsein der weißen Rasse, aber schon segelt Vasco da Gama, abstoßend von Sansibar, nach Calicut und eröffnet den Seeweg nach Indien, 1500 entdeckt Cabral Brasilien, endlich, von 1519 bis 1522, unternimmt Magalhães die denkwürdigste, die krönende Tat, die erste Reise eines Menschen um die ganze Erde, von Spanien nach Spanien.

Christoph Columbus, * um 1451 in der Republik Genua – † 20. Mai 1506

John Cabot, * 1450 – † nach 1498, war ein italienischer Seefahrer.

Vasco da Gama, * um 1469 in Sines, Portugal – † 24. Dezember 1524 in Cochin, Indien, war ein portugiesischer Seefahrer und Entdecker des Seewegs um das Kap der Guten Hoffnung nach Indien, das er im Mai 1498 erstmals erreichte.

Pedro Álvares Cabral oder auch Pedralvarez de Gouvêa, * 1467/ 1468 oder 1469 wahrscheinlich in Belmonte, Portugal – † vor dem 3. November 1520 vermutlich in Santarém, Portugal) war ein portugiesischer Seefahrer.

Martin Behaim, * 6. Oktober 1459 in Nürnberg – † 29. Juli 1507 in Lissabon, Portugal, auch Martin Bohemus, port. Martinho da Boémia und lat. Martinus de Boemia, war ein Tuchhändler aus Nürnberg und Ritter des Königreichs Portugal.

„Erdapfel“ von 1492

Ferdinand Magellan, * vor 1485 – 27. April 1521

(Siehe Band 245 in dieser gelben Buchreihe!)

Damit ist Martin Behaims „Erdapfel“ von 1490, der erste Globus, bei seinem Erscheinen als unchristliche Hypothese und Narrenwerk verlacht, für richtig erkannt, die kühnste Tat hat den verwegensten Gedanken bekräftigt. Über Nacht ist für die denkende Menschheit der runde Ball, auf dem sie bisher ungewiss und bedrückt als auf einer terra incognita durch den Sternenraum kreiste, zu einer erfahrbaren, durchfahrbaren Wirklichkeit geworden, das Meer, bishin bloß eine im Mythischen endlos wogende blaue Wüste, ein durchmessenes und messbares, ein der Menschheit dienstbares Element. Mit einem Ruck erhebt sich der europäische Wagemut, jetzt gibt es keine Pause, kein Atemholen mehr in dem wilden Wettlauf um die Entdeckung des Kosmos. Jedes Mal wenn die Kanonen von Cádiz oder Lissabon einer heimkehrenden Galeone den Willkomm bieten, strömt eine neugierige Menge an den Hafen, andere Botschaft von neuentdeckten Ländern zu vernehmen, nie gesehene Vögel, Tiere und Menschen zu bewundern; erschauernd blicken sie auf die riesigen Frachten von Silber und Gold, nach allen Windrichtungen läuft die Botschaft durch Europa, das über Nacht dank dem geistigen Heldentum seiner Rasse Mittelpunkt und Herrscher des ganzen Weltalls geworden ist. Fast gleichzeitig aber durchforscht Kopernikus die unbetretenen Bahnen der Gestirne über der plötzlich erhellten Erde, und all dies neue Wissen dringt vermöge der neuentdeckten Buchdruckerkunst mit gleichfalls bisher unbekannten Geschwindigkeiten in die entlegensten Städte und verlorensten Weiler des Abendlands: zum ersten Mal hat Europa seit Jahrhunderten ein beglückendes und daseinssteigerndes Kollektiverlebnis.

Nikolaus Kopernikus, * 19. Februar 1473 in Thorn – † 24. Mai 1543 in Frauenburg; eigentlich Niklas Koppernigk, latinisiert Nicolaus Cop[p]ernicus, posthum polonisiert Mikołaj Kopernik, war ein Domherr des Fürstbistums Ermland in Preußen sowie Astronom und Arzt, der sich auch der Mathematik und Kartographie widmete.

Innerhalb einer einzigen Generation haben die Urelemente menschlicher Anschauung, haben Raum und Zeit völlig andere Maße und Werte bekommen – nur unsere Jahrhundertwende mit der ebenso plötzlich sich überbietenden Raum- und Zeitverkürzung durch Telefon, Radio, Auto und Flugzeug hat eine gleiche Umwertung des Lebensrhythmus durch Erfindung und Entdeckung erfahren.

Eine derart plötzliche Erweiterung des äußeren Weltraums muss selbstverständlich eine gleich heftige Umschaltung im Seelenraum zur Folge haben. Jeder einzelne ist unvermutet genötigt, in anderen Dimensionen zu denken, zu rechnen, zu leben; aber ehe das Gehirn sich der kaum fassbaren Verwandlung angepasst hat, verwandelt sich schon das Gefühl – eine ratlose Verwirrung, halb Angst, halb enthusiastischer Taumel, ist immer die erste Antwort der Seele, wenn sie ihr Maß plötzlich verliert, wenn all die Normen und Formen, auf denen sie als auf einem bisher Beständigen fußte, gespenstig unter ihr weggleiten. Über Nacht ist alles Gewisse fraglich geworden, alles Gestrige wie jahrtausendalt und abgelebt; die Erdkarten des Ptolemäus, zwanzig Geschlechtern ein unumstößliches Heiligtum, werden durch Kolumbus und Magalhães Kindergespött, die gläubig seit Jahrtausenden nachgeschriebenen und als fehllos bewunderten Werke über Weltkunde, Astronomie, Geometrie, Medizin, Mathematik ungültig und überholt, alles Gewesene welkt dahin vor dem heißen Atem der neuen Zeit.

Claudius Ptolemäus, * um 100, möglicherweise in Ptolemais Hermeiou, Ägypten – † nach 160, vermutlich in Alexandria, war ein griechischer Mathematiker, Geograph, Astronom, Astrologe, Musiktheoretiker und Philosoph.

Nun ist es zu Ende mit all dem Kommentieren und Disputieren, es stürzen die alten Autoritäten als zertrümmerte Götzen der Ehrfurcht, es fallen die papiernen Türme der Scholastik, der Ausblick wird frei. Ein geistiges Fieber nach Wissen und Wissenschaft entsteht aus der plötzlichen Durchblutung des europäischen Organismus mit neuem Weltstoff, der Rhythmus beschleunigt sich. Entwicklungen, die in gemächlichem Übergang sich befanden, bekommen von diesem Fieber einen hitzigen Ablauf, alles Bestehende gerät wie durch einen Erdstoß in Bewegung. Die vom Mittelalter ererbten Ordnungen schichten sich um, manche steigen, manche versinken: die Ritterschaft geht zugrunde, die Städte streben auf, der Bauernstand verarmt, Handel und Luxus blühen mit tropischer Kraft dank dem Dünger von ozeanischem Gold. Immer heftiger wird die Gärung, eine völlige soziale Umgruppierung kommt in Fluss, ähnlich der unsern durch den Einbruch der Technik und ihre gleichfalls zu plötzliche Organisierung und Rationalisierung: einer jener typischen Augenblicke tritt ein, da die Menschheit gleichsam von ihrer eigenen Leistung überrannt wird und alle Kraft aufbieten muss, um sich selber wieder nachzukommen.

Alle Zonen menschlicher Ordnung werden von diesem ungeheuren Stoß erschüttert, selbst jene unterste Schicht des Seelenreichs ist um diese großartige Jahrhundert- und Weltenwende erreicht, die sonst unberührt unter den Zeitstürmen liegt: das Religiöse. Von der katholischen Kirche in starre Form gebannt, hatte das Dogma wie ein Fels unverrückbar allen Orkanen standgehalten, und dieser große, gläubige Gehorsam war gleichsam das Signum des Mittelalters gewesen. Oben stand ehern die Autorität und gebot, von unten blickte, gläubig hingegeben, die Menschheit dem heiligen Wort entgegen, kein Zweifel wagte sich gegen die geistliche Wahrheit, und wo Widerstand sich rührte, offenbarte die Kirche ihre Verteidigungskraft: der Bannstrahl zerbrach das Schwert der Kaiser und erstickte den Atem der Ketzer. Völker, Stämme, Rassen und Klassen, so fremd und feindlich sie einander waren, verband dieser einhellige, demütige Gehorsam, dieser blind und selig dienende Glaube zu einer großartigen Gemeinschaft: im Mittelalter hatte die abendländische Menschheit nur eine einheitliche Seele, die katholische. Europa ruhte im Schoß der Kirche, manchmal von mystischen Träumen bewegt und erregt, aber es ruhte, und jeder Wunsch nach Wahrheit und Wissenschaft war ihm fremd. Jetzt zum ersten Mal beginnt eine Unruhe die abendländische Seele zu bewegen: seit die Geheimnisse der Erde ergründbar geworden sind, warum sollte es nicht auch das Göttliche sein? Allmählich erheben sich einzelne von den Knien, auf denen sie gesenkten Hauptes demütig gelegen, und blicken fragend empor, statt der Demut beseelt sie ein neuer Denkmut und Fragemut, und neben den kühnen Abenteurern unbekannter Meere, neben den Kolumbus, Pizarro, Magalhães ersteht ein Geschlecht geistiger Konquistadoren, die sich entschlossen an das Unermessliche wagen. Die religiöse Gewalt, die jahrhundertelang im Dogma verschlossen war wie in einer versiegelten Flasche, strömt ätherisch aus, sie dringt aus den priesterlichen Konzilen bis in die Tiefe des Volkes; auch in dieser letzten Sphäre will die Welt sich erneuern und verändern. Dank seinem siegreich erprobten Selbstvertrauen empfindet sich der Mensch des sechzehnten Jahrhunderts nicht mehr als winziges, willenloses Staubkorn, das nach dem Tau der göttlichen Gnade dürstet, sondern als Mittelpunkt des Geschehens, als Kraftträger der Welt; Demut und Düsternis schlagen plötzlich um in Selbstgefühl, dessen sinnlichsten und unvergänglichen Machtrausch wir mit dem Wort Renaissance umfassen, und neben den geistlichen Lehrer tritt gleichberechtigt der geistige, neben die Kirche die Wissenschaft. Auch hier ist eine höchste Autorität gebrochen oder zumindest ins Wanken gebracht, die demütig stumme Menschheit des Mittelalters ist zu Ende, eine neue beginnt, die mit gleich religiöser Inbrunst fragt und forscht, wie die frühere geglaubt und gebetet. Aus den Klöstern wandert der Wissensdrang in die Universitäten, die fast gleichzeitig in allen Ländern Europas erstehen, Trutzburgen der freien Forschung. Raum ist geschaffen für den Dichter, den Denker, den Philosophen, für die Künder und Erforscher aller Geheimnisse der menschlichen Seele, in andere Formen gießt der Geist seine Kraft; der Humanismus versucht, das Göttliche ohne geistliche Vermittlung den Menschen zurückzugeben, und schon erhebt sich, vereinzelt zuerst, aber dann von der Sicherheit der Masse getragen, die große welthistorische Forderung der Reformation.

Großartiger Augenblick, eine Jahrhundertwende, die zur Zeitwende wird: Europa hat einen Atemzug lang gleichsam ein Herz, eine Seele, einen Willen, ein Verlangen. Übermächtig fühlt es sich als Ganzheit angerufen von noch unverständlichem Befehl zur Verwandlung. Herrlich bereit ist die Stunde, Unrast gärt in den Ländern, atmende Angst und Ungeduld in den Seelen, und über all dem schwingt und schwebt ein einziges dunkles Lauschen nach dem befreienden, nach dem zielsetzenden Wort; jetzt oder niemals ist es dem Geist gegeben, die Welt zu erneuern.

* * *

Dunkle Jugend

Dunkle Jugend

Unübertreffliches Symbol für diesen übernationalen, der ganzen Welt gehörigen Genius: Erasmus hat keine Heimat, kein richtiges Elternhaus, er ist gewissermaßen im luftleeren Raum geboren. Der Name Erasmus Roterodamus, den er dem Weltruhm entgegenträgt, ist nicht von Vätern und Ahnen ererbt, sondern ein angenommener, die Sprache, die er zeitlebens spricht, nicht die heimatlich holländische, sondern das erlernte Latein. Tag und Umstände seiner Geburt sind in merkwürdiges Dunkel gehüllt; kaum mehr ist gewiss als das nackte Geburtsjahr 1466. An dieser Verschattung war Erasmus keineswegs unschuldig, denn er liebte nicht, von seiner Herkunft zu sprechen, weil ein uneheliches Kind und mehr noch, ärgerlicher noch, Kind eines Priesters, „ex illicito et ut timet incesto damnatoque coitu genitus“; (und was Charles Reade in seinem berühmten Roman „The cloister and the heart“ romantisch von der Kindheit des Erasmus erzählt, ist selbstverständlich Erfindung).

Charles Reade, * 8. Juni 1814 in Ipsden, Oxfordshire, England – † 11. April 1884 in London, war ein englischer Schriftsteller.

Die Eltern sterben früh, und begreiflicherweise zeigen die Verwandten größte Eile, den Bastard möglichst kostenlos von sich wegzuhalten; glücklicherweise ist die Kirche immer geneigt, einen begabten Knaben an sich zu ziehen. Mit neun Jahren wird der kleine Desiderius (in Wahrheit: ein Unerwünschter) in die Kapitelschule von Deventer geschickt, dann nach Herzogenbusch: 1487 tritt er in das Augustinerkloster Steyn, nicht so sehr aus religiöser Neigung, sondern weil es die beste klassische Bibliothek im Land besitzt; dort legt er um das Jahr 1488 das Mönchsgelübde ab. Aber dass er in diesen Klosterjahren glühender Seele um die Palme der Frömmigkeit gerungen habe, ist von keiner Seite bezeugt, man erfährt aus seinen Briefen vielmehr, dass eher die schönen Künste, dass lateinische Literatur und Malerei ihn hauptsächlich beschäftigt haben. Immerhin empfängt er 1492 durch die Hand des Bischofs von Utrecht die Priesterweihe.

In diesem seinem geistlichen Kleid haben Erasmus zeitlebens nur wenige jemals gesehen; und es bedarf immer einer gewissen Anstrengung, sich zu erinnern, dass dieser freidenkende und unbefangen schreibende Mann tatsächlich bis in die Sterbestunde dem Priesterstand angehört hat. Aber Erasmus verstand die große Lebenskunst, alles, was ihm drückend war, auf sachte und unauffällige Weise von sich abzutun und in jedem Kleid und unter jedem Zwang sich seine innere Freiheit zu wahren. Von zwei Päpsten hat er unter den geschicktesten Vorwänden die Dispens erlangt, das Priesterkleid tragen zu müssen, vom Fastenzwang befreit er sich durch ein Gesundheitszertifikat und in die Klosterzucht ist er trotz allen Bitten, Mahnungen, ja Drohungen seiner Vorgesetzten nicht für einen Tag mehr zurückgekehrt.

Damit enthüllt sich schon ein bedeutsamer und vielleicht der wesentlichste Zug seines Charakters: Erasmus will sich an nichts und niemanden binden. Keinen Fürsten-, keinen Herren- und selbst keinen Gottesdienst will er dauernd auf sich nehmen, er muss aus einem inneren Unabhängigkeitszwang seiner Natur frei bleiben und niemandem untertan. Niemals hat er innerlich einen Vorgesetzten anerkannt, an keinen Hof, an keine Universität, an keinen Beruf, an kein Kloster, an keine Kirche, an keine Stadt fühlte er sich je verpflichtet, und wie seine geistige Freiheit, hat er lebenslang seine moralische mit stiller und zäher Hartnäckigkeit verteidigt.

An diesen so wesentlichen Zug seines Charakters schließt sich organisch ein zweiter: Erasmus ist zwar Unabhängigkeitsfanatiker, aber darum keineswegs ein Rebell, ein Revolutionär. Im Gegenteil, er verabscheut alle offenen Konflikte, er vermeidet als kluger Taktiker jeden unnützen Widerstand gegen die Mächte und Machthaber dieser Welt. Er paktiert lieber mit ihnen als gegen sie zu frondieren, er erschleicht lieber seine Unabhängigkeit als sie zu erkämpfen; nicht wie Luther mit kühner dramatischer Geste wirft er, weil sie ihm zu eng die Seele schnürt, seine Augustinerkutte von sich; nein, er zieht sie lieber leise, nach unterirdisch eingeholter Erlaubnis in aller Stille aus: als guter Schüler seines Landsmanns Reineke Fuchs schlüpft er wendig und geschickt aus jeder Falle, die man seiner Freiheit stellt. Zu vorsichtig, um jemals ein Held zu werden, erreicht er durch seinen klaren, die Schwächen der Menschheit überlegen berechnenden Geist alles, was er für seine Persönlichkeitsentwicklung benötigt: er siegt in seiner ewigen Schlacht um die Unabhängigkeit der Lebensgestaltung nicht durch Mut, sondern durch Psychologie.

Aber diese große Kunst, sich das Leben frei und unabhängig zu gestalten (die schwerste für jeden Künstler), will erlernt sein. Die Schule des Erasmus war hart und langwierig. Erst mit sechsundzwanzig Jahren entrinnt er dem Kloster, dessen Enge und Engstirnigkeit ihm unerträglich geworden. Doch – erste Probe seiner diplomatischen Geschicklichkeit – er entläuft seinen Vorgesetzten nicht als ein eidbrüchiger Mönch, sondern lässt sich nach geheimen Verhandlungen zum Bischof von Cambrai berufen, um ihn auf seiner Reise nach Italien als lateinischer Sekretär zu begleiten; in demselben Jahr, da Kolumbus Amerika, entdeckt sich der Klostergefangene Europa, seine zukünftige Welt. Glücklicherweise verzögert der Bischof seine Reise, und so hat Erasmus gemächlich Zeit, das Leben nach seiner Façon zu genießen, er muss keine Messen lesen, kann an der großen, wohlbestellten Tafel sitzen, kluge Menschen kennenlernen, sich mit Leidenschaft dem Studium der lateinischen und kirchlichen Klassiker hingeben und außerdem an seinem Dialog „Antibarbari“ schreiben: dieser Name seines Erstlingswerkes könnte übrigens auf allen Titelblättern seiner Werke stehen. Unbewusst hat er den großen Feldzug seines Lebens gegen Unbildung, Torheit und traditionelle Überheblichkeit begonnen, indem er seine Sitten verfeinert, seine Kenntnisse erweitert; aber leider, der Bischof von Cambrai gibt seine Reise nach Rom auf, und die schöne Zeit soll plötzlich enden, ein lateinischer Secretarius ist jetzt nicht mehr vonnöten. Nun sollte der ausgeborgte Mönch Erasmus eigentlich gehorsam in sein Kloster zurückkehren. Doch jetzt, da er das süße Gift der Freiheit einmal in sich eingetrunken, will er nicht und nie mehr davon lassen. So heuchelt er ein unwiderstehliches Verlangen nach den höheren Graden geistlicher Wissenschaft, er bedrängt mit der ganzen Leidenschaft und Energie seiner Klosterangst und gleichzeitig mit der rasch herangereiften Kunst seiner Psychologie den gutmütigen Bischof, er möge ihn mit einem Stipendium nach Paris schicken, damit er dort den Doktorgrad der Theologie erwerben könne. Endlich gibt der Bischof ihm seinen Segen und, was Erasmus wichtiger ist, eine schmale Börse als Stipendium, und vergebens wartet der Prior des Klosters auf die Rückkehr des Ungetreuen. Aber er wird sich gewöhnen müssen, Jahre und Jahrzehnte auf ihn zu warten, denn längst hat Erasmus sich seinen Urlaub vom Mönchstum und jedem anderen Zwang für das ganze Leben selbstherrlich erteilt.

* * *

Der Bischof von Cambrai hat dem jungen geistlichen Studenten die übliche Börse gewährt. Aber diese Börse ist verzweifelt schmal, ein Studentenstipendium für einen dreißigjährigen Mann, und mit bitterem Spott tauft Erasmus den sparsamen Gönner seinen „Antimaecenas“. Schwer gedemütigt muss der rasch an die Freiheit Gewöhnte und am Bischofstisch Verwöhnte im domus pauperum, im berüchtigten Collège Montaigu Hausung nehmen, das ihm durch seine asketischen Regeln und seine strenge geistliche Führung wenig behagt. Im Quartier Latin gelegen, auf dem Mont Saint-Michel (etwa bei dem heutigen Panthéon), schließt dieses Zuchthaus des Geistes den jungen, lebensneugierigen Studenten eifersüchtig von dem heiteren Treiben der weltlichen Kameraden vollkommen ab: wie von einer Sträflingszeit spricht er von diesem theologischen Gefängnis seiner schönsten Jugend. Erasmus, der von Hygiene überraschend moderne Vorstellungen hat, fällt in seinen Briefen von einer Klage in die andere: die Schlafräume seien ungesund, die Wände eiskalt, kahl getüncht und fühlbar nahe den Latrinen, niemand könne lange in diesem „Essigkollegium“ wohnen, ohne todkrank zu werden oder zu sterben. Auch die Nahrung behagt ihm nicht, die Eier oder das Fleisch sind verfault, der Wein verdorben und die Nacht erfüllt von unrühmlichem Kampf gegen das Ungeziefer. „Du kommst von Montaigu?“ spottet er später in seinen Kolloquien. „Zweifellos hast du das Haupt mit Lorbeeren bedeckt? – Nein, mit Flöhen.“ Die damalige Klosterzucht schreckt überdies nicht zurück vor körperlichen Züchtigungen, und was zwanzig Jahre im gleichen Haus ein fanatischer Asket wie Loyola gesonnen ist, der Willenserziehung wegen gelassen zu ertragen, die Rute und den Bakel, widerstrebt einer nervösen und unabhängigen Natur wie Erasmus.

Ignatius von Loyola, * 1491 auf Schloss Loyola bei Azpeitia, Königreich Kastilien – † 31. Juli 1556 in Rom, war der wichtigste Mitbegründer und Gestalter der später auch als Jesuitenorden bezeichneten „Gesellschaft Jesu“ (SJ).

Auch der Unterricht ekelt ihn an: rasch lernt er den Geist der Scholastik mit seinem abgestorbenen Formalismus, seinen schalen Talmudismen und Spitzfindigkeiten für immer verabscheuen, der Künstler in ihm empört sich – nicht so heiter ergötzlich wie später Rabelais, aber mit der gleichen Verachtung gegen die Vergewaltigung des Geistes in diesem Prokrustesbett. „Niemand kann die Mysterien dieser Wissenschaft begreifen, der irgendeinmal Verkehr mit den Musen oder Grazien gepflogen hat. Alles, was du von bonae litterae erworben hast, musst du hier verlieren, und was du aus den Quellen des Helikon getrunken, wieder von dir geben. Ich tue mein Bestes, nichts Lateinisches, nichts Anmutiges oder Geistreiches zu sagen, und mache schon derartige Fortschritte darin, dass sie mich hoffentlich einmal als den ihren anerkennen werden.“ Schließlich gibt ihm eine Krankheit den langersehnten Vorwand, aus dieser verhassten Galeere des Körpers und des Geistes unter Verzicht auf den theologischen Doktorgrad zu entfliehen. Erasmus kehrt zwar nach kurzer Erholung wieder nach Paris zurück, aber nicht mehr in das „Essigkollegium“, das „Collège vinaigre“, sondern bringt sich lieber fort, indem er als Hauslehrer und Nachhelfer junge vermögende Deutsche und Engländer unterrichtet: die Selbständigkeit des Künstlers hat in dem Priester begonnen.

* * *

Aber Selbständigkeit ist für den geistigen Menschen in der noch halb mittelalterlichen Welt gar nicht vorgesehen. In deutlicher Stufenreihe sind alle Stände abgegrenzt, die weltlichen und die geistlichen Fürsten, die Kleriker, die Zünfte, die Soldaten, die Beamten, die Handwerker, die Bauern, jeder einzelne Stand eine starre Gruppe und sorgfältig gegen jeden Eindringling vermauert. Für den geistigen, für den schaffenden Menschen, für den Gelehrten, den freien Künstler, den Musiker ist in dieser Weltordnung noch kein Raum vorhanden, denn die Honorare, die späterhin Unabhängigkeit gewähren, sind noch nicht erfunden. Dem geistigen Menschen bleibt also keine andere Wahl, als irgendeinem dieser herrschenden Stände zu dienen, er muss Fürstendiener oder Gottesdiener werden. Da die Kunst noch nicht als selbständige Macht gilt, muss er Gunst suchen bei den Mächtigen, er muss Günstling werden eines gnädigen Herrn, sich hier eine Pfründe erbetteln und dort eine Pension, muss sich – bis anno Mozart und Haydn – ducken im gemeinen Kreise der Dienerschaft. Er muss, will er nicht verhungern, den Eitlen schmeicheln mit Dedikationen, die Ängstlichen durch Pamphlete schrecken, den Reichen nachstellen mit Bettelbriefen; unablässig und ohne Sicherheit, bei einem Gönner oder bei vielen, erneuert sich für ihn dieser unwürdige Kampf um das tägliche Brot. Zehn oder zwanzig Geschlechter von Künstlern haben so gelebt, von Walther von der Vogelweide bis zu Beethoven, der als erster von den Mächtigen herrisch sein Künstlerrecht fordert und rücksichtslos nimmt.

Walther von der Vogelweide, * um 1170, Geburtsort unbekannt – † um 1230, möglicherweise in Würzburg, gilt als der bedeutendste deutschsprachige Lyriker des Mittelalters. Er dichtete in mittelhochdeutscher Sprache.

Ludwig van Beethoven, getauft am 17. Dezember 1770 in Bonn, Haupt- und Residenzstadt von Kurköln – † 26. März 1827 in Wien, Kaisertum Österreich, war ein deutscher Komponist und Pianist. Er führte die Wiener Klassik zu ihrer höchsten Entwicklung und bereitete der Musik der Romantik den Weg.

Dieses Sichkleinmachen, Sichanschmiegen und Sichducken hat allerdings einem so überlegenen und ironischen Geist wie Erasmus kein großes Opfer bedeutet. Er durchschaut schon früh das Trugspiel der gesellschaftlichen Welt; weil nicht rebellischer Natur, nimmt er ihre geltenden Gesetze ohne Klage hin und setzt seine Mühe nur daran, sie auf geschickte Weise zu durchbrechen und zu umgehen. Aber sein Weg zum Erfolg bleibt desungeachtet langwierig und wenig beneidenswert: bis zu seinem fünfzigsten Jahr, da dann ihrerseits die Fürsten um ihn werben, da die Päpste und Reformatoren sich bittend an ihn wenden, da die Drucker ihn bestürmen und die Reichen sich's zur Ehre machen, ihm ein Geschenk ins Haus zu schicken, lebt Erasmus von geschenktem, ja erbetteltem Brot. Noch mit ergrauenden Haaren muss er sich beugen und verneigen: zahllos sind seine devoten Dedikationen, seine Schmeichelepisteln, sie füllen einen Großteil seiner Korrespondenz und würden, für sich gesammelt, einen geradezu klassischen Briefsteller für Supplikanten abgeben, mit so großartiger List und Kunst stilisiert er seine Betteleien. Aber hinter diesem oft bedauerten Mangel an Charakterstolz verbirgt sich bei ihm ein entschlossener, großartiger Wille zur Unabhängigkeit. Erasmus schmeichelt in Briefen, um in seinen Werken besser wahr sein zu können. Er lässt sich fortwährend beschenken, aber von keinem einzigen kaufen, er weist alles zurück, was ihn dauernd an eine besondere Person binden könnte.

Aldus Pius Manutius (italienisch Aldo Pio Manuzio, * 1449 in Bassiano – † 6. Februar 1515  in Venedig, war ein venezianischer Buchdrucker und Verleger.

Obschon international berühmter Gelehrter, den Dutzende von Universitäten an ihr Katheder fesseln möchten, steht er lieber als bloßer Korrektor in einer Druckerei, bei Aldus in Venedig, oder er wird Hofmeister und Reisemarschall von blutjungen englischen Aristokraten, oder bloß Schmarotzer bei reichen Bekannten, aber all das immer nur genauso lange, als es ihm gefällt, und niemals für dauernde Frist an einem Ort. Dieser hartnäckig entschlossene Wille zur Freiheit, dies Niemandem-dienen-Wollen hat Erasmus zeitlebens zum Nomaden gemacht. Unablässig ist er auf der Wanderschaft durch alle Länder, bald in Holland, bald in England, bald in Italien, Deutschland und der Schweiz, der Meistreisende und Meistgereiste unter den Gelehrten seiner Zeit, nie ganz arm, nie recht reich, immer, wie Beethoven, „in der Luft lebend“, aber dies Schweifen und Vagieren ist seiner philosophischen Natur teurer als Haus und Heim. Lieber kleiner Sekretär eines Bischofs bleiben für eine Zeit, als selbst Bischof zu werden für immerdar und Ewigkeit, lieber gelegentlicher Berater eines Fürsten für eine Handvoll Dukaten als sein allmächtiger Kanzler. Aus tiefem Instinkt scheut dieser Geistmensch jede äußere Macht, jede Karriere: – im Schatten der Macht, abgesondert von jeder Verantwortung zu wirken, in einer stillen Stube gute Bücher zu lesen und die eigenen zu schreiben, niemandes Gebieter und niemandes Untertan, dies ist Erasmus' eigentliches Lebensideal gewesen. Um dieser geistigen Freiheit willen geht er viele dunkle, ja sogar krumme Wege, aber alle auf ein und dasselbe innere Ziel hin: auf die geistige Unabhängigkeit seiner Kunst, seines Lebens.

Seine eigentliche Sphäre entdeckt sich Erasmus erst als Dreißigjähriger in England. Bisher hatte er in dumpfen Klosterstuben gelebt, unter engen und plebejischen Menschen. Die spartanische Zucht der Seminare und der geistige Daumschraubenzwang der Scholastik waren für seine feinen, sensitiven und neugierigen Nerven wirkliche Folter gewesen; sein Geist, der auf Weite gestellt ist, kann sich in dieser Beschränkung nicht entfalten. Aber dieses Salz und diese Bitternis waren vielleicht notwendig, um ihm jenen ungeheuren Durst nach Weltwissen und Freiheit zu geben, denn in dieser Zucht hat der lange Geprüfte gelernt, ein für alle Mal alles engstirnige Bornierte und doktrinär Einseitige, alles Brutale und Befehlshaberische als unmenschlich zu hassen – gerade dass Erasmus von Rotterdam das Mittelalter am eigenen Leib, an der eigenen Seele noch so ganz und so schmerzhaft erlebt hat, befähigt ihn, Bote der neuen Zeit zu werden. Von einem jungen Schüler, dem Lord Montjoy, nach England mitgenommen, atmet er mit unermesslicher Beglückung zum ersten Mal die stärkende Luft geistiger Kultur. Denn Erasmus kommt in einem guten Augenblick in die angelsächsische Welt. Nach dem endlosen Krieg der Weißen und Roten Rose, der jahrzehntelang das Land zerstampft hat, genießt England wieder die Segnungen des Friedens, und überall wo Krieg und Politik abgedrängt sind, vermögen Kunst und Wissenschaft sich freier zu entfalten.

Charles Blount, 1. Earl of Devonshire, 8. Baron Mountjoy KG, * 1563 – † 3. April 1606 in London, war ein englischer Staatsmann und von 1600 bis 1606 Vizekönig von Irland.

Zum ersten Mal entdeckt der kleine Klosterschüler und Stundengeber, dass es eine Sphäre gibt, wo einzig der Geist und das Wissen als Macht gelten. Keiner fragt ihn nach seiner unehelichen Geburt und zählt seine Messen und Gebete nach, hier wird er einzig als Künstler, als Intellektueller um seines eleganten Lateins, um seiner amüsanten Redekunst willen in den vornehmsten Kreisen geschätzt, beglückt lernt er die wunderbare Gastlichkeit, die edle Unvoreingenommenheit der Engländer kennen,

„ces grands Mylords Accords, beaux et courtois, magnanimes et forts“,

wie sie Ronsard gerühmt.

Pierre de Ronsard, *  6. September 1524 im Château de la Possonnière bei Couture-sur-Loir – † 27. Dezember 1585 im Priorat Saint-Cosme bei La Riche, Touraine, war ein französischer Autor.

Eine andere Art des Denkens wird ihm in diesem Lande offenbar. Obzwar Wiclif längst vergessen ist, lebt in Oxford die freiere, kühnere Auffassung der Theologie weiter, hier findet er Lehrer der griechischen Sprache, die ihm eine neue Klassik erschließen, die besten Geister, die größten Männer werden seine Gönner und Freunde, sogar der junge König, Heinrich VIII., damals noch Prinz, lässt sich das kleine Priesterlein vorstellen.

Heinrich VIII., * 28. Juni 1491 in Greenwich – † 28. Januar 1547 im Whitehall-Palast, London, war von 1509 bis 1547 König von England,

Es ehrt Erasmus für alle Zeiten und zeugt für seine eindrucksvolle Haltung, dass die edelsten Menschen jener Generation, dass Thomas Morus und John Fisher seine innigsten Freunde, dass John Colet, die Erzbischöfe Warham und Cranmer seine Gönner wurden.

John Colet, * 1467 in London – † 18. September 1519 ebenda, war ein britischer katholischer Priester und damals prominenter Londoner Theologe, der als Übersetzer des Neuen Testaments ins Englische zum Wegbereiter der Reformation in Großbritannien wurde.

Mit leidenschaftlichem Durst trinkt der junge Humanist solche geistig durchglühte Luft ein, er nützt die Zeit dieser Gastlichkeit, um nach allen Seiten sein Wissen zu erweitern, er verfeinert im Gespräch mit den Adeligen und deren Freunden und Frauen seine Umgangsformen. Das Selbstbewusstsein seiner Stellung hilft mit zur raschen Verwandlung – aus dem ungelenken scheuen Priesterchen wird eine Art Abbé, der die Soutane wie ein Gesellschaftskleid trägt. Erasmus beginnt sich sorgfältig auszustaffieren, er lernt reiten und jagen, seine aristokratische Lebenshaltung, die dann in Deutschland so scharf von den gröberen, plumperen Formen der Provinzhumanisten absticht und ihm ein gut Teil seiner kulturellen Hoheitsstellung einbrachte, hat er in den gastlichen Häusern des englischen Adels sich anerzogen. In die Mitte der politischen Welt gestellt und innig den besten Geistern der Kirche und des Hofes verbrüdert, gewinnt sein scharfer Blick jene Weite und Universalität, die später die Welt an ihm bewundert. Aber auch sein Gemüt wird hell: „Du fragst mich“, schreibt er froh einem Freund, „ob ich England liebe? Nun, wenn du mir je Glauben schenktest, so bitte, glaube mir auch dies, dass nichts mir je so wohlgetan hat. Ich finde hier ein angenehmes und gesundes Klima, soviel Kultur und Gelehrtheit, und zwar nicht der haarspalterischen und banalen Art, sondern tiefer, exakter und klassischer Bildung, sowohl in Latein als in Griechisch, dass ich außer den Dingen, die dort zu sehen sind, wenig Sehnsucht nach Italien habe. Wenn ich meinem Freund Colet zuhöre, so ist mir, als lausche ich Plato selbst, und hat die Natur je eine gütigere, zartere und glücklichere Wesensart hervorgebracht als die des Thomas Morus?“ In England ist Erasmus vom Mittelalter genesen.

Aber alle Liebe zu England macht Erasmus dennoch nicht zum Engländer. Als Kosmopolit, als Weltmann, als freie und universalische Natur kehrt der Befreite zurück. Von nun ab ist seine Liebe überall dort, wo Wissen und Kultur, wo Bildung und Buch herrschen; nicht Länder und Flüsse und Meere teilen für ihn mehr den Kosmos ab, nicht Stand und Rasse und Klasse; er kennt nur zwei Schichten mehr: die Aristokratie der Bildung und des Geistes als die obere Welt, den Plebs und die Barbarei als die untere. Wo das Buch herrscht und das Wort, die „eloquentia und eruditio“, dort ist von nun ab seine Heimat.

* * *

Dieses hartnäckige Sichbeschränken auf den geistesaristokratischen Kreis, auf die damals so haardünne Schicht der Kultur, gibt der Gestalt des Erasmus und seinem Schaffen etwas Wurzelloses: als der wahre Kosmopolit bleibt er überall nur Besucher, nur Gast, nirgendwo nimmt er Sitten und Wesen eines Volkes in sich auf, nirgends eine einzige lebendige Sprache. Mit allen seinen ungezählten Reisen ist er eigentlich am Wesenhaftesten jedes Landes vorbeigereist. Für ihn bestanden Italien, Frankreich, Deutschland und England aus dem Dutzend Menschen, mit denen er ein geschliffenes Gespräch führen konnte, eine Stadt aus ihren Bibliotheken, und er bemerkte allenfalls noch, wo die Gasthöfe am reinlichsten, die Menschen am höflichsten, die Weine am süßesten waren. Aber jede andere als die Buchkunst blieb ihm verschlossen, er hatte kein Auge für Malerei, kein Ohr für Musik. Er bemerkt nicht, dass in Rom ein Lionardo, ein Raffael und ein Michelangelo schaffen, und die Kunstbegeisterung der Päpste tadelt er als überflüssige Verschwendung, als antievangelische Prunkliebe.

Leonardo da Vinci, * 15. April 1452, vermutlich in Anchiano, bei Vinci – † 2. Mai 1519 auf Schloss Clos Lucé, Amboise, war ein italienischer Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph.

Raffael Sanzio da Urbino, auch Raffael da Urbino, Raffaello Santi, Raffaello Sanzio oder kurz Raffael, * 6. April oder 28. März 1483 in Urbino – † 6. April 1520 in Rom, war ein italienischer Maler und Architekt.

Michelangelo Buonarroti (vollständiger Name Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni – * 6. März 1475 in Caprese, Toskana; † 18. Februar 1564 in Rom, oft nur Michelangelo genannt, war ein italienischer Maler, Bildhauer, Baumeister (Architekt) und Dichter.

Ludovico Ariost, * 8. September 1474 in Reggio nell’Emilia – † 6. Juli 1533 in Ferrara, war ein italienischer Humanist, Militär, Höfling und Autor.

Niemals hat Erasmus die Strophen Ariosts gelesen, Chaucer bleibt ihm in England, die französische Dichtung in Frankreich fremd.

Geoffrey Chaucer,* um 1342/1343, wahrscheinlich in London – † wahrscheinlich 25. Oktober 1400 in London, war ein englischer Schriftsteller und Dichter, der als Verfasser der ‚Canterbury Tales‘ berühmt geworden ist.

Nur der einen Sprache Latein ist sein Ohr wirklich offen, und die Kunst Gutenbergs war für ihn die einzige Muse, der er wahrhaft verschwistert war, er, der subtilste Typus des Literaten, dem nur durch die litterare, die Lettern, Weltinhalt erfassbar wird.

Johannes Gutenberg, * um 1400 – † vor dem 26. Februar 1468.

Er konnte zur Wirklichkeit kaum anders in Beziehung treten als durch das Medium der Bücher, und er hat mit ihnen mehr Umgang gehabt als mit Frauen. Er liebte sie, weil sie leise waren und ohne Gewaltsamkeit und unverständlich der dumpfen Menge, das einzige Vorrecht der Gebildeten in einer sonst rechtlosen Zeit. In dieser Sphäre allein konnte der sonst sparsame Mann zum Verschwender werden, und wenn er mit Widmungen sich Geld zu schaffen suchte, so tat er dies einzig zu dem Zweck, um sich Bücher kaufen zu können, immer mehr, immer mehr, griechische, lateinische Klassiker, und er liebte die Bücher nicht nur um ihres Inhalts willen, sondern er vergötterte sie auch als einer der ersten Bibliophilen rein fleischlich in ihrem Dasein und in ihrem Werden, in ihrer herrlichen, handlichen und gleichzeitig ästhetischen Form.

Johann Froben, * um 1460 in Hammelburg, Franken – † 26. Oktober 1527 in Basel, war ein bedeutender Buchdrucker und Verleger in Basel.

Bei Aldus in Venedig oder bei Froben in Basel in der niederen Druckstube zwischen den Werkleuten zu stehen, noch feucht die Druckbogen aus der Presse zu empfangen, die Zieraten und zarten Initialen mit den Meistern dieser Kunst gemeinsam einzusetzen, wie ein scharfsichtiger Jäger mit flinker gespitzter Feder den Druckfehlern nachzujagen oder noch rasch auf den nassen Blättern eine lateinische Phrase reiner und klassischer zu runden, das waren für ihn die seligsten Augenblicke seines Daseins, an Büchern, für Bücher zu wirken, die natürlichste Form seiner Existenz. Im letzten hat Erasmus nie innerhalb der Völker und Länder gelebt, sondern über ihnen, in einer dünneren, hellsichtigeren Atmosphäre, in dem tour d'ivoire des Artisten, des Akademikers. Aber von diesem Turm, der ganz aus Büchern und Arbeit gebaut war, lugte er neugierig herab, ein anderer Lynkeus, um frei, klar und gerecht das lebendige Leben zu sehen und zu verstehen.

Hans Holbein: Erasmus im Gehäuse

Denn Verstehen und immer besser Verstehen war die eigentliche Lust dieses merkwürdigen Genius. Im strengen Sinn kann Erasmus vielleicht kein tiefer Geist genannt werden; er gehört nicht zu den Zuendedenkern, zu den großen Umformern, die den Weltraum mit einem neuen geistigen Planetensystem beschenken; die Wahrheiten des Erasmus sind eigentlich nur Klarheiten. Aber wenn kein profunder, so war Erasmus doch ein ungewöhnlich weiter Geist, wenn kein Tiefdenker, so doch ein Richtigdenker, ein Helldenker und Freidenker im Sinn Voltaires und Lessings, ein vorbildlicher Versteher und Verständlichmacher, ein Aufklärer in des Wortes edelster Bedeutung. Helligkeit und Redlichkeit zu verbreiten, war für ihn eine Naturfunktion. Alles Wirre widerte ihn an, alles verworren Mystische und verstiegen Metaphysische stieß ihn organisch ab; wie Goethe hasste er nichts so sehr wie das „Nebulose“.

Blaise Pascal, * 19. Juni 1623 in Clermont-Ferrand – † 19. August 1662 in Paris, war ein französischer Mathematiker, Physiker, Literat und christlicher Philosoph.

Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, Фёдор Михайлович Достоевский, * 11. November 1821 in Moskau; † 28. Januar 1881 in Sankt Petersburg, war ein russischer Schritsteller.

Das Weite lockte ihn aus sich heraus, aber die Tiefe zog ihn nicht an: über den „Abgrund“ Pascals hat er sich nie gebeugt, er kannte nicht die seelischen Durchschütterungen eines Luther, Loyola oder Dostojewskij, diese Art furchtbarer Krisen, die geheimnisvoll schon Tod und Wahnsinn verwandt sind. Alles Übertreibliche musste seiner vernünftlerischen Art fremd bleiben. Aber anderseits war auch kein anderer Mensch des Mittelalters so wenig abergläubisch wie er. Er hat wahrscheinlich leise gelächelt über die Krämpfe und Krisen seiner Zeitgenossen, über die Höllenvisionen Savonarolas, über die panische Teufelsangst Luthers, die astralen Phantasien eines Paracelsus; nur das Allverständliche konnte er verstehen und verständlich machen.