True Crime Schweiz 2 - Adrian Langenscheid - E-Book

True Crime Schweiz 2 E-Book

Adrian Langenscheid

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

« Adrian Langenscheids "True Crime Schweiz 2" ist ein Muss für alle True Crime-Fans. Sie werden es nicht aus der Hand legen können. »– Alex (Wahre Verbrechen Podcast) True Crime-Erfolgsautor Adrian Langenscheid entfacht erneut mit seinen schockierenden Kurzgeschichten über wahre Verbrechen aus der Schweiz herzklopfendes Lesevergnügen.Es ist ein atemberaubendes, zutiefst erschütterndes Portrait menschlicher Abgründe, das gerade wegen seiner kühlen, sachlich-neutralen Schilderung gewaltige Emotionen weckt. Eiskalte Serienmörder, verhängnisvolle Familiendramen, tragische Entführungen, niederträchtige Folter und skrupelloser Missbrauch: dreizehn schockierende True Crime-Kurzgeschichten zu wahren Kriminalfällen aus der Schweiz erwarten Sie. Gefesselt, fassungslos, verblüfft und zu Tränen gerührt werden Sie alles in Frage stellen, was Sie über die menschliche Natur zu wissen glauben. Das Leben schreibt entsetzliche Geschichten und dieses Buch fasst sie zusammen. Tauchen Sie ein in die schockierende Welt der wahren Kriminalfälle und der echten Verbrechen! «Die schockierendsten Verbrechen der Schweiz in einem Buch packend und spannend erzählt. » – Lebenslänglich Podcast

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Adrian Langenscheid

TRUE

CRIME

SCHWEIZ 2

Wahre Verbrechen

Echte Kriminalfälle

Impressum

Autoren: Adrian Langenscheid, Yvonne Widler, Caja Berg, Benjamin Rickert, Lisa Bielec

ISBN:

eBook ISBN: 978-3-98661-106-4

1. Auflage November 2023

© 2023 True Crime International / Stefan Waidelich,

Zeisigweg 6, 72212 Altensteig

Coverbild: © Canva (canva.com)

Covergestaltung:@ Pixa Heros, Stuttgart

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Rechteinhabers und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Einige Dialoge und Äußerungen, der in diesem Buch auftretenden Personen sind nicht wortgetreu zitiert, sondern dem Sinn und Inhalt nach wiedergegeben.

Adrian Langenscheid

TRUE CRIME SCHWEIZ 2

Wahre VerbrechenEchte Kriminalfälle

Über dieses Buch:

Kaltblütige Morde, tragische Entführungen, niederträchtige Folter, skrupelloser Missbrauch, verhängnisvolle Familiendramen, schamlose Betrüger und eiskalte Serienmörder: dreizehn wahre True Crime-Kurzgeschichten zu wahren Kriminalfällen aus der Schweiz.

Auch Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger lässt es nicht kalt, wenn Angeklagte wegen besonders skrupelloser Taten vor Gericht stehen und die erschütternden Schicksale der Opfer und deren Angehörigen nach und nach ans Licht kommen. Im Idealfall sorgt das abschließende Urteil für die gerechte Bestrafung der Täter – im Idealfall.

Über den Autor:

Adrian Langenscheid ist Autor der erfolgreichen Buchserie True Crime International. Alle seine Bücher haben nicht nur in Deutschland Bestsellerstatus erlangt. Das dreizehnte Buch der Reihe knüpft an den beachtlichen Erfolg der Vorgänger an. Zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern lebt Adrian in Stuttgart, Baden-Württemberg.

« s’git nüt wos nöd git »

(Es gibt nichts, was es nicht gibt.)

- Schweizer Sprichwort -

« Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird. »

- Charles Maurice de Talleyrand-Perigord (1754-1838),Ehemaliger Minister für Europa und auswärtige Angelegenheiten von Frankreich -

Kapitel 1Tag der Abrechnung

Geistesabwesend sitzt er am Morgen des 16. April 1986 im Züricher Café „Vis-à-vis“ an einem Tisch und starrt ins Leere. Die aufgehende Sonne wirft ihre Strahlen durch die großen Fenster und lassen den Gastraum in einem goldenen Licht erscheinen. Heute ist Tag der Abrechnung. Heute werden sie für all die Scheiße, die sie ihm angetan haben, bezahlen. Diese Ungehorsamkeit, dieses vergiftete Arbeitsklima. Können die Menschen denn nicht einmal das erledigen, was man ihnen aufträgt? Es wird schnell gehen, da ist er sicher. Rein, die Sache erledigen und seinem eigenen Leben schließlich ein Ende setzen. Er hat bereits sein Testament verfasst und seinen Aktenkoffer gepackt – in ihm befindet sich der Revolver. Seine Entscheidung ist endgültig. Es gibt kein Zurück.

Johanna*, seine Lebensgefährtin, wird die gesamte Wohnungseinrichtung erben, Noch-Ehefrau Gabi bekommt den Rest. Obwohl beide Frauen längst damit begonnen haben, sich allmählich von ihm abzuwenden, liebt er sie beide noch immer. Seit sechs Jahren. Doch er kann sich einfach nicht zwischen ihnen entscheiden. Wobei das nach heute so oder so hinfällig werden wird. Johanna lebt wieder bei ihrem Mann und den drei Kindern. Gabi hatte sogar die Absicht geäußert, sich scheiden zu lassen.

Da sitzt er nun, von seinen Liebsten verlassen, von seinen Mitarbeitern gedemütigt und auf sich allein gestellt. Er wirft einen Blick auf die Uhr. Die Zeiger stehen auf 07:45 Uhr; langsam muss er sich auf den Weg machen. Er nimmt einen tiefen Atemzug und erhebt sich dann von seinem Stuhl. Der ihn bedienenden Kellnerin gegenüber verabschiedet er sich lang und ausschweifend – er weiß, dass es ein Abschied für immer ist und er sein Stammcafé zum letzten Mal in seinem Leben verlassen wird.

„Tun Sie um Gottes willen nichts Dummes!“, sagt die Kellnerin zwei Mal. Auf sie macht der Mann einen verwirrten Eindruck. Doch noch ehe sie das weitere Gespräch mit ihm suchen kann, ist er bereits hinaus auf die Straße getreten.

Gegenüber des Cafés befindet sich das Amtshaus IV, seine Arbeitsstätte. Wie bereits Dutzende Male zuvor schreitet der Mann mit dem Aktenkoffer in der Hand durch den Eingang des grauen Sandsteingebäudes und geht in sein Büro. Wenige Minuten später verlässt er das Amtshaus jedoch wieder, um seinen silbergrauen Honda unmittelbar neben dem Portal abzustellen. Wenn der Plan aus irgendeinem Grund scheitern würde und er flüchten müsste, könnte er sofort in seinen Wagen springen.

Als er wieder zurück in sein Büro kommt, wird er dort bereits von seinem Stellvertreter Alfred Küderli erwartet.

„Die morgendliche Besprechung ist nicht notwendig“, sagt er mit österreichischem Akzent an Küderli gewandt. Es fühlt sich merkwürdig an, heute Morgen noch einen Abschiedsbrief an den nichts ahnenden Mann verfasst zu haben, der den Raum gerade wieder verlässt.

Um fünf vor halb neun betritt Sekretär Mürset mit der morgendlichen Post das Büro.

„Es ist etwas passiert“, sagt der Mann hinter dem Schreibtisch. Daher könne er die Post nicht durchsehen. „Gegen Sie liegt kein belastendes Material vor.“, fügt er hinzu.

„Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz“, entgegnet der verdatterte Mürset.

„Das brauchen Sie nicht zu verstehen“, erwidert sein Gegenüber lächelnd. Mürsets Befürchtungen sind grundlos – in Wahrheit ist gar nichts geschehen.

Fünf Minuten später befindet sich der Mann im Kopierraum und läuft, unverständliche Selbstgespräche vor sich hinmurmelnd, auf und ab. Währenddessen schlägt ihm der schwere und geladene Revolver in der Tasche seines dunkelblauen Jacketts immer wieder gegen den Beckenkamm. Gleich wird es so weit sein.

Um 08:37 Uhr gibt er sich schließlich einen Ruck und verlässt den Kopierraum. Ohne zu zögern, tragen ihn seine Beine direkt zum Büro Nummer 122, im ersten Stock, in welchem sich Kreisarchitekt Max Fischer befindet und gerade in einem Gespräch vertieft ist. Wortlos tritt er ein, zieht mechanisch den Revolver aus seiner Tasche und richtet ihn auf Fischers Kopf. Die Vibration des Knalls hallt im gesamten Gebäude wider, und noch ehe Fischer auf dem Schreibtisch aufschlägt, ist sein Mörder bereits auf dem Weg zu seinem nächsten Opfer, dem Kreisarchitekten Herbert Neck. Auch ihn richtet der Mann mit einem gezielten Kopfschuss hin, dann steckt er den Revolver zurück in seine Tasche und geht zum Aufzug. Er fährt hinauf in den 4. Stock, zum Büro des Juristen Stefan Gabi. Nachdem auch er leblos zusammengebrochen ist, sucht er Karl-Matthias Toggweiler in dessen Büro auf. Hier muss er den Abzug zweimal betätigen, ehe der Jurist tot ist.

Nach dem letzten Schuss muss er den Revolver nachladen. Dafür positioniert er sich hinter einer Säule, greift in seine Tasche und holt die Patronen hervor. Gerade als er sie in die Trommel einführt, sieht er den Zentralsekretär Beat Nann auf sich zukommen. Der Mann verlässt sein Versteck und stellt sich mit gezückter Waffe vor den erschrocken dreinblickenden Nann.

„Ich habe es mir lange überlegt, aber es geht nicht anders“, sagt er.

In diesem Moment erkennt Nann die Gefahr und stürzt sich auf seinen Angreifer. Dabei lösen sich zwei Schüsse aus dessen Revolver. Das erste Projektil trifft den Zentralsekretär in den Bauch, das zweite durchschlägt seine Lunge. Keuchend und nach Atem ringend versucht Nann, sich in Sicherheit zu bringen. Doch ein dritter Schuss, der in seiner Schulter einschlägt, lässt ihn bewusstlos zu Boden fallen. Er überlebt als Einziger schwer verletzt den Angriff.

„Gesucht“ steht in gesperrten Versallettern auf der Oberseite des Blatts. „Wegen vierfacher Tötung und Tötungsversuch“ lässt die nachfolgende Zeile verlauten. Darunter sind zwei Schwarz-Weiß-Fotografien eines freundlich lächelnden Mannes abgebildet. Er hat schwarze Locken mit grauen Strähnen, schmale Lippen und kleine Augen mit dicken Tränensäcken. Der Mann trägt einen hellgrauen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Die beiden Bilder sind bis auf ein Detail völlig identisch – das Linke stellt ihn mit, das Rechte ohne Aviator-Brille dar.

Unter den Fotografien steht der Name des Gesuchten in umgekehrter Reihenfolge sowie Angaben über seine Person: „Tschanun Günther, geb. 13. September 1941, Bürger von Worb/BE (Bern), Architekt und Chef der Baupolizei. Signalement: 183 – 185 cm groß, mittlere Statur, grau melierte Haare, Brillenträger, spricht schweizerdeutsch mit österreichischem Akzent. Der Gesuchte erschoss am 16. April 1986 an seinem Arbeitsort im Hochbauamt der Stadt Zürich vier seiner Mitarbeiter und verletzte einen fünften schwer. VORSICHT: Günther Tschanun ist mit einem Revolver bewaffnet. Für Hinweise, die zur Festnahme des Gesuchten führen, ist eine Belohnung in Höhe von 10.000 Franken ausgesetzt.“

Die Nachricht über den Mord an den vier Amtsmitarbeitern durch ihren Vorgesetzten löst in der Schweiz eine erbitterte Diskussion aus. Während in den meisten Schweizer Kantonen die Tat als „schrecklich“, „grausam“ und „kaltblütig“ angesehen wird, stößt Tschanun vor allem in Zürich auf erstaunlich viel Zuspruch. Endlich habe mal einer richtig aufgeräumt, heißt es. Man sei selbst bereits nahe daran gewesen, zu schießen, und hoffe, der eigene Chef sei durch Tschanuns Tat gewarnt. Jemand anderes würde am liebsten jeden Morgen mit der Pistole durch das Büro rennen. „Tschanun hatte recht“ steht in krakeliger Schrift auf einer Mauer geschrieben.

Doch warum bringen die Menschen dem Baupolizisten überhaupt so viel Verständnis und Sympathie entgegen? Der Grund findet seinen Ursprung zwei Jahre vor der Bluttat. Im Jahr 1984 befindet sich die Stadt Zürich inmitten eines anhaltenden Baubooms. Wohnhäuser und Kleinbetriebe müssen in der Innenstadt Bürogebäuden und Einkaufszentren weichen und die Verkehrssituation ist problematisch. Die Errichtung von Großprojekten verlangt Ausnahmebewilligungen, und von allen Seiten herrscht ein enormer Druck. Dabei geht es vor allem um wirtschaftliche Interessen sowie eine Menge Geld.

Zu dieser Zeit gibt der damalige Chef der Züricher Baupolizei seine Stelle völlig überlastet und gesundheitlich angeschlagen auf. Grund dafür ist der autoritäre Führungsstil von Stadtrat Hugo Fahrner, der einem „Meister-Knecht-System“ gleichen soll. Darüber hinaus hatte der Stadtrat im Jahr 1982 einen Einstellstopp aufgrund von Kosteneinsparungen im Amtshaus angeordnet, wodurch vakante Stellen nicht mehr besetzt wurden. Der ohnehin schon aufgeheizten Stimmung setzte der, aus Fahrners Verfügung resultierende Personalmangel, die Krone auf.

„Eine solche Nervenbelastung habe ich noch nie erlebt“, beschreibt eine Mitarbeiterin die Situation im Amt. „Der Punkt, an dem man am liebsten nur noch schreien und in Tränen ausbrechen möchte, ist erreicht.“

Die freigewordene Stelle des Chefs der Züricher Baupolizei besetzt Hugo Fahrner mit dem 43-jährigen Architekten Günther Tschanun. Der gebürtige Österreicher wächst als Sohn eines Soldaten in Wien auf. Da sein Vater im Zweiten Weltkrieg erschossen wurde, besucht der junge Günther ein jesuitisches Internat, damit seine nun alleinerziehende Mutter entlastet wird. Nach eigener Aussage habe das geistig fördernde Klima dort positiv auf ihn gewirkt. Negativ sei hingegen das „stark männliche Patriarchat“ gewesen.

Nach der Schule studiert Tschanun in der Schweiz Architektur und heiratet einige Jahre später eine Schweizerin namens Gabi Suter*. Nach Abschluss des Studiums eröffnet er in Bern ein schlecht laufendes Architekturbüro, und auch seine Ehe kann er nicht retten. Das Paar trennt sich kurz nach der Hochzeit.

Der gescheiterte Mann verliebt sich beim Tanzen in Johanna Weibel*, doch auch diese Beziehung will aufgrund von Johannas Ehemann nicht so richtig funktionieren. Im Jahr 1982, drei Jahre vor der Tat, kauft sich Tschanun daher einen Revolver. Er will sich vor dem Gatten seiner Lebensgefährtin schützen, sollte es hart auf hart kommen. Es ist dieselbe Waffe, mit welcher er später seine Mitarbeiter erschießen wird.

Als Tschanun von Stadtrat Hugo Fahrner im Jahr 1984 zum Chef der Züricher Baupolizei ernannt wird, zieht der 43-Jährige in eine Dachgeschosswohnung gegenüber dem Amtsgebäude in der Oetenbachgasse. Für ihn ist die Anstellung ein Lichtblick in seinem bisher holprigen Lebenslauf. Ihm fehlt jedoch eine entscheidende Fähigkeit: juristische Kenntnisse sowie Führungserfahrung. Dies führt dazu, dass sich die prekäre Situation im Bauamt nicht bessert, sondern nur noch schlimmer wird. Haufenweise Geschäfte bleiben liegen, Kontrollarbeiten werden nicht mehr gemacht, und durch Fristüberschreitungen verliert die Bauwirtschaft Millionen an Franken. Tschanun drohen die ohnehin lockeren Zügel vollends zu entgleiten. In einem Brief an seinen Vorgesetzten vom Dezember 1985 beklagt er sich über die Arbeitsbelastung von 86 Stunden pro Woche. Die physischen Grenzen seien erreicht, und es fehle an „ausreichenden administrativen Unterstützungsfunktionen“. Jahrelang besteht sein täglicher Teufelskreis nur noch zwischen Amt, seiner Wohnung und dem nahe gelegenen Café „Vis-à-vis“.

Infolgedessen kommt es immer häufiger zu Meinungsverschiedenheiten zwischen dem neuen Chef der Züricher Baupolizei und seinen Mitarbeitern. Einige seiner späteren Opfer beschweren sich gar über Tschanun, woraufhin dessen Probezeit verlängert wird. Da das vergiftete Arbeitsklima allmählich auch nach außen schwappt, nimmt sich die Reorganisationsfirma „Hayek“ der Sache an. Allerdings ohne Erfolg; Tschanuns Mitarbeiter verlieren zunehmend die Geduld mit ihm. Er sei „wahnsinnig kompliziert“, „unfähig und inkompetent“ heißt es. Die Rufe nach seiner Absetzung werden immer lauter.

Ein Jahr vor der Tat ist Günther Tschanun völlig auf sich allein gestellt. Seine Mitarbeiter haben sich von ihm abgewendet, und es wird bloß noch das Nötigste besprochen. Täglich schließt sich der Chef der Züricher Baupolizei in seinem Büro ein, um dem Unmut durch seine Präsenz nicht noch mehr Munition zu geben. Auch seine private Situation spitzt sich zu dieser Zeit immer weiter zu. War seine Freundin Johanna noch kurz zuvor bei ihm eingezogen, zieht sie nun wieder aus, und die Trennung von seiner Frau Gabi ist besiegelt. Tschanun hat nun keinen Grund mehr, nach Hause zu gehen, weshalb er von nun an Tag und Nacht im Amt zubringt. Dort hat die aufgeheizte Stimmung mittlerweile ihren Siedepunkt erreicht. Das Ganze geht so weit, dass Tschanun einem seiner späteren Opfer den Zugang zu seinem Büro verwehrt. Ein anderer Mitarbeiter bemüht sich um eine neue Stelle, die er aus familiären Gründen dann aber doch nicht antritt.

Auf einer Silvesterfeier im Jahr 1985 zeigt sich das gesamte Ausmaß des Dilemmas. Der Chef der Züricher Baupolizei kommt mit der Familientherapeutin Rosmarie Welter ins Gespräch und erzählt ihr von 660 Überstunden in einem Jahr sowie schlaflose Monate. Er wirkt einsam und nervös, aber gleichzeitig auch charmant, gebildet und wortgewandt. Je länger der Abend, desto gelöster wird seine Zunge. Es scheint, als sei er froh, sich endlich jemand unbefangenem anvertrauen zu können.

Doch kaum zurück in der Oetenbachgasse, bricht der Stress wieder über ihn herein. Seine Mitarbeiter werfen ihm mangelnde Autorität und Unfähigkeit vor. Kollegen, die Tschanun gegenüber wohlgesonnen sind, berichten, jene Mitarbeiter würden den Baupolizist „wie einen Hund in die Ecke treiben“, es sei ein „richtiges Kesseltreiben gegen ihn“. Günther Tschanun fällt in ein tiefes Loch. Er leidet an einer Erschöpfungsdepression von einem sich aufbauenden Tataffekt.

Sechs Wochen vor der Tat, am 2. März 1986, finden in Zürich Kommunalwahlen statt. Hugo Fahrners Partei, die FDP (Freisinnig-Demokratische Partei), wird dabei von der SP (Sozialdemokratische Partei der Schweiz) geschlagen. Der Stadtrat ist somit nach seiner vierjährigen Amtszeit abgewählt, seine Nachfolgerin wird Ursula Koch. Fahrners Niederlage ist vor allem auf das Finanzdebakel um den Umbau des Züricher Kongresshauses zurückzuführen. Denn statt der in einer Volksabstimmung festgelegten 40 Millionen Franken kostete der Umbau satte 70 Millionen (beide Summen sind gleichwertig zum Eurokurs). Die gemeinderätliche Untersuchungskommission sieht in Fahrner den Schuldigen für die Kostenüberschreitung.

Die Neuwahlen geben dem ohnehin schon psychisch labilen Tschanun den Rest. Denn am 10. April 1986, sechs Tage vor der Tat, titelt die „ZüriWoche“: „Wer wird von der Köchin zuerst in die Pfanne gehauen?“ In dem Artikel darunter liest man: „In Zürich werden über Günther Tschanun eine ganze Reihe von Geschichten herumgeboten. So soll er die komplizierte Materie des Baubewilligungsverfahrens nicht voll im Griff haben.“

Der Zeitungsbericht lässt den Baupolizist um seine Stelle bangen. Hat die neue Stadträtin Ursula Koch wirklich vor, ihn abzusägen? Er sieht sich sowohl als Mensch als auch als Fachmann entwertet und nimmt sich vor, die Sache selbst zu lösen.

Eine leere Rotweinflasche steht am Abend des 15. April 1986 vor ihm auf dem Tisch, ein letzter Rest des Tropfens aus dem französischen Burgund befindet sich noch im Glas. Eigentlich trinkt Günther Tschanun so gut wie nie Alkohol, doch heute macht er eine Ausnahme. Zu sehr treiben ihn die Sorgen über den drohenden Verlust seiner Arbeitsstelle, seine gescheiterte Ehe sowie die ständigen Schikanen durch seine Untergebenen um. So sehr er sich auch bemüht – der 45-Jährige kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Hinzu kommt noch diese bleierne Müdigkeit, ausgelöst durch seine 60-Stunden-Arbeitswochen, im Kampf gegen den Berg an Arbeit, der mehr und mehr wächst.

Tschanun führt das Weinglas an seine Lippen und leert es. Dabei schließt er seine Augen und genießt für einen Moment das pelzige und zugleich trockene Gefühl in seinem Mund. Wird es womöglich der letzte Wein seines Lebens sein? Gegen 22:00 Uhr legt sich der Baupolizist schlafen und wacht am nächsten Tag standardmäßig um 06:00 Uhr morgens auf. Vor seiner Zeit als Baupolizist wäre diese Zeit undenkbar für ihn gewesen, doch der Umstand im Bauamt hat ihn zum Frühaufsteher werden lassen. Vorausgesetzt, er schafft es überhaupt, Schlaf zu finden.

An diesem Mittwochmorgen bleibt Tschanun etwas länger als gewöhnlich liegen. Vermutlich möchte er noch ein letztes Mal die Wärme und Geborgenheit seines Bettes spüren, ehe er ins Reich der ewigen Dunkelheit übertreten wird. Wenig später wird seine Wohnung in das grelle Licht der Deckenlampen getaucht, als sich der Baupolizist aus dem Bett quält und zu seinem Schreibtisch schleppt. Dort angelangt verfasst er sein Testament, unterzeichnet es und widmet sich anschließend seiner Morgentoilette. Dann packt er den fünfschüssigen Trommelrevolver der Marke Taurus in seinen schwarzen Aktenkoffer. Die Patronen steckt er lose in die Tasche seines dunkelblauen Sportjacketts und verlässt zum letzten Mal die Wohnung.

Kaum hat sich die Tür gegen 06:30 Uhr hinter ihm geschlossen, greift Günther Tschanun auch schon nach der Türklinke zu seinem Büro. Bereits als er den kurzen Weg über die Straße ging, hat sich in ihm die Entschlossenheit manifestiert, jetzt „Schluss zu machen“ mit denen, die ihn „kaputtmachen“.

Im Büro angelangt schreibt er einen Abschiedsbrief an seinen Stellvertreter Alfred Küderli – einer der wenigen, ihm wohlgesonnenen Mitarbeiter hier im Amt. Den Brief an Küderli legt Tschanun zuerst in ein Körbchen mit der Aufschrift „Postausgang“, überlegt es sich dann jedoch anders. Stattdessen deponiert er ihn in einem Dokumentenschrank. So stellt er sicher, dass sein Stellvertreter den Brief finden wird, aber erst, wenn alles vorbei ist. Anschließend begibt er sich um kurz vor sieben ins Café „Vis-à-vis“.

Nach der Bluttat verlässt Tschanun das Amtsgebäude um 09:00 Uhr fluchtartig durch den Vordereingang und eilt seinem silbergrauen Honda entgegen. Nach kurzer Überlegung entscheidet er sich jedoch dazu, den Wagen an seinem Platz an der Kreuzung Fortunagasse/Lindenhofstraße stehen zu lassen und rennt stattdessen in Richtung des rund 500 Meter entfernt liegenden Hauptbahnhofes. Er steigt in einen Zug Richtung Basel, fährt bis nach Bern und begibt sich von dort aus nach Dijon in Frankreich.

In der kleinen französischen Stadt Beanue im Burgund ist Tschanuns Fahrt zu Ende. Er nimmt sich ein Zimmer im „Motel De Bretonnière“, welches er vier Tage später wechseln muss. Grund dafür ist sein Revolver, den er zur Sicherheit unter seinem Kopfkissen deponiert hat. Als der Flüchtige von einem Hotelangestellten auf die Waffe angesprochen wird, sucht Tschanun überstürzt das Weite.

Es treibt ihn ins Dorf Saint-Loup-de-la-Salle, wo er in einer Pension namens „La Terasse“ Unterschlupf findet. Man kennt ihn. Früher, in einem anderen Leben, hatte er hier glückliche Sommertage zugebracht. Die Wirtin bezeichnet ihn als „monsieur comme il faut“ – ein Herr, wie er im Buche stehe. Sie ahnt nicht, dass der einst so liebenswürdige und charmante Österreicher vor wenigen Tagen vier Menschenleben ausgelöscht hat.

Von seinem Resort aus schreibt Tschanun einen Brief an seine Freundin Johanna, in welchem er von Selbstmordgedanken spricht. War er am Morgen des 16. April 1986 noch felsenfest davon überzeugt, seinem Leben nach der Bluttat ein Ende zu setzen, zögert er nun. Sterben ist eben doch nicht so einfach – zumindest, wenn man es selbst erledigen will.

Es donnert an der Tür. Kurz darauf wird er von allen Seiten her in verschiedenen Sprachen angebrüllt, doch sie wollen alle das Gleiche von ihm. Das versteht Tschanun. Er hebt langsam die Arme über den Kopf und lässt sich auf die Knie sinken. Einen Moment später klicken die Handschellen um seine Handgelenke, und man führt ihn hinaus in die warme Morgensonne dieses 7. Mai 1986. Im Vorbeigehen entschuldigt sich Tschanun bei der erschrockenen Wirtin des „La Terasse“ für die Umstände.

Tief in seinem Inneren hat er diesen Moment bereits erwartet, vielleicht sogar herbeigesehnt. Zumindest verrät ihm das die Erleichterung, die sich nun in seinem Inneren ausbreitet. Da er sich vor der Flucht nicht die Mühe gemacht hatte, Spuren zu verwischen, war es nur eine Frage der Zeit gewesen. Der Brief an Johanna. Die Visitenkarte des Hotels in seiner Wohnung. Die Zeugenaussagen seiner Mitarbeiter. Sie alle waren letztlich die entscheidenden Puzzleteile zu seiner Verhaftung, wie man ihm später berichtet.

Zurück in Zürich wird ihm am 28. Februar 1988 vor dem Obergericht der Prozess gemacht. Er wird nicht wegen Mordes, sondern aufgrund fortgesetzter, vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von 17 Jahren verurteilt. Die Staatsanwaltschaft legt Revision ein und verlangt eine Verurteilung wegen Mordes. Die Oberrichter erhöhen die Strafe daraufhin im Jahr 1990 auf 20 Jahre.

Die Hinterbliebenen der Opfer müssen auf schmerzliche Weise erfahren, dass sich die Regierung alles andere als großzügig verhält. Als Entschädigung für den Verlust ihrer Lieben will man den Eltern, Ehefrauen und Kindern, den strikten Verordnungen folgend, je 25.000 Franken bezahlen. Erst durch einen dreijährigen Rechtsstreit kann man eine Einigung erzielen, wodurch den Witwen 100.000 Franken und den Kindern 20.000 Franken bezahlt werden. Die Namen sowie Geburtsdaten der Opfer wurden wenig später in eine Messingplatte graviert und mit dem Satz: „Im Gedenken an die Opfer vom 16. April 1986“ im Bauamt aufgehängt.

Der für die Missstände im Bauamt mitverantwortliche Ex-Stadtrat Hugo Fahrner lässt den Familien eine vorgedruckte Kondolenzkarte zukommen und erscheint nicht zu seiner Abdankung in der Kirche Fraumünster. Er erliegt am 30. Juli 2013 im Alter von 82 Jahren einer schweren Krankheit. Fahrner habe sich leidenschaftlich für die bauliche und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Zürich eingesetzt, heißt es in der Todesanzeige des Stadtrates. Er habe ein „reflektiertes und von sachlichen Überlegungen geleitetes Wesen“ gehabt.

Günther Tschanun darf das Gefängnis im Jahr 2000 wegen guter Führung bereits vorzeitig wieder verlassen. Zu diesem Zeitpunkt hat der 59-Jährige ein Drittel seiner Haftstrafe hinter sich gebracht, in welcher er sich zum Gärtner ausbilden ließ. Nach seiner Freilassung erhält der Vierfachmörder einen neuen Namen und beginnt ein neues Leben mit seiner Lebensgefährtin Clara im Kanton Tessin. Das Paar lebt zunächst in Ronco sopra Ascona, eine politische Gemeinde im Schweizer Kanton Tessin, später verschlägt es sie nach Losone an den Lago Maggiore. Hier führen die beiden ein unscheinbares Rentnerleben.

Heinz Lutta spürt den leichten Nieselregen auf seinem langärmligen Polyestershirt, während er und seine Mitspieler um 17:20 Uhr des 21. Februar 2015 am Ufer der Maggia in Richtung Losone entlangjoggen. Der Himmel ist von einer grauen Wolkendecke überzogen und das Plätschern des Flusses mischt sich unter das rhythmische Atmen der Fußballer sowie das Stampfen ihrer Sportschuhe.

Die Augen auf den steinigen Erdboden gerichtet konzentriert sich der 14-jährige Heinz auf sein Lauftempo und wirft nur ab und zu einen Blick nach vorne. Links des schmalen Fußwegs fließt der Fluss an den mit Bäumen gesäumten Bergen vorbei, zu ihrer Rechten befindet sich ein Waldstreifen. Aus der Ferne kommt ein Fahrradfahrer auf die 15-köpfige Gruppe zu. In der rechten Hand hält er einen schwarzen Regenschirm, wodurch er nur mit Mühe das Gleichgewicht halten kann und leichte Schlangenlinien fährt. Je näher der Mann kommt, desto deutlicher erkennt Heinz dessen Profil. Es ist ein älterer Herr mit grauen Locken und Brille. Er trägt keinen Helm, hat schmale Lippen, eine Knollennase und große Ohren.

Da der Fußweg entlang der Maggia sehr schmal ist, können die Fußballer nicht so schnell Platz machen. Sie gehen daher davon aus, dass der Fahrradfahrer stehen bleiben und sie passieren lassen würde – tut er jedoch nicht. Im Gegenteil: Der Mann ruft den Jungen irgendetwas Unverständliches in verärgertem Tonfall zu und fährt, ohne zu bremsen, mitten in die Menge hinein. Er erwischt drei der Fußballspieler an der Schulter, die entsetzt zu allen Seiten davonstieben. Dann geschieht alles ganz schnell. Durch die Stöße verliert der Mann die Kontrolle über sein Fahrrad, strauchelt und stürzt schreiend sechs Meter tief die steinige Böschung zum Maggia-Ufer hinunter. Während sein Fahrrad in einiger Entfernung auf den Boden kracht, schlägt er mit dem Kopf auf einem Felsen auf und bleibt reglos liegen.

Von oben beobachten die paralysierten Jugendlichen, wie Blut aus dem Schädel des Mannes sickert. Er ist tot. Sein Name wird später durch den Totenschein öffentlich: Claudio Trentinaglia, vormals Günther Tschanun.*

*Name geändert

« Wo Recht zum Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. »

- Thomas Jefferson (1743-1826), 3. Präsident der Vereinigten Staaten -

Kapitel 2David gegen Goliath

Genervt fährt sich Weber* mit der Hand über den Mund. Sein übermüdetes Gesicht verzieht sich bei der Bewegung zu einer grotesk wirkenden Maske. Schwerfällig erhebt sich der Polizist von seinem Bürostuhl und streckt seine steifen Glieder, bis er ein wohltuendes Knacken in seinen Gelenken vernimmt. Der Mann seufzt. Was würde er dafür geben, wenn sein Dienst sich endlich dem Ende entgegen neigen würde. Doch der Feierabend ist in weite Ferne gerückt. Vor einigen Minuten ließ ihn ein Kollege wissen, dass Fräulein Steiner* wünscht, mit Weber zu sprechen. „Geht wohl um einen Strafzettel, den du ihr verpasst hast“, fügte der Polizist schelmisch grinsend hinzu. Der Schutzmann hasst solche Gespräche. Nie konnte er sich dabei um eine Diskussion herumschlängeln. Selten sieht ein Falschparker ein, dass die Schuld bei ihm und nicht bei der Polizei liegt. Würden sich die Bürger an das Straßenverkehrsgesetz halten, könnten sie den Gesetzeshütern eine Menge Ärger und Papierkram ersparen. Lustlos schlurft Weber den langen Flur mit seinen kargen Wänden entlang. An der Tür des Büros angekommen, in dem Fräulein Steiner auf ihn wartet, streicht er das Jackett seiner Uniform glatt und rückt seine Dienstmütze zurecht. Er atmet tief durch, greift nach der Klinke, stößt die Tür auf und stampft energischen Schrittes in den Raum. Absichtlich lässt er die Tür nicht zurück ins Schloss fallen. Manchmal lassen sich solche Gespräche abkürzen, wenn das Gegenüber sich von den Polizisten und vorbeigehenden Besuchern belauscht fühlt. „Was kann ich für Sie tun, Fräulein Steiner?“, begrüßt Weber eine Frau mittleren Alters mit langen, braunen Haaren, die ihr grimmiges Gesicht einrahmen. Noch bevor der Schutzmann sich ihr am Schreibtisch gegenüber in den knarzenden Bürostuhl fallen lassen kann, befeuert ihn die Besucherin mit einer Salve aus Unmut über ihren Strafzettel. In den ersten Sekunden versucht Weber noch, ihren Redefluss zu stoppen, sieht dann aber ein, dass es keinen Zweck hat. Während Fräulein Steiner sich über die Ungerechtigkeit der Buße ereifert und eine Reihe von Ausflüchten für ihr widerrechtliches Parkieren vorbringt, schweift Webers Blick zu den Zeigern der Uhr über der Tür. 18:55 Uhr. Der Polizist bemerkt, dass jemand über den Flur huscht, doch sein zeterndes Gegenüber versperrt ihm den Blick. Als Weber einige Sekunden später erneut hallende Fußstapfen auf dem Flur vernimmt, neigt er seinen Kopf ein wenig nach rechts, um durch die Tür zu spähen.

---ENDE DER LESEPROBE---