Trugbilder - Joris-Karl Huysmans - E-Book

Trugbilder E-Book

Joris Karl Huysmans

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Beschreibung

Die deutsche Erstübersetzung des autobiographisch gefärbten Romans zum 100. Todestag des Autors am 12. Mai 2007 André und Cyprien, der eine Schriftsteller, der andere Maler, sind Freunde seit der Kinderzeit. Nunmehr in den Dreißigern, begegnen sie uns im Paris der 1880er Jahre in einer Verfassung erheblicher Desillusionierung. Beide zweifeln am Wert ihrer Kunst, beide betrachten äußerst skeptisch das andere Geschlecht. André hatte zögerlich und wenig überzeugt in die Heirat mit der zwanzigjährigen Berthe eingewilligt. Als er plötzlich völlig überrascht bei einer verfrühten nächtlichen Heimkehr in seiner Wohnung dem unbekleideten Liebhaber seiner Frau gegenübersteht, sieht er sich ausweglos einer Ehekrise ausgeliefert. Vor diesem Hintergrund entwickelt Huysmans mit der ganzen Kraft seiner Sprache ein Kaleidoskop eines anderen Paris, wo Farben, Gerüche aber auch städtische Häßlichkeit und Trostlosigkeit dominieren, und andererseits werden bürgerliche Engstirnigkeit sowie das ewige Bedürfnis nach Sicherheit schonungslos seziert. Orientiert an seinem Fixstern Baudelaire formt der Autor ein Abbild der Stadt, das zugleich Abbild menschlicher Triebkräfte ist. ›Trugbilder‹ ist auch ein autobiographisch gefärbter Roman: der Kunstkritiker und Schriftsteller Huysmans spiegelt in André und Cyprien die ganze Breite seines künstlerischen Vermögens. Der Roman aus dem Jahr 1881 bildet eine entscheidende Voraussetzung für den Kultroman ›Gegen den Strich‹, der drei Jahre später erschienen ist.

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Seitenzahl: 425

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Joris-Karl Huysmans

Trugbilder

Roman

Aus dem Französischen von Caroline Vollmann

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dirk Hemjeoltmanns

Deutscher Taschenbuch Verlag

Vollständige Ausgabe 2007© der deutschsprachigen Ausgabe:Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40412-9 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13549-8Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de

Inhaltsübersicht

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

Nachwort

I

Ihre Zigarren qualmten und stanken wie Rauchkohle. Während Cyprien seine Hose, die aufgegangen war, zuknöpfte, rief er:

»Zwei Stunden lang in einer Ecke herumsitzen, zappelnden Hampelmännern zusehen, Handschuhe beschmutzen und Gläser verschmieren, ständig auf der Hut sein, sich wegstehlen, sobald die Hausherrin auf der Suche nach einem Tanzopfer wie ein Wilderer durch die Räume streicht, wenn du das angenehm nennst, obwohl du dich, seit man dich verheiratet hat, daran gewöhnt haben magst, nun, dann bist du nicht wählerisch.«

André zuckte die Achseln, spuckte Tabaksaft aus, der ihm wie Pfeffer im Mund brannte, und sagte nur:

»Pah, man gewöhnt sich daran!«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Sie gingen langsam nebeneinander her, als es Mitternacht schlug. Zwei Turmuhren vermischten ihre Klänge; die eine, in der Ferne, ertönte schwach und eine Sekunde später als die andere; die nähere schlug hell, fast heiter die Stunde.

Die beiden jungen Leute folgten der Straße, die verlassen dalag, und ihre Schritte hallten auf dem Trottoir deutlich wider. Ihre Schatten brachen sich bald an der Front der geschlossenen Läden, bald gingen sie, einmal blaß, dann dunkler, flach ausgestreckt auf dem Gehwegpflaster vor ihnen her oder folgten ihnen nach. Oft schoben sie sich ineinander, überlagerten sich, vereinigten sich an den Schultern, bildeten nur noch einen Stamm mit einem Astwerk aus Armen und Beinen, von zwei Häuptern überragt; manchmal trennten sie sich, schrumpften unter ihren Füßen zusammen oder verlängerten sich übermäßig und verloren ihre Köpfe in den Buchten der Toreinfahrten.

Der Himmel glich einer herabstürzenden düsteren Geröllhalde. Über den Häusern, von den Dächern schroff abgeschnitten, wälzten sich große Wolken wie Qualm aus Fabrikschloten, dann öffneten sich zwischen den ungeheuren Wolkenbänken riesige Lücken, in denen Fetzen des Sternenhimmels mit weißen Lichtern funkelten, bald wieder erlöschend unter dem dichten Schleier vorbeiziehender Wolken.

Im Schlaglicht der in größeren Abständen brennenden Gaslaternen traten Häuserwände aus der Dunkelheit hervor. Der immer wieder von Rinnen durchquerte Bürgersteig war trocken, und die Fugen des Pflasters zeichneten sich dunkel ab. Eine Abflußöffnung am Straßenrand, ein gußeiserner Deckel mit einem Loch in der Mitte, glänzte an einigen von den Schuhen stärker abgetretenen Stellen. Küchenreste, Gemüseabfälle und Plakatfetzen verrotteten in einer Pfütze. Eine Ratte schlüpfte in ein Abwasserrohr.

Als André und Cyprien das Ende dieser Straße erreicht hatten und in eine andere einbogen, die noch mit Leben erfüllt und besser beleuchtet war, schlug es halb. Ein Weinhändler war dabei, seine Schaufenster zu schließen. Hinten in der Wirtschaft in einem durch Milchglasscheiben abgetrennten Saal deckte ein Kellner den Billardtisch zu und wischte die auf der Bande zurückgebliebenen Kreidespuren mit einem Tuch ab; ein anderer, der nur von hinten zu sehen war, spülte im vorderen Raum über einen Zuber gebeugt Flaschen aus, wobei er Nacken und Hüften wie ein watschelndes Geflügeltier bewegte; ein dritter karrte zwei mit Lorbeer bepflanzte Faßhälften weg, und auf dem Bürgersteig markierten zwei schmutzige Flecken die Stelle, wo sie gestanden hatten.

Der Ladeninhaber machte sich daran, die Türschwelle naß zu reinigen. Einen Eimer zwischen den Beinen gähnte er, reckte sich mit erhobenen Armen und geballten Fäusten, und hinter ihm kommandierte seine Frau, den Hintern auf einer Bank platt gedrückt, den Busen auf der Kante des Schanktisches ausgebreitet, die Kellner herum, zupfte sich Nasenhaare aus und überprüfte die Kasse.

Die Straße war fast still; zwei Polizisten gingen melancholisch vorbei, unterhielten sich leise, blieben ab und zu stehen, setzten dann ihre Runde fort; begleitet von einem dumpfen Rollen zog in der Ferne ein ekelerregender Trupp Kloakenreiniger vorüber, trieb vor numerierte Fässer und Wagen voller Röhren und Pumpen gespannte Pferde mit Peitschenhieben an.

Der Lärm wurde unbestimmter und schwächer. Man hörte nur noch das kreischende Geräusch einer Droschke, die plötzlich auftauchte, die Lampen brannten, der Kutscher schlief unter seiner Mütze aus gummiertem weißen Leder, die wie ein Toiletteneimer aussah, das Kinn in den Hals gezogen, die Peitsche im Halter, die erschöpften Gäule strauchelten, zogen den Rumpelkasten holpernd durch die Straße; dann verklang der Lärm, das Rasseln der Schaufensterläden, die herabgelassen wurden, verebbte, das Viertel fiel in Schlaf, alles verstummte.

Cyprien brummte weiter in seinen Bart; seine Laune wurde nach dem Abend, den er hatte über sich ergehen lassen müssen, immer schlechter. Er lästerte über die Getränke, über die Frauen, behauptete, der Punsch sei fertig zubereitet bei einem Kolonialwarenhändler gekauft und mit Wasser verdünnt gewesen, um ihn zu desinfizieren; er leugnete den Charme der auf dem Klavier klimpernden oder Eis naschenden Töchter, er machte sich über den Herrn des Hauses lustig, der sich in der Nähe des Klaviers postiert hatte, um pflichtschuldig zu lächeln, und er fuhr fort:

»Wirklich reizend, die Abendgesellschaften deines Onkels! Ein Gedränge wie in einem Wartesaal! Nur die Leute, die Fettflecken auf die Karten machen, haben das Recht, Platz zu nehmen! Und da sitzen sie mit ihren kahlgewordenen Schädeln, den weißen Binden um den Hals, den aufgeblähten Bäuchen, eingezwängt in enge Hosen, die die Winde einer beschwerlichen Verdauung zurückhalten! Und der Salon, mit der Zurschaustellung alter Damen, die an der Wand entlang auf ihren Stühlen schlafen oder, die Nase über ein Glas gebeugt, schwatzen, und der Sturzbach der Unterhaltung, die Flut der Albernheiten, die Berieselung durch Polka- und Walzermusik! All das, und dazu diese Horde von Dummköpfen, die rosa und weiße Abendkleider auffordern, ihre Falten zu schwingen! Und erst die jungen Mädchen! Diese anbetungswürdigen Gefäße aus frischem Fleisch, angefüllt mit den Lastern ihrer Mütter, die sich in ihnen verjüngen! O ja, laß uns von ihnen sprechen! Man muß sie sehen, wenn sie stampfend ihre Röcke bewegen! Da sitzen sie mit ihrem Schmollmund, das Taschentuch auf den Knien, zieren sich auf ihren Stühlen, tauschen flüsternd hinter vorgehaltenen Fächern wie Schulmädchen in der Klasse ihre schlüpfrigen Dummheiten aus, fliegen plötzlich auf mit dem schrecklichen Kreischen freigelassener Papageienweibchen! Dann die tiefen Knickse der Ehrerbietung, die krausen Nasen, die blitzenden Gebisse, das ›ja, Mama‹, das ›nein, mein Liebes‹, das sinnlose Geplapper, das schelmische Lächeln, das heimliche Gekicher... die jungen Mädchen! Ich habe sie heute abend genau beobachtet: körperlich gesehen ein Angebot unreifer Brüste und künstlich ausstaffierter Hinterteile; geistig gesehen eine Unendlichkeit an tödlicher Einfallslosigkeit, ein Misthaufen an Gedanken in einem rosigen Lockenkopf! Ja, so sind sie, die man mir zudenkt in der Hoffnung, daß der Tag kommen wird, an dem ich es leid sein werde, in meinem Bett zu lesen und dort in aller Ruhe meine Pfeife zu rauchen und statt dessen das Elend des geteilten Betts, die Schlaflosigkeit oder das Schnarchen eines anderen, die Ellbogen- oder Fußpüffe, die Strapazen erwarteter Zärtlichkeiten und die Langeweile vorauszusehender Küsse auf mich nehmen werde!«

André lachte.

»Nun ja«, sagte er, »aber dann ist alles sehr einfach.– Aus deinen Theorien folgt: die Hinterlegung aller Leidenschaften im Pfandhaus, die Apotheose der Freudenmädchen – eine Liebe für drei Sous in Nebenzimmern!– und obendrein die Verherrlichung der Haushälterin, die dir Kerzen und Zucker stibitzt!

Ja, es ist amüsant, ein Feuerwerk der Paradoxe abzubrennen, aber der Augenblick kommt, wo die bengalischen Feuer feucht werden und nicht mehr zünden!– Dann vergeht einem das Lachen – ich habe genau deshalb geheiratet, weil dieser Moment gekommen war, weil ich es leid war, das von der Haushälterin oder der Concierge zubereitete Abendessen kalt aus einem Tongeschirr zu essen. – Ich hatte Hemdbrüste, die klafften und ihre Knöpfe verloren, und ungestärkte Manschetten – so wie die deinen–, ich hatte nie Lampendochte oder saubere Taschentücher zur Hand. – Wenn ich im Sommer morgens das Haus verließ und erst abends wieder zurückkam, war mein Zimmer ein Glutofen, weil die Vorhänge und die Rouleaus der Sonne wegen geschlossen geblieben waren; im Winter war es ein Eiskeller, weil zwölf Stunden lang nicht geheizt worden war. Ich hatte das Bedürfnis, endlich keine abgestandenen Suppen mehr zu essen, bei Einbruch der Dunkelheit Licht zu haben, in saubere Tücher zu schneuzen, mein Zimmer je nach Jahreszeit kühl oder warm vorzufinden. – Und auch du wirst dahin kommen, mein Guter; im Ernst, ist das ein Leben, wie ich es geführt habe, und wie du es immer noch führst? Ist das ein Leben, wenn das Herz ständig vom Schmutz der Dirnen besudelt wird; ist das ein Leben, wenn man sich nach einer Mätresse sehnt, so lange man keine hat, sich zu Tode langweilt, sobald man eine besitzt, wenn es einem die Seele zerreißt, sobald sie einen verläßt, und es einen nur noch mehr anödet, wenn eine neue ihren Platz einnimmt? O nein, das kann es nicht sein! Dummheiten hin, Dummheiten her, die Ehe ist besser. Sie macht die Begierde reizlos und dämpft die Sinne. Und das ist noch nicht alles! Sie hat auch noch andere Vorteile, mein Lieber, sie ist eine Sparkasse, in die man für die Pflege seiner alten Tage einzahlt! Sie gibt einem das Recht, seinen Groll auf dem Rücken eines anderen abzuladen, sich bei Bedarf bedauern und manchmal auch lieben zu lassen!

Ach, wenn es ein Brechmittel gäbe, mit dessen Hilfe man all die alten Zärtlichkeiten, die man in sich trägt, wieder ausspucken könnte, das wäre sicher ideal, aber da das nicht geht, ist es noch immer das vernünftigste, die Chance zu nutzen und zu versuchen, mit einer Frau glücklich zu werden, von der man annimmt, daß sie gut erzogen und anständig ist. – Aber zum Teufel, ich gebe wie du Tiraden von mir, und über diesem ganzen Gerede ist es zwanzig vor eins geworden; ich wünsche dir eine gute Nacht und gehe nach Hause.«

Cyprien schien nicht gewillt, sein Bett aufzusuchen.

»Du hast noch genug Zeit«, sagte er, »die anderen Male, die du zu den Abendgesellschaften der Désableaus gegangen bist, als deine Frau nicht die Grippe hatte und dich begleitete, bist du nie vor drei Uhr heimgekommen. Na, es stimmt doch, du hast großes Glück gehabt, mich in dem überhitzten Saal zu treffen, ich habe dir zur Flucht verholfen. Dadurch habe ich dir drei Stunden geschenkt, gib mir eine von den dreien zurück und dreh eine Runde mit mir.«

»Ach«, sagte André, »ich würde dir sogar acht oder zehn Stunden schenken, wenn ich nicht so müde wäre. Ich muß für meinen Roman das Treiben in einem Schlachthof bei Tagesanbruch besichtigen, und ich habe meine Frau darauf vorbereitet, daß sie mich morgen früh nicht vor elf Uhr zu erwarten braucht; trotzdem verzichte ich auf den Spaziergang, ich bin zerschlagen, ich friere, und außerdem wird es gleich regnen, komm, laß uns schlafen gehen.«

Aber Cyprien gab sich nicht geschlagen; er beharrte auf seinem Wunsch und führte die Bequemlichkeit seines Freundes ins Feld, die ihn kein zweites Mal zu so früher Stunde würde aufstehen lassen.

André gab ihm recht. Er wußte es selbst nur zu gut, denn genau deshalb hatte er diesen Tag gewählt, an dem er, weil er gar nicht erst ins Bett käme, bei Sonnenaufgang auf den Beinen sein würde! Aber Cyprien trug seine Argumente vergeblich vor, sein Freund blieb standhaft, setzte seinen Weg fort und kam vor seinem Haus an. Dort setzte er die Klingel in Gang und lehnte sich in der Erwartung, daß die Tür aufginge, gegen die Hauswand; er hörte in der Ferne den schrillen Ruf der Glocke, den dumpfen Schlag der Klingelschnur, das Knacken des Türflügels, der bereit war, nachzugeben. – Er hatte den Griff umsonst gezogen – da läutete er Sturm, die Klänge tanzten durch die Nacht, und der Riegel, der das Schloß öffnet, klickte. André drückte Cyprien die Hand und machte die Tür hinter sich zu.

Er strich ein Zündholz an, weil er fürchtete über die Matte, den Fußabstreifer, der über die erste Stufe herausragte, zu stolpern, und ging mit der Hast eines Menschen, der sich die Finger versengt hat und dem es nicht unlieb wäre, wenn er es sich bequem machen könnte, schnell die Treppe hinauf.

Er nahm zwei Stufen auf einmal, die eine Hand am Geländer, und die geschwungene Wand des Treppenhauses glitzerte mit ihrem gesprenkelten künstlichen Marmor im Dunkeln einmal mehr und einmal weniger, je nachdem, ob der Wind das Zündholz anfachte oder es fast zum Erlöschen brachte.

Auf jedem Treppenabsatz funkelten die Messingknöpfe der Türen, dann, als die Flamme erloschen war und das Holz sich zu Kohle verzehrte, leuchtete ein roter Punkt auf dem Firnis der Wände.

Nachdem er das Vorzimmer betreten und einen Leuchter von einem kleinen Postament genommen hatte, ging er, aus Furcht seine Frau zu wecken, mit aller Vorsicht weiter. Aber selbst wenn er auf Zehenspitzen ging, seine Stiefel knarrten.

Plötzlich blieb er erstaunt stehen, er hörte einen schwachen Stoß, als fiele ein Gegenstand auf etwas Weiches, als tappten nackte Füße über einen Teppich. Er dachte, seiner Frau gehe es schlechter, oder sie stehe auf, um ein Taschentuch zu holen oder ein anderes Bedürfnis zu befriedigen, da drang erregtes Tuscheln zu ihm, von Angst erstickte geflüsterte Sätze, Worte, fast laut gesprochen, dann in flehendem Ton gestammelt, andere kaum vernehmlich, wie zwischen zusammengepreßten Zähnen ausgestoßen.

Er befürchtete ein Unglück, eilte durch den Salon, stürzte ins Schlafzimmer, sah neben dem zerwühlten Bett einen Mann im Hemd, der sich entsetzt umdrehte, Möbel umstieß, einen Sessel zu sich heranzog, um Schutz zu suchen, was durch einen dahinter stehenden Stuhl vereitelt wurde. Die Frau unterdrückte einen Schrei, fiel starr vor Schrecken, mit weit aufgerissenen Augen nach hinten.

André unterdrückte ein »Um Gottes willen!«.

Man spürte furchtbare Verwirrung in dem Raum, ungeheure Panik. Der Mann rührte sich nicht, atmete kaum, die Frau zitterte vor Verzweiflung, ans Kopfende des Betts gelehnt, Beine und Brust unbedeckt, die rechte Hand hing herunter, die linke umklammerte das Laken.

Alle verharrten reglos, stumm. In dieser Totenstille begann Andrés Hand, mit der er die Kerze hielt, zu zittern, und der Leuchtereinsatz klirrte leise auf dem Messingunterteller.

Das leichte Geräusch schien die Frau aus ihrer Erstarrung aufzurütteln; sie stieß einen tiefen Seufzer aus, wollte sprechen, suchte nach Speichel, fand keinen, zog ihr Hemd hoch, bedeckte die Brust.

André hatte die Kerze auf einem Tisch abgestellt; er schien unentschlossen, ging auf und ab, blieb angespannt und bleich stehen, die Blicke auf seine Frau geheftet. Nur das Geräusch seiner Schritte war zu hören, die lauter oder leiser wurden, je nachdem, ob er auf dem Holzboden näherkam oder sich über den Teppich entfernte.

Ein schwacher Windhauch kam durch ein angelehntes Fenster, ließ die Kerze flackern und tropfen. Eine Azalee in einem Übertopf aus Fayence entblätterte sich, streute ihre Blüten wie Blutstropfen auf die resedafarbenen Blumenmuster eines Bettvorlegers; ein über eine Stuhllehne geworfener Unterrock fiel langsam herunter, breitete sich wie eine weiße Lache auf dem Parkett aus. Der durchdringende Geruch nackter Frauenarme erfüllte das Zimmer, vermischt mit einem zarten Jasminduft, der die diskrete Pflege der Liebestoiletten heraufbeschwor, ein Luxus, der sich in der Ehe verloren hatte und nun zurückkehrte, opalfarbenes Wasser, das die auf dem Boden der weiten Waschschüsseln aufgedruckten blauen Schilfbüschel badete.

Als André seinen Marsch unterbrach, plauderte die Wanduhr vernehmlich, verbreitete ihr monotones Ticktack, deutlich unterbrochen vom Ächzen eines Möbelstücks, von einer Vorhangkordel, die gegen die Fensterscheiben schlug.

André machte einen Schritt vorwärts, blieb vor seiner Frau stehen. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber die Worte kamen nur abgehackt hervor, weil seine Stimme zitterte.

»Ein Uhr in der Früh«, sagte er; »damit der äußere Schein gewahrt bleibt, Monsieur, wird es Zeit, daß sie sich ankleiden und gehen.«

Der Monsieur machte eine unsichere Bewegung. Die Frau ließ die Schultern sinken, ihre Hand öffnete sich, und das Laken, das sie damit festhielt, glitt sanft heraus wie ein feuchtes Stück Wäsche.

»Vorwärts, Monsieur«, fuhr André fort, »es ist genug, ich habe kein Interesse daran, Ihre Formen zu besichtigen, die Situation ist hinreichend lächerlich, machen wir ihr ein Ende.

Oh, wenn man bedenkt«, fuhr er fort... »daß man tatsächlich, selbst wenn man die Frauen studiert und eine verdammte Verachtung für sie gewonnen hat, auch nur dort endet, wo die Dummköpfe beginnen! Aber ich rede, und die Zeit verstreicht. O mein Gott, nun reicht es; Sie sind soweit, nicht wahr?«

Der junge Mann schlüpfte in seine Beinkleider, und sein schlecht verstautes Hemd beulte die Hose am Hintern aus. Die Weste knöpfte er notdürftig zu, zog Stiefel und den Rock an. Als er wieder in seiner Kleidung steckte, gewann er eine gewisse Sicherheit zurück, er sah dem Ehegatten ins Gesicht, stotterte ein paar zusammenhanglose Worte und fingerte in der Tasche seines Überziehers herum.

»Suchen Sie eine Visitenkarte?« fragte André, »man findet nie eine, wenn man eine braucht, das ist immer so. Aber das macht nichts, Ihr Familienname interessiert mich nicht; Ihren Vornamen wird meine Frau wohl kennen, und falls sie Ihre Adresse nicht weiß, können Sie sie ihr morgen schicken, damit sie Sie besuchen kann, wenn sie Lust hat. Jetzt nehmen Sie Ihren Hut, und lassen Sie uns hinausgehen.«

Der junge Mann war trotz allem mißtrauisch, befürchtete eine Falle. Er hatte Angst, der Ehemann werde ihn vorangehen lassen, und die Aussicht, sich tastend im Dunkeln zurechtfinden zu müssen, erschien ihm wenig verlockend. Aber André ging mit der Kerze in der Hand vor ihm her. Sie stiegen langsam die Treppe hinunter, wechselten keine weiteren Worte. Als sie unten beim gläsernen Abschlußknauf des Geländers anlangten, drehte André sich um, hob die Kerze hoch und sagte nur: »Seien Sie vorsichtig, Monsieur, hier ist eine Stufe«; und er fügte hinzu: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, damit Sie nicht stürzen, das würde Lärm machen.«

Er klopfte an die Scheibe der Concierge, die Tür öffnete sich, und er schloß sie hinter dem Rücken des jungen Mannes, der einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstieß und murmelte:

»Verdammt, hab ich ein Glück, daß ich so davongekommen bin!«

II

Ja, Cyprien hatte recht. Es war Irrsinn, eine Ehe einzugehen, wo man auch so, selbst wenn man nicht reich war, bei einer gewissen Einschränkung zu Hause essen und sich einigermaßen bedienen lassen konnte! Er hätte diese Scherereien den Armen überlassen sollen! André hatte sich das früher oft gesagt, wenn er an Winterabenden in den Holzscheiten herumstocherte und halb erfroren zögerte, aus seinem Sessel aufzustehen, um sich in einem kalten Bett auszustrecken; gesträubt und gewehrt hatte er sich gegen den Gedanken, sein Junggesellenleben für immer aufzugeben, der ihm jedesmal kam, wenn er den Abend allein verbracht hatte, geplagt von fleischlichen Gelüsten, vom Bedürfnis nach Schmeicheleien und Zärtlichkeiten.

Er mochte keine Kinder, hielt es nicht für sinnvoll, welche zu zeugen, denn nach dem Grundsatz, daß die Leute, die nicht reich sind, die meisten Kinder haben, fürchtete er sich davor, seine Frau alle zehn Monate zu schwängern; und trotzdem hatten ihn, wie er Cyprien gestand, die elenden Ungelegenheiten schlechter Haushaltsführung und die ewig betrunkenen Conciergen, die nie die Betten lüfteten, einer Familie auf den Leim gehen lassen, die einen Schwiegersohn suchte.

Er hatte seine Frau lust- und freudlos geheiratet. Als er sie kennenlernte, war sie wie die meisten jungen Mädchen nichtssagend; sie spielte Klavier, kopierte Bilder von Boucher und Greuze auf Tellerböden, besaß daheim einen affektierten Charme und draußen ein geziert vornehmes Wesen; kurzum, man konnte sie außer Haus vorzeigen, ohne sich zu blamieren und sie im Haus haben, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Gleichviel, er war blind gewesen! Sie hatte schwarze Augen, die im Innern glühten, die gleichen Augen wie eine Mätresse, die ihn früher ausgiebig betrogen hatte. Er hätte mißtrauisch sein müssen, hätte wissen müssen, daß man, wenn man entschlossen ist, seinen Namen mit dem einer anderen Person vor den Schranken des Standesamts zu verbinden, in der Lage sein sollte, das vollkommene Maß an Dummheit oder die tiefe sinnliche Trägheit derjenigen, die man heiratet, abzuschätzen! Und jetzt stand er mit geballten Fäusten da und litt, während er an seine Frau dachte, und wunderte sich, in gewissen Gesichtszügen, in gewissen Worten nicht die Stürme entdeckt zu haben, die unter ihrer kühlen Ruhe tobten.

Er schwankte nun, welchen Entschluß er fassen sollte. »Ich habe einen Skandal im Haus vermieden, das war die Hauptsache«, sagte er sich. »Wenn ich zu meiner Frau zurückgehe, wird ein Platzregen von Gejammer und Tränen über mich hereinbrechen, und in diesem Fall wäre ich vielleicht naiv genug, ihr zu verzeihen! Oder aber ich muß mir unglaubhafte Entschuldigungen oder Unverschämtheiten anhören, dann könnte ich nichts anderes tun, als sie zu erwürgen. Beide Rollen sind gleich albern. Andererseits, nichts zu sagen und zu bleiben, das bedeutete die Hölle, das bedeutete einen Zündstoff, der zu gegebener Zeit hochgehen würde, das bedeutete unvermeidlich eines Tages bei Tisch vor einer Dienstmagd die Offenbarung unseres Hasses, das bedeutete, daß am nächsten Tag das ganze Viertel zusammenlaufen würde, um sich über mein Unglück zu unterhalten, das bedeutete die Kolportage der Ereignisse dieser Nacht in entstellter, aufgebauschter Form vom Metzger bis zur Gemüsefrau.« Und mitten in diesem Schwanken kam er auf den Entschluß zurück, der ihm als erster in den Sinn gekommen war, als er, befreit von diesem Monsieur, wieder die Treppe hinaufging: Seine frühere Existenz wieder aufnehmen, zwei Jahre aus seinem Leben streichen und sich bemühen, die ärgerliche Erinnerung an seine Frau in der Arbeit zu vergessen.

Er bestärkte sich immer mehr in dieser Entscheidung. Mit einer entschlossenen Bewegung schaffte er Ordnung in seinen Papieren, zerriß die einen, verbrannte die anderen, verharrte eine Sekunde lang melancholisch und beobachtete interessiert die Funken, die im Kamin verschwanden, den Wind, der die Asche zittern ließ und den schwarzen und roten Wust verkohlter Papierbündel hochwirbelte. Dann seufzte er, schnürte Bücher zusammen, wühlte in einer Kommode, legte einen Stoß Wäsche auf einen Sessel. Er mußte seinen Koffer holen, der sich in einer engen Abstellkammer neben der Küche befand. Leise öffnete er die Tür, lauschte, hörte kein Geräusch und hatte fast Angst, seiner Frau zu begegnen.

Als er die Küche betrat, blieb er verblüfft vor den Resten des Abendbrots stehen; die beiden Teller mit den Gabeln und den kreuzweise darübergelegten Messern rührten ihn; angesichts des gebrauchten Geschirrs und der beiden Gläser, aus denen sie getrunken hatten, sah er das Tête-à-tête des letzten Diners vor sich, die anbetungswürdige Bewegung seiner Frau, mit der sie den Ärmel hochschob, um die Sauce zu servieren, die ganze Intimität einer angenehmen Häuslichkeit, deren Ende er nie erwartet hätte.

Er holte seinen Koffer vom Haken und ging weich gestimmt und verwirrt zurück, fast hoffte er, einen Schluchzer oder einen Schrei zu hören, der es ihm erlaubt hätte, sich um seine Frau zu kümmern, zu ihr zu eilen. Eine unendliche Stille erfüllte das Haus. André trat wieder in sein Zimmer. In dem Raum herrschte hoffnungslose Unordnung. Die halbgeöffneten Schubladen quollen über von Wäsche und Kleidungsstücken; Hemden lagen durcheinander da, streckten ihre Ärmel aus, spreizten ihre Kragen, hingen wie über ein Scharnier gefaltet kopfüber herunter, trostlos und grotesk mit ihren hohlen Ärmeln, ihrem leeren Bauch, ihrer geöffneten und bis zum Rücken eingefallenen Brust; Krawatten zeichneten schmale schwarze Streifen auf das gelbe Flanell der Westen, Handschuhe streckten steif ihre staub- und malvenfarbenen Finger auf dem ungebleichten Linnen der Unterhosen, auf dem Sahneweiß der Seidenschals aus.

Die Kerze war bis auf die Glasmanschette heruntergebrannt. Die schlecht zugestoßenen Schreibtischschubladen schnitten Papiere entzwei, und die Gummibänder, die die Bündel zusammengehalten hatten, waren auf das Parkett gefallen und hatten wieder ihre runde Form angenommen.

André öffnete die Vorhänge. Die Rouleaus waren herabgelassen. Das Licht der Morgendämmerung, das durch die Lamellen hereindrang, legte in regelmäßigen Abständen blaßblaue Streifen auf den Fußboden, setzte die Wände im Spiegel zurück, weckte an manchen Stellen die Vergoldung der Rahmen, gab dem Weiß der Musselinvorhänge an den Fenstern, dem bläulichen Weiß der Wäsche einen grelleren Ton. André betrachtete die geschlossenen Fenster der Häuser gegenüber, die unbeweglichen Vorhänge dahinter. Die Totenstille des Hofs war ihm unheimlich; er ging ins Zimmer zurück, fühlte sich nicht wohl vor dieser Lichtlache, die sich traurig wie ein aufgehender Mond, bläulich und bleich wie dieser, immer mehr ausbreitete. Er sah sich im Spiegel, sah seine eingefallenen Wangen und seine schwarzgeränderten Augen. Eilig packte er den Koffer, nahm ihn in die Hand, schloß mit der anderen sein Arbeitszimmer und, in der Diele angekommen, drehte er den Türknopf. Da spürte er, wie er schwach wurde. Das Bedauern, das ihn in der Küche erfaßt hatte, packte ihn wieder, trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Das Herz blutete ihm bei dem Gedanken, diese Behaglichkeit so plötzlich verlassen zu müssen. Diese Tür zum Treppenhaus öffnete ihm einen Horizont grenzenlosen Elends; auf dem Treppenabsatz sah er den Verlust einer Zukunft in Heiterkeit und Frieden vor sich, das Leben, das er mit achtzehn geführt hatte und das er jetzt, jenseits der dreißig, wieder aufnehmen mußte, ohne das Vertrauen und die Hoffnung von damals, dafür mit dem verwöhnten Magen und dem Bedürfnis nach Bequemlichkeit von heute.

Die Tür bewegte sich langsam. Er stellte den Koffer neben sich ab, stand regungslos da, war überwältigt von einer ständig wachsenden Verzagtheit. Ach, wenn seine Frau mit wehendem Haar im Nachtgewand herbeigestürzt wäre, sich ihm an den Hals geworfen, mit ihren Händen seinen Mund geschlossen, nur so getan hätte, als unterdrückte sie ihre Tränen, er hätte seinem Koffer einen Fußtritt gegeben!

Plötzlich hatte er einen lichten Moment. Er stellte sich die Überlegungen vor, die ihm nach dieser lächerlichen Szene gekommen wären. Er malte sich die ganze Schmach des betrogenen Ehemanns aus, den Argwohn, der ihn von nun an bei dem geringsten Wort befallen hätte; er hatte eine Vision der über den Tisch ausgetauschten Bitterkeiten, der stillschweigend in den Betten getroffenen Übereinkünfte, der Mißlichkeiten bestimmter intimer Begegnungen, der in aller Harmlosigkeit geäußerten Ungeschicklichkeiten, der Rachegefühle, die daraus für den einen wie für den anderen entstanden wären.

»Was soll’s! Ich werde am Ende noch verrückt«, sagte er. »Ich habe die Wahl, entweder zu meiner Frau zu gehen und sie zu ohrfeigen oder zu verschwinden«. Er ergriff entschlossen seinen Koffer, stieg hinunter, ging durch das halboffene Hoftor und machte sich auf den Weg zu Cyprien.

Die frische Luft, der Marsch taten ihm gut. Er nahm seinen Hut ab, um sich abzukühlen, und ein leichter Wind trank die Schweißtropfen, die an seinen Schläfen perlten. Er hatte jetzt nur noch eine schwache Vorstellung, nur ein verschwommenes Bild von den Ereignissen der Nacht. Er stellte seinen Koffer auf dem Bürgersteig ab, nahm ihn gleich wieder auf und hatte es nur deshalb eilig weiterzukommen, weil er so schwer war. Er mußte erneut anhalten, ihn in die andere Hand nehmen, sich noch einmal ausruhen.

Die Straßen waren verlassen. Der Himmel schien von Tintenflecken betupft, die mit Asche bestreut worden waren, um sie zu trocknen. In der Ferne stützte sich eine Straßenkehrerin auf einen Schaufelstiel, den Kopf in ein dickes Tuch vergraben, die Holzschuhe mit Stroh ausgestopft; an ihrer Seite kratzte ein Müllmann mit einer Pfeife im Mund und einem Tropfen an der Nase einen Haufen Abfall zusammen; ein Arbeiter kam vorbei, den Mantel über seinen Kittel geworfen, die linke Schulter höher als die rechte, infolge der Angewohnheit, die die meisten Leute aus dem Volk haben, das Werkzeug und das Vesperpaket immer unter demselben Arm zu tragen; ein Milchwagen rollte im Eiltempo vorbei und schlug Funken auf dem Pflaster. André benutzte seinen Koffer als Sitzgelegenheit und schaute sich um, ob nicht zufällig eine Droschke vorbeikäme, überlegte dann, daß es in Paris fast unmöglich ist, morgens um halb sechs Uhr einen Wagen zu finden, wenn man nicht gerade in der Nähe eines Bahnhofs wohnt, stand schließlich wieder auf und legte, sich gegen die Müdigkeit stemmend, die letzte Wegstrecke auf einmal zurück, stieg bei Cyprien die Treppe hoch, klopfte, klopfte noch einmal, bis das Schlurfen von Pantoffeln zu hören war.

Cyprien öffnete die Tür einen Spalt, war verblüfft, stotterte ein paar Worte, verkroch sich rasch wieder unter seiner Bettdecke und stammelte, sich die Augen reibend: »Was tust du denn hier?«

André ließ sich in einen Sessel fallen.

»Kannst du mir für ein paar Tage Unterschlupf geben, bis ich ein Zimmer gefunden habe?« fragte er.

Der andere machte eine bejahende Geste, fuhr sich völlig bestürzt durch die Haare und rief: »Aber guter Gott, was ist denn los?«

Da erhob sich André.

»Das ist los: Ich habe heute Nacht einen Mann bei meiner Frau überrascht, verstehst du?«

Cyprien fuhr hoch, ließ die Arme sinken und wandte sich aufrecht im Bett sitzend André zu.

»Nicht möglich!« sagte er.

Aber sein Freund blickte ihn an und nickte mit dem Kopf. Sie starrten sich wortlos an.

»Hast du den Herrn getötet?« fragte Cyprien schließlich.

»Nein.«

»Das war klug von dir, – deine Frau hoffentlich auch nicht?«

»Sie auch nicht.«

»Um so besser. War der Herr, den du überrascht hast, ein Freund?«

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Dann ist es nicht ganz so fatal«, murmelte Cyprien.

Sie schwiegen.

André, der wie viele nervöse Menschen bei der geringsten Unannehmlichkeit schreckliche Leibschmerzen bekam, verließ das Zimmer.

»Sie ist wirklich gut!« sagte sich Cyprien und lächelte ein wenig bei dem Gedanken, daß dieses Abenteuer in keiner Weise seinen Ansichten widersprach, dann empörte er sich aber doch, fand es dumm, daß sich ein Mann von einer Frau so hatte hereinlegen lassen, die er, Cyprien, für eine hochnäsige, alberne Person hielt.

Als sein Freund mit verzerrtem Gesicht, die Hand gegen den Magen gepreßt, zurückkam, sprang er aus dem Bett, bot ihm ein Glas Rum an und hörte ihm zu, wie er Punkt für Punkt die Szene schilderte.

»Mein armer Alter«, rief er aus, »es bleibt sich doch alles gleich! Nach den Mätressen, die uns foppten, sind es jetzt die Ehefrauen! Oh, ich weiß, das ist ärgerlicher – aber was soll’s – es beweist nur, daß anständige und unanständige Lieben ein und dasselbe sind, beide bekommen Risse, beide gehen kaputt! Man muß sich damit abfinden, mein Lieber, im Leben gehört einem nichts für immer. Man quartiert am besten seine Liebe in möblierten Zimmern ein, niemals in dem Zimmer, das einem gehört! Ja doch, ich gebe es zu, es ist hart; man hätte so gern sein kleines Stück Glück und wäre so gern der alleinige Besitzer! Ach, mein Freund, das sind Träume von Bauern, die man nie verwirklicht! – Aber laß uns überlegen, wie wollen wir uns einrichten? Das einfachste wäre, ein Bett zu leihen, wir könnten es hier neben das Fenster stellen, du könntest den Paravent auffalten, dann hättest du eine eigene Ecke, nun, was meinst du?«

»Als erstes«, sagte André langsam, »muß ich mir eine kleine Wohnung suchen. Ich werde die Möbel, die mir gehören und meinen Junggesellenkram mitnehmen; als nächstes muß ich meine frühere Haushälterin, Mélanie, wiederfinden; leider weiß ich ihre Adresse nicht, aber da sie ihre Zeit bei einer Wäscherin in der Rue des Quatre-Vents verbrachte, werde ich leicht herausbekommen, wo sie wohnt. Ich bitte dich nur um einen Gefallen, ich möchte meine Wohnung nicht mehr betreten, ich werde eine Liste der Dinge, die ich behalten will, zusammenstellen, noch heute werde ich einen Wagen besorgen, und du wirst persönlich zu mir gehen und das Einpacken meiner Nippsachen und Möbel überwachen.«

Und sich fieberhaft die Hände reibend fuhr er fort:

»Ach, wenn nur schon alles vorbei wäre! Ich habe immerhin Glück, es ist Quartalsende, und ich werde leicht ein Zimmer finden. Es ist beschlossen! Ich nehme mein Junggesellenleben wieder auf; basta! Im Grunde hast du recht, es war mein eigener Fehler, daß ich unglücklich war; ich hatte mir einen Haufen Gründe erdacht, Einsamkeit, Mangel an keuschen Küssen, Stille am Abend im Bett, ein Erwachen ohne Kindereien, was für ein Blumenbinderideal! Nun, das Ende ist in jedem Fall ärgerlich, wenn man es recht bedenkt!«

Er schwieg, dann dachte er, es sei angebracht, Interesse für die Arbeiten seines Gastgebers zu zeigen; er betrachtete ein Bild, das auf einer Staffelei stand:

»Das ist wirklich gut!« rief er aus, dann hörte er den Erklärungen seines Freundes zu, ohne sie wirklich wahrzunehmen, und besessen von seinem Unglück fuhr er fort:

»Es ist erstaunlich, du hättest sie vor vierzehn Tagen sehen sollen, wie sie das Hausmädchen vor die Tür setzte, weil es nachts außer Haus geschlafen hatte. Sie ist streng, meine Frau! Ich gab ihr zu bedenken, daß dieses Mädchen gut kocht, vor keiner Arbeit zurückschreckt, daß es unvernünftig sei, sie wegen irgendwelcher Eskapaden wegzuschicken, die uns im übrigen nicht störten. Meine Frau hat mich von oben bis unten gemustert! In ihren Augen war ich offensichtlich ein sittenloser Mensch, ich schwieg, und das Hausmädchen wurde entlassen; das war von Vorteil, fügte er leiser hinzu, denn wir konnten kein anderes mehr einstellen, so daß sie wenigstens für diese Nacht...«

Cyprien schnitt ihm das Wort ab. Sein alter Groll gegen die Frauen erwachte wieder. »Oh, mit ihnen ist nicht gut auszukommen«, rief er. »Mehr würde man ja nicht von ihnen verlangen! – Aber um gut miteinander auszukommen, muß man viel erlebt haben, wie du und ich zum Beispiel. Wir schätzen uns schon glücklich, wenn unsere Begierden sich darauf beschränken, nicht befriedigt zu werden! Wir sind Menschen, die mit wenigem zufrieden sind. Wenn uns kein Dachziegel auf den Schädel fällt, sind wir hocherfreut, und es ist eigentlich ein Wunder, wenn unser Dickkopf bei einem so bescheidenen Ideal keine entsetzlichen Schläge abbekommt!«

André pflichtete ihm mit einer traurigen Geste bei.

»Wenn ich meinen Koffer auspacke«, sagte er schließlich, »könnten wir hinterher frühstücken, und danach könnte ich mit meinen Besorgungen beginnen.«

Cyprien nickte zustimmend und ging los, um ein paar Lebensmittel einzukaufen.

André begann, seine Wäsche auszupacken. Er spürte die niederdrückende Leere, die innere Anspannung eines Menschen, der, nachdem er fast totgeschlagen wurde, wieder zu Bewußtsein kommt. Er legte seine Hemden auf einem Tisch zusammen, ordnete seine Bücher und glättete ihre Umschläge mit der Hand, entfernte die Eselsohren, strich die von der Reise zerknitterten Seiten aus.

»Dieses Buch hier hat meine Frau ganz schön gelangweilt«, dachte er; »dieses andere hier hätte ich ihr nicht einmal geliehen, was für ein Meisterwerk!«, und er versprach sich, es zu lesen, warf sich vor, daß er seine Kunst so lange vernachlässigt hatte. An den Abenden, an denen er hatte arbeiten wollen, hatte sie immer einen Schmollmund aufgesetzt! Und er zitterte, wenn er an diesen Schmollmund dachte, in dessen Winkeln sich so hübsche Fältchen bildeten. Er warf den Rest seiner Bücher auf einen Haufen, wollte ihre Titel nicht mehr sehen, versuchte den Erinnerungen zu entfliehen, die ihm eine nach der anderen bei jedem Band kamen. Seine Frau hatte sie alle berührt, die einen ausgebessert, die anderen gekauft, manche durchgeblättert, andere überflogen, an den Tagen, als sie schmeichelnd sagte: »Gib mir etwas zum Lesen«, nahm sie ein Buch, öffnete es und gab es ihm mit den Worten zurück: »Puh, das ist nicht amüsant.«

Er versuchte, sich mit seinem kleinen Haushalt abzulenken, bemühte sich, die Gegenwart zu begraben, sich tausend Einzelheiten seines Junggesellenlebens ins Gedächtnis zu rufen, die ihm jetzt vielleicht nützlich sein könnten. Er dachte über eine Neuorganisation seiner Häuslichkeit nach, überlegte, wie er im voraus die Schwierigkeiten vermeiden könnte, die sich in einem Hauswesen ohne Ehefrau breit machen; er grub in den Trümmern seiner Erinnerungen, und während diese Beschwörung seine Gedanken fast unmerklich in eine neue Richtung lenkte, stand ihm plötzlich seine reale Situation als verheirateter Mann unübersehbar vor Augen und blieb dort haften. Er spürte, wie ihn erneut eine entsetzliche Wut und eine heftige Erbitterung erfaßten, und er war vielleicht noch aufgebrachter über diese zwanghaften Gefühle, die er nicht vertreiben konnte, als über deren Ursache.

Wie bei diesen Kinderspielzeugen, wo ein Wachtposten, nachdem er Runden auf einer Platte gedreht hat, zwangsläufig wieder zum Ausgangsort zurückkehrt, landeten seine Gedanken nach tausend Kreisbahnen wieder genau an ihrem Ausgangspunkt, bei der Art und Weise, wie ihn seine Frau betrogen hatte. Sein verletzter Stolz blutete, sein Zorn wuchs, er wunderte sich eine Minute lang darüber, den Liebhaber seiner Frau nicht erwürgt zu haben.

Cyprien kehrte mit Tüten bepackt zurück; sie deckten den Tisch. Der Maler fiel über den wohlgefüllten Teller her, verschlang Mengen an Schweinskopf und ganze Berge von Brot und becherte kräftig. André stocherte im Essen herum, aß ohne Appetit und schüttete reichlich mit Wasser verdünnten Rotwein in sich hinein, um das Fleisch hinunterzuspülen, aber die Stücke blieben ihm trotzdem im Hals stecken; angewidert stieß er den Teller von sich.

»Ich kann nichts essen«, sagte er.

Der Kaffee im Glas, den ein Kaffeewirt heraufbrachte, stärkte ihn ein wenig.

Cyprien hatte für vier gegessen und getrunken; er lehnte sich etwas in seinem Stuhl zurück und genoß das Wohlgefühl gestillten Hungers. Für den Augenblick sah er alles in rosigem Licht, und während er seine Serviette faltete, wiederholte er mehrfach beim Anblick seines Kameraden: »Schau an, dieser arme Teufel!«, und er bedauerte, daß er sich nicht zum Abendessen mit ihm treffen könnte: Ausnahmsweise fand heute, die reinste Fron, eines dieser Familiendiners statt, eines dieser Diners, bei denen man sich einmal im Jahr trifft, um abgeschmackte Schlüpfrigkeiten von sich zu geben und mit den Gläsern anzustoßen.

André schwieg; einerseits zog er es vor, allein zu sein. Cyprien fiel ihm lästig. Der begann, die grausame Lage seines Freundes zu vergessen und verstand nicht, daß André, von einer fixen Idee besessen, nicht ertragen konnte, daß er, Cyprien, nicht ebenso niedergeschlagen war wie er. Mit dem Egoismus von Menschen, die leiden, dachte André tatsächlich, der Maler interessiere sich zu wenig für den Kummer der anderen. Die Ermutigungen, die Cyprien ihm wie ein Stück Zucker hingeworfen hatte, um ihn aufzurichten: »Nur Mut, mein Alter, das ist nicht weiter schlimm, jetzt, wo du frei bist, wirst du besser arbeiten können, was nützt es, unglücklich zu sein, wenn du doch nichts ändern kannst?« entrüsteten ihn. Er hätte es lieber, Cyprien ginge auf Zehenspitzen wie in einem Krankenzimmer, wo man den Kranken mit einem einfachen Blick und einem Händedruck stärkt. Unglücklicherweise war Cyprien außerstande, seinen Kummer zu lindern. Wie die meisten Junggesellen war er der Ansicht, daß die ehelichen Nöte der anderen kein besonderes Mitleid verdienten. Es fiel ihm leichter, einem von seiner Mätresse verlassenen Liebhaber zuzugestehen, daß er verzweifelte und bedauert wurde, als einem Ehemann, den seine Frau betrogen hatte. Dieser mußte darauf gefaßt sein, warum hatte er auch geheiratet! Außerdem haßte er die Bourgeoisie, deren Verdorbenheit im Festtagsgewand ihm eine Gänsehaut bereitete; seine Duldsamkeit beschränkte sich auf Dirnen, die er bei all ihrem Laster für aufrichtiger und bei aller Dummheit für weniger anmaßend hielt.

André war also nicht böse, daß er alleingelassen wurde, andererseits machte ihm die Einsamkeit Angst; er wußte schon im voraus, daß ihn die quälenden Gedanken an sein Unglück heimsuchen würden, zudem fühlte er sich elend, nervös, leidend.

Schließlich entschlossen sie sich, aufzubrechen. André nahm seinen Hut; getrieben von der abergläubischen Idee, er könne die schmerzlichen Erinnerungen nur völlig ersticken und sein Leben von früher nur richtig wieder aufnehmen, wenn er in seine alte Wohngegend zurückkehrte, ging er langsam durch die Straßen, die von der Rue Royale zur Rue Cambacérès führen.

Nun begann für ihn eine lange Wanderschaft auf der Suche nach leerstehenden Wohnungen. Mit nach oben gewandtem Blick entzifferte er die Aushängeschilder. Stundenlang drehte er Türknöpfe an Portierslogen, wo ihm der beißende Dunst von Rindfleischschnitten, der Gestank von Lederreparaturen, der brenzlige Geruch von Bügeleisen, die Laken glätten, ins Gesicht schlugen.

In manchen Häusern war die Loge geschlossen; er klopfte an die Scheibe, ging auf der Suche nach dem Concierge in den Hof, fand ihn nicht, wandte sich an eine alte Frau, die, während sie in den Hausflur zurückging, aus dem sie gekommen war, vom Treppenfuß aus hinaufrief: »Monsieur Baptiste, man will Sie sprechen!« Von oben kam eine Stimme: »Ich bin hier!« Und aus der Ferne näherte sich das Geräusch eines Kehrbesens, das gleichzeitig mit dem schweren Gepolter von Stiefeln herabkam.

Er entdeckte nicht eine annehmbare Unterkunft zu einem erschwinglichen Preis. Er fand nur prunkvolle, sehr teure Wohnungen und hochnäsige Portiers oder ungesunde Kellerlöcher, mit billigem Papier tapeziert, mit roten Kacheln gepflastert, mit Kaminen aus bemaltem Gips geschmückt. Er hörte sich die Lobpreisungen des Anbieters an, der seinen Kunden zu überzeugen versuchte, indem er versicherte, ganze Familien hätten in guter Gesundheit in diesen Löchern gehaust und sie nur gezwungenermaßen verlassen, was sie noch heute bedauerten.

André war zerschlagen, wie gerädert. Er verweilte in den Räumen, in denen Stühle zurückgeblieben waren, setzte sich, die Hände auf den Knien, den Blick ins Leere gerichtet und hörte dem Concierge zu, der stehend mit den Schlüsseln in der Tasche seiner blauen Schürze spielte, während er seine kleine Reklamerede vom Stapel ließ und auf das Handgeld spekulierte.

»Oh, es ist ein ruhiges Haus, müssen Sie wissen, jeder fühlt sich hier wohl, kein Ärger, kein Klatsch«, und er erwähnte die Leute, die darunter wohnten, versuchte bei dieser Gelegenheit, deren schmutzige Wäsche zu waschen, sprach von den anderen, zählte deren wichtige Berufe auf, schien sich zu schämen, daß er keine wohlklingenden Titel nennen konnte, ging rasch über die Namen einiger Mieter hinweg, ohne ihnen weitere Erläuterungen folgen zu lassen, öffnete dann das Fenster der Wohnung ganz weit, lud André ein näherzutreten und pries die Aussicht auf den Hof an, der in einen Weinausschank umgewandelt worden war.

Und André erhob sich, beugte sich über die Brüstung, sah mit an, wie eine Geranie am Grund einer Senkgrube ihr Leben aushauchte. Er betrachtete die vier mit Kalkmilch geweißten Wände, den Ausschnitt des trübseligen Himmels, den abstoßenden Boden des Lochs. Der Portier sagte: »Hübsch, nicht wahr?« zeigte auf die im Efeu hängenden bunten Kugeln, auf die mit Buchsbaum eingefaßten Rabatten, die mit schwarzen Stöcken bepflanzt waren, die Rosen darstellten, deren Saft eingetrocknet war.

Und André kehrte ins Zimmer zurück, mußte einen neuen Wortschwall über sich ergehen lassen, ergriff schließlich die Flucht mit der Versicherung, wiederzukommen und Bescheid zu geben. Er war schon viele Meilen gegangen, hatte fünfte Etagen erklommen, Erdgeschosse gemustert, Tausende Wandschränke untersucht, sämtliche Kaminklappen angehoben, die Unbequemlichkeiten zahlloser Zimmer und Küchen festgestellt, als er in der Rue de Cambacérès in einem Haus, das einen guten Eindruck machte, eine kleine Wohnung besichtigte, die aus zwei winzigen Räumen, einem mittelgroßen Eßzimmer, einem Toilettenraum von der Größe eines Handtuchs, einer Küche und einer passablen Örtlichkeit bestand. Sie hatte auch einen Balkon, und das ganze kostete eintausend Francs. Das war für dieses Viertel nicht teuer, überdies war die Wohnung frei und konnte sofort bezogen werden. André griff zu.

Jetzt, wo er eine Bleibe gefunden hatte, überkam ihn eine gewisse Ruhe. Er begab sich in eine Niederlassung des Hauses Bailly, die sich in derselben Straße befand, und bestellte für den übernächsten Tag einen Möbelwagen.

Er hatte Hunger. Die Müdigkeit und der lange Marsch hatten seinem Ärger die Spitze abgebrochen. Er war fast fröhlich, als ihm eine kleine Schankwirtschaft auffiel, hinter deren Schaufenster eine in Alkohol eingelegte Melone aufquoll.

Reihen von Flaschen, mit Bleikapseln auf den Köpfen und funkelnden Sternen mitten auf den Bäuchen, umstanden im Halbkreis zwei Lagen zerfließender kleiner Weißschimmelkäse, in Vinaigrette und Petersilie eingelegtes kaltes Rindfleisch, gestocktes Rübchenragout, Krausgebackenes mit verbrannten dunklen Stellen, das über dem gelben Bodensatz Blasen warf.

In einer Blechform sank ein angeschnittener Milchreispudding in sich zusammen; weinfarbene Eier füllten eine mit Blumen bemalte Salatschüssel; ein auf einer Platte liegendes aufgeschlitztes Kaninchen streckte seine vier Läufe in die Luft und breitete das schleimige Violett seiner Leber auf dem mit zartem Karmesinrot überzogenen Rumpf aus. Eine Wand ineinandergestellter Schalen, ein Berg blaugeränderter Untertassen türmte sich, davor, auf den Fliesen der Auslage, stand eine mit Wasser gefüllte Flasche, die früher einmal in Branntwein eingelegte Zwetschgen enthalten hatte und in der jetzt verwelkte Gladiolen ihre Stengel herabhängen ließen.

André setzte sich an einen leeren Tisch. Während er darauf wartete, daß man ihm die Suppe brachte, schaute er sich in dem Saal um. Es war ein ziemlich großer Raum, ausgestattet mit Gaslampen und grünen Lampenschirmen, einem gußeisernen Ofen, einem mahagonifarben angestrichenen Schanktisch mit schwarzen Streifen, auf dem eine blaue Glasvase voller Blumen, Maßgefäße aus Zinn, die wie eine Panflöte aufgereiht waren, eine Nickelbüchse, eine gähnende Katze und Schreibzeug standen. Hinter diesem Möbel war ein Regal, auf dem sich angebrochene Flaschen, eine Teekanne aus Porzellan, weiße Tassen mit drei Füßen, einem scharlachroten Henkel und schmutzig verblaßten, einst vergoldeten Initialen befanden. Ein in der Mitte des Regals eingebauter Spiegel warf den oberen Teil des in der blauen Vase verdorrenden Blumenstraußes, das im Zickzack geführte Ofenrohr, drei unbenutzte, an der Wand angebrachte Kleiderhaken, das ausgefranste Futter eines Überrocks und einen fettig glänzenden Hut zurück. Auf einem kleinen Tisch in der Ecke zerfloß ein angeschnittener Burgunderkäse, umschwirrt von einer Unzahl von Fliegen; neben den Fächern, in denen sich die mit Ringen versehenen Servietten stapelten, ein Brotschrank mit dünnen, weichgewordenen Baguettes, die fast einen an der Decke befestigten Käfig berührten. Dieser Käfig war infolge eines Todesfalls leer und nur von einem an einem Faden herabhängenden Tintenfisch bewohnt.

Das Lokal hatte etwas von einer Wirtschaft auf dem Land und einer Armenküche in Paris. Der Wirt, in Hemdsärmeln, mit einer Kugel von Bauch und einer Himmelfahrtsnase, hatte keine Eile, schlurfte mit einer Serviette über dem Arm in seinen mit Dominosteinen und Spielkarten bestickten Pantoffeln durch einen schmierigen Bodenbelag von Auswurf und Sand.

Durch die ständig auf- und zuklappende Küchentür waren der Lärm von Geschirr und Töpfen und der Gesang von Braten und brauner Butter zu hören. Das wütende Zischen von Schmorfleisch und von Saft ausschwitzenden Beefsteaks, plötzlich aufsteigende rote Dämpfe, übelriechender blauer Qualm drangen für Augenblicke heraus. Die ganze Zeit über hörte man dumpfe Wortgefechte und die kurzen Anweisungen der Küchenchefs, die ihr Personal anherrschten.

Eine magere, bleiche Kellnerin mit einem leidenden und blöden Gesichtsausdruck bewegte sich, ausgezehrt vom fortwährenden Weißfluß, unsicher auf ihren Beinen. Eine andere schleppte wie eine Schlafwandlerin Tellerstapel von der Küche zur Anrichte und von der Anrichte zurück in die Küche, schien sich der Wichtigkeit der ihr anvertrauten Aufgabe nicht bewußt zu sein.

André wurde allmählich ungeduldig; er wartete immer noch auf seine Suppe. Er hatte genug davon, die Menschen um sich herum zu beobachten; sie kannten sich alle; er war in eine Art Familienpension geraten, an einen Futtertrog, an dem sich eine merkwürdige Gesellschaft vollstopfte. Es gab zurückhaltende Gruppen, die sich halblaut unterhielten, ihr Lachen hinter ihren Servietten erstickten; und es gab Schwadroneure, die lauthals plumpe Witze herausposaunten, mit ihren Späßen die Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Der Wirt kannte seine Gäste, amüsierte sich mit ihnen und rief: »Ah, der war wirklich gut!« brüllte dann in aller Seelenruhe plötzlich: »Eine Scheibe Kalbsbraten im Saft, ein Filet in Tomatensauce, eins!«

André verschlang die Nudelsuppe, die man ihm doch noch zu servieren geruhte. Links von ihm schaufelten zwei Klatschweiber eine Schüssel Kaldaunen in sich hinein, griffen in eine Schnupftabaksdose und leerten Glas um Glas. Die Ellbogen auf dem Tisch überboten sie sich gegenseitig mit Höflichkeiten wegen eines Löffels Sauce, unterhielten sich wie gute Großmütter, lästerten über eine Nachbarin, bedauerten ihre Concierge, deren Leib nach einem Muschelgericht aufgedunsen war.

André begann sich zu erholen, aber eine geschlossene Gesellschaft, die in der Nähe des Ofens saß, übertönte mit ihrem Lärm das Getöse der anderen.

Ein Friseur schwadronierte daher, gab Wahrheiten dieses Kalibers von sich: »Hast du Geld, zieht man den Hut vor dir, hat man jedoch, wie ich, sein ganzes Vermögen in Fonds angelegt, die nichts abwerfen, heißt es gleich: ›Die Suppe hast du dir selbst eingebrockt!‹ Im übrigen ist der Wert der Papiere jedesmal am Tag, nachdem ich sie gekauft habe, gefallen; ich kann es trotzdem nicht lassen, ich brauche diese Aufregung!«

Die Kameraden hatten ihren Spaß und gossen ihm Wein nach, während er mit trüben Augen wie ein schwachsinniger Prahlhans fortfuhr: »Ich liebe die Weiber; wenn ich keine hätte, würde ich wie die Amsel hinter ihren Jungen ihnen hinterherpfeifen«; und indem er mit einem Kalauer auf seinen Beruf anspielte, fügte er hinzu: »Ich wäre allerdings keine lebhafte Amsel, ich wäre eine langsame Amsel.«1

Lachsalven brachen los, die geballte Ladung Dummheit wurde mit unverständlicher Heiterkeit aufgenommen.

André wollte möglichst schnell seinen Hut nehmen und dem entfliehen, aber die Bedienung ließ sich Zeit. Mit Mühe hatte er ein zähes Rostbeef zur Hälfte verzehrt, den Rest ließ er stehen, und jetzt wartete er auf sein Omelett mit Sauerampfer, das nicht kam.

Er fragte den Wirt, der stumpfsinnig mit den anderen lachte, ob er eine Zeitung habe. Den Siècle las gerade jemand. Man brachte ihm die Petites Affiches. Er versuchte, sich in die Lektüre zu vertiefen, sich von der Fröhlichkeit, die an den anderen Tischen herrschte, abzusondern, seine Ohren vor dem lauten Getratsche dieser Dummköpfe zu verschließen; er hörte sie trotzdem. Er zwang sich, drei Seiten des Blatts zu lesen, blieb an einer Annonce hängen, in der als einmalige Gelegenheit infolge eines familiären Todesfalls eine Mitgift von achtzehntausend Francs und eine Waise angeboten wurden; das gab ihm zu denken. Das Wort eilt, das in Klammern am Ende der Anzeige stand, eröffnete ihm Perspektiven unendlicher Schändlichkeit. Er sah die rasche Fälligkeit einer Schwangerschaft vor sich, den bereits einen Monat nach der Hochzeit angeschwollenen Bauch. Er sann über die Enttäuschungen nach, die mit dieser Waise auf den einfältigen jungen Mann, der sich fangen lassen würde, zukämen. Dieser hatte alle Aussicht, eine Jungfrau zu heiraten, die schon in zartem Alter in Schande gefallen war! Und er dachte: »Selbst wenn man die Familie kennt und eine monatelange Verlobungszeit verbringt, ist es schwer genug, nicht geprellt zu werden.« Wer hätte je geglaubt, daß ihn seine eigene Frau betrügen könnte? Einmal mehr war er zum Ausgangspunkt seiner Gedanken zurückgekehrt, zu dem Unglück seines Hausstands. Er wollte diese Erinnerungen um jeden Preis abschütteln. Er zwang sich jetzt, seine Nachbarn zu beobachten, ihnen zuzuhören.

Eine scharfe Fistelstimme bohrte sich in sein Ohr. Der Friseur war gegangen, ohne daß er es bemerkt hatte. Ein Herr mit einem roten Bart über dem sich eine mit einer Goldbrille bewaffnete Nase befand, saß nun an dessen Platz und erklärte einem ganz jungen Kerl das Geheimnis der Zähne.

Der riß die Augen weit auf, hörte ihm andächtig zu, er wollte sich zweifellos in diesem Gewerbe niederlassen.

»Das meiste verdienen Sie am Einsetzen von falschen Zähnen«, sagte er. »Sie werden in England hergestellt und in der Choiseul-Passage verkauft. Das bringt einen soliden Gewinn, müssen Sie wissen, Sie können zehn Francs pro Zahn nehmen, und das Ganze kostet Sie zehn Centimes ohne Zahnfleisch aus Kautschuk, und einen Franc mit Zahnfleisch.«

»Es gibt es in rosa und in braun, nicht wahr?« unterbrach ihn der junge Mann schüchtern. »Ich würde das in Rosa vorziehen.«

»Sieh einer an, Sie sind nicht von gestern! Das braune ist das Zahnfleisch der armen Leute! Es kostet weniger, aber man verkauft mehr davon«, fuhr der andere fort.

Der gelehrige Schüler staunte mit offenstehendem Mund.

»Und was ist mit den künstlichen Gebissen aus Flußpferdzähnen?« wagte er zu fragen.

Der Mann mit der Goldbrille hob die Arme zum Himmel. »Das ist Steinmetzarbeit! Bedenken Sie doch, man muß den Zahn aus dem Elfenbein herausschneiden und goldene Fassungen anbringen, das ist wahnsinnig kostspielig!« Und er fuhr fort, die geheimen Rezepte seines Gewerbes zu erklären, verriet, daß er an den Zahnstümpfen seiner Patienten unnötige Operationen vornehme und die schmerzhafte Benommenheit der Leute nutze, um ihnen seine Zahnheilmittel zu hohen Preisen zu verkaufen.