TRUGBILDER - MARTIN SCHMIDT - E-Book

TRUGBILDER E-Book

Martin Schmidt

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Beschreibung

Tomas springt für seinen Chef auf einem Medizinkongress in Venedig ein, um dort einen Vortrag zu halten. Auf dem Hinflug begegnet er einem mysteriösen Fremden, der plötzlich spurlos verschwindet. Auf seinem verwaisten Platz liegt eine safrangelbe Mappe, die Tomas auf einen ihm selbst unverständlichen Impuls hin, an sich nimmt. Im Herzen Venedigs angekommen, lässt er sich treiben. Bei der erstbesten Gelegenheit öffnet er die entwendete Mappe. Er stößt auf Unterlagen zur laufenden Biennale, und auf Ausweise einer Kölner Künstlerin. Und dann ist da noch ein unbeschriftetes Kuvert, bei dem Tomas eine seltsame Hemmung verspürt, es zu öffnen. Auf einer Hotelreservierung, die er in der Mappe findet, entdeckt er den Namen des Fremden, Jakob Ortis. Tomas will ihn aufsuchen, der Mann hat seine Reservierung aber storniert. Tomas reizt das Spiel mit anderen Identitäten. Er benutzt die Ausweise der Kölnerin, und gelangt damit auf das Biennale-Gelände. Während seiner Streifzüge durch die Stadt begegnen ihm Menschen, die ihn zu verfolgen scheinen. Schließlich entdeckt er den Fremden auf einem Vaporetto. Der Mann erkennt ihn, und schlägt ihm auf Zuruf ein Treffen vor. Dort taucht der Fremde niemals auf. Immer wieder gerät Tomas in merkwürdige, bedrohliche Situationen. Dann taucht Nora auf. Jene Frau, deren Ausweis er in der Mappe gefunden hat. Sie gefällt ihm. Es gehört zum trugbildartigen Geschehen des Romans, dass der Leser vorerst nicht erkennen kann, welches Interesse sie an ihm hat. Zu einem vereinbarten Treffen erscheint sie nicht, taucht aber tags darauf unvermittelt auf. Durch die sich überstürzenden Ereignisse abgelenkt, bereitet sich Tomas unzureichend auf seinen Vortrag vor, was sich später rächen wird. Auch sein Umgang mit Medikamenten scheint nicht ganz so verantwortungsvoll zu sein. Am Ende sind zwei Tote zu beklagen. Der Autor, Jahrgang 1952, lebt in Bonn und beschäftigt sich, neben seinem Beruf als Arzt, mit der bildenden Kunst und dem Schreiben.

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TRUGBILDER

Eine Geschichte aus Venedig von Martin Schmidt

Impressum© 2017 Martin Schmidt

Umschlaggestaltung, Illustration: MARNI

Lektorat: Julia McLaren-ThomsonVerlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN Hardcover: 978-3-7345-8357-5

ISBN Paperback: 978-3-7345-8517-3

ISBN e-Book: 978-3-7345-8518-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Mein besonderer Dank für die freundliche und geduldige Begleitung gilt Barbara, Jan, Julia und Nika.

Die Welt ist ein ständiges Schwanken; alle Dinge darin schwanken ohne Unterlass, die Erde, die Felsen des Kaukasus, die Pyramiden Ägyptens, durch eine allgemeine schwankende Bewegung sowohlals auch jedes durch eine ihm eigentümliche. Die Beständigkeit selbst ist nur ein langsameres Schwanken. Ich kann meinen Gegenstand nicht fixieren, er bewegt sich verworren und wankend, in einer natürlichen Trunkenheit. Ich greife ihn an irgendeiner Stelle, so wie er gerade ist, in dem Augenblick, in dem ich mich mit ihm abgebe.

Michel Montaigne

1

„Lassen Sie ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt -Don`t leave your luggage unattended“- hallt die Stimme aus dem Lautsprecher. Pünktlich um 6:15 Uhr wird der Flug 4U 814 nach Venedig aufgerufen. Die meisten Passagiere stehen bereits ungeduldig in der Warteschlange. Tomas blättert eher beiläufig imLiebhaber ohne festen Wohnsitz. Erst nach einem letzten, dringlichen Aufruf geht er an Bord der Maschine, ein Airbus vonTitan-Air. Er hatte eigentlich beiGermanwingsgebucht.

Am Einstieg wird er von einer professionell lächelnden Flugbegleiterin in ultramarinblauer Uniform empfangen. Sie spricht einen für ihn schwer verständlichen englischen Slang. Nach einem flüchtigen Blick auf seine Bordkarte begleitet sie ihn den Mittelgang entlang. Sie müssen sich an einigen Passagieren vorbeidrücken, die noch schnell versuchen, ihre Utensilien in bereits überfüllten Gepäckfächern unterzubringen. Direkt über der rechten Tragfläche ist noch eine ganze Sitzreihe frei geblieben, die Stewardess überlässt ihm großzügig den Fensterplatz am Notausgang. Er verstaut sein Handgepäck unter dem Vordersitz und lässt sich erleichtert in die Polster fallen.

Die Aufforderung zum Anschnallen kommt, er lässt den Verschluss seines Sitzgurtes mit einem Klick einrasten. Der Chefsteward ist gerade dabei, die Außentür zu verriegeln, als er eine Anweisung aus dem Cockpit erhält. Widerstrebend entriegelt er noch einmal die vordere Kabinentür und lässt einen verspäteten Passagier an Bord, einen großen, schlaksigen Mann Ende Vierzig.

Dem scheint die durch ihn entstandene Verzögerung keineswegs peinlich zu sein. Ohne ein Wort der Entschuldigung, und mit einem fast nachsichtigen Lächeln, geht er an manch vorwurfsvollem Blick vorbei, und lässt sich mit einem knappen Gruß neben Tomas in den Sitz fallen. Der verdreht nur innerlich die Augen.

Der Airbus vom Typ A 320 löst sich vom Flugsteig und rollt langsam in Richtung Startbahn. In der vorherrschenden Dunkelheit geht es vorbei an langen Reihen farbiger Positionslichter, die, einer schwer nachvollziehbaren Geometrie folgend, mal auf einander zulaufen, dann wieder voneinander wegstreben. Für einen Moment verharrt die Maschine mit gedrosselten Triebwerken am Rande der Startbahn, dann endlich kommt die Freigabe vom Tower.

Die Turbinen heulen auf, ein Beben geht durch den Rumpf, das Flugzeug setzt sich langsam in Bewegung, beschleunigt und hebt schließlich in den dunkel verhangenen Himmel ab. Tomas spürt die mächtige Schubkraft, die ihn in die Polster drückt. Die von unzähligen Scheinwerfern hell erleuchteten Terminals, Abfertigungshallen und Zufahrtsstraßen bleiben schnell unter ihnen zurück. Das heftig vibrierende Flugzeug durchstößt im Steilflug die niedrig hängende Wolkendecke. Unmittelbar darüber breitet sich ein kalt glitzernder Sternenhimmel aus. Bleich und einsam, und unendlich nah erscheint ein riesiger Vollmond über der rechten Tragflächenspitze.

Tomas fühlt eine bleierne Müdigkeit in sich aufsteigen. Die zunehmende Schläfrigkeit wird durch die eintönigen Turbinengeräusche und die ständigen Vibrationen an Bord der Maschine noch verstärkt. Er lockert den Sitzgurt und stellt die Rückenlehne in eine bequeme Schlafposition. Dann schließt er die Blende am Kabinenfenster.

Seine Gedanken schweifen ab, zu den hektischen, sich überstürzenden Ereignissen des vergangenen Tages. Er denkt an den nervigen Dienst der vorletzten Nacht, die letzten Vorbereitungen zu dieser Reise, und an die anrührende Trauerfeier für den verstorbenen Freund am gestrigen Nachmittag. Dabei fällt ihm das schwarze Schwein ein, das so urplötzlich auf dem Friedhof aufgetaucht war. Dem Freund hätte das sicherlich gefallen.

Der Fremde im Sitz neben ihm kramt mit schmalen, nervösen Händen in einer auffällig safrangelben Mappe. Er holt einzelne Zeitungsausschnitte hervor, überfliegt sie und legt sie beiseite. Schließlich zieht er einige großformatige Fotografien aus einem DIN A4 Kuvert. Er betrachtet sie eine Weile lang amüsiert, und lässt sie dann wieder in dem Umschlag verschwinden.

Die beiden Männer haben bislang noch kein einziges Wort miteinander gewechselt. Der Flugkapitän meldet sich über die Bordsprechanlage. Er informiert die Passagiere über den gelungenen Start, die augenblickliche Flughöhe von 32 000 Fuß, den derzeitigen Kurs und die wahrscheinliche Ankunftszeit in Venedig, und er wünscht „a pleasant flight“.

Tomas ist zu aufgewühlt, er kann nicht abschalten. Er stellt die Rückenlehne wieder senkrecht, greift nach seiner Tasche und zieht die für ihn zusammengestellten Unterlagen hervor. Halbherzig blättert er darin herum. Erst vor wenigen Tagen hatte sein Chef ihm beiläufig mitgeteilt, dass er für ihn auf dem Kongress in Venedig einspringen solle. Tomas war natürlich mächtig stolz darauf, dass der Chef gerade ihm den Vorrang gegeben hatte.

Der Mann neben ihm räuspert sich, und schaut stirnrunzelnd auf seine Armbanduhr. Tomas bemerkt nicht ohne Neid die OmegaSpeedmaster, einen teuren Chronografen aus den sechziger Jahren. Die handgenähten Schuhe des Mannes hatten allerdings schon bessere Tage gesehen.

Tomas vertieft sich in die Aufzeichnungen, die, wie er feststellt, mal wieder schlampig zusammengestellt worden waren, und versucht sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Die monotonen Geräusche der Turbinen und die ständigen Vibrationen an Bord lassen ihn schließlich einnicken.

Das kleine Mädchen im roten Kapuzenmantel läuft in dichtem Nebel an einem stillen Kanal entlang. Eilige Schritte nähern sich, sie beschleunigt ihren Gang und schaut sich ängstlich um. Noch im Umdrehen verwandelt sich das Gesicht unter der Kapuze in die höhnisch grinsende Fratze eines Gnoms. Die jetzt zwergenhaft wirkende Gestalt hastet weiter, läuft durch dichte Nebelschwaden, überquert eine steinerne Brücke, verschwindet um die nächste Häuserecke, und taucht in das milchige Weiß einer schmalen Gasse ein. Die kleinen eiligen Schritte hallen noch lange nach.

Tomas schreckt hoch und fährt sich nervös durchs Haar. - Wenn die Gondeln Trauer tragen- schießt ihm durch den Kopf, und er hat sofort diese düstere Filmsequenz vor Augen. Er rekelt sich, öffnet die Blende am Kabinenfenster und schaut noch ganz benommen hinaus. Plötzlich geht ein Rucken durch die Maschine. Sie bäumt sich auf und droht in einen Strom rot glühender Lava zu stürzen, der sich direkt unter dem Rumpf ergießt. Die Innenverkleidung bebt, eine Gepäckklappe fliegt krachend auf und ein roter Mantel fällt heraus. Tomas merkt, wie ihm kalter Schweiß ausbricht, und er spürt, wie es ihm den Hals zuschnürt. Seine Fingerknöchel werden weiß, als er sich an der Lehne festkrallt. Die Maschine sackt durch, fängt sich aber sofort wieder. Der Copilot meldet sich aus dem Cockpit. Mit beruhigender Stimme entschuldigt er sich für die infolge heftiger, wetterbedingter Turbulenzen entstandenen Irritationen. Tomas atmet erleichtert auf, als ihm klar wird, dass es die soeben aufgehende Sonne ist, die die Wolken von tief unten bestrahlt, und sie zum Glühen bringt. Der Horizont verändert sich langsam von Blassgelb nach Meergrün, und schließlich zu Himmelblau. Die Sterne am Firmament verglimmen allmählich. Dunkle Pfeile durchkreuzen das weite All, einzelne kommen direkt auf die jetzt ruhig dahinziehende Maschine zu, queren in ungefährer Entfernung ihren Weg, und verschwinden schließlich am Horizont. Vom Mond ist keine Spur mehr zu sehen.

Tomas rappelt sich auf, einzelne Seiten seiner Unterlagen sind in den schmalen Spalt zwischen den Sitzen gerutscht, er muss sie mühsam zusammenklauben. Die Stewardess kommt mit ihrem Wagen den Gang entlang. Sie beugt sich lächelnd zu ihm herüber, und reicht ihm das Frühstückstablett, ihre eng taillierte Bluse spannt.„Tea or coffee?“Er überlegt kurz- „Tea please“- und mustert wenig begeistert den in Klarsichtfolie eingeschweißten Inhalt des Tabletts. Das Brötchen fühlt sich kalt und pappig an, der Aufschnitt wirkt blass und fade, die Butter ist hart wie Stein. Ein einsames Salatblatt welkt vor sich hin. Tomas schiebt das Tablett beiseite und trinkt nur den Tee.

Der Platz neben ihm ist leer, das Frühstückstablett steht unberührt auf dem heruntergeklappten Tischchen. Am Boden liegt die Mappe aus safrangelbem Wildleder. Sie ist mit einem schwarzen Band verschlossen. Tomas schaut abgelenkt zum Fenster hinaus. Unter ihm zieht die majestätische Kulisse der östlichen Alpen mit ihren einsamen, nur spärlich mit verharschtem Schnee bedeckten Gipfeln vorüber. Einzelne Saumpfade sind an den kahlen Hängen auszumachen. Dann folgt ihre Route dem dunkel schimmernden Gardasee, der sich schmal nach Süden hin ausbreitet.

Schließlich gehen die Berge in sanfte Hügel über. Über lange Zeit erstreckt sich jetzt unter ihnen nur flaches Land, eine Ebene aus fahlen Braun- und Grüntönen. Schachbrettartig angeordnete Felder, Äcker und Wiesen werden von graden Straßen und schmalen, gewundenen Kanälen unterbrochen. Dazwischen finden sich einsame Landsitze und Orte, in denen sich ockerfarben gedeckte Häuser in mittelalterlicher Manier um die einzige Kirche drängen. Dann werden die Orte allmählich größer, liegen dichter beieinander und sind auch deutlich zersiedelter. Riesige Felder sind unter dunkel schimmernden Plastikplanen versteckt. Nach einiger Zeit werden die Flächen eintöniger, und nehmen eine graubraune, schlammige Farbe an. Sie werden von schlierigen Wasserrinnen durchzogen. Endlich tauchen am Horizont grünblau die weiten, glitzernden Flächen derAdriaauf.

Schon wird aus dem Cockpit die baldige Landung auf dem Flughafen Marco Poloangekündigt. Der Himmel vor Ort sei leicht bedeckt, bei einer Temperatur um die 19 Grad, die verbleibende Flugzeit betrage noch etwa 15 Minuten. Die Aufforderung zum Anschnallen kommt, sein Sitznachbar ist immer noch nicht wieder aufgetaucht. Tomas macht den Purser, der noch schnell die letzten Pappbecher einsammelt, darauf aufmerksam. Der meint, der Mann habe es sich sicherlich auf einer der leeren hinteren Sitzreihen bequem gemacht: „Don`t worry, he will be back in time!“Er lächelt nachsichtig.

„But look, the lagoon“, er weist mit seiner freien Hand nach draußen.„Isn`t it marvellous?!“Schon taucht zu ihrer Rechtenim hellen Morgenlicht die glänzende Wasserfläche der Lagune auf, nur unterbrochen von einer Unzahl kleinerer und größerer Inseln, und zum Meer hin abgegrenzt durch den schmalen Küstenstrich desLidos. Und schließlich, in deren Mitte, wie eine Fata Morgana, die schimmernde Silhouette derSerenissima, der Erhabenen, mit dem Festland nur durch die Nabelschnur eines Dammes verbunden. Diese Stadt, in der Form eines dickbauchigen Fisches, mit rötlichen Ziegeldächern, prächtigen Kuppeln über großen Kirchen, flankiert von schlankenCampanile, und durchzogen von dem verzweigten Adergeflecht einer Vielzahl von Kanälen. Er drückt sein Gesicht gegen die Scheibe und ist wieder einmal fasziniert von diesem überwältigenden Anblick.

Die Frau von der anderen Seite des Ganges rutscht zu ihm herüber. Sie beugt sich leicht über ihn und flüstert: „Permesso!“, und dann „Ah, che bello, che magnifico??!“Ein Hauch ihres Parfums streift seine Nase. Tomas bejaht eilfertig, sie schmunzelt. Der Pilot dreht eine elegante Schleife über der glitzernden Wasserfläche der Lagune, drosselt die Triebwerke, und überfliegt dann erneut die schimmernde Stadt in niedriger Höhe. Ein riesiges Kreuzfahrtschiff fährt gerade in denGiudecca-Kanalein.

Aus dem Bordlautsprecher erfolgt die Aufforderung, auf die Sitzplätze zurückzukehren und sich anzuschnallen. Die Frau an seiner Seite, eine attraktive Italienerin, ignoriert den Appell. Sie weist Tomas auf die prächtigen, golden glitzernden Kuppeln von San Marcohin, die gerade unmittelbar unter ihnen auftauchen. Sie beugt sich über ihn, und er glaubt für einen Moment, ihre Brust zu spüren. Er studiert heimlich ihr ebenmäßiges Gesicht in der Spiegelung des Kabinenfensters. Da kommt auch schon die Landebahn auf sie zugerast.

Der Pilot setzt die Maschine sanft auf der Piste auf, einige wenige Passagiere klatschen erleichtert. Der Airbus rollt auf der parallel zum Lagunenufer verlaufenden Landebahn aus. Ein Mann in blauem Overall und gelben Ohrenschützern dirigiert die Maschine durch das Schwenken neonfarbener Leuchtstäbe in die endgültige Parkposition.

Noch bevor die Anschnallzeichen erloschen sind, zerren die ersten Passagiere ihr Handgepäck aus den vollgestopften Fächern, und drängen auch schon zum Ausstieg. Tomas bleibt auf seinem Platz, sein Sitznachbar ist noch immer nicht wieder aufgetaucht. Auf seine nochmalige Nachfrage hin meint die Flugbegleiterin in ihrer immer noch akkurat sitzenden, ultramarinblauen Uniform charmant lächelnd: „He will be lost and found!"Dabei blinzelt sie ihm verschwörerisch zu. Tomas schnallt sich los. Er schultert seine Tasche und schaut sich nach allen Seiten um. Dann klemmt er, einem unerklärlichen Impuls folgend, die verwaiste Mappe des Fremden unter den Arm, und breitet sorgfältig sein Jackett darüber. Sein Herz schlägt heftig. Er geht den schmalen Mittelgang entlang an leeren Sitzreihen vorbei.„Have a nice time and don`t worry!“wünscht ihm der Purser am Ausstieg und schenkt ihm ein anzügliches Lächeln.

Nach einiger Suche erreicht Tomas das Gepäckband, und findet auch gleich seinen Koffer. Neugierig hält er noch einmal Ausschau nach dem verschollenen Fremden. Alle Mitreisenden haben mittlerweile den Ankunftsbereich verlassen, ein Carabinieresteht gelangweilt an eine Säule gelehnt. Sein Hund, einPastore tedesco, liegt ausgestreckt zu seinen Füssen, er beobachtet Tomas aus ruhigen bernsteinklaren Augen. Seine spitz aufgestellten Ohren wackeln, als müssten sie eine lästige Fliege verscheuchen. Auf dem Karussell des Gepäckbandes dreht sich langsam ein einsamer Koffer.

2

An derPiazzale Romanimmt er zusammen mit einem Haufen anderer Passagiere dasVaporettoderLinea unoin RichtungSan Marco. Der Mann am Anleger drängt.„Avanti, avanti. Hurry up, go inside please!”Tomas lässt sich nicht beirren. Er stellt sich seitlich an die Reling, setzt seine Sonnenbrille auf, und genießt den Ausblick auf das alltägliche Treiben dieser Stadt. Mildes Morgenlicht spiegelt sich in dem ruhig dahin fließenden, dunkelgrünen Wasser desCanale Grande. Das bauchige Schiff gleitet vorbei an den vielen herrlichen Palästen aus tausendundeiner Nacht, was für eine verschwenderische Prachtentfaltung. Er kneift die Augen zusammen, die Palazzi scheinen über dem Wasser zu schweben. Sie tragen so geheimnisvolle Namen wieCorrer, Gritti, Grassi, Ca`Pesaro, Ca`RezzonicooderCa`d´Oro. Auch wenn es bei näherem Hinsehen nur Fassaden aus bröckelndem Putz und verblassenden Farben sind, die sich aus einer anderen Zeit herübergerettet haben, spürt man den Zauber und die Wehmut wie bei einer alternden Geliebten. Tomas betrachtet fasziniert die Spiegelungen der harmonischen Fronten im träge dahin fließenden Wasser, eine Illusion oder Täuschung, letztlich eine Verdoppelung und Steigerung der magischen Wirkung. Das hatte er irgendwo gelesen, und das hatte ihm gefallen. Mit geschlossenen Augen lauscht er den Geräuschen dieser Stadt, mit dem für sie typischen Nachhall, ganz Venedig scheint ein einziger riesiger Klangkörper zu sein. Da ist auch wieder der vertraute Geruch, eine Mischung aus Dieselabgasen, Seetang und Brackwasser. Sein Blick folgt dem Schrei der Möwen hinauf in den blassblauen Himmel, der über dieser Stadt ein anderer zu sein scheint. Auf der belebten Wasserader begegnen sich schnittige Motorboote, flinke Wassertaxis, schwer beladene Lastkähne, die zum Teil ganze Hausstände transportieren, und eben diese behäbigenVaporetti, die Wasserbusse. Dazwischen das nahezu lautlose Gleiten der schlanken schwarzen Gondeln. Unzählige Brücken wölben sich über die vielen kleinen Seitenkanäle. Was für eine Postkartenidylle.Tomas wundert sich über seine sentimentalen Anwandlungen. Gleichzeitig merkt er, wie alle Hektik von ihm abfällt, als er wieder einmal spürt, dass hier das Wasser die Geschwindigkeit des Lebens bestimmt. Ihn überkommt eine große Ruhe, verbunden mit dem Gefühl, angekommen zu sein. Auch der Eindruck des beständigen, leichten Schwankens unter seinen Füssen ist wieder da.

Die Italienerin aus dem Flugzeug steht plötzlich neben ihm. Sie reist nur mit kleinem Gepäck und hat ihren roten Mantel lässig über den Arm geworfen. Die Frau lächelt vielsagend, sie macht eine allumfassende Geste: „Ah, che bello, che magnifico?!“Er nickt zustimmend: „Ja, bellissimo!“„Che luce, che colore!“Sie gibt sich enthusiastisch. Das macht ihn verlegen. Ihr Blick bleibt einen Augenblick lang an der safrangelben Mappe hängen, die unter seinem Jackett hervorlugt. Er fühlt sich ertappt, sein Herz schlägt schneller. IhrTelefoninopiept. Sie kramt es aus den Tiefen ihrer Tasche hervor.

„Pronto?!“Sie wirkt überrascht, „Ah, Jojo, si, si, claro.“ Sie lauscht für einen Moment. Dann scheint sie sich über etwas zu ärgern, ihre schön geschwungenen Augenbrauen heben sich. „Madonna... si, molto periculoso... allora... bene... si, es importante, si, si, certo!“Sie mustert Tomas mit einem Anflug von Skepsis, dann wendet sie sich ab.

„Parole, parole ...!“Ihr Tonfall bekommt etwas Unwirsches, und sie wechselt zu seiner Verblüffung plötzlich in ein fast akzentfreies Deutsch. Tomas muss unwillkürlich hinhören. „Du Schuft, du machst immer das, was dir gerade passt. Du hast versprochen, dich um Clara zu kümmern!“ Sie schaut über die Schulter in Tomas Richtung, als wolle sie sich vergewissern, dass er noch da sei. Er betrachtet sie aus den Augenwinkeln, ihr Alter vermag er nicht einzuschätzen. „Wehe, wenn du dich nicht an unsere Abmachung hältst!“ Und dann, nachdem sie eine Weile hingehört hat, erscheint eine senkrechte Falte über ihrer Nasenwurzel.„Va bene, ciao, ciao, caro mio, ciao!“

Mit einem gemurmelten, wenig damenhaften -Stronzo, va fan culo!- klappt sie ihr Handy zusammen. Mit einer entschuldigenden Geste wendet sie sich wieder Tomas zu. Er fühlt sich unbehaglich und lächelt verlegen. Seine Befangenheit scheint sie nicht zu interessieren. Sie kaut an ihrer Unterlippe und schaut abwesend hinaus aufs Wasser. Ein Motorboot mit einem Sarg, in einer Hülle aus schwarzem Samt, kommt ihnen in langsamer Fahrt entgegen. An Deck sieht man zwei ebenfalls schwarz gekleidete Frauen in aufrechter Haltung, sie schauen reglos in die Ferne. Ihre Gesichter sind den neugierigen Blicken durch glitzernde Schleier verborgen. Die größere von beiden, eine schlanke, elegante Erscheinung, hält einen Strauß weißer Lilien im Arm. Die kleinere, sichtlich ältere Frau, hält ihre Hände vor der Brust gefaltet. Die Passagiere desVaporettosbegaffen ungeniert das an ihnen vorüberziehende Schauspiel, die Italienerin an Tomas‘ Seite bekreuzigt sich verstohlen. Er fühlt sich merkwürdig berührt, wie bei einemDéjà-vu.

Am nächsten Anleger, inSan Marcuola, verlässt die Italienerin überraschend das Boot. „Arrivederci, und bis bald!“ Tomas ist irritiert, sie schenkt ihm ein verständnisvolles Lächeln. Vom Ufer aus schaut sie sich noch einmal nach ihm um, und winkt ihm flüchtig zu. Dann verschwindet sie auch schon hinter der nächsten Häuserecke, in einer der kleinen Gassen.

Das Vaporettolegt erneut ab, nimmt Fahrt auf, und kreuzt die viel frequentierte Fahrrinne. Sie passierenSan StaeundCa‘ d‘ Oro, und fahren dann amCampo della Pescheriavorbei. Tomas sieht die mächtige Loggia mit ihren hohen Bögen, in der sich der Fischmarkt, mit allem, was Meer und Lagune zu bieten haben, jeden Morgen selbst inszeniert. Auch diese Formulierung hatte er irgendwo gelesen. Die Trennungslinie zwischen dem Wasser und den Treppen des Fundaments hat durch den dichten Algenbesatz die Farbe von leuchtendem Grün.

„Prossima fermata Rialto, nexte stoppe Rialto.“Tomas nimmt sein Gepäck und zwängt sich an den dicht gedrängt stehenden Fahrgästen vorbei, -„Scusi-permesso - grazie.“ Er verlässt dasVaporetto, geht durch eine enge, vielbegangene Gasse, und durchquert die Besucherströme amCampo San Bartolomeo. Der DichterCarlo Goldonischaut von seinem hohen Sockelnachsichtig lächelnd auf die vorüberziehende Menschenmenge herab.

Tomas bleibt einen Moment lang stehen und schaut in den Stadtplan, auf dem ihm sein Chef den Weg zu seinem Quartier eingezeichnet hat. Schließlich taucht er in die engen, verwinkelten Gassen von Castelloein. Er zögert einen Moment, dann geht er die paar Stufen einer steinernen Brücke hinauf und überquert einen schmalen Kanal. Schon findet er sich auf einem kleinen Platz wieder, demCampo della Fava, der sich vor der barock eingefassten Backsteinfassade einer altenBasilikaauftut. Zu seiner Rechten liegt ein äußerlich unscheinbarer Palazzo, der die Hausnummer 5526 trägt, die gesuchteResidenzaCa’ Foscolo.

3

„Ah, il Dottore, Benvenuto!“Die junge Frau an der Rezeption empfängt ihn mit einem professionellen Lächeln. Sie erkundigt sich auch sofort nach seinem Chef. „Il Professore, come stai?“„Oh, I think at the moment he feels fine!“Tomas nimmt seine Sonnenbrille ab und grinst genüsslich.

Das für ihn reservierte Appartement ist noch nicht bezugsbereit.„Mi dispiace! I am sorry!“, die Frau hebt entschuldigend den Blick. Sie hat dunkles, fast schwarzes Haar und blassblaue Augen. Nach kurzem Zögern beschließt Tomas, dann eben unverzüglich in das pralle venezianische Leben einzutauchen. Er verstaut die safrangelbe Mappe in seiner schwarzen Umhängetasche, sein übriges Gepäck lässt er bei der charmanten jungen Frau an der Rezeption zurück.

ZwischenLa PerlaundMax Marabiegt er in eine unscheinbare, kaum mehr als schulterbreite Gasse ein, und landet auch prompt beiRosa Salva. Die Bedienung hinter dem marmornen Tresen ist nicht mehr die gleiche wie noch vor zwei Jahren. Die Frau in ihrer pinkfarbenen Uniform hantiert geschickt mit den Hebeln der fauchenden Espressomaschine. Tomas bestellt einenCappuccino. Ein älterer Herr, in einer dunkelgrünen Steppjacke, und eine nicht mehr ganz junge, platinblonde Venezianerin trinken ihren erstenOmbra. Die Frau trägt hochhackige Schuhe, zu ihren Füssen sitzt ein weißer Pudel. Die beiden tauschen mit der Bedienung hinterm Tresen die neuesten Gerüchte aus, und das in dem schönen, weichen venezianischen Dialekt. Weitere Passanten kommen herein, werden freudig begrüßt, trinken ihrencaffèoderOmbra, und machen sich schon wieder auf den Weg. -Ciao, grazie, ciao -

Eine Taube landet auf dem roten Terrazzoboden, trippelt umher und pickt ein paar Krumen auf. Der Pudel scheucht sie mit seinem Gekläffe auf und sie flattert durch die geöffnete Tür davon. Der ältere Herr lacht mit einer wegwerfenden Handbewegung, und bestellt einen weiteren -Schatten-. Der Pudel bekommt einen Leckerbissen und wird gelobt. Tomas streutZucker in seine Tasse, rührt mit einem kleinen, silbernen Löffel um, und beobachtet dabei vergnügt das Kommen und Gehen, dieses alltägliche, große Theater auf der Bühne dieser Stadt.„Il conto, per favore.“Er zahlt, hinterlässt reichlich Trinkgeld und verabschiedet sich mit einem leicht dahin geworfenen „Arrivederci“.Die Frau hinterm Tresen bedankt sich mit einem Lächeln. Sie wischt mit einem Lappen über die chromblitzende Theke.

Die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben, lässt Tomas sich treiben. Er folgt etlichen verwinkelten Gassen, in denen die Händler ihre kitschigen Souvenirs feilbieten, geht unter dem muffig riechenden Sotoportego Dei Daihindurch und landet unversehens auf der grandiosenPiazza San Marco. Der Platz ist, wie zu dieser Tageszeit nicht anders zu erwarten, völlig überlaufen. Tomas muss sich einen Weg durch das dichte Gedränge bahnen, und dabei einer Gruppe russischer Touristen ausweichen. Sichtlich gelangweilt scharen sie sich um ihre flachsblonde, Fähnchen schwingende Reiseleiterin.

Die wartende Menschenschlange vor der großen Basilikaist erfreulicherweise kurz, also beschließt Tomas ganz spontan, in diese byzantinischste aller Kirchen Venedigs einzutauchen. Beeindruckt von der Mächtigkeit des Bauwerks, durchschreitet er das Hauptportal und muss dann die Vorhalle auf hölzernen Stegen durchqueren. Auf den Jahrhunderte alten Mosaikböden haben sich bereits erste größere Wasserpfützen gebildet,Acqua altakündigt sich an. Direkt beim Eintreten umfängt ihn kostbares Dämmerlicht, verstärkt durch golden schimmernde Mosaike an Wänden, Bögen und Kuppeln, sowie durch das Licht hunderter roter Ampeln und brennender Kerzen. Gold als Metapher des göttlichen Lichtes so weit das Auge reicht. Und dann die kunstvoll in komplexen geometrischen Mustern verlegten Bodenmosaiken aus Marmor, Porphyr und Glas, die wie kostbare Orientteppiche wirken, und durch die Abnutzung und Verwerfungen vieler Jahrhunderte wellig geworden sind. Der Geruch nach Weihrauch, Kerzenwachs und feuchtem Mauerwerk hängt in der Luft. Tomas durchquert dieses großartige Gesamtkunstwerk, und lässt die feierliche Stille auf sich wirken, jeder senkt hier drinnen unwillkürlich seine Stimme.

Im Tesoro, der Schatzkammer, entrichtet er seinen Obolus und geht vorbei an beleuchteten Vitrinen mit hunderten von Reliquien. Vor purpurrotem Samt finden sich in kostbaren, mit Gold und Edelsteinen besetzen Fassungen, bleiche Gebeine gemeuchelter Märtyrer, einzelne Knöchelchen, fleckige Zähne, grinsende Schädel, eine verdorrte Hand und sogar eine verbogene Rippe, womöglich die von Adam. Verstaubte Reliquien, so weit das Auge reicht, als Gegenstand religiöser Verehrung, wohl von wundersamer Wirkung, aber auch als Symbol der Vergänglichkeit.

Genau diese Reliquien waren von jeher ein Pfund, mit dem sich gut wuchern ließ. Zu allen Zeiten wurde eifrig Handel mit ihnen getrieben. Die Venezianer aller Epochen waren da ausgesprochen einfallsreich und geschäftstüchtig. Wie bei uns im katholischen Rheinland, denkt Thomas. Mit der Heiligen Ursula und ihren 11 000 Jungfrauen verfügt der Kölner nämlich über schier unerschöpfliche Vorräte an Gebeinen. Die hatte man sich mal so nebenbei aus einem römischen Gräberfeld vor den Toren der Stadt besorgt.

Tomas schaut auf die Uhr, es ist noch zu früh um ins Ca`Foscolozurückzukehren. Also klettert er die steilen Stufen hinauf zur Loggia, um von oben einen Blick auf den Markusplatz und seine angrenzenden Galerien zu werfen. Er muss an den prächtigen Pferdehintern derQuadrigavorbei, und streicht bewundernd über die glatte, bronzene Oberfläche, die sich erstaunlich kühl anfühlt. Er stellt sich an die steinerne Balustrade und schaut hinunter auf den leicht trapezförmigen Platz mit seinem streng geometrischen Pflaster aus grauem Stein und weißem Marmor. Alles ist in ein warmes, mildes Licht getaucht.Jean Cocteaunannte diesen Platz einmal einen magischen Ort, an dem Löwen fliegen und Tauben schreiten.

Zwei Musikkapellen spielen an den beiden gegenüberliegenden Seitenlinien gegeneinander an, eine vor dem Café Florianund die andere vor demQuadri. DasFlorianwar das StammcaféGuiseppe Verdis, wohingegen sein ErzrivaleRichard Wagner, demQuadriden Vorzug gab. Die beiden Komponisten sollen sich in gegenseitiger, herzlicher Abneigung zugetan gewesen sein.

Aus den Ritzen zwischen den großen Stein- und Marmorplatten sprudelt reichlich Wasser. Es ergießt sich schwallartig in größere Pfützen, die nach und nach ineinander laufen, um schließlich kleinere Seen zu bilden, auf deren glatter Oberfläche sich die umgebenden, fein ziselierten Galerien spiegeln. Aufgestapelte Stege stehen für Acqua altabereit.

Zu Tomas‘ Linken liegt die kürzere Piazzettamit ihren beiden markanten Granitsäulen. Sie sollten die Ankommenden begrüßen und ihnen Ehrfurcht einflößen, zwischen ihnen fanden aber auch, öffentlichkeitswirksam, viele Hinrichtungen statt. Auf der einen Säule erhebt sich der schon früh in Ungnade gefallene, frühere Schutzheilige und byzantinische MärtyrerTheodor, der stehend auf einem Krokodil balanciert, und auf der anderen Säule thront als Schimäre der geflügelte Markuslöwe. Weiter hinten erstreckt sich die grünlich schimmernde Wasserfläche des weitenBassino di San Marco,mit den verschwommenen Umrissen der nahen und fernen Inseln.

Die Glocken des Campanile läuten. Tomas schaut hinüber zum Torre dell`Orologio, dem Uhrenturm, auf dem zwei gigantische Mohren mit ihren gewaltigen Hämmern auf die über 500 Jahre alte, bronzene Glocke einschlagen, wahrhaft ein mechanisches Meisterwerk. Unzählige Kameras klicken.

Ihm knurrt der Magen. Er verlässt die Loggia über die steile Steintreppe, und tätschelt im Vorübergehen den prächtigen Pferdehintern. Auf dem Weg nach unten muss er vorbei an dem lebensgroßen Wandmosaik eines Erhängten. Judas Iskariot, der Jünger, der Jesus verraten und sich anschließend selbst gerichtet hat, baumelt zwischen schimmerndem Gold, vom grünen Ast eines Baumes. Seine bläulich geschwollene Zunge hängt ihm zum Halse heraus. Tomas fühlt sich beklommen, verlässt dieBasilika, und geht im milden Sonnenlicht hinaus auf diePiazzetta. Ein kleines, blondes Mädchen, in einem weißen Kleid undroter Strumpfhose, beugt sich versonnen über eine schimmernde Wasserlache, die sich dort am Boden ausbreitet. Mit ernster Miene betrachtet sie das eigene Spiegelbild vor einem blassblauen Himmel. Nach einer Weile geht sie in die Hocke und schlägt mit der flachen Hand aufs Wasser.

Tomas überquert den Platz, er umgeht die größeren Pfützen und vermeidet es, zwischen den beiden Säulen hindurchzugehen, denn das soll Unglück bringen. Es hat seinerzeit sogar einem Dogenden Kopf gekostet. Über den Köpfen der wogenden Menge tauchen, wie aus heiterem Himmel, bunt schillernde Fasanenfedern auf. Tomas traut seinen Augen nicht, die wippenden Federn gehören zu der Narrenkappe eines rheinischen Karnevalsprinzen, der dort in seinem prächtigen Ornat einherstolziert. Er nähert sich neugierig dem kostümierten Hofstaat, macht ein paar Fotos mit seinem Handy und schickt sie postwendend an Marlene.- Alaaf, der Zoch kütt! - Schon ist die Schar passionierter Karnevalisten umringt von begeistert fotografierenden Japanern. Sie bestaunen die weißbestrumpften Waden und klatschen bewundernd Beifall. Der Prinz winkt huldvoll in die Menge, fehlt nur noch, dass er Kusshändchen wirft.

Tomas setzt seinen Weg unter dem schattigen Säulengang des Dogenpalastes fort. Er schlendert entlang des breit ausladenden Schiavoni-Ufers, vorbei an einem Pulk von Touristen, die hingebungsvoll die Seufzerbrücke fotografieren. Er selbst muss unweigerlich anGiacomo Casanovaund die Schrecken der berüchtigten Bleikammern denken.

Vor einer kleinen Bar setzt er sich an einen der frei werdenden Tische und angelt sich einen weiteren Stuhl für seine Tasche. Er bestellt einen Campari-Spritzund dazu einPaninomitMortadella. Er lehnt sich wohlig zurück in das grüne Spaghetti-Geflecht, blinzelt durch die rubinrote Flüssigkeit in die helle Sonne und lässt die Eiswürfel im Glas klingen. Aus einer plötzlichen Anwandlung heraus holt er die Mappe des Fremden aus seiner Tasche. - Wo ist dieser Mann an Bord des Fliegers bloß abgeblieben, er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben? -Tomas entfernt vorsichtig das schwarze Band. Anfangs durchforstet er den Inhalt noch sehr zurückhaltend, immerhin stöbert er in dem persönlichen Besitz eines Anderen. Als Erstes stößt er auf Aufzeichnungen und Zeitungsausschnitte zur derzeitigenBiennale. An den Rändern finden sich einzelne handschriftliche Kommentare. Weiter findet er einReclam-Heftdes PhilosophenHans-Georg GadamerzurAktualität der Schönheit. Tomas überfliegt einige der Seiten und ist von dem Text beeindruckt. Er kramt weiter in der Mappe und findet zwei DIN A4 Kuverts. Eines davon ist unbeschriftet und offensichtlich noch nicht geöffnet worden. Er legt es vor sich auf die abgegriffene Resopalplatte. Das zweite Kuvert war nachlässig aufgerissen worden, handschriftlich finden sich auf der Vorderseite ein paar Zeilen:

- Vielleicht gefallen Dir diese Fotos. Es sind einige Probeabzüge des kommenden Pirelli-Kalenders, der zum 50. jährigen Jubiläum erscheinen soll. Pinn sie Dir an die Wand oder mach sonst was damit! Gruß Pü. -

In dem Kuvert befinden sich die Fotos, die sich der Fremde im Flugzeug so amüsiert angeschaut hatte. Tomas holt sechs großformatige schwarz-weiß Abzüge hervor und lehnt sich entspannt zurück. Er betrachtet das erste Hochglanzfoto, das eine junge Frau von aufsässiger Schönheit beim Betanken eines Autos zeigt. Die Szene spielt vor dem Ambiente einer typischen italienischen Kleinstadt in mittäglicher Tristesse. Mit gelangweiltem Gesichtsausdruck steht die Frau lässig an den Wagen gelehnt, den Zapfhahn in der einen Hand. Ein Träger ihres tief ausgeschnittenen, geblümten Sommerkleides ist nachlässig von der Schulter gerutscht, Strähnen des ungebändigten Haares hängen ihr ins Gesicht. Gleich wird sie den Zapfhahn in die Säule zurückstecken, missmutig das Geld kassieren, und sich dann wieder in den kühlen Schatten der Garage zurückziehen.

Tomas grinst anerkennend, wirft noch einen flüchtigen Blick auf die übrigen Fotos, und steckt sie dann zurück in das Kuvert. „Bene?!“Der Kellner hat ihm über die Schulter geschaut, jetzt streift er mit einem süffisanten Kennerblick das Kuvert.„Si, si, molto bene!“ „Un altro?“Der Mann deutet auf das leere Glas. Tomas ist überrumpelt und willigt ein. Als er sich wieder ungestört fühlt, stöbert er weiter in der Mappe herum. Zu seinem Erstaunen findet er den Ausdruck einer E-Mail mit der Hotelreservierung für den heutigen Tag in einerPensione Wildner, hier mitten in Venedig. Die Reservierung lautet auf den Namen Jakob Ortis. Tomas liest die Adresse, das Hotel dürfte sich hier ganz in der Nähe, direkt amSchiavoni-Uferbefinden.

Sein zweiter Campari-Spritzkommt, er trinkt ihn in kleinen Schlucken. Da er von dem anstrengenden letzten Nachtdienst übermüdet ist, beginnt der Alkohol schnell seine Wirkung zu zeigen. Tomas fühlt die aufkommende Entspannung und lehnt sich lässig zurück. Er lässt die Eiswürfel im Glas klingen, kippelt mit seinem Stuhl und mustert die vorübergehenden Passanten. Vielleicht taucht der ominöse Fremde ja zufällig hier auf. Aber jetzt hat er wenigstens einen Namen.

Tomas nimmt einen letzten Schluck aus seinem Glas, starrt auf die ausgebreitete Mappe. Von einem auf den anderen Moment fühlt er sich peinlich davon berührt, einfach so ungebeten in dem Privatleben eines anderen herumzuschnüffeln. Von seinem eigenen Verhalten befremdet, steckt er schnell alles zurück an seinen Platz. Dann verschnürt er die Mappe wieder sorgfältig mit dem schwarzen Band und streicht nachdenklich über das weiche Leder. Er will die Mappe gerade in seiner Tasche verstauen, als ein Polaroid-Foto herausfällt, und vor ihm auf den Boden flattert. Der beflissene Kellner bückt sich und wirft einen neugierigen Blick darauf, bevor er es Tomas zurückreicht. Die Fotografie zeigt, wenn auch etwas unscharf, ein lachendes Paar, zusammen mit einem ernst dreinblickenden Kind, an der östlichen Spitze der Punta della Dogana,unmittelbar hier gegenüber. Das kleine Mädchen auf dem Foto zeigt mit einer Hand auf die alabasterweiße Figur eines überlebensgroßen nackten Knaben, der eine Kröte an einem Schenkel triumphierend in die Höhe hält.

Tomas schaut auf, sein Blick schweift über die spiegelnde Wasserfläche des Bassino, hinüber auf den schräg gegenüberliegenden Bau derDogana, der alten Zollstation. Auf der Kuppel glitzert in der Mittagssonne die von zwei Atlanten getragene,goldene Weltkugel. Auf ihr balanciert in aller Üppigkeit die GöttinFortuna, deren Fahne sich bekanntermaßen launisch mit dem Wind dreht. Tomas ist verblüfft, die Statue des Knaben mit der Kröte, eine Skulptur vonCharles Ray, die er noch bei seinem letzten Aufenthalt, vor zwei Jahren, hier fotografiert hatte, ist verschwunden.

4

Das Sirren einer Mücke lässt ihn aus einem undeutlichen Traum erwachen. Von den verblassenden Fragmenten bleibt nur ein vages Gefühl. Tomas findet sich allein in einem großen Bett wieder. Erst ganz allmählich wird ihm bewusst, wo er sich gerade befindet. Es ist dunkel im Raum, die hölzernen Fensterläden sind geschlossen. Die Geräusche, die von draußen zu ihm dringen, kommen ihm merkwürdig fremd vor. Er rekelt sich und schaut auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Es ist gerade erst kurz nach fünf, und er beschließt, dass es noch zu früh ist, um aufzustehen. Er gähnt herzhaft und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Er kann es noch immer nicht glauben, dass er jetzt, anstelle seines Chefs, hier in Venedig ist, was für eine wunderbare Fügung. Zum Glück hatte er es immer gut verstanden, sich unentbehrlich zu machen. Marlene hatte sich sicherlich auch schon Hoffnungen gemacht. Tomas streckt sich genüsslich, er fühlt sich mit sich und der Welt im Einklang. Was ihn allerdings ärgert, ist, dass sein Chef ihm, vor versammelter Mannschaft, den Marathonlauf ans Herz gelegt hatte, der zur gleichen Zeit hier in Venedig stattfinden würde. - „Sie können ja schon mal eifrig trainieren, das täte Ihnen bestimmt gut." -Dabei hatte er mit einem mokanten Lächeln seinen kleinen Bauchansatz gestreift, bevor seine volle und besondere Aufmerksamkeit wieder - ganz der fürsorgliche Chef - seinen jungen Assistentinnen gegolten hatte.

Der gestrige Flug hierher und die Begegnung mit dem mysteriösen Fremden kommen ihm in den Sinn, und er muss an die auffällig safrangelbe Mappe denken, die er so ganz ohne Skrupel an sich genommen hatte. Jakob Ortis, was für ein merkwürdiger Name. Schleierhaft bleibt Tomas, wo dieser Mann an Bord des Fliegers abgeblieben ist. Und dann die attraktive Italienerin, die ihm in ihrer Begeisterung so nahe gekommen war. Wieso hatte sie „auf bald“ gesagt.

Etwas regt sich draußen auf der Fensterbank. Tomas richtet sich auf, knipst die Nachttischlampe an, und lässt seinen Blick umher schweifen. Das Schlafzimmer ist, wie das gesamte Appartement, geschmackvoll mit alten venezianischen Möbeln und einem riesigen Leuchter aus Muranoglas ausgestattet. Dazu passend, die Vorhänge aus blassblauem Samt. Man könnte sich an diesen Luxus gewöhnen. Zur Begrüßung hatte gestern sogar ein Strauß frischer Blumen auf dem Tisch gestanden. An die Vase aus türkisblauem Glas gelehnt, fand er ein apricotfarbenes Briefchen, das mit feiner Handschrift an seinen Chef adressiert war. Tomas konnte sich nur mit Mühe bremsen, es zu öffnen, und hatte es erst einmal beiseitegelegt.

Mechanisch schlägt er nach einer Mücke, die ihn mit ihrem monotonen Sirren unerbittlich verfolgt, verfehlt sie jedoch. Mit den Augen folgt er ihrem verworrenen Flug, ist aber zu träge, ihr nachzujagen. Er wird später an der Rezeption nach einem Mückenspray oder dergleichen fragen, wie heißt das wohl auf Italienisch?

Tomas liegt entspannt auf dem Rücken und lässt die Szenen des gestrigen Tages noch einmal Revue passieren. Bevor er spät abends noch aufgebrochen war, um in einem der nahegelegenen Restaurants zu essen, hatte er die Mappe des ominösen Fremden vorsichtshalber noch schnell im Zimmertresor verstaut, und die schwarz-weiß Fotografien aus dem Pirelli-Kalendermit ein paar Akupunkturnadeln an eine freie Wand gepinnt. Schließlich war er imAquila Negra, einem Lokal mit traditioneller venezianischer Küche gelandet. Es war eine Empfehlung der jungen Frau von der Rezeption. Da er sich mal wieder nicht entscheiden konnte, hatte er sowohl denLiebhaber ohne festen Wohnsitzals auch das kleine, in feines, rotes Nappa-Leder gebundene Buch dabei. Dieser ganz spezielle Reisebegleiter in Sachen Kunst, war das Geschenk eines Patienten, der den Text verfasst hatte.

Wo er auch hinschaute, waren die Wände der Trattoriavoll mit alten Fotos. Sein Blick war sofort an dem Bild vonSophia Lorenhängen geblieben. Es zeigte die Schauspielerin, wie sie ihrer TischnachbarinJane Mansfieldmit teils abschätzigem, teils neidvollem Blick in den üppigen Ausschnitt schielt, ein gewagtesDekolleté, das mehr zeigte, als es verbarg. Aus dem Lautsprecher hörte man die raue Stimme vonAdriano Celentano- Ein Ventilator drehte sich träge unter der verräucherten Decke. Dem grau melierten Ober, mit seinem nicht mehr ganz blütenweißen Jackett, waren seine bewundernden Blicke nicht entgangen. Mit einem süffisanten Lächeln hatte er dieSpaghetti al nero di seppiaserviert und ihm dazu den leichtenVino rosso della casaempfohlen. Noch während des Essens hatte Tomas interessiert in dem schön gestalteten Reiseführer geblättert, und schon bald waren einige Seiten des Buches bedeckt mit kleinen, sepiabraunen Soßenspritzern. Als dann noch, als ärgerliches Missgeschick, ein Rotweinfleck dazu kam, legte Tomas den Reiseführer beiseite und nahm sich den Roman vor.

Marlene hatte ihm dieses Buch am Flughafen noch schnell zugesteckt, sicherlich nicht ganz ohne Hintergedanken! - Bei diesem Roman von FrutteroundLucentinihandele es sich um die hinreißende Liebesgeschichte zwischen einem mysteriösen, heruntergekommen wirkenden Reisebegleiter und einer attraktiven römischen Kunsthändlerin aus gutem Hause - hatte sie beim Abschied noch schnell erwähnt. So ganz nebenbei sei das Buch auch eine faszinierende Hommage an Venedig. Mehr wollte sie aber nicht verraten. Typisch Marlene, einem erst Appetit machen, und dann...

Im ersten Kapitel war von der flüchtigen Begegnung der beiden Protagonisten an Bord eines Flugzeuges auf dem Weg nach Venedig die Rede. Tomas musste unwillkürlich an seine eigenartige Begegnung mit dem Fremden und der attraktiven Italienerin an Bord seiner Maschine denken. Er hatte dann den weiteren Abend, später sogar noch im Bett, fasziniert weiter gelesen.

Tomas starrt nachdenklich an die stuckverzierte Decke. Er betrachtet den schwülstigen Leuchter aus farbigem Muranoglas, der von hellblauen und rosa Blütenträumen umsäumt wird. Er lässt seine Gedanken schweifen. Aber schon bald übermannt ihn erneut die Müdigkeit. Er gähnt, aber trotz der frühen Morgenstunde, gelingt es ihm nicht, wieder einzuschlafen. Er starrt grübelnd an die Decke, die Mücken nerven mit ihren impertinenten Attacken. Fluchend springt er auf, und da er sonst nichts Greifbares findet, nimmt er den Roman. Prompt erwischt er einen der lästigen Quälgeister und zerquetscht ihn mit dem Buchdeckel. Beim Versuch, den Fleck von der goldgeprägten Tapete zu entfernen, verwischt er ihn. Zurück bleibt ein Rest seines eigenen, kostbaren Blutes.

Sein Handy meldet eine SMS. Es ist Marlene, die ihn mit einem Spruch von Ringelnatzweckt. -Ich bin so knallvergnügt erwacht. Ich klatsche meine Hüften. Das Wasser lockt, die Seife lacht. Es dürstet mich nach Lüften. -