Tut das weh, wenn ich hier drücke? - Christian Strzoda - E-Book

Tut das weh, wenn ich hier drücke? E-Book

Christian Strzoda

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Beschreibung

Ein Lager von Butangasflaschen in einem brennenden Haus, eine Frau, die sich umbringen möchte und im Todeskampf entscheidet, dass sie doch nicht sterben will, oder Kollegen, die in einen schweren Unfall verwickelt werden: Der Notfallsanitäter Christian Strzoda erlebt Tag für Tag dramatische Geschichten, die unter die Haut gehen. Nicht selten sind auch Kuriositäten dabei: So melden sich gesunde Menschen, die Panik bekommen, weil ihre Fitnessuhr ihnen sagt, es würde ihnen schlecht gehen, oder ein Waldarbeiter fällt einen Baum einfach mal in die eigene Richtung. Christian Strzoda erzählt fesselnd, aber mit der nötigen Portion Humor von seinen außergewöhnlichsten Einsätzen. Denn das Leben schreibt immer noch die besten Geschichten.

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Christian Strzoda

Tut das weh, wenn ich hier drücke?

Christian Strzoda

Tut das weh, wenn ich hier drücke?

Die besten Geschichten aus meinem Leben als Notfallsanitäter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Caroline Kazianka

Umschlaggestaltung: Georg Feigl

Umschlagabbildung: © Vreni Solms; shutterstock/s_maria

Satz: Digital Design, Eka Rost

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1085-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0716-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0717-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für meine Loni, mit der ich die Weltherrschaft an mich reißen werde! :)

Und für meine Katze Herrn Schneider, die mir tausend Mal erfolgreich demonstriert hat, dass die felinen Bedürfnisse deutlich wichtiger sind, als die Kapitel dieses Buches in mein Textverarbeitungsprogramm zu tippen. Es machte ihr tierischen Spaß, für das Titelfoto zu posieren. Dafür versteht sie nicht, weshalb sie Herr, und nicht Frau Schneider genannt wird.

Inhalt

Auf ein Neues

Fontäne des Todes

Todesengel

Überraschungseier

Spitzenumkehr

Letzter Schuss

Stille Wasser

Toter Winkel

Akute Psychose

Pflegenotstand

Ausgelöscht

Eine Sache von Minuten

Herzalarm

Recht auf Unvernunft

Bockwursttango

Cry me a River

Darwin Award

471

Abgezockt

Ein ganz normaler Nachtdienst

Herbstregen

Abgebrannt

Kaputtes Leben

Zuckerschock

Leichte Geburt

Zeitstillstand

Kölsche Lieder

Letzte Nachricht

Lungenwürmer

Mitten drin, statt nur dabei

Auslandseinsatz

Chaos-Queen

Großstadtrettung

Nachwort und Dank

Auf ein Neues

Wenn man ein Staatsexamen bestanden hat, heißt das noch lange nicht, dass man seinen Job auch sicher beherrscht. Im Rettungsdienst gibt es Eventualitäten und viele Komplikationen, die Ihr Retter-Leben in einen Scherbenhaufen verwandeln können und die Sie professionell und routiniert im Auge behalten müssen. Es treten Zustandsänderungen auf, die man niemals erwartet hat. Oder der Patientenzustand geht rapide und steil bergab. Wenn einem in der Situation nichts Passables einfällt, fährt man mit dem Patienten zusammen auf direktem Weg in die Hölle – man selbst, weil man versagt hat, und der Patient, weil er das nicht überlebt.

Als Praktikant im Rettungsdienst bewegte man sich noch auf sicherem Terrain. Man hatte den verantwortlichen Rettungsassistenten dabei, der jederzeit in die Bresche springen konnte, wusste man als Praktikant nicht weiter. Man trat dann einen Schritt zurück, hob die Hände und sagte: »Könntest du bitte übernehmen? Danke.« Je nachdem, ob der Praktikant während seiner Ausbildung eine funktionsfähige Verbindung zwischen Theorie und Praxis herstellt, kommt er im Anschluss sicher oder weniger sicher durch das Rettungsdienstleben. Irgendwann war es bei mir so weit: Ich hatte meine Urkunde, einen Dienstvertrag und eine Menge Motivation, Menschen auf professionellem Niveau zu helfen. Der verantwortliche Kollege war ab diesem Zeitpunkt ich. Einen meiner ersten Dienste als Rettungsassistent Mitte der neunziger Jahre werde ich nie vergessen.

Die Rettungsleitstelle schickte Lenny und mich zu einer »unklaren Befindlichkeitsstörung«. Das ist ein fantasievolles Einsatzstichwort, wenn man bedenkt, dass die Leitstelle mit ein oder zwei Fragen den Sachverhalt genauer hätte ermitteln können. Der Disponent hatte hier äußerste Flexibilität hinsichtlich Verdachtsdiagnose und Abfragekompetenz bewiesen. Als Lenny den beigen Mercedes 312 mit quietschenden Reifen in der sommerlichen Mittagshitze vor dem Wohnkomplex geparkt hatte, schafften wir unseren Kram in den dritten Stock. Das Treppenhaus war mit einem blauen Farbstreifen in Kopfhöhe verziert, der an manchen Stellen mit dem Weiß darunter verlaufen war. Wir betraten die Wohnung durch die geöffnete Wohnungstür. Lippert stand auf dem Klingelschild.

»Hallo. Wir sind vom Rettungsdienst. Was ist denn passiert?«, fragte ich die Frau, die rückwärts vor uns herlief und uns wie an einem unsichtbaren Seil hinter sich herzog. Lenny streifte eine Blumenvase mit der Kante des EKGs. Ein nasser Scherbenhaufen mit buntem Gemüse blieb zurück.

Herr Lippert stand in der Raummitte und hielt sich mit der linken Hand den Hals und mit der anderen die Brust. Sein blaues Business-Hemd schien ihm zu eng zu sein. Schweiß rann ihm die Stirn hinab. Er schien an starken Schmerzen und Atemnot zu leiden und wirkte, als zöge ihm jemand einen unsichtbaren Strick um den Hals zu. Seine Augen fixierten mich und schrien um Hilfe. Zu spät. Herr Lippert verdrehte die Augen und brach leblos auf seinem lachsfarbenen, dicken Wohnzimmerteppich zusammen. Ich höre es noch heute – die Schnappatmung des Sterbenden und die spitzen Schreie der Ehefrau, die mir wie eine Rasierklinge in den Rücken fuhren. Die Fenster standen offen, es roch nach Fritten und Sommerwind. Jemand unter uns kochte. Frau Lippert sagte, ihr Mann hätte sich gerade einige Male an die Brust gegriffen. Lenny packte den Mann, drehte ihn auf den Rücken und riss ihm mit einem Ruck das Hemd auf, dessen weiße Knöpfchen zur Seite sprangen. Ich packte die Geltube, trug das Gel auf die Paddles des orangefarbenen Defibrillators mit der Aufschrift Corpus 300 auf und verteilte es mit kreisenden Bewegungen. Laden auf 160 Joule. Das Gerät bot nur diese und noch 320 Joule zur Auswahl an. Der Drucker des EKGs surrte automatisch los und dokumentierte alles in Form eines schmalen EKG-Streifens. Dann drückte ich die Paddles fest gegen den Brustkorb des Mannes, der mittlerweile tiefblau angelaufen war. Ein Dauerton, der in die Ohren stach – die Kondensatoren des Gerätes waren geladen. Ich zögerte. »Mann, drück endlich ab«, zischte Lenny in meine Richtung. Ich merkte, dass ich eine Hemmschwelle zu überwinden hatte. Für mich fühlte es sich an, als würde ich dem Patienten Schmerzen zufügen – und das, obwohl der Patient in diesem Moment tot war. Während der Defibrillation durfte niemand den Patienten berühren, und es war meine Aufgabe, dies sicherstellen. Ansonsten bestand durch den hohen Stromfluss Lebensgefahr für denjenigen, der Kontakt zum Patienten hatte. Niemand bewegte sich. Keiner atmete. Ich blickte zu Lenny, der mit seinem Blick »mach jetzt endlich was« signalisierte, und drehte meinen Kopf. Frau Lippert hielt sich beide Hände vor das Gesicht, starrte mich mit aufgerissenen Augen an und zitterte. Schweißperlen rannen ihr den Hals hinunter. Ich wandte mich wieder Herrn Lippert zu, dem mein allerletzter Blick vor der Stromabgabe galt. Gleichzeitig drückte ich beide Knöpfe der Paddles. Der Mann zuckte zusammen. Kurzes Innehalten und der Blick auf den Monitor. Die unkoordinierten Zacken auf dem EKG, die für den Tod stehen, waren in eine gleichmäßige, koordinierte Form übergegangen.

Ein Grund dafür, dass ich mich unwohl fühlte, war die Tatsache, dass dem Rettungsdienstpersonal anno 1996 Maßnahmen, die in die Unversehrtheit des menschlichen Körpers eingriffen, nicht erlaubt waren. Die Defibrillation mit einem manuellen Gerät war in den Augen der Akademiker eine rein ärztliche Maßnahme, von der der Nicht-Arzt schön brav die Hände zu lassen hatte. Niemand sollte den studierten Medizinern schließlich die Butter vom Brot nehmen. Wenn ein Sanitäter einen venösen Zugang gelegt hatte, bekam er in manchen Kreisverbänden Ärger – bis hin zur Kündigung. Unglaublich, sagen Sie? Nein, Normalität. Eigentlich galt man unterm Strich als Taxifahrer mit medizinischem Hintergrundwissen. Der Grund war das Rettungsassistentengesetz, nach dem es dem Mitarbeiter nur gestattet war, als Helfer des Arztes tätig zu werden. Etwas in einen Menschen hineinzuschieben, hineinzustechen oder Strom anzuwenden war lediglich erlaubt, wenn ein rechtfertigender Notstand gegeben war. Übersetzt heißt das: War ein Mensch in Lebensgefahr und kein Arzt verfügbar, brach man das Heilpraktiker-Gesetz, um ein Leben zu schützen. Um ansonsten Heilkunde auszuüben, musste man aber Arzt oder Heilpraktiker sein. Die Ärztelobby schien riesig. Jeder, der hier eine Änderung durchzusetzen versuchte, kämpfte einen einsamen Kampf gegen Windmühlen. Dabei war eines sicher: Niemand wollte (Not-)Ärzte aus dem System der Notfallmedizin herausdrängen und ein Paramedic-System einführen, das unflexibel und starr erscheint. Stattdessen sollte nur versucht werden, das System zu verbessern.

Mittlerweile ist der Beruf des Rettungsassistenten abgelöst. Seit Anfang 2014 gibt es als höchste nicht-ärztliche medizinische Fachkraft in der Notfallmedizin den Notfallsanitäter, der mehr Möglichkeiten mit auf den Weg bekommen hat, um Menschen zu helfen. Im Gegensatz zum Rettungsassistenten darf der Notfallsanitäter explizit invasiv tätig werden, solange er aktuell gültige Leitlinien beachtet und die Grenze seines eigenen Könnens nicht überschreitet. Als Nicht-Arzt ist es aber sowieso ratsam, keinerlei Experimente am Patienten zu probieren und Maßnahmen durchzuführen, die man nicht sicher beherrscht. Der Haken an dieser Sache war für mich: Um den begehrten Titel Notfallsanitäter zu erlangen, musste ich selbst als langjähriger Rettungsassistent ein zweites Staatsexamen ablegen. Und na ja – ganz ehrlich: Das ist der einzige Beruf, in dem man nach 30 Jahren erneut ein Staatsexamen absolvieren muss, um weiterhin seinem eigentlichen Job nachgehen zu dürfen. Einfach mies durchdacht.

Der Druck war immens, denn es gibt nur zwei Versuche, das Examen zu bestehen. Wenn man beide vergeigt, ist das Ende der Teerstrecke erreicht: Notfallsanitäter ade. Ab spätestens 2024 dürfen die Betreiber Rettungsassistenten bundesweit aber nur noch als Beifahrer in einem Krankentransportwagen oder als Fahrer in einem Rettungswagen einsetzen. Das Zepter hält ab diesem Zeitpunkt ein Notfallsanitäter in den Händen. Für mich war daher glasklar: Ich musste das Staatsexamen zum Notfallsanitäter bestehen. Und am besten gleich beim ersten Versuch.

Gesagt, getan. Im Winter des Jahres 2016 saß ich schweißgebadet nach einer harten, aber fairen Prüfung im Vorraum zwischen einem alten Kicker und einem Getränkeautomaten und wartete darauf, dass man mich zum Blutgerüst rief. Zwei Prüflinge vor mir kamen mit leeren Händen und eckigen Gesichtern aus dem Lehrsaal. Jeder von uns wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Einer der beiden hatte feuerrote Augen. Die Typen griffen nach ihren Unterlagen und verzogen sich, ohne ein Wort über das Desaster zu verlieren. Trotz der Kühle draußen fühlte ich mich, als wäre ich in Timbuktu. Das Aroma von eingetrocknetem Kaffee und der Geruch des Angstschweißes der Anwesenden stießen eine Lanze in meinen olfaktorischen Cortex. Mein olivgrünes Shirt klebte an meinem Körper, als jemand meinen Namen aufrief. In diesem Moment war es mir egal, ob man Schweißflecken sehen oder mich riechen konnte. Ich spürte meine Herzfrequenz, meinen Blutdruck und einen pochenden Kopfschmerz. Es fühlte sich an, als würde mir jemand in der Geschwindigkeit meines Herzschlags rhythmisch in die Eier treten.

»Wir waren uns nicht ganz einig, weil Sie dem Patienten im mündlichen Fallbeispiel Dormicum in die Vene gejubelt haben.« Hatte ich mich gerade noch gefühlt wie in der Sahara, befand ich mich plötzlich in der Arktis. Vor meinem geistigen Auge lief der Film ab, den ich zwei Stunden zuvor live erlebt hatte. In dieser Situation, die der Prüfer bildreich beschrieben hatte, hatte ich auf theoretischer Basis einen Mann in den Zwanzigern zu versorgen. Der Mann hatte einen epileptischen Anfall, als mich das Prüfungskomitee in diese Szene beamte. Ich sagte, dass ich ihm einen venösen Zugang legen und Midazolam geben würde. Ein Benzodiazepin, das die Pharmaindustrie auch unter dem Handelsnamen »Dormicum« vertreibt. »Ah ja?«, meinte einer der drei Prüfer, den man mir vorher als Arzt vorgestellt hatte und der scheinbar das Ruder in der Hand hielt. Ich wähnte dies als Versuch, mich zu verunsichern, und blieb bei meinem Vorgehen, das Medikament zur Anwendung zu bringen. Bei der Nachbesprechung fragte mich der Arzt, weshalb ich kein Lorazepam gegeben habe, wie es die Ärztekammer bei den zukünftigen Notfallsanitätern gern sähe. Dass uns in meinem Rettungsdienstbereich nur Midazolam zur Verfügung stünde, schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Er quetschte mich daraufhin wie eine Limette bis zum letzten Tropfen über Benzodiazepine aus. Ich war froh, dass ich über die Pharmakologie dieser Stoffgruppe und zu allem, was zu GABA-Rezeptoren und deren Effekt gehörte, bestens Bescheid wusste – wie auch über alles, was danach folgte. »Aber … Sie haben gar keine Kontraindikationen abgefragt, bevor Sie das Medikament in den Patienten gespritzt haben …« Ein Schauer durchfuhr mich. Mir war danach zu rülpsen. Hätte ich vorhin die Cola nur nicht so in mich hineingeschüttet. Ich überlegte. Dann fiel mir ein, dass man in unserem Algorithmus einen Krampfanfall behandeln muss, bevor die Anamnese und die Frage nach Allergien erfolgt. Somit war ich fein raus. Der Arzt verzog keine Miene, machte scheinbar einen Haken auf seinem Blatt und stellte die nächste Frage. Die Luft aus meinem oberen Verdauungstrakt blieb zum Glück dort, wo sie mir bis zum Ende der Prüfung noch reichlich Unbehagen bereitete.

»… haben Sie trotz aller Kritik ein sehr hohes Maß an Fachwissen gezeigt«, ploppte meine Denkblase weg. Der Prüfer schüttelte mir die Hand, sagte, dass ihn auch die makellose praktische Prüfung beeindruckt hätte, und drückte mir die lieblos gestaltete Bestätigung in die Hände. Ich grinste debil, las »bestanden« und »Notfallsanitäter« und wankte aus dem Raum. Die Prüfung war vollbracht. Der ganze Aufwand und die monatelange Lernerei hatten sich gelohnt.

Ich kann immer noch aus tiefster Überzeugung sagen, dass ich 1994 die richtige Entscheidung getroffen habe, als ich in den Rettungsdienst ging. Für mich persönlich ist der Beruf des Notfallsanitäters einer der besten und spannendsten Jobs, die man ergreifen kann – selbst wenn wir häufig zwischen Tod und Zerstörung agieren und in Abgründe blicken, die Sie sich nicht mal im Traum vorstellen können. Als ich die Notfallsanitäter-Urkunde einige Tage nach meiner Prüfung endlich aus meinem Briefkasten fischte und betrachtete, musste ich an einige der Notfälle denken, die ich im Laufe meiner Zeit im Rettungsdienst erlebt habe. Einige der eindrucksvollsten Geschichten habe ich für Sie aufgeschrieben. Machen Sie sich einen Kaffee, suchen Sie sich ein gemütliches Plätzchen und lassen Sie sich von mir unterhalten, denn auf diese Einsätze nehme ich Sie jetzt mit. Schön, Sie wieder dabei zu haben.

Herr Lippert hat seinen Herzstillstand damals übrigens überlebt. Wir brachten ihn mit notärztlicher Unterstützung in ein Herzzentrum, wo sein Infarkt der Hinterwand im Herzkatheter-Labor ohne Folgeschäden beseitigt wurde. Vor Kurzem, 25 Jahre nach diesem Einsatz, habe ich ihn in einem Einkaufszentrum mit seiner ergrauten Ehefrau an der Käsetheke stehen sehen. Die Gesichter der beiden habe ich nie vergessen.

Fontäne des Todes

Das Oktoberfest – in Bayern nur die »Wiesn«. Für den einen ein glitzerndes, überdimensionales Volksfest, für Tausende von Menschen jeder Altersklasse die Möglichkeit, sich zwei Wochen pro Jahr in der Öffentlichkeit hemmungslos gehen zu lassen. Wenn Sie die Wiesn besuchen, kommen Sie, je nach Route, am sogenannten Kotzhügel vorbei. Das eindrucksvolle Schauspiel, das sich in den beiden Ausnahmewochen dort abspielt, könnte dem ein oder anderen den Appetit auf Bratwurst, Bier und Brezn gehörig verderben. Da lehnen gestandene Mannsbilder verloren an leidenden Bäumchen und pissen in eindrucksvollem Strahl in die Prärie. Direkt daneben können Sie sich das Pornokino sparen und fremden Pärchen beim Vögeln und kunstvollen Blowjobs in allen möglichen Positionen zusehen. Mal mehr, mal weniger schön. Keine zwei Meter weiter entledigen sich andere ihres Sauerbratens und der fünf Maß rückwärts. Sie sehen – auf dem Hügel ist für jede Gesinnung etwas dabei. Das Blöde für uns Retter in diesem Spiel: Wer auf die Wiesn gefahren ist, muss danach auch wieder nach Hause. Die Rettungsdienste direkt um die Wiesn beneide ich nicht, weil sie ausschließlich als Entgiftungs-Shuttle ins Krankenhaus gebraucht werden.

Die Wiesn selbst befindet sich in der nahe gelegenen Großstadt. Folglich ist sie zu weit entfernt, als dass wir im Außenbezirk normalerweise mit richtig betrunkenen Menschen von dort zu tun bekämen. Das Problem ist nur, wenn man mit dieser Annahme in die Nachtschicht geht, trifft einen Edward Murphys Gesetze wie ein Faustschlag: Was schiefgehen kann, geht schief. Und es wird in der ungünstigsten Reihenfolge passieren. Und: Der Patient wird Sachen tun, zu denen er nüchtern nicht in der Lage wäre.

20:15 Uhr: Lenny hatte sich gerade seine frisch eingeschenkte Tasse Kaffee in den Schritt gekippt und winselte vor sich hin. »Top, noch keinen Einsatz gehabt und schon Flecken auf der Hose«, spottete ich. Als der Piepser ging und uns die Leitstelle alarmierte, befand Lenny sich gerade auf halbem Weg in die Umkleide. Er hieß den Disponenten, der überhaupt nichts dafürkonnte, einen Blödmann und legte einen Schritt zu, um sich eine neue Hose anzuziehen, stolperte über die oberste Treppenstufe und fluchte wieder. Manchmal kommen Einsätze aber auch so ungünstig, dass man den Eindruck gewinnen kann, in der Wache seien überall unsichtbare Kameras angebracht und der Disponent habe Monitore, um uns zu beobachten. Wenn die Situation für uns dann am ungünstigsten ist, drückt er mit hämischem Grinsen aufs Knöpfchen für einen Einsatz, den er selbst generiert hat. Auf dem Datendisplay las ich von einem Einsatz am Bahnhof.

»Siehst du irgendwas?« Lenny bog in den Bahnhofsvorplatz ein. Ein Bus verließ die überdachte Haltestelle in der Platzmitte und bewegte sich auf die Hauptstraße zu. Menschen strömten in Richtung S-Bahn, die wohl in einigen Minuten einfahren sollte. Sieben Taxen standen auf dem Taxiparkplatz. Ungefähr in der Mitte dieser Schlange sah ich drei junge Leute mit Rucksäcken und zwei Taxifahrer. Sie unterhielten sich mit einer Dame in den Vierzigern. Am dahinterliegenden Kiosk standen Menschen Schlange. Lenny fuhr langsam um den Platz herum. Niemand machte sich bemerkbar.

»Ich sehe nichts«, sagte Lenny, nahm den Funkhörer und drückte den Status Fünf. Normaler Sprechwunsch.

»1/83/1, kommen Sie.«

»Da ist niemand. Könnten Sie zurückrufen?«

»Machen wir.«

Wir fuhren noch eine Runde und blieben schließlich am Ende der Taxireihe stehen. Irgendwann kam einer der jungen Typen langsam zu uns. Ich ließ das Fenster herunter.

»Entschuldigung, sehen Sie uns denn nicht?«

»Was denn bitte?«, sagte ich.

»Da vorne. Die Frau dort. Deswegen haben wir Sie bestellt.«

»Sehen wir so aus, als ob wir hellsehen könnten?«

»Aber dort ist die Dame.«

»Sie hätten ja mal kurz winken können, als wir hier zweimal im Kreis an Ihnen vorbeigefahren sind. Ich habe meine Glaskugel heute nämlich zu Hause vergessen.« Lenny ließ den Motor an und rollte zu dem Pulk. Wir stiegen aus.

»Was ist hier los?«, fragte ich und blickte in erstaunte Gesichter.

»Also ... ja ... diese Dame hier ist betrunken und wäre beinahe umgefallen.«

»Und was genau soll ich mit dieser Dame machen?« Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Lenny sich mit einem Grinsen abwandte. »Mit nach Hause nehmen und ins Regal stellen?«

»Nein. Aber ins Krankenhaus fahren.«

»Ins Krankenhaus? Jemanden, der noch selbstständig laufen kann? Eher nicht.« Die Gesichter der drei Typen froren ein.

»Aber die hat sich am Spiegel dieses Taxis festgehalten und ihn kaputt gemacht.«

»Haben Sie sich verletzt?«, drehte ich mich zu der Dame.

»Nnneijn, hab’ch nich. Ich bin nur gschtolpert.« Klar. Alkohol war hier eindeutig im Spiel. Aber jeder hat das Recht, betrunken zu sein.

»Um den Spiegel tut es mir sehr leid«, fuhr ich zu dem Typen gewandt fort, »aber wir sind nicht von der Bahnhofsmission. Wenn diese Dame irgendetwas beschädigt hat, rufen Sie bitte die Polizei. Das kann ich jetzt auch für Sie übernehmen, da ich eh schon mal hier bin.« In diesem Moment rollte eine Polizeistreife auf den Bahnhofsplatz und blieb direkt hinter uns stehen. Offenbar hatte die Leitstelle diese zusätzlich benachrichtigen lassen, weil der Einsatz im öffentlichen Bereich stattfand. Einer der beiden Polizisten kam zum Rettungswagen. Ich erläuterte den Sachverhalt. Der Polizist schüttelte den Kopf: »Das ist wohl nichts für euch, oder?« Ich verneinte. In diesem Moment gibt es nur wenige Möglichkeiten: Entweder wird der Betroffene in ein Taxi gesetzt, das ihn nach Hause fährt, oder er ist zu stark alkoholisiert, um ihn einfach so gehen zu lassen. Die Polizei trifft hier eine besondere Pflicht. Das Zauberwort heißt: Garantenstellung. Der Garant ist die Polizei, die wegen ihrer besonderen Amtsstellung dafür sorgen muss, dass dem Betroffenen nichts passiert. Diese Pflicht haben wir vom Rettungsdienst zwar auch – aber nur, wenn der Patient einer nachfolgenden Einrichtung, wie einem Krankenhaus, übergeben werden kann. Wenn wir an dieser Stelle nicht weiterkommen, müssen wir auf die Hilfe der Ordnungshüter zurückgreifen. Die Dame hatte blöderweise kein Geld in ihrer Tasche, weil sie alles auf der Wiesn gelassen hatte. Sie mit einem Taxi nach Hause zu schicken fiel also aus. Der Polizist hätte die Dame mit seinem Streifenwagen nach Hause fahren können. Das Problem war nur, dass die Dame in die falsche S-Bahn eingestiegen und in die entgegengesetzte Richtung gefahren war. Der Polizist machte also kurzen Prozess: Er nahm die Dame in polizeilichen Gewahrsam. Sie durfte die Nacht in einer unkomfortablen Zelle verbringen und konnte am darauffolgenden Tag ausgenüchtert nach Hause fahren. Übernachtung ohne Frühstück und Zimmerservice für 60 Euro pro Nacht. Für die Kohle hätte ich mir Schöneres vorstellen können.

»Zum Imbiss?«, fragte Lenny. Ich nickte. Die Schlange beim Türken um die Ecke war enorm lang. Aber es lohnte sich. Auch wenn Lennys Figur ein wenig Zurückhaltung verdient hätte, zwei Döner mussten es sein. Als ich sah, wie die saftigen Fleischstücke vom Spieß in den Behälter fielen, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Besitzer Mert füllte das Fleisch in das gebräunte Brötchen, dann kamen Joghurtsoße, Zwiebeln und Salatblätter in verschiedenem Grün dazu. Die Vorfreude, gleich in diese gefüllte Teigtasche zu beißen, wurde jäh vom Alarmempfänger unterbrochen. »Betrunkener am Bahnhof«, kam aus dem Lautsprecher des Melders. Na super. Wieder kein Essen, dafür zurück zum Bahnhof.

Da der Dönerverkauf direkt um die Ecke lag, hatten wir eine Anfahrtszeit von einer Minute. Auf dem Parkplatz direkt am Abgang zur S-Bahn-Unterführung saß ein junger, krankhaft abgemagerter Typ auf dem Boden. Er trug ein zerkratztes, schief sitzendes, schwarzes Guccibrillenimitat, eine angegammelte rote Schiebermütze und ein verkotztes, eingerissenes Hemd mit Apple-Logo. Auch die Jeans hatte gehörig etwas abbekommen. Zwei Leute von der Bahn-Sicherheit standen um ihn herum. Das sah nach Ärger aus. Der eine von ihnen hatte Kotze am Hosenbein und am Schuh. Am hellblauen Hemd des anderen hatte der Typ sich offensichtlich die Hände abgewischt. Beide Bahn-Mitarbeiter sahen aus, als wäre ihnen das Lachen gründlich vergangen. Wir stiegen aus.

»Shhhchwixer. Lsst mch in Ruhe!« Der Typ schlug nach einem der beiden.

»Hallo. Wir sind vom Rettungsdienst. Was ist denn los?«, fragte Lenny.

»Aaaschlöscherwixerpenner. Lass mch innn Ruh!« Er schrie so laut, dass nun auch der Letzte am Bahnhof auf die Szene aufmerksam wurde.

»Wir wollen nur helfen«, sagte ich, dachte aber etwas ganz anderes.

»Nnnejn, lass mich«, nuschelte er noch, dann verstummte er. Der Oberkörper kippte zur Seite, das Kinn glitt auf die Brust. Der Typ lehnte am Bein des Bahn-Mitarbeiters mit der vollgekotzten Hose.

»Eingepennt«, bemerkte Lenny, der den Rucksack öffnete und die Blutdruckmanschette herausnahm. »Kannste dir schenken. Oder willst du putzen?« Lenny packte die Manschette weg, ging zum Rettungswagen und holte die Trage.

»Der Typ hat in der Bahn herumgepöbelt. Kommt vermutlich von der Wiesn. Er ist ständig weg«, erklärte einer der Bahnmitarbeiter.

»Das sehe ich.« Ich beugte mich zu dem Typen hinunter und stupste ihn an. Er riss die Arme nach oben und drehte sich zu mir. Ein dicker Strahl Kotze traf meine orangefarbene Einsatzjacke.

Wir packten ihn auf die Trage. Einer links und einer rechts. Dann lag der Typ in unserem Wagen.

»Schhh will nnnicht mit.«

»Bleib liegen. Wir bringen dich in die Klinik. Da kannst du pennen bis Weihnachten«, sagte ich, drehte mich zu Lenny, der mittlerweile am Funk war, um ein freies Bett zu suchen.

»Warst wohl auf der Wiesn und hast ’ne Menge Kohle versoffen, mh?«

»La la laaaaa laaaaaaaa«, sang der Typ, der immer wacher wurde. Ich erkannte die Melodie von »Final Countdown«. Plötzlich hielt er inne. Seine Augen wurden größer. Auch Lenny und ich verstummten, als hätte jemand die Pause-Taste gedrückt. Sein Kopf bewegte sich in Zeitlupe. Erst nach links, dann nach rechts. Irgendetwas passierte. Er stieß auf und wirkte, als würde sich in ihm Druck aufbauen. Dann würgte er. Weshalb keiner von uns reagierte und ihm einen Kotzbeutel vor das Gesicht hielt, weiß ich nicht. Oder wenigstens versuchte, das Shirt in die Hose zu stecken und anschließend den Kragen über den Mund zu ziehen. Dann hätte das Erbrochene zumindest nicht nach außen kommen können – auch wenn das dem Krankenhauspersonal gegenüber nicht gerade fair gewesen wäre.

Da war sie, die Fontäne des Todes. Kotze, die in einem dicken Strahl aus dem Mund des Typen schoss. Lenny sprang zur Seite, schaffte es aber nicht rechtzeitig. Dann fing der Typ an, beim Brechen seinen Kopf zu drehen. Läuft der Film jetzt vor Ihrem geistigen Auge ab, und Sie stellen sich das bildlich vor? Ich kann Ihnen eines sagen: Sie liegen garantiert falsch. Kennen Sie die wasserspeiende Blume zum Rasengießen? Genau. So funktioniert ein vor sich hin kotzender Mensch, der den Kopf in alle nur erdenklichen Richtungen dreht und dabei »Rääääääääääää ääääääääääääääääääää« schreit. Mir war bis dato nicht klar, dass jemand so Dürres so viel Flüssigkeit und Essen in sich haben und mit hohem Druck in einem Rettungswagen verteilen konnte. Ich konnte erkennen, dass der Typ Rettich und Obazten gegessen hatte. »Obatzter« ist etwas typisch Bayerisches und besteht aus Butter, stinkendem Käse, Zwiebeln und Bier und weist eine weich-klebrige Konsistenz auf. Das hört sich genauso übel an, wie es schmeckt. Besonders eklig ist es, wenn man das Gemisch aus Obatztem, Bierbrühe und Gallensekret von der Seitenwand des Rettungswagens kratzen darf. Mir stiegen die Tränen in die Augen, denn der scharfe Geruch nach Zwiebelgallenbierstinkerkäse machte das Ganze auch olfaktorisch zu einem Highlight.

Den Typen interessierte das Ganze nicht mehr. Er war inzwischen auf unserer Trage eingeschlafen und schlummerte vor sich hin. Plötzlich hielt ein Streifenwagen hinter uns. Zwei junge Polizistinnen stiegen aus. Ich öffnete die Seitentür. Die eine Polizistin steckte ihren Kopf herein und hielt inne. Nur die Augen bewegten sich und scannten das Innere des Rettungswagens ab. Nicht nur die Wände waren getroffen. Gelber Schleim hatte Spuren am EKG und am darunter befindlichen Absauger hinterlassen. Irgendwelche schleimigen Brocken lagen am Boden verteilt. Das Beatmungsgerät hatte auch etwas abbekommen.

»Ach du Sch...«

»Genau richtig. Möchtest du hereinkommen?«, fragte ich und wischte meinen Ärmel mit einem Tuch ab. »Pass auf, dass du nicht ausrutschst.«

»Also die Personalien brauche ich schon. Der von der Bahn möchte vielleicht Anzeige erstatten.«

»Dann komm.« Die Polizistin betrat den Wagen, erst die eine, dann die andere Stufe. Sie hatte leider nicht mit der rutschigen Konsistenz gerechnet, obwohl ich sie gewarnt hatte. Als ihr Fuß in den Schleim-See nahe dem Einstieg trat, rutschte sie weg. Die Polizistin versuchte sich zu halten, verfehlte aber den Griff, der sie gerettet hätte. Dann wurde es nass und klebrig. Sie saß mit ihrem Hintern in der Kotze. Damit war dieser Tag auch für die Kollegin von der Polizei mit Sicherheit gelaufen. Aber die Personalien hat sie zumindest erhalten.

Lenny bremste vor der Nothilfe des Krankenhauses, stieg aus und öffnete die Hecktüren. Dann fasste er mit beiden Händen die Griffe des Tragetisches und zog ihn sachte aus dem Auto. Nun musste er ihn noch absenken, um die Trage mit dem Typen darauf rauszufahren. Lenny drückte einen Knopf, der rechts am Tragetisch angebracht war. Der Tisch senkte sich mit einem Surren. Der Typ, der selig schlummerte, hatte aber noch eine Überraschung parat. Pisse rann in einem Rinnsal die Trage hinunter – und plätscherte Lenny entgegen, der das Gesicht verzog, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Der Typ hatte sich um mindestens 1 Liter davon auf die Trage erleichtert. Die Nieren schienen auf jeden Fall zu funktionieren. Lenny hatte bereits entriegelt. Einfach loslassen und zur Seite treten ging nicht, denn sonst wäre die Trage unkontrolliert aus dem Rettungswagen gestürzt. Die warme, hellgelbe Körperflüssigkeit lief auch am Tragegestell herunter und hinterließ eine Spur in die Notaufnahme. Sie können sich vorstellen, dass wir froh waren, als wir den Typen umgelagert hatten und das Krankenhaus wieder verlassen konnten.

Nach zwei Stunden Putzerei hatten wir unsere Einsatzbereitschaft wiederhergestellt. Mit frischen Klamotten bestückt war zumindest Lenny, der den gröbsten Teil abbekommen hatte, der Appetit auf Döner vom Spieß gehörig vergangen. Eine komplexe Verschaltung im Bereich des olfaktorischen Cortex, der der Wahrnehmung und Verarbeitung von Gerüchen dient, sorgte dafür, dass wir den Geruch noch Stunden später in der Nase hatten.

Es war nach Mitternacht, als der Alarmempfänger zum dritten Mal in dieser Schicht losging. Ich saß bereits im Rettungswagen, als Lenny völlig zerstört in die Fahrzeughalle kam. Er hatte einige Nachtdienste hinter sich und konnte tagsüber nicht vernünftig schlafen. Als er das Display sah, schlug er mit beiden Händen auf das Lenkrad: »S-Bahnhof Gleis 2, C2. Pat sitzt in SBahn Nummer 2«. C2 steht kurz für »Alkohol« und leitet sich von der chemischen Formel C2H5OH ab.

Als wir auf den Bahnhofsvorplatz rollten, war nichts von einer S-Bahn zu sehen. Am Bahnsteig, über den die Gleise 1 und 2 erreichbar waren, standen die beiden von der Bahn-Sicherheit. Auf einer Bank saß ein Typ in den Zwanzigern. Sein rot kariertes Trachtenhemd hatte schon bessere Zeiten erlebt. Die Hose war mit braunen Spuren verziert, von denen ich nicht wirklich wissen wollte, was genau es war. Er hatte eine Plastiktüte neben sich liegen, in der eine Bierflasche verpackt war.

»Vielen Dank euch. Wir kümmern uns drum«, sagte ich zu den beiden, die uns viel Spaß wünschten und den Bahnsteig verließen. Der eine meinte noch, der Typ heiße Toni. Ich stupste ihn an.

»Toni?«

»Mmmmhh.«

»Wach auf. Du kannst hier nicht pennen.« Der Kerl stank wie eine Bierbrauerei.

»Hau ab, du ...«, grummelte er. Gut, Toni war zumindest so klar, dass er reagieren konnte.

»Mist. Jetzt müssen wir den die Treppenstufen runtertragen«, sagte Lenny. »Runterlaufen dürfte in dem Zustand nicht gehen.«

»Wir könnten den an die Polizei verschachern«, sagte ich. »Eine Übernachtung ohne Zimmerservice und Frühstück, und die Sache ist geritzt. Bringt uns zwar Minuspunkte, aber was solls.«

»Die nehmen den nicht. Dafür ist er zu voll.« Lenny sah zur Bahnhofsuhr, dann wieder zu mir.

»Hast du sonst noch eine brillante Idee?«, wandte ich mich an Lenny, dem das Fragezeichen förmlich im Gesicht stand. »Gut, ich auch nicht.« Ich drehte mich wieder zu Toni und versuchte, ihn zu wecken. In dem Moment tauchten zwei Lichter am Horizont auf. Die letzte S-Bahn, die in Richtung Innenstadt unterwegs war. Ich prüfte, ob die Typen von der Bahn-Sicherheit noch zu sehen waren. Aber nein. Die Luft war lupenrein. Auch sonst war der Bahnhofsbereich menschenleer. Perfekt. Jetzt durfte nur niemand in der S-Bahn sein. Dann würde mein Plan gelingen.

Die Bahn rauschte an uns vorbei. Bremsen kreischten. Der kühle Fahrtwind roch typisch nach Zug.

»Los, komm!«, sagte ich zu Lenny, der mitmachte, ohne Fragen zu stellen. Einer links, einer rechts. Wir halfen dem Typen auf. Die paar Schritte gingen schon. Tonis Kopf hing nach unten, das Kinn auf der Brust. Die Schritte alkoholschwer, das Grinsen likörselig. Der Mann summte irgendwelche Schlager, die er vermutlich in einem Wiesn-Zelt aufgeschnappt hatte.

»Er hat aber keine Fahrkarte«, grinste Lenny.

»Die hatte er auf dem Weg hierher mit Sicherheit auch nicht«, grinste ich zurück und drückte den Türöffner. Wir hatten nicht viel Zeit, Toni auf einen der Sitze zu platzieren. Er legte sich von selbst auf zwei Sitze und machte es sich bequem. Na also. Dann hörte ich nur noch Schnarchen.

»Gute Nacht und gute Fahrt«, sagte ich. Dann verließen wir die S-Bahn und sahen den beiden roten Rücklichtern nach, bis die S-Bahn am Horizont verschwunden war.

Todesengel

Als wir an der Einsatzstelle eintrafen, war es gerade 9 Uhr vorbei. Das Gesicht des dicken, bärtigen Mannes war aschfahl, als hätte man ihm das Blut abgelassen und die Haut zusätzlich mit Talkum bestäubt. Die Lippen schienen seltsam violett und geschminkt, waren es aber nicht. Der kalte Schweiß roch nach Adrenalin. Er rann an manchen Stellen in Tropfen hinab, die mich an den Morgentau auf einer Blüte erinnerten. Der Mann saß auf der abgelassenen, rostigen Ladefläche seines weißen Siebeneinhalbtonners mit der orangefarbenen Aufschrift einer großen Bäckereikette. Sein Auftrag war es, frische Backwaren auszuliefern. Er hatte Angst. Todesangst. Rang nach Luft, fasste sich immer wieder an die Brust und war in sich zusammengesunken.

»Es geht nicht mehr«, stöhnte er, »ich kriege keine Luft.« Er sah uns an. Es roch nach frischen Croissants und nach den Abgasen der Autos, die die Hauptstraße entlangfuhren. Als ich vor dem Mann kniete und die EKG-Kabel aus der Gerätetasche nahm, stand in meiner Vorstellung ein Abgesandter aus einer Armee von Todesengeln neben ihm. Der Engel hatte die Hand auf dessen Schulter und den Kopf so gesenkt, dass das Gesicht von der Kapuze des überdimensionalen schwarzen Capes verdeckt und nur die schmalen, aufeinandergepressten Lippen zu sehen waren. Er blickte zu Boden und hatte seinen Schwingen ausgebreitet, bereit, seinen Auftrag zu beenden. Wir funktionierten wie ein Uhrwerk. Lenny legte einen Zugang. Ich klebte und schrieb ein EKG mit zwölf Kanälen, das innerhalb von zehn Minuten nach Patientenkontakt angefertigt sein muss. So wollen es die Leitlinien. Der Drucker des EKGs spuckte den rosafarbenen Papierstreifen surrend aus dem Schlitz aus.

Einen Tag zuvor hatte der Mann, der sich als Joachim vorstellte, seinen 35. Geburtstag gefeiert. Er hatte sich da schon nicht so wohl gefühlt. Die ganze Zeit hatte er Sodbrennen gehabt. Was war das nur? Hatte er zu viel von dem Federweißen getrunken, den er doch immer gut vertragen hatte? Oder waren es die Zwiebeln gewesen? Aber er mochte sie so gern und hatte sich von seiner Frau deshalb einen Zwiebelkuchen zum Geburtstag gewünscht. »Geh zum Arzt«, hatte seine Frau gedrängt. Sie hätte sich um alles gekümmert und die Spuren der Feier weggeräumt. Joachim aber wollte die Feier nicht unterbrechen. Schließlich waren einige Überraschungsgäste gekommen, und die wollte er nicht allein lassen.

»Morgen nach meiner Arbeit«, versprach er und feierte weiter, bis das Sodbrennen so schlimm wurde, dass er sich doch zurückziehen musste.

Am Morgen war es nach dem Aufstehen nicht besser. Joachim war ratlos, schmiss sich einen Magensäureblocker ein und ging zur Arbeit. Ihm war klar, dass er zu dick war. Das hatte ihm sein Arzt oft genug gesagt. Aber Joachim mochte das Essen und hasste Bewegung wie der Teufel das Weihwasser. Sein Vater war einige Monate zuvor den plötzlichen Herztod gestorben, drüben am S-Bahnhof auf dem Bahnsteig zu Gleis 1. Obwohl einige Passanten sofort eingegriffen hatten, war jede Hilfe zu spät gekommen. Das Herz hatte nicht mehr gewollt. Bei der Obduktion war ein Totalverschluss aller Hauptäste herausgekommen. Da hätte man mit dem Defibrillator danebenstehen können und nichts mehr ausgerichtet. Ende der Teerstrecke.

Joachim war bewusst, dass er umdenken musste. Abnehmen, Sport machen, gesünder essen. Vor allem musste er sich seine Einstellung zum Stress durch den Kopf gehen lassen. Stress und Adrenalin waren schlecht für den Sauerstoffverbrauch des Herzmuskels. Er musste endlich mehr Gelassenheit entwickeln. Aber einfach war das nicht für ihn.

Er fuhr in die Großbäckerei und belud seinen Lkw mit einem Hubwagen. Dann steuerte er die erste Bäckereifiliale an. Rückwärts in die Straße, Motor aus. Als er die Ladefläche heruntergelassen hatte, ging es nicht mehr. Er schluckte. Die Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er sank auf seiner Ladefläche in sich zusammen. »Joachim? Kannst du die beiden Kisten mit den Süßwaren zuerst reinbringen?«, rief die Verkäuferin durch den geöffneten Seiteneingang. Sie stockte, sah ihn. Dann stürzte sie in die Bäckerei und wählte den Rettungsdienst-Notruf.

Door-to-Balloon: 90 Minuten, sagen die Leitlinien. 90 Minuten also, nach denen spätestens der verschlossene Ast in der betroffenen Arterie am Herzen aufgedehnt sein muss. Das ist weniger Zeit, als Sie annehmen, wenn Sie Versorgung, Anmeldeprozedur, Transport und die anschließende Übernahme im Krankenhaus miteinberechnen. Befinden Sie sich in einem Gebiet mit langen Transportwegen, wird es noch knapper.

»Das sieht wohl ziemlich übel aus, oder?« Joachim atmete, als lastete ein Sack Zement auf seiner Brust.