Gehört dieses Bein zu Ihnen? - Christian Strzoda - E-Book

Gehört dieses Bein zu Ihnen? E-Book

Christian Strzoda

4,7

Beschreibung

Ein Teddybär als Notfallpatient, LSD gegen Depressionen, Herzinfarkt aus Liebeskummer. Christian Strzoda erlebt tagtäglich die unglaublichsten Geschichten. Als Rettungsassistent hat er laufend mit erschütternden Schicksalsschlägen, schrecklichen Unfällen und rücksichtslosen Rowdys zu tun. Doch nicht immer sind die Patienten seine größten Sorgenkinder. Auch so mancher Arzt oder Polizist macht ihm den Arbeitsalltag nicht unbedingt leichter, wenn zum Beispiel der Notarzt auch mal mit dem Helikopter in die Oper geflogen werden will. Strzoda erzählt fesselnder, als jede Fernsehsendung es könnte, wie der Beruf des Rettungsassistenten wirklich aussieht. Denn die Realität schreibt einfach die besten Geschichten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 317

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (21 Bewertungen)
15
6
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

5. Auflage 2021

© 2015 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Julia Jochim

Umschlaggestaltung: Maria Wittek

Umschlagabbildung: Martin Noß

Autorenfoto: Martin Noß

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN Print: 978-3-86883-530-4

ISBN E-Book (PDF): 978-3-86413-710-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-709-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unterwww.m-vg.de

Für Loni

Inhalt

Debüt

Ammoniak und Deoroller

Schreck lass nach – mein Parkett

Firehorse

Opiumhöhle

Amok

Neues von Edward Murphy

Winterträume

Schwanensee

Letzter Wille

Ausgesetzt

Freier Fall

Falscher Hahn

Stille Nacht

Gefahr im Verzug

Immer is’ was

Abgelaufen

Um Haaresbreite

Notruf 112

Hausnotruf

Tunnel des Grauens

Bärenrettung

Du, Sani!

Bauchentscheidung

Eile mit Weile

Todsicher

Roter Halbstern

Kamera ab!

Warteschleife

Auf Reise

Das Recht zu schweigen

Betäubt

Gebrochenes Herz

Seitenwechsel

Über den Autor

Dank

Debüt

Meinen allerersten Einsatz im Rettungsdienst erlebte ich an einem außergewöhnlich warmen Tag Anfang September. Einige Monate zuvor war mir die Zusage über den Ausbildungsplatz ins Haus geflattert. Mit Sack und Pack stand ich am Morgen meines ersten Ausbildungstages also vor der Rettungswache und hatte absolut keinen Plan, was mich erwarten würde. Ich hatte zuvor noch nie einen Rettungswagen von innen gesehen, geschweige denn eine einzige Theoriestunde in Erster Hilfe absolviert.

»Das sind Manfred und Bert«, stellte mir der Wachleiter meine beiden künftigen Kollegen vor. Manfred und Bert nickten mir zu. »Sie zeigen dir gerne die Wache.« Manni strich über seine Rotzbremse, rückte seine silberfarbene Ray Ban gerade und bedeutete mir wortlos, ihn zu begleiten. Dass er mich »gerne« herumführen wolle, stand ihm wirklich nicht ins Gesicht geschrieben. Ich glaube, er hätte in diesem Moment viel lieber auf der Couch gesessen und dabei einen Kaffee samt Zigarette gefrühstückt.

Die beiden zeigten mir zunächst die grottigen Garagen, in denen normalerweise die Krankentransportwagen standen. Ich ging auf eine der Holztüren zu, deren Farbe einmal Pastellgrün gewesen sein musste, und drückte die Klinke, die nicht richtig festgeschraubt zu sein schien. Die Tür quietschte wie ein alter Bauernschrank, der ein paar Tröpfchen Öl vertragen konnte. Sie war genau breit genug für einen VW T2. Wie viele andere sollte auch ich später an dem schmalen Tor scheitern und beim Ausparken einige Rückspiegel zerstören. Der kalte Duft von modrigem Mauerwerk kam mir entgegen. Die Garage sah aus, als wäre sie in den Fünfzigerjahren gebaut und seitdem niemals restauriert worden. Sie stand leer. Alle Krankenwagen waren ausgerückt. Manni und Bert führten mich nun zu der Garage, in der unsere beiden Rettungswagen standen.

Kurz zur Klärung der Fachbegriffe: Der Rettungstransportwagen, kurz RTW, rettet Menschen aus einer akuten Notfallsituation. Ob es sich nun um den Bruch einer Extremität, einen Schlaganfall oder eine beginnende Geburt handelt: Solche Situationen sind sehr dringend und erfordern zügige medizinische Unterstützung. Besteht potenziell akute Lebensgefahr, wird automatisch ein Notarzt samt medizinisch ausgebildetem Fahrer mit an die Einsatzstelle geschickt. Der Notarzt kommt in einem eigens dafür vorgesehenen Pkw mit Blaulicht – dem Notarzteinsatzfahrzeug, kurz NEF. Er hat auch sehr viel mehr an Medikamenten dabei, als Sie in einem Rettungswagen finden würden.

Benötigt ein Mensch lediglich Hilfe beim Gehen oder kann aufgrund seiner Erkrankung nur liegend gefahren werden und muss zum Beispiel zur Untersuchung in eine Arztpraxis, kommt der Krankentransportwagen, kurz KTW, zum Einsatz. In diesem gibt es einen sehr bequemen Tragestuhl, mit dem man nicht gehfähige Patienten wunderbar auch engste Treppenhäuser heruntertragen kann.

Diese Unterschiede sind in der Bevölkerung allerdings alles andere als flächendeckend bekannt. Darüber hinaus habe ich bereits in meiner Zeit als Auszubildender gemerkt, dass die Bürger manchmal eine sehr eigene Definition von »akuter Notfall« haben. Der Rettungswagen wird zum Beispiel sehr häufig wegen einer »akuten Grippe« bestellt, anstatt den ärztlichen Bereitschaftsdienst anzurufen. Häufiger, als Sie denken, kommt es auch vor, dass ein RTW auf einen schlichten, nicht dringlichen Transport in die Klinik gerufen wird. Und das nur, weil der Anrufer kein eigenes Fahrzeug hat. Auch eingerissene Zehennägel oder juckende Ohrläppchen waren schon Gegenstand eines Notrufs … Dass es auch Taxiunternehmen für solche Fahrten gibt, die zudem deutlich weniger Geld kosten, interessiert die meisten Patienten leider nicht. Schließlich bittet der Rettungswagen ja nicht ihn direkt zur Kasse – wobei die Kosten natürlich letzten Endes über die entsprechenden Krankenkassenbeiträge trotzdem bei uns allen ankommen. Beim Anruf in der Rettungsleitstelle verlangen 80 Prozent der Anrufer übrigens einen »Notarzt«. Sie meinen jedoch den ärztlichen Bereitschaftdienst, der »mal eben« vorbeikommen und »eine Spritze« gegen die laufende Nase verabreichen soll. Dies führt immer wieder zu Irritationen und Fehleinsätzen.

Aber zurück zu meinem ersten Tag in der Wache. In der Umkleide staunte ich nicht schlecht. Männer und Frauen hatten ihre Spinde im selben Raum. Es gab nur eine Toilette und eine Dusche. Weiter kam ich mit meiner Besichtigung nicht. Der Wachleiter rief mich ins Büro und fragte mich nach meiner Kleidergröße. Er kramte in irgendwelchen Kartons und zog eine Hose, ein Pflegerhemd und eine müllmannfarbene Jacke mit dem Organisationslogo auf den Ärmeln hervor. Während ich mich in der Umkleide in Schale warf, betrat ein braun gebrannter Typ den Raum. Er war mir auf Anhieb sympathisch. Die eckige Brille und den mittlerweile stark ausgedünnten Schnauzbart trägt er noch heute. Wenn viele Menschen durcheinanderreden, sticht seine Stimme so hervor wie das Bellen eines Bernhardiners unter einem Rudel Chihuahuas.

»Hast du hier meine Zigaretten gesehen?«, fragte er. »Verdammt, wo zum Teufel habe ich die denn wieder hingelegt …«

»Hinten auf der Fensterbank – falls du die rot-weiße Schachtel meinst. Ich heiße übrigens Christian und bin der neue Azubi.«

»Lennart oder einfach Lenny.« Wir reichten uns die Hände

Eigentlich hätte ich Lenny gerne gefragt, ob ich nicht irgendwie doof aussah in den Klamotten. Aber ich wollte nicht gleich dumme Fragen stellen und negativ auffallen. Also hielt ich den Mund.

»Wir sehen uns«, sagte er, griff sich die Kippenschachtel und verließ die Umkleide. Meine erste Begegnung mit Lenny gestaltete sich so unspektakulär wie das Ponyreiten auf einem Jahrmarkt. Mittlerweile sind wir ein eingespieltes Team und richtig dicke. Durch das Fenster zum Innenhof sah ich, wie er in seinen Golf stieg und davonfuhr.

Im Wachraum klingelte das rote Telefon. Das bildete den direkten Draht zur Rettungsleitstelle und wurde genutzt, bevor die Piepser eingeführt wurden, die wir heute mit uns herumtragen. Zehn Sekunden später drückte Manni die Tür auf.

»He, Neuer … wir haben einen Einsatz. Wie sieht’s aus?«

»Wie meinst du das?«

»Könnte ja sein, dass du kalte Füße bekommen hast. Du bist etwas blass.« Ein kleines Grinsen.

»Keine Sorge.« Ich trottete Manni und Bert hinterher, zog am Griff der Schiebetür und setzte mich auf den Begleiterstuhl.

»Anschnallen nicht vergessen«, riet mir Manni. Wie käme ich auch dazu. Mein erster Einsatz. Mit Blaulicht, Martinshorn und einer Kippe im Mundwinkel jagte Manni die Straßen entlang und bremste den beigefarbenen Mercedes 310 einige Minuten später direkt vor dem Kaufhaus in der Altstadt. Meine Nervosität erreichte den Höhepunkt, als wir in das Kaufhaus liefen und einen Mann am Boden liegen sahen. Er atmete komisch und war nicht ansprechbar. Die beiden Rettungsassistenten aber wussten exakt, was zu tun war. Ich hörte die Begriffe Hirnblutung, Pupillendifferenz und dass es nicht gut aussehe. Begriffe und Phrasen, von denen ich erst später erfahren sollte, was sie bedeuten.

Der angeforderte Rettungshubschrauber landete auf einer Festwiese in der Nähe des Kaufhauses. Er sollte den Patienten in Windeseile in ein Krankenhaus mit neurochirurgischer Fachabteilung transportieren, die unserem Krankenhaus fehlte. Der Weg hätte mit dem Rettungswagen viel zu lange gedauert. Manni hatte dem Patienten im Blitztempo einen venösen Zugang, eine Sauerstoffbrille und ein EKG angelegt. Dann trugen wir den Mann zum Helikopter.

Auf der Rückfahrt zur Wache hatte ich einen Stein im Magen. Diesen Job sollte ich die nächsten 40 Jahre machen? So viel Stress und Aufregung? Ich fürchtete, dass ich jämmerlich an den knallharten Anforderungen scheitern würde. Der Gedanke war nicht unberechtigt, da Rettungsassistenten tatsächlich zu jeder Zeit unter erheblichem Druck stehen, die korrekten Entscheidungen zu treffen. Stellen Sie sich vor, Sie werden um drei Uhr früh aus dem Tiefschlaf geweckt und müssen innerhalb weniger Minuten am Einsatzort sein. Für die meisten Menschen ist das kaum genügend Zeit, um aufzuwachen. Stellen Sie sich dann vor, Sie betreten die Wohnung, von der aus der Notruf einging. Die Ehefrau zerrt an Ihrer Jacke und schreit, ihr Mann bekomme keine Luft mehr. Sie stehen vor dem Mann, der schon blau angelaufen ist und, nach Luft ringend, auf seinen zugeschwollenen Hals deutet. Eine allergische Reaktion. Dann müssen Sie in Sekundenschnelle überlegen: Wie können Sie dem Mann überhaupt helfen? Welche Maßnahme kommt zuerst? Wann der venöse Zugang? Welche Medikamente verabreichen Sie wie und in welcher Reihenfolge? Überlebenswichtige Entscheidungen, die in kürzester Zeit getroffen werden müssen.

Reizvoll an dem Job war aber der Gedanke, während der Einsätze sein eigener Boss zu sein. Keinen Chef vor der Nase, dafür aber Teamarbeit. Kein Nine-to-five-Job, bei dem der Tageshöhepunkt darin besteht, einen Stapel Papier vom Tisch zu stoßen oder eine Tasse Kaffee in die Computertastatur zu kippen. Außerdem erschien mir die hohe Verantwortung der Retter nicht nur respekteinflößend, sondern auch verlockend. Dafür brauchte ich aber eine solide Ausbildung. Und die erhielt ich in den folgenden Jahren.

Die Arbeit beim Rettungsdienst hat sich seit meinen Anfängen damals übrigens ganz schön verändert. Nicht lange vor meinem Einstieg im Rettungsdienst verfügten die Retter nur über die beigefarbenen Autos mit Blaulichtern und ein paar Mullbinden und Pflaster. Man konnte Sanitäter in der Tat als Taxifahrer mit einem etwas besseren Erste-Hilfe-Wissen bezeichnen. Wenn einer es wagte, einem Patienten einen venösen Zugang zu legen, bekam er Ärger. Defibrillation? Fehlanzeige – dafür musste ein Arzt her. Sauerstoffgabe? War laut Gesetz ein Medikament, von dem der Sanitäter lediglich bis zu vier Liter verabreichen durfte. So wurde es zumindest damals an den Rettungsdienstschulen gelehrt. Das Problem war nur: Vier Liter Sauerstoff können Sie im Ernstfall genauso gut zum Fenster hinausblasen. Damals waren den Sanitätern in Bezug auf ärztliche Maßnahmen die Hände gebunden, sodass während des Wartens auf den Arzt wertvolle Zeit verstrich. Wiederbelebungs-Algorithmen gab es nicht. Jeder führte eine Wiederbelebung durch, wie ihm das gerade einfiel. Während der eine Arzt ein Adrenalin-Party-Fass öffnete, gab der nächste dem Patienten nur homöopathische Dosen. Zudem wurden die durchgeführten Wiederbelebungen in Deutschland nicht einmal hinreichend evaluiert, um die Wirkung der eigenen Maßnahmen überprüfen zu können. Einen ärztlichen Leiter des Rettungsdienstes, der dafür verantwortlich gewesen wäre, gab es damals nicht. Es war zum Weinen.

Mir selbst blieb das Dilemma, dem Patienten nicht ausreichend helfen zu können, allerdings erspart. Als ich meine Ausbildung im Jahr 1994 begann, waren gerade die Frühdefibrillation und erweiterte Maßnahmen im Rettungsdienstbereich eingeführt worden – endlich. Jeder Retter durfte nun den halb automatischen Defibrillator anwenden und venöse Zugänge legen. Das alles natürlich nur nach sehr strengen Regeln. Alles wurde überwacht, und die Leute wurden ausreichend geschult. Die erweiterten Maßnahmen durften vom Rettungsassistenten nur nach bestandener jährlicher Überprüfung durchgeführt werden. Obwohl auch dies keine Rechtssicherheit für Rettungsassistenten bedeutet, befinden wir uns seitdem auf einem kontinuierlich besseren Weg.

Auch der Gesetzgeber reagierte allmählich auf den zeitlichen Wandel. Schon vor meinem Eintritt in den Rettungsdienst bildete die Einführung des Rettungsassistentengesetzes im Jahr 1989 den Grundstein für den professionellen medizinischen Assistenzberuf. Plötzlich wurden die Rettungsassistenten in ärztlichen Maßnahmen ausgebildet, welche sie eigenverantwortlich am Einsatzort durchführen können sollten. Dabei geraten sie leicht in einen juristischen Graubereich. Wegen des sogenannten Heilpraktikergesetzes befindet sich der Rettungsassistent irgendwie immer an der Grenze zur Strafbarkeit. Ob das Legen eines venösen Zugangs und die Medikamentenvergabe in einer akuten Notfallsituation durch den Rettungsassistenten eine Ausübung von Heilkunde darstellt und dies somit eine Approbation als Arzt oder eine bestandene Heilpraktikerprüfung voraussetzt, kann bis heute kein Jurist sicher beantworten.

Seit Anfang 2014 gibt es die Weiterentwicklung des Rettungsassistentengesetzes: das Notfallsanitätergesetz, das hinsichtlich der Befugnisse Klarheit schaffen soll. Endlich hat der Gesetzgeber Zuständigkeiten und Kompetenzen des Rettungsdienstpersonals klar geregelt. Die Ausbildung zum Notfallsanitäter dauert jetzt ein weiteres Jahr länger und ist intensiver, als es die Ausbildung zum Rettungsassistenten war. Welche Medikamente der Notfallsanitäter verabreichen und welche Maßnahmen er durchführen darf, wird von einem verantwortlichen ärztlichen Leiter des Rettungsdienstes festgelegt. Das Rettungsdienstpersonal wird regelmäßig geschult. Niemand muss Angst haben, für etwas zuständig zu sein, das er nicht beherrscht.

Zwanzig Jahre seit meinem allerersten Notfalleinsatz hat sich auch im Fuhrpark eine Menge bewegt. Im Gegensatz zu früheren Zeiten haben wir heute eine rollende Intensivstation mit allen Finessen dabei. Modernstes Equipment hilft uns, die unterschiedlichen Notfallsituationen meistern zu können. Vom 12-Kanal-EKG für eine kompetente Herzinfarktdiagnostik bis zu Perfusoren, kraftvollen Absauggeräten und elektronisch gesteuerten Beatmungsmaschinen ist für jeden nur erdenklichen Notfall die notwendige Ausstattung an Bord. Das aus Amerika importierte Spineboard zur Stabilisierung der Wirbelsäule und ein voll automatisches Reanimationsgerät runden die Ausrüstung ab. Gerade der Einführung des erwähnten Reanimationsgerätes ist es maßgeblich zu verdanken, dass noch mehr Menschen erfolgreich wiederbelebt werden konnten. Das Gerät wird zwar nicht standardmäßig in einem Rettungswagen mitgeführt, aber im Notfall vom NEF oder einem anderen Unterstützungsfahrzeug zugebracht. Es wird dem Patienten im Fall eines Herzstillstands um den Brustkorb geschnallt und führt dann eine Herzdruckmassage mit mechanischer Präzision und hohem Wirkungsgrad durch.

Was sich seit den Anfängen des Rettungsdienstes aber wohl nicht verändert hat, sind die vielen verschiedenen Charaktere im Kollegenkreis, die immer wieder für Brüller sorgen. Manche Berufsgenossen bieten sich für den einen oder anderen Scherz förmlich an. Eines von vielen Beispielen: Der drahtige Mitstreiter Manfred, der wegen seiner quirligen Art liebevoll Blaulicht-Manni genannt wird, wurde einige Jahre nach meinem Einstieg im Rettungsdienst gründlich aufs Korn genommen. Über Funk hatte er damals einen Hubschrauber mit den Worten eingewiesen, der Einsatz befände sich nordsüdlich von Hohenstadt. Der Pilot solle bis zur nächsten Kreuzung fliegen und anschließend rechts abbiegen. Daraufhin herrschte zunächst eine Funkpause. Dann fragte der Pilot Manni, ob er denn an der roten Ampel stehen bleiben müsse. Nur Manni hat diesen Wink bis heute nicht verstanden. Durch diese unglaubliche Situationskomik entstehen trotz der tragischen Ereignisse, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, die schönsten Geschichten und Anekdoten.

Lehnen Sie sich nun gemütlich zurück und genießen Sie die Geschichten rund um den Rettungsdienst, der nicht einfach nur ein Job, sondern auch eine Lebenseinstellung ist. Lachen, weinen oder staunen Sie beim Lesen der Geschichten über Notfall- und Notarzteinsätze, über die Kollegen und natürlich meine Patienten. Ich fände es übrigens schön, wenn wir uns vielleicht in einer Buchhandlung mal über den Weg laufen würden. Oder auf der Straße. Oder im Kino. Oder, oder, oder… Aber bitte: bloß nicht in einem Rettungswagen.

Christian Strzoda

Ammoniak und Deoroller

Es gibt ja wirklich allerlei Kuriositäten in der Einsatz- und Notfalllandschaft eines Rettungsdienstes. Allein im Bereich der autoerotischen Unfälle passiert jährlich genug, um ganze Bücher zu füllen. Gerade dieses delikate Thema sorgt immer wieder für großartige Anekdoten.

So wurden Lenny und ich eines Nachts in ein gewisses … Etablissement gerufen. Richtig – ein Bordell. Schon beim Betreten blendete mich die typisch rot blinkende Eingangsbeschilderung des »Clubs zur Rubbellandschaft«. Zuckrig-warme Luft schwappte mir entgegen und verschlug mir nicht nur die Sprache, sondern auch den Atem. Der schwere Geruch eines billigen Kaufhausparfüms lag in den Gängen. Lenny sah aus, als hätte man ihm den Kaffee gegen Zitronensäure ausgetauscht. Ich wusste gar nicht, dass ein Mensch so viele Muskeln im Gesicht besitzt.

Die schlanke Rothaarige an der Eingangstür trug etwas Durchsichtiges aus schwarzer Seide und war einen Kopf kleiner als ich. Ein Schmetterlings-Tattoo stach hervor. An der Hüfte muss das verdammt wehgetan haben.

»Kommen Sie herein – ich kriege den Typen einfach nicht wach.«

»Was ist passiert?« Gespannt wie die Flitzebogen gingen wir hinter ihr her.

»Der ist seit Mittag hier. Er hatte einiges an Champagner. Jetzt ist er fertig und belegt ein Zimmer. Ich bekomme ihn nicht wach.«

»Und wenn Sie ihn ausschlafen lassen?«, fragte Lenny.

»Der schläft schon lange. Und wir brauchen den Raum für den nächsten Gast …«

Lenny konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

Durch eine große, mit Intarsien versehene Holztür betraten wir das besagte Zimmer. Der langhaarige große Mittdreißiger lag nackt und in Embryonalstellung auf dem überbreiten Bett. Das Zimmer war völlig überhitzt. Vielleicht kam mir das aber auch nur so vor, schließlich hatten wir dicke Baumwoll- und Plastikklamotten an, während die Bordellbesucher in der Regel im Adamskostüm verweilen. Die ersten Schweißperlen traten auf Lennys Stirn.

»He, aufwachen«, rüttelte ich an der Schulter des Schlafenden. Keine Reaktion.

»Die Show ist zu Ende, geh nach Hause.« Der Typ nahm offenbar überhaupt nichts wahr. Ein Schmerzreiz musste her. Es gibt da mehrere Möglichkeiten; der Griff an die Schläfenhaare ist eine der geeignetsten Methoden. Er funktioniert allerdings nur bei Patienten mit ausreichendem Haarmaterial auf dem Kopf. Wenn jedoch jemand daliegt, der so viele Haare besitzt wie ein Fußball, greift man einfach beherzt zur Nasenscheidewand und zwickt diese mit aller Kraft zusammen. Dieser Griff schmerzt tränentreibend und ist obendrein unauffällig. Das hat den Vorteil, dass man in der Öffentlichkeit nicht wegen zu grober Behandlung des Patienten angemacht wird, weil es so aussieht, als würde man lediglich die Atmung überprüfen.

Doch der Typ reagierte immer noch nicht. Weder Schläfenhaare noch Nasenscheidewand bewirkten auch nur eine minimale Regung. Eine vitale Gefährdung schien jedoch ausgeschlossen. Sowohl Herzfrequenz, als auch der Blutdruck und die Atemfrequenz bewegten sich im normalen Bereich. Vermutlich war der Alkoholkonsum das Problem, und dass der Typ ausgequetscht worden war wie eine Zitrone. So ginge es mir vermutlich auch, wenn ich den ganzen Tag in einem Bordell verbringen und das machen würde, wozu man dort nun einmal einkehrt.

Mittlerweile war die Polizei eingetroffen, um uns zu unterstützen. Aber das Problem war ja nicht, dass der Typ nicht gehen wollte. Also, was tun? Einen Notarzt nachfordern? Aber wie sollte dieser helfen? Sanfte Schläge ins Gesicht? Nein, moralisch nicht vertretbar. Während ich meine Synapsen nach Ideen durchkramte und gleichzeitig gedankenverloren die Hände in die Jackentaschen grub, fiel mir ein winziger Glasbehälter in die Hand. Auf dem verblassten Etikett konnte ich gerade noch das Wort »Riechfläschchen« lesen. Das Fläschchen mit dem Ammoniak stammte aus den Achtzigerjahren und wurde tatsächlich früher in der Notfallmedizin verwendet. Der Verwendungszweck stand auch auf der Flasche: bei Bewusstlosigkeit und Ohnmacht. Allerdings konnte sich die Verwendung eines Riechfläschchens unter Umständen sogar als lebensgefährlich für den Bewusstlosen erweisen, denn die Anwendung von Ammoniak bei einem Kreislaufstillstand ist alles andere als wiederbelebend. Eben darum verwendet man es auch nicht mehr.

Warum ich so eine Ampulle in meiner Tasche hatte, kann ich nicht genau sagen. Sie konnte hier aber ein Glücksfall sein. Unser Patient hatte keinen Herzstillstand. Ich sah Lenny an, der mir wortlos bedeutete, ich solle es versuchen. Ich brach das Fläschchen auf und hielt es dem Herrn unter das Näschen. Es stach auch in meiner eigenen Nase.

Wie in einer voll- und dann überlaufenden Badewanne sammelten sich Tränen in den Augen des Mannes, der anfing, den Kopf zu bewegen. Sein Rhinencephalon, oder auch Riechhirn genannt, durchlitt vermutlich Höllenqualen. Wenn der beißende Geruch des Ammoniaks wirkt, ist das, als würde man mit einem Hammer auf den olfaktorischen Cortex einprügeln und diesen anschließend auch noch anzünden.

Der Typ schlug die Augen auf. Sehen konnte er vermutlich aber wenig, da ihm ganze Sturzbäche über die Wangen liefen. Er setzte sich an den Bettrand, wischte sich die Augen und sah betreten in die Runde. In diesem Moment bemerkte er offenbar obendrein, dass er noch nackt war. Er stand hektisch auf, drehte sich und suchte irgendetwas, um sich zu bedecken. Als erstes bekam er sein Unterhemd zu greifen. Für den Schambereich reichte es.

»Schönen guten Abend«, sagte ich und hielt dem Typen auch noch die Jeans hin. »Wie geht es Ihnen?«

»Danke. Ich weiß gar nicht, was Sie alle hier wollen …«

»Anscheinend hat man Sie nicht wachbekommen. Die Chefin dieses Hauses hat sich Sorgen um Sie gemacht«, sagte ich. Dass es eigentlich um den Platz im Zimmer ging, ließ ich unerwähnt. »Geht’s Ihnen so weit gut?«

»Ja. Das ist mir irgendwie unangenehm … bin ich noch etwas schuldig?«, sagte er zur Bordellchefin, die nur abwinkte. Sie sah so aus, als sei sie einfach nur froh, dass ihr das Zimmer endlich wieder zur Verfügung stand.

Der Gute entschuldigte sich nochmals und beeilte sich loszukommen. Während wir darauf warteten, dass er sich anzog, blätterte ich zwischenzeitlich in einer auf einem kleinen Tisch liegenden bekannten Männerzeitschrift. Beim Verlassen des Eroscenters nahm ich sie gedankenverloren zusammengerollt mit. Auf halbem Weg zum Rettungswagen fiel es Lenny auf. Grinsend fragte er mich, was ich denn heute Abend noch vorhätte. Peinlich berührt klingelte ich nochmals an der Tür des Clubs. Die junge Bordellchefin grinste ebenfalls und schenkte mir die Zeitschrift. Ich muss hier nicht erwähnen, dass mir diese Aktion noch immer blöde Kommentare und feixende Gesichter einbringt, wenn vom meiner Beute aus dem Puff die Rede ist.

Die meisten der Geschichten, die wir erleben, sind allerdings – ganz im Gegensatz zur Bordell-Geschichte – eher dem Bereich »Autoerotik« zuzuordnen. Der Begriff »Autoerotik« bezeichnet etwas, das Menschen in der Regel für sich allein machen: sich mit sich selbst zu vergnügen. Ob dies nun mit oder ohne Hilfsmittel passiert, ist völlig unerheblich. Und einen solchen Fall erlebten wir kurz nach unserem Bordell-Besuch.

Lenny und ich wurden in ein unscheinbares Wohnhaus gerufen, dessen Bewohner in eine unmittelbare autoerotische Zwangslage geraten war. Aus der Einsatzmeldung wurde das allerdings nicht deutlich – der Disponent verwendete die Worte »unklar erkrankt«. Unklar können viele Dinge sein. Ob man pünktlich an seinem Ziel ankommen wird, wenn man mit der Deutschen Bahn reist zum Beispiel. Oder der Ausgang eines Fußballspiels zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund. Aber eine Erkrankung? Was sagt denn der Anrufer, wenn er die 112 einer Rettungsleitstelle gewählt hat, um für sich oder jemand anderen Hilfe anzufordern? »Hallo, mein Name ist John Doe, ich brauche einen Rettungswagen, weil ich unklar erkrankt bin«? Ich habe aufgehört, mich zu fragen, warum die Telefonisten in solchen Fällen nicht genauer nachhaken.

Aber gut, wir waren nun mal dort und mussten uns um den Typen kümmern. Der Ort des Geschehens befand sich im 7. Stock eines 15-stöckigen Hochhauses ohne Aufzug. Solche sportlichen Einlagen heben die Laune … Die Wohnungstür des Anrufers öffnete sich zunächst nur einen Spalt breit. Die Uhr zeigte halb vier in der Frühe.

»Ja?« Wir konnten nur ein Auge erkennen, das aus dem Spalt hervorlugte.

»Guten Morgen. Strasser vom Rettungsdienst«, meldete sich Lenny.

»Ja?« Der Mann machte keine Anstalten, die Tür zu öffnen.

»Haben Sie uns gerufen?« Kurzes Zögern.

»Ja … vielleicht. Ich weiß nicht.« Aha … Der mutmaßliche Patient öffnete die Tür ein Stück weiter, runzelte die Stirn, machte einen betretenen Eindruck und wusste also nicht, ob er unsere Hilfe benötigte oder nicht. Ich verlor die Geduld. Um diese Tageszeit habe ich im Allgemeinen keinen Nerv für Spielchen.

»Lassen Sie uns kurz rein, damit wir uns selbst überzeugen können«, bestimmte ich und schob die Tür auf. Der Mann, der irgendwo in den Dreißigern sein musste, watschelte einen Schritt zurück und ließ uns hinein.

»Können Sie sich vielleicht was anziehen?«, forderte ich den Typen auf, der nackt in einer seltsam gekrümmten Haltung wie ein Fragezeichen vor uns stand.

»Äh … das geht nicht. Leider.« Vor meinen Augen begannen nun Fragezeichen zu tanzen. Der Typ drehte sich langsam, erinnerte mich dabei an eine Ente und deutete auf sein Hinterteil.

»Es geht nicht.«

»Was?«

»Na … es geht nicht raus.«

»Leiden Sie unter Verstopfung?« Keine Antwort. Ich wandte mich an Lenny. »Verdammt. Was zum …« Lenny sah mich leidend an, vergrub sein zitronensauer verzogenes Gesicht in beide Hände und schüttelte dabei den Kopf. Ihm war offenbar sofort klar gewesen, worum es ging. Bei mir fiel der Groschen etwas verzögert.

Der Typ hätte einfach nichts sagen müssen, wir hätten ihn wortlos in die nächste Notaufnahme gebracht, um ihm bei seinem kleinen Malheur helfen zu lassen. Er schien aber einen unüberwindbaren Drang zur Rechtfertigung für seinen zweifelhaften Zustand zu verspüren.

»Ich bin nackt durch die Wohnung gelaufen. Dann bin ich gestolpert, konnte mich nicht mehr abfangen und bin mit dem Arsch auf der Couch gelandet.« Der Typ sah zunächst Lenny an, dann mich. Ich wiederum blickte zu Lenny, der den Typen ansah. Sein Gesichtsausdruck war mehr als skeptisch. Im Hintergrund säuselte Musik aus dem Fernseher. »Da stand der Deoroller aus der Couchritze raus. Ich habe keine Ahnung, wie der dahin gekommen ist.«

»Wohnen Sie allein?«, fragte ich, inzwischen alles andere als amüsiert.

»Ja.«

»Dann wird Ihnen wohl ein Mainzelmännchen den Roller dort in spaßiger Absicht versteckt haben. Wollen Sie uns eigentlich verarschen, Mann?«, keifte ich auch in Anbetracht der Uhrzeit in die Richtung des Mannes, dessen Kopf feuerrot leuchtete. Lenny wandte sich grinsend ab.

»Ich bekomme ihn auf jeden Fall nicht mehr raus. Das wird langsam echt unangenehm.«

Tja, blöd gelaufen …

»Ich fürchte, ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie …«, sagte ich.

»Was heißt das? Muss ich jetzt sterben?« Ich rollte die Augen und verbiss mir gleichzeitig jetzt doch das Lachen.

»Nein, an einem Deoroller im Arsch ist sicher noch niemand gestorben. Aber Sie müssen mit in die Klinik. Hier können wir nichts für Sie tun.«

»Keine Sorge. Die Chirurgin bekommt das Ding schon raus«, grinste Lenny, der wusste, wer in dieser Nacht Dienst in der Notaufnahme hatte.

»Chirurgin?«, fragte der Patient, dessen Gesicht nun nicht mehr röter hätte werden können. »Können wir nicht in ein anderes Krankenhaus fahren?«

»Leider nein.« Ich wies den Patienten an, sich einen Morgenmantel umzuhängen, die Versichertenkarte einzuschieben und uns zu folgen.

Was der Mann nicht wusste: Nicht nur die diensthabende Chirurgin war eine Frau, sondern auch sämtliches Assistenzpersonal und das Personal der anderen Fachabteilungen: Krankenschwestern, eine Internistin und eine Neurologin, die die Abläufe im Behandlungsraum nebenan auch mitbekommen würden. Bingo.

Der Typ watschelte in die Notaufnahme, als hätte er einen Wanderritt in einem Englisch-Sattel hinter sich. Die Reiterinnen und Reiter unter Ihnen werden wissen, dass dies für das Sitzfleisch ziemlich unangenehm sein kann und man sich danach wünscht, man wäre nie auf diese Schnapsidee gekommen. So kam es auch zur ersten Frage, die dem armen Mann von der Schwester gestellt wurde.

»Haben Sie sich den Steiß geprellt oder sind Sie zu lange im Sattel gesessen?«

»Weder noch …«

»Lass uns in den Eingriffsraum gehen«, schaltete ich mich ein. Der Typ war schon zur Genüge bloßgestellt worden. »Ich schaff das alleine«, bedeutete ich Lenny, der sich mit einem Zigarillo vor die Notaufnahme verzog. Zehn Minuten später schwenkte die Chirurgin die Beute hin und her und grinste über beide Ohren – einen grünblauen Deoroller mit gelber Aufschrift, den sie in einen durchsichtigen Beutel gepackt hatte. Der Mann verließ eiligen Schrittes die Notaufnahme, rief uns ein kaum hörbares »Danke« zu und verschwand in der Dunkelheit. Ich gehe davon aus, dass er sich zukünftig überlegen wird, welches Spielzeug er zum Ausleben seiner erotischen Fantasien verwendet.

Schreck lass nach – mein Parkett

Auch im Rettungsdienst waren die Zeiten früher etwas lockerer, als dies heutzutage der Fall ist. Die Einsatzauslastung ist in den letzten Jahren dramatisch angestiegen. Das liegt nicht zuletzt am Anspruchsdenken und der schrägen Haltung der Bevölkerung, die immer öfter wegen einer juckenden Fußsohle einen Rettungswagen anfordert. Die hauptsächlichen Ursachen sind jedoch die wachsenden Städte und die damit verbundene Bevölkerungsdichte.

Die beste Dienstschicht für jeden Retter ist nach wie vor die Schicht als Fahrer des Notarztes. Der NEF-Fahrer hat weniger Einsätze, da nicht jeder Einsatz einen Notarzt erfordert. Am Einsatzort selbst hat er auch nicht sonderlich viel zu tun. Die körperliche Arbeit bleibt an der Besatzung des Rettungswagens hängen. Die Aktivitäten des Fahrers dagegen beschränken sich darauf, das Protokoll des Notarztes mit den grundsätzlich notwendigen Daten zu bestücken und gelegentlich ein Medikament in eine Spritze aufzuziehen. Häufig gibt es gar nichts zu tun, sodass man die Zeit des Leerlaufs für das eigene Wohlbefinden nutzen kann. In den Sommermonaten bietet sich der Aufenthalt an einem unserer umliegenden Seen an. Blöd nur, wenn ausgerechnet dann der Piepser geht. Insbesondere wenn sowohl der Fahrer als auch der Notarzt gerade ins kühle Nass eingetaucht sind, um sich eine Erfrischung zu gönnen.

Bruno, unser NEF-Fahrer an diesem Tag, war mit Notärztin Mariska unterwegs – ohne Einsatzauftrag, aber mit dem Vorhaben, die Wassertemperatur im See eines benachbarten Ortes am eigenen Leib zu erfühlen. Badesachen unter der Dienstkleidung boten den nötigen Komfort; Klamotten runter und rein ins Wasser. Gerade eben reingesprungen, kam es, wie es kommen musste: Der Leitstellendisponent meldete sich mit einem Notarzteinsatz. Bruno fluchte, stapfte aus dem See und zog seinen orangefarbenen Overall, an dem auch der Piepser hing, über die nasse Haut. Auch Mariska stieg aus dem See, zog die Einsatzklamotten an und machte sich auf den Weg zum Auto.

Lenny und ich trafen die beiden am Einsatzort: Ein kleines pastellgrünes Haus, das in einer etwas nobleren Gegend unseres Ortes stand. Der Patient hieß Herr Torek, hatte einen auffälligen Seitenscheitel und seine Körpergestalt erinnerte entfernt an einen Fußball. Er hatte Brustschmerzen.

»Mein Name ist Strasser«, sagte Lenny, »welche Beschwerden haben Sie?« Er packte die Blutdruckmanschette aus.

»Ich habe ein blödes Gefühl in der Brust. Es drückt so.«

»Ich messe Ihnen den Blutdruck. Können Sie das Gefühl näher beschreiben?«

»Nun ja … ein Druck halt.« Herr Torek sah Bruno und Mariska an und verzog das Gesicht.

»Haben Sie Schmerzen? Wie alt sind Sie?«, fragte ich.

»Ich wurde letzte Woche 59. Ich habe keine Schmerzen … aber …«

»Beschreiben Sie den Druck. Ist es, als wenn ein Gürtel um Ihre Brust geschnallt ist? Ist es eher wie ein Messer? Oder ganz anders?«

»Im Moment habe ich nur einen einzigen Druck.«

»Ja?«

»Wasser!«

»Wasser?«, wiederholte ich. »Sie müssen auf die Toilette?«

»Nein, zum Teufel. Ich meine das viele Wasser, das da aus den Hosenbeinen Ihrer Kollegen herauskommt.« Das Geräusch, das Herr Torek beim Atmen machte, erinnerte mich an eine schwer arbeitende Dampflokomotive. Sein Gesicht verfärbte sich zusehends. Der Schweiß lief herab und verfing sich im Schnauzbart. Mariska versuchte, Herrn Torek zu besänftigen.

»Das mit dem Wasser tut uns leid. Es ist keine Absicht.«

»Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass sich Wasser und Holzparkett nicht so brillant vertragen, oder?«

»Ich lege Ihnen jetzt ein EKG an. Wir möchten sehen, ob Ihr Herz in Ordnung ist.« Lenny fummelte die Kabel auseinander und zog das Trägerpapier von den Elektroden ab.

»Herr Torek, regen Sie sich bitte nicht auf. Jede Aufregung könnte gefährlich für Sie werden.« Mariskas Blick wanderte in das Medikamenten-Ampullarium.

»Nicht aufregen? Ein verdammter Quadratmeter kostet 150 Euro, und Sie hinterlassen mir Wasser darauf, als wären Sie vorhin beim Wetttauchen gewesen.« Herr Torek griff sich an die Brust.

»Seit wann haben Sie das Druckgefühl in der Brust?«

»Vor einer halben Stunde hat es plötzlich angefangen.«

»Ab jetzt bitte nicht mehr sprechen, ruhig atmen und nicht bewegen.« Lenny drückte auf den Knopf, der den Papierstreifen mit dem EKG ausdrucken sollte. Einen kurzen Moment erstarb jede Bewegung im Raum. Dann surrte endlich der Drucker im EKG und spuckte einen rosafarbenen Streifen aus. Eine stattliche Pfütze hatte sich mittlerweile im Wohnzimmer angesammelt. Der Parkettboden schien nicht versiegelt zu sein.

»Mein Parkett …« Herr Torek wurde bleich. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.

»Bruno, wisch bitte das Wasser vom Boden auf!«, sagte die Notärztin.

»Der Blutdruck liegt bei 90. Gerade so.« Lenny war das Grinsen vergangen, denn der Blutdruck war zu niedrig.

Mariskas Gesichtsausdruck wandelte sich ebenfalls. Stirnrunzelnd las sie das EKG-Ergebnis. Was auf dem Streifen zu sehen war, schien nicht nur wegen des miesen Blutdrucks wirklich bedenklich zu sein.

»Vergiss die Pfütze. Er braucht einen venösen Zugang.« Bruno sprang auf und kramte im Rucksack.

»… und das volle Programm.« Damit meinte Mariska eine Reihe bestimmter Medikamente, die im Rahmen eines Herzinfarkts standardmäßig verabreicht werden.

»Was hast du gesehen?« Ich war neugierig, was Mariska auf dem EKG entdeckt hatte.

»Herzinfarkt. Viele Extrasystolen.« Eine Extrasystole entsteht nicht im eigentlichen Taktgeber des Herzschlags, dem Sinusknoten, sondern an einer ganz anderen Stelle des Herzens. Die Extrasystole zählt zu den Herzrhythmusstörungen und verursacht einen zusätzlichen Herzschlag, den der Patient als Herzstolpern wahrnehmen kann. Bei einem gesunden Menschen ist das kein Problem. Auslöser können unter anderem Nikotin, Koffein oder auch Stress sein. Extrasystolen können aber auch auf akute ernsthafte Herzerkrankungen hinweisen. Wenn eine Extrasystole mit dem regulären Herzschlag kollidiert, kann lebensgefährliches Kammerflimmern entstehen. Kammerflimmern ist eine Form des Kreislaufstillstands und endet ohne medizinische Behandlung tödlich. Wenn die medizinische Versorgung verzögert wird, kommt es zu schweren neurologischen Schäden. Bereits ab vier Minuten nach dem Herzstillstand besitzt das Gehirn nur noch den Intelligenzquotienten einer Gemüsekaltschale. Unser Patient müsste also im Falle eines Herzkammerflimmerns so zügig wie nur möglich defibrilliert und der Herzschlag durch eine Herzdruckmassage ersetzt werden. Wenn Herr Torek jetzt kollabieren wäre, hätten wir obendrein schon allein aufgrund seiner geschätzten Masse von 130 Kilogramm ein gewichtiges Problem gehabt.

Der Zugang saß. Mariska hatte Herrn Torek die erste Spritze verabreicht. Aus der Sauerstoffmaske zischte es. Zwölf Liter pro Minute. Herrn Toreks Herzrhythmus schien momentan stabil zu sein. Hoffentlich würde das so bleiben. Erst jetzt sah ich mich ein wenig in dem Wohnzimmer um. Unser Patient hatte Bilder auf seinem Kaminsims aufgestellt. Auf einem Bild war ein junges Mädchen zu sehen. Auf einem Foto daneben war Herr Torek zusammen mit seiner Frau abgelichtet. Ob sie gestorben war? Ich wollte ihn in dieser Situation nicht danach fragen. Ein Bild zeigte, wie Herr Torek mit einem Jungen herumalberte. Der Junge schien ihn zu lieben und Spaß zu haben. Vielleicht sein Enkel. Vielleicht war Herr Torek ein gutmütiger Mensch, wer weiß.

»Er wird instabil«, warnte Mariska und stieß mich aus meinen Gedanken. Herrn Toreks Blutdruck fiel konstant. Der Herzschlag beschleunigte sich.

Lenny reagierte sofort: »Flach lagern?«

»Ja.«

Wir rutschten Herrn Torek vom Stuhl auf den Boden und lagerten ihn flach. Jetzt konnten nur noch spezielle Medikamente helfen. Der Mann hatte das Bewusstsein fast verloren. Der Blutdruck war unter eine kritische Grenze gefallen. 60 zu 40. Aber nur kurz. Ich hatte bis zuletzt gehofft, dass es nicht so kommen würde, aber die Extrasystolen hatten zum Schlimmsten geführt. Verdammt.

»Kammerflimmern. Er flimmert!« Paul Torek musste sofort defibrilliert werden. Lenny stürzte auf den Defibrillator zu, riss den Klett der Seitentasche auf und zog die speziellen Elektroden heraus. Trägerfolie ab, Elektroden auf dem mittlerweile nackten Oberkörper angebracht. Ich riss den Rucksack auf, holte den Beatmungsbeutel heraus. Sofort griff Mariska danach.

»Hier ist Bruno vom 1/76/1. Laufende Reanimation. Wir brauchen Trageunterstützung und den LUCAS.« Klick.

Der Leitstellendisponent alarmiert nach einer derartigen Lagemeldung ein Zubringerfahrzeug, das uns die automatische Reanimationshilfe namens LUCAS mit Blaulicht an den Einsatzort bringt. Die Schweden haben das System »Lund University Cardiac Assist System« oder kurz »LUCAS« entwickelt. Das Gerät übernimmt den schwierigsten Part – die mechanische Herzdruckmassage am Menschen. Ein unschätzbarer Vorteil, weil wir Retter nach einer gewissen Zeit beim Reanimieren ermüden. Die Maschine tut das nicht – außer, die Batterie ist zu Ende. Leider ist dieses Gerät keine Standardausrüstung auf einem Rettungswagen – wir mussten die Herzdruckmassage somit zunächst von Hand übernehmen. Zur Trageunterstützung nutzt die Leitstelle entweder die Feuerwehr oder, wie in diesem Fall, einen einsatzklaren Rettungswagen.

Ein anschwellender Ton signalisierte, dass sich der Kondensator des Defibrillators auflud. Ein Drücken aufs rote Knöpfchen mit der Aufschrift »Schock«. Der Körper bäumte sich auf. Nur ein kurzes Zucken als Zeichen dafür, dass die Muskulatur elektrisch reagiert und sich zusammenzieht. Es ist keineswegs so, dass der Körper bei einer Defibrillation einen halben Meter in die Luft fliegt und mit einem BA-DAMM wieder auf dem Boden aufschlägt. Fernsehsendungen, in denen so etwas gezeigt wird, sind schlichtweg zum Wegschalten.

Die erste Defibrillation war erfolglos. Lenny übernahm nun für die nächsten Minuten die Herzdruckmassage, Mariska die Position zur Beatmung am Kopf. Ich stellte das Gerät zum Absaugen des Sekrets zwischen Mariska und Lenny und zog Medikamente auf. Bruno sorgte für einen freien Weg, stellte die Trage vor der Haustür auf und kam einige Minuten später mit einem Tragetuch wieder. Ein Milligramm Adrenalin in die Vene. Dann der Griff nach dem spatelförmigen Instrument, mit dem man sich den Blick auf die Stimmlippen ermöglichen und den Beatmungsschlauch einführen kann. Ich entschied mich für den größten unserer Tuben, benetzte diesen mit Gel und drapierte ihn neben Mariska, die ihn zielsicher in die Luftröhre platzierte. Vier Minuten waren vergangen. Zwei kurz aufeinanderfolgende Pieptöne. Die Stimme aus dem Defibrillator meldete noch, dass der Herzrhythmus jetzt analysiert würde. Wir durften den Patienten nicht berühren, um keine Störung zu verursachen. Hochladen. Ein erneuter Schock. Wir hielten einige kurze Sekunden inne und warteten gespannt, ob sich auf dem EKG-Monitor etwas tat. Rhythmisches Piepen und ein deutlich tastbarer Puls. Endlich. Paul Torek war wieder da, und das LUCAS-Gerät kam letztlich umsonst. Und wir schafften es tatsächlich ohne weitere Zwischenfälle in die Klinik.

Paul Torek hat überlebt. Er hatte einen ausgedehnten Infarkt der Vorderwand, welcher vermutlich durch seinen fragwürdigen Ernährungsstil und den hohen Cholesterinspiegel entstanden ist. Die Körperfülle trug ihr Übriges dazu bei. Wahrscheinlich hatte eine der Herzmuskelzellen im Infarktbereich das Kammerflimmern ausgelöst. Zum Glück standen wir in dem Moment direkt daneben. Herr Torek kam sofort ins Herzkatheterlabor. Der Kardiologe setzte ihm einen Stent ein, ein Implantat zum Offenhalten des Gefäßes, das durch Kalkablagerungen verschlossen war.

Ob sich Herr Torek später noch daran erinnerte, dass wir sein Parkett beinahe kaputt gemacht hatten, weiß ich nicht. Mariska jedenfalls glaubte, dass die Pfütze auf dem Parkett der Auslöser für das Kammerflimmern Herrn Toreks gewesen sein könnte. Seither ist sie während des Dienstes nie wieder in den See gesprungen.

Firehorse