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Das einsam an einem See in den Wäldern gelegene Camp Lost Lake wurde vor siebzehn Jahren zum Schauplatz einer schrecklichen Mordnacht, in der drei Menschen grausam starben. Seitdem traut sich niemand mehr, das ehemalige Ferienlager zu betreten. Doch bevor es abgerissen wird, fasst die junge Olivia sich ein Herz und sucht auf dem unheimlichen Gelände nach Hinweisen auf ihren leiblichen Vater. Dort trifft sie auf Reagan, deren Mutter bis heute im ganzen Land für die Camp Lost Lake Morde gesucht wird. Regan glaubt nicht an die Schuld ihrer Mutter und sucht nach Beweisen. Gemeinsam tauchen die jungen Frauen ein in die Vergangenheit – und werden dabei selbst zur Zielscheibe …
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Seitenzahl: 386
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das einsam an einem See in den Wäldern gelegene Camp Lost Lake wurde vor siebzehn Jahren zum Schauplatz einer schrecklichen Mordnacht, in der drei Menschen grausam starben. Seitdem traut sich niemand mehr, das ehemalige Ferienlager zu betreten. Doch bevor es abgerissen wird, fasst die junge Olivia sich ein Herz und sucht auf dem unheimlichen Gelände nach Hinweisen auf ihren leiblichen Vater. Dort trifft sie auf Reagan, deren Mutter bis heute im ganzen Land für die Camp Lost Lake Morde gesucht wird. Reagan glaubt nicht an die Schuld ihrer Mutter und sucht nach Beweisen. Gemeinsam tauchen die jungen Frauen ein in die Vergangenheit – und werden dabei selbst zur Zielscheibe …
Danielle Valentine liebt gruselige Bücher und hat bereits mehrere Romane geschrieben, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Von ihr stammt zudem die Vorlage für die zwölfte Staffel der Serie »American Horror Story« mit Emma Roberts und Kim Kardashian in den Hauptrollen. »Two Sides to Every Murder« ist ihr atemberaubender neuer Thriller für junge Erwachsene und schaffte auf Anhieb den Sprung auf die New-York-Times-Bestsellerliste. Danielle Valentine lebt mit ihrem Mann, ihren zwei Töchtern und zwei grumpy Cats außerhalb von New York City.
Danielle Valentine
Roman
Aus dem Amerikanischen von Bettina Hengesbach
Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Two Sides to Every Murder« bei G.P. Putnam’s Sons, an imprint of Penguin Random House, New York.
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Originalausgabe September 2025
Copyright © 2024 by Rollins Enterprises, Inc.
Copyright © dieser Ausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur nach einem Entwurf von Andrew Coningsby
Redaktion: Melike Karamustafa
ES · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-33315-7V001
www.goldmann-verlag.de
Für Sawyer Rollins
– D.V.
Mit brennender Lunge kämpfte sich Gia North durch die Bäume. Der Wald um sie herum wurde dichter, verbarg die Hütten und die Lodge von Camp Lost Lake. Es fühlte sich an, als sei sie mitten im Nirgendwo.
Es ist noch nicht zu spät, es darf nicht zu spät sein, dachte sie, während sie ihre kurzen Beine beschwor, sich schneller zu bewegen. Ihre Wadenmuskeln schrien.
Sie sprang vom Gras auf die fest getretene Erde des Pfades …
Ihr Fuß rutschte unter ihr weg. Sie spürte einen scharfen Schmerz im Kinn und schmeckte Erde im Mund, ehe sie überhaupt realisierte, dass sie hingefallen war.
Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um zu stolpern.
Als sie sich vom Boden hochdrückte, fiel ihr Blick auf ihre Hände. Sie waren nicht nur vollkommen verdreckt, sondern ihre Finger, ihre Fingerknöchel und Handgelenke – jeder Zentimeter sichtbarer Haut – waren darüber hinaus mit Blut bedeckt.
»Steh auf«, befahl sie sich mit rauer Stimme. »Steh auf, Gia!«
Sie war von Erschöpfung und Panik ergriffen, aber Leben hingen davon ab, ob es ihr gelang, Hilfe zu holen oder nicht.
Gia raffte sich auf.
Während sie schwer atmend dastand, entdeckte sie ihre Videokamera auf der Erde; sie war ihr aus der Tasche gefallen und ein Stück entfernt vor ihr auf dem Pfad liegen geblieben. Diese Kamera war derzeit ihr wahrscheinlich wertvollster Besitz. Die Polizei würde die Videos sehen wollen, die sie eben aufgenommen hatte. Sie musste sie zurück in ihr Versteck bringen, wo sie sie später holen konnte. Unsicher blickte sich Gia über die Schulter zum Wald um, durch den sie gerade gerannt war. Blieb ihr Zeit dafür?
Kurz entschlossen hob sie die Kamera auf und schob sie zurück in ihre Tasche, bevor sie zu ihrem Versteck eilte, vorbei an Bäumen und die Treppe hinauf zur oberen Veranda des Büros der Campleiterin, wo sie vor einem der Fenster stehen blieb. Mit zitternden Händen entfernte sie das lose Stück Holzleiste, von dem niemand außer ihr etwas wusste, holte die Kamera aus ihrer Tasche und verstaute sie in dem kleinen Loch in der Verkleidung, bevor sie die Leiste wieder anbrachte.
Erleichterung durchströmte sie, als sie ausatmete. So. Zumindest das war geschafft.
Gia war bereits im Begriff, sich wieder zur Treppe umzudrehen, als sie etwas zu ihren Füßen bemerkte. Es war die elektronische Schlüsselkarte, die sie die letzten zwei Tage mit sich herumgetragen hatte. Sie musste ihr aus der Tasche gefallen sein, als sie die Kamera herausgeholt hatte. Gia beugte sich vor, um sie aufzuheben … und erstarrte. Von hier aus konnte sie bis zur Bogenschießanlage blicken. Auf dem offenen Platz standen zwei Personen. Im ersten Moment wollte sie die Arme heben und um Hilfe rufen, doch irgendetwas ließ sie innehalten. Stritten sie miteinander? Gia verengte die Augen und versuchte zu erkennen, wer die Leute waren. Dem blonden Haar und dem hochgewachsenen breitschultrigen Körperbau nach zu urteilen, musste es sich um Jacob Knight, den Bogensporttrainer des Camps, handeln, aber die andere Person war ihr fremd. Sie war schmaler und kleiner als Jacob – vermutlich eine Frau. Irgendetwas stimmte jedoch nicht mit ihrem Gesicht. Es wirkte verformt, alt, abgehärmt, mit grünstichiger Haut und langem, strähnigem grauem Haar. Die Augen waren schwarze Löcher, eingesunken und umgeben von gummiartiger Haut mit tiefen Falten. Die lange Hakennase war mit Warzen übersät …
Eine Maske, realisierte Gia. Deshalb wirkte das Gesicht so merkwürdig.
Während Gia sie von ihrem Platz auf der oberen Veranda vor dem Büro aus beobachtete, zog die maskierte Person einen Pfeil aus der nächstgelegenen Zielscheibe, stürzte sich damit auf Jacob und rammte ihn ihm in den Hals.
Jacob umklammerte den Pfeil, der aus seinem Körper ragte, wobei ihm Blut durch die Finger sickerte und ihn ein Zucken durchfuhr. Schließlich fiel er auf die Knie, und im nächsten Moment ging er gänzlich zu Boden.
Gia stieß einen Schrei aus. Hastig presste sie sich die Hände auf den Mund, um das Geräusch zu dämpfen, doch es war zu spät. Ihre Stimme war bis zum Schießplatz gehallt.
Die Frau hob den Kopf und schaute sie direkt an.
Nein, dachte Gia, drehte sich um und umfasste den Griff der Bürotür. Ihre vom Blut noch immer feuchten Hände zitterten stark, sodass sie zwei Anläufe brauchte, ehe es ihr gelang, den Knauf zu drehen.
Bevor sie die Tür aufstoßen konnte, warf sie einen letzten Blick über die Schulter. Die Frau hatte einen Bogen mit Pfeil von der Erde aufgehoben und spannte ihn. Sie zielte …
Die Luft pfiff, als der Pfeil in perfekter Ausrichtung auf Gias Gesicht zusauste.
Ich war zehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal die ausführliche Version der Geschichte über die Hexe von Lost Lake hörte.
Es passierte ausgerechnet auf Maeve Lewis’ Pyjamaparty, in dem Jahr, in dem Maeve beschloss, dass sie mich nicht mochte – aus Gründen, die ich nie verstand, obwohl ich beachtlich ausführliche Nachforschungen zu dem Thema anstellte. Schon wenige Minuten, nachdem ich mit meiner für die Übernachtung gepackten Tasche eingetroffen war, spürte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Immer wieder warf sie mir Seitenblicke zu und lächelte mich an, als wären wir gute Freundinnen, was wir jedoch definitiv nicht waren. Noch immer läuft es mir eiskalt den Rücken hinab, wenn ich daran denke.
Maeve wartete, bis wir alle unsere Pyjamas angezogen hatten – ein Dutzend Mädchen in Eiskönigin-Elsa-Schlafsäcken –, ehe sie den Clip mit dem prasselnden künstlichen Lagerfeuer auf ihrem iPad aufrief und die Geschichte über die Morde von Camp Lost Lake erzählte.
»Die Wälder in dieser Gegend hier werden schon seit ungefähr hundert Jahren als Ferienlager genutzt«, berichtete sie und lenkte ihren Blick dann auf mich. »Sie befanden sich die ganze Zeit im Besitz der gleichen Familie.«
Natürlich sprach sie von meiner Familie. Alle wussten, dass Camp Lost Lake den D’Angelis gehörte. Einst hatte dies als Ehre gegolten, zumindest hatte man mir das erzählt. Vor vielen Jahren war das Camp in unserem kleinen Ort sehr beliebt gewesen. Jedes Geschäft hatte stolz die Worte HOMEOFCAMPLOSTLAKE auf sein Ladenschild gedruckt; in der Regel mit einem zusätzlichen Banner mit der Aufschrift WELCOME, CAMPLOSTLAKERS!, das jeden Sommer im Schaufenster oder über dem Eingang hing. Einst hatte das Camp viel Geld eingebracht. Die Hälfte der Bevölkerung von Lost Lake, New York, hatte dort zu irgendeinem Zeitpunkt einmal gearbeitet, und fast jeder hatte schon mindestens in einem Jahr selbst daran teilgenommen. Für die meisten Menschen war es der erste Job, die erste Nacht weg von zu Hause und der Ort gewesen, an dem sie sich zum ersten Mal verliebt hatten.
Zumindest hatte mir dies meine Schwester Andie erzählt. Sie war viel älter als ich, deshalb hatte sie das Camp selbst miterlebt, doch seit jener Nacht im Jahr 2008 war es geschlossen. Die meisten Leute in meinem Alter kannten es nur aus Geschichten wie der von Maeve.
»Nun komm endlich zum Punkt«, drängte meine beste Freundin Hazel Katz, woraufhin ich ihr unauffällig ein dankbares Lächeln schenkte. Hazel war schon seit dem Kindergarten an meiner Seite, und bereits mit zehn Jahren ließ sie sich nichts gefallen.
»Na schön«, erwiderte Maeve und verdrehte die Augen. »Man erzählt sich, dass draußen im Wald eine Hexe lebt, die den ganzen Tag schläft und nur nachts hervorkommt. Und wenn man sich zufällig nach Einbruch der Dunkelheit in den Wald verirrt, entführt sie die Person, um sie für ihre Zauber zu benutzen.«
Mit zehn liebten wir solche Schauermärchen. Die anderen Mädchen quietschten und bedeckten ihre Augen mit den Händen, aber ich schluckte nur. Bisher war es noch nicht allzu schlimm.
»Dann ist die Hexe also so was wie der Boogeyman?«, fragte ich.
»Absolut«, antwortete Maeve. »Genauso wie der Boogeyman. Man glaubt, die Betreuerinnen und Betreuer des Camps hätten sie ursprünglich erfunden, um die jüngeren Kinder davon abzuhalten, sich nachts nach draußen zu schleichen. Aber dann, vor zehn Jahren«, nun senkte Maeve ihre Stimme, »geschahen diese … Morde. Die Leute behaupten, dass die Täterin, Lori Knight, eine Hexenmaske getragen hat, als sie ihren Mann mit einem Pfeil in den Hals erstochen hat.«
Diesmal quietschte niemand, sondern es herrschte Totenstille. Wir waren zwar noch jung, doch die meisten von uns hatten zumindest schon Teile der Geschichte von älteren Geschwistern oder Freundinnen gehört. Wir alle wussten, dass Lori Knight durchgedreht und mithilfe einer billigen Maske in die Rolle der Hexe von Lost Lake geschlüpft war, um ihren untreuen Ehemann Jacob mit seinem eigenen Pfeil und Bogen zu töten. Als sie bemerkt hatte, dass eine neugierige Campbetreuerin, eine Teenagerin namens Gia North, den Mord beobachtet hatte, brachte Lori Knight auch sie um.
Zuerst ging man davon aus, die beiden seien die einzigen Personen gewesen, die ums Leben gekommen waren, doch dann fiel auf, das von Loris damals siebzehnjährigem Sohn Matthew Knight jede Spur fehlte. Blutspuren und Anzeichen für einen Kampf ganz oben im Leuchtturm führten zu der Annahme, dass er aus dem Fenster gestoßen worden und im See ertrunken war, doch seine Leiche war nie gefunden worden.
Drei Morde in nur einer Nacht – noch nie zuvor war in unserem Ort etwas so Schreckliches geschehen.
»Es heißt, das Lori in jener Nacht zur Hexe von Lost Lake wurde«, fuhr Maeve fort. »Man glaubt, sie habe Gia getötet, weil sie etwas Verbotenes getan hatte. Sie hat sich unerlaubt nachts im Wald rumgetrieben, also hat Lori sie bestraft, genauso wie es die Hexe in der Geschichte mit den Kindern tut. Die Polizei hat Lori nie gefasst; sie könnte also immer noch in den Wäldern lauern und nur darauf warten, dass sich ein Kind in ihr Camp verirrt, damit sie es töten kann. Doch es gibt noch einen anderen Teil der Geschichte, den nicht viele Menschen kennen …«
»Hör auf!«, warnte Hazel und warf mir einen Blick zu. Sie musste bereits ahnen, worauf Maeve hinauswollte.
Auch ich glaubte, es zu wissen, immerhin hatte ich die Geschichte bereits in Auszügen gehört. Meine Mutter Miranda D’Angeli war 2008 die Leiterin von Camp Lost Lake und Lori ihre Assistentin gewesen. Mir war bekannt, dass sich meine Mom an jenem Abend im Camp aufgehalten und gesehen hatte, wie Lori, bedeckt mit Jacobs Blut, vom Ort des Verbrechens geflohen war. Bestimmt war es das, was Maeve allen erzählen wollte.
Doch sie überraschte mich, indem sie einen Teil der Geschichte preisgab, den ich noch nicht kannte – den Teil, den meine Mutter mir zehn Jahre lang verschwiegen hatte.
»Der Schock, einen Mord zu beobachten, löste bei Mrs D’Angeli frühzeitige Wehen aus.« Maeve lächelte mich direkt an, während sie die Worte aussprach. »Sie brachte ihr Baby gleich dort, auf dem Parkplatz von Camp Lost Lake, zur Welt, nur wenige Sekunden nach dem grausamsten Verbrechen, das in diesem Ort je passiert ist.«
Ein Dutzend Augenpaare starrten mich an, denn natürlich war ich das Baby, von dem Maeve sprach.
Wahrscheinlich hoffte sie darauf, dass ich weinen würde. Damals weinte ich oft, zum Beispiel, wenn ich eine schlechte Note bekam oder einen traurigen Film schaute oder wenn jemand etwas Gemeines zu mir oder sogar zu jemand anderem sagte.
An dem Abend gelang es mir jedoch, meine Tränen zurückzuhalten. Stattdessen wartete ich, bis alle anderen Mädchen damit beschäftigt waren, sich gegenseitig die Haare zu flechten und darüber zu diskutieren, welche Jungen süß oder nicht süß waren, um endlich das zu machen, was ich am besten konnte: meine Hausaufgaben. Ich stibitzte das iPad aus Maeves Schlafsack und las im Internet alles über die Camp-Lost-Lake-Morde, was ich finden konnte.
Tatsächlich hatte Maeve nicht übertrieben: Meine Mutter hatte mich auf dem Parkplatz direkt vor ihrem Büro zur Welt gebracht, während Lori Knight durch den Wald rannte, um der Polizei zu entkommen.
Nach der Pyjamaparty drängte ich Mom dazu, mir alles über die Nacht zu erzählen, in der ich geboren worden war.
Ich weiß, in welcher Schwangerschaftswoche sie war – in der siebenunddreißigsten.
Ich weiß, dass der Campaufseher Henry Roberts bei der Entbindung geholfen hat, ehe mein Dad eintraf, denn sie konnten nicht mal einen Krankenwagen rufen, weil Lori die Telefonleitung durchtrennt hatte. Der einzige Ort, an dem man Handyempfang hatte, war die oberste Etage des Leuchtturms, doch niemand wollte Mom allein lassen.
Ich weiß, dass ich um 19:37 Uhr nach nur zehn Minuten Presswehen zur Welt kam.
Ich weiß alles, kenne jedes Detail meiner Geburt.
Oder zumindest dachte ich das.
Denn nun, sechzehn Jahre nach dem Abend, an dem ich zur Welt gekommen bin, sitze ich hier, starre auf mein Handy und habe mit einer ziemlich großen Wissenslücke zu kämpfen. Mit angehaltenem Atem lese ich zum gefühlt zwölftausendsten Mal die letzte E-Mail des DNA-Labors, speziell die Stelle mit der Wahrscheinlichkeit einer Vaterschaft. Immer wieder rechne ich damit, dass sich das Ergebnis verändern wird, doch das tut es nicht.
Alles begann mit meiner Abschlussarbeit in Geschichte. Die Aufgabe lautete: Verfolge deinen Familienstammbaum so weit wie möglich zurück und stelle Hypothesen darüber auf, wie das Leben deiner Vorfahren vor hundert Jahren ausgesehen haben könnte.
Ich schickte meine Speichelprobe an eins dieser DNA-Unternehmen, die einem Aufschluss über die eigene Abstammung geben können sollen, und beschloss, mich nach dem Erhalt der Ergebnisse auf eine Region in Italien zu fokussieren. Die gesamte Familie meines Dads kommt aus Italien, und ich war mir sicher, ich würde Vorfahren aus der Toskana oder aus Neapel oder Rom ausfindig machen. Es würde perfekt werden. Meine Schulhausaufgaben waren immer perfekt.
Nur konnte ich die Aufgabe diesmal nicht beenden, denn laut des Testergebnisses fließt kein bisschen italienisches Blut in meinen Adern. Kein einziger Tropfen.
Erst begriff ich es nicht. Mein Name ist Olivia D’Angeli. Wir haben tatsächlich noch die Truhe von Dads Urururgroßmutter, mit der sie auf Ellis Island eingetroffen ist, als sie vor zweihundert Jahren aus Sizilien einwanderte. Jedes Wochenende kocht Dad Fleischbällchen mit einer Soße nach Nonna Mias Rezept. Im Sommer vor zwei Jahren haben wir seine Cousins in der Nähe von Genua besucht. Ich weiß, dass wir italienischer Abstammung sind.
Ich schrieb an die Firma und erklärte ganz sachlich, dass es sich um einen Fehler handeln musste, denn die Liste der Regionen auf meinem Profil schloss eindeutig nur die Seite meiner Mutter ein: England, Schweden, Norwegen, Wales und so weiter. Es war, als hätten sie meinen Dad vollkommen außen vor gelassen.
Daraufhin boten sie mir an, ihnen meine Speichelprobe erneut zu senden. Was ich tat. Drei. Weitere. Male. Den Vaterschaftstest ließ ich dann nur durchführen, um ihnen zu beweisen, dass ihnen mehrfach der gleiche Fehler unterlaufen war.
Das Ergebnis kam heute Morgen an.
Wahrscheinlichkeit einer Vaterschaft: 0 %.
Es war nicht das DNA-Unternehmen, das sich geirrt hatte, sondern ich. Der Mann, der mir stundenlang bei der Recherche für meinen ersten Computer geholfen und mir beigebracht hat, woran man eine reife Tomate erkennt; der Mann, der Reisedokumentationen und ausgefallenes Essen genauso liebt wie ich; der Mann, der mich jedes Jahr an meinem Geburtstag den kleinen Globus in seinem Büro drehen und mit geschlossenen Augen auf einen neuen weit entfernten Ort zeigen lässt, an den ich nach meinem Schulabschluss reisen werde – dieser Mann ist nicht wirklich mein Dad.
Tränen lassen meine Sicht verschwimmen. Ich will das Ergebnis ausdrucken, um es in Millionen Stücke zu zerreißen. Ich will Dinge durchs Zimmer werfen. Ich will schreien.
»Olivia?«
Ich zucke zusammen. Es ist die Stimme meines Dads. Nein, nicht meines Dads – Johnny D’Angelis Stimme. Ich blinzele ein paarmal, um die Tränen aus meinen Augen zu vertreiben, bevor ich mich umdrehe.
»Kommst du runter zum Mittagessen?«, fragt Dad (ich werde nie in der Lage sein, ihn als Johnny zu betrachten) und streckt den Kopf durch den Türrahmen in mein Zimmer.
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Weiß er, dass er nicht mein richtiger Vater ist? Falls nicht, wird ihn die Wahrheit umbringen. So wütend ich auch bin, und so betrogen, wie ich mich fühle, ich werde bestimmt nicht diejenige sein, die es ihm offenbart. Nicht solange ich nicht muss.
Mit einem Klick logge ich mich aus meinem E-Mail-Account aus und zwinge mich zu einem Lächeln. »Ja. Ich bin in einer Minute unten.«
In der Küche fällt mein Blick auf ein altes Polaroidbild von meiner Mom und meinem Dad an der Kühlschranktür. Darauf hält Mom ihre Hand in die Kamera, an deren Ringfinger ein winziger violetter Edelstein funkelt. Dad hat strahlend einen Arm um sie gelegt. Sie stehen hinter der Theke von Dads Restaurant, dem Lost Lake Diner. Er hat ihr einen Heiratsantrag gemacht, indem er den Verlobungsring in ihrem morgendlichen Matcha Latte versenkt hat – der nicht mal auf der Karte stand, aber dessen Zubereitung er eigens für sie gelernt hat. Mom hat mir erzählt, dass sie so überrascht war, dass sie den restlichen Inhalt des Bechers verschüttet hat; und wenn man die Augen ein wenig zusammenkneift, kann man die grünen Flecken auf ihrem T-Shirt erkennen.
Das Bild klebt schon am Kühlschrank, seit ich auf der Welt bin, doch nun ertappe ich mich dabei, wie ich es studiere, als würde ich es zum ersten Mal sehen. Mit einem Mal fallen mir all die kleinen Details an meiner Mom auf, über die ich noch nie zuvor nachgedacht habe. Zum Beispiel das Elternbeirat-T-Shirt, das sie bekommen hat, als sie den Kuchenverkauf an Andies Schule organisiert hat; die schicke solarbetriebene Wanderuhr, die sie sich selbst zum dreißigsten Geburtstag gekauft hat; das herzförmige Medaillon, das sie trug und in dem ein Bild von Andie als Baby steckt. Nach meiner Geburt hat sie auch ein Foto von mir hinzugefügt. Selbst der Verlobungsring verrät ein wenig über ihre Persönlichkeit: Es ist kein Diamant, sondern ein Amethyst, ihr Monatsstein, weil Diamanten zu teuer und nicht immer ethisch unbedenklich sind.
Ich spüre, wie sich meine Brust zusammenzieht, denn ich habe geglaubt, zu wissen, wer meine Mom ist – eine verantwortungsbewusste Frau, die gern Zeit in der Natur verbringt, ihre Familie liebt, sich für Umweltschutz einsetzt und die Dads Diner als zweites Zuhause betrachtet. Nun kommt es mir vor, als seien all diese Details ein Kostüm, als versuche sie, mich und den Rest der Welt davon zu überzeugen, dass sie ein guter Mensch ist. Doch wie viel davon ist tatsächlich wahr? Ist überhaupt irgendetwas davon wahr?
»Olivia, Schatz, das willst du anziehen?«, fragt Mom.
Ich habe nicht gehört, wie sie die Küche betreten hat, aber beim Klang ihrer Stimme blinkt sofort das Wort Lügnerin vor meinem inneren Auge auf wie ein grelles Neonschild. Abrupt löse ich meinen Blick von dem Foto und drehe mich zu ihr um.
Ich sehe aus wie meine Mom, und meine ältere Schwester Andie ähnelt ihr ebenfalls – was Sinn ergibt, da Johnny auch nicht ihr Dad ist; meine Mom hat Andie bereits kurz nach der Highschool zur Welt gebracht. Wir drei sind zartgliedrig und haben große, herzförmige Gesichter. Wir sehen aus wie Leute, die im Restaurant darum bitten, die Heizung hochzudrehen, weil es »hier drin langsam kalt wird«.
Mom hat das gleiche blonde Haar wie ich und Andie, doch trägt es in einem gerade geschnittenen Bob, der ihr bis knapp unter das Kinn reicht. Sie ist klein und stets gepflegt und hat ungefähr die gleiche Statur wie ich, sodass wir uns gegenseitig Kleidung ausleihen könnten, für den Fall, dass ich plötzlich eine Vorliebe für Eileen-Fischer-Klamotten und alternative Clocks entwickeln sollte. Wir haben uns noch nie wütend angeschrien, so wie man es oft bei Familien im Fernsehen sieht. Ich habe ihr immer vertraut. Sie war diejenige, die ich anrief, damit sie mir eine frische Jeans brachte, als ich in der Junior High mitten im Lernsaal meine Periode bekam. Und sie war die Einzige, der ich erzählte, dass ich im Freshman-Jahr in Simon Collins verliebt war oder dass ich aus Versehen einen Laden verlassen hatte, ohne für meinen Schokoriegel zu bezahlen. Als sie erkannte, dass mich Bücher mehr begeisterten als die Natur, suchte sie immer die nächstgelegene Buchhandlung heraus, wenn wir mit dem Wohnmobil einen Wochenendtrip unternahmen. Im Gegenzug legte ich eine Lesepause ein, um hin und wieder mit ihr wandern zu gehen.
Ob Mom weiß, dass Dad nicht mein richtiger Dad ist? Das muss sie, oder?
Ich gehe die realistischsten Erklärungen durch, was passiert sein könnte. Vielleicht konnte sie nicht auf die klassische Art schwanger werden? Vielleicht haben sie sich für eine Samenspende entschieden?
Möglicherweise hat sie ihn aber auch betrogen.
Bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um. Das Bild von meiner Schul-T-Shirt tragenden, umweltbewussten, naturverbundenen Mutter zerspringt in meinem Kopf. Vielleicht kenne ich sie überhaupt nicht.
»Olivia.« Mom spricht meinen Namen gedehnt und ein wenig lauter als für gewöhnlich aus, so wie sie es manchmal tut, wenn sie mir bereits ein paarmal die gleiche Frage gestellt hat und ich zu geistesabwesend war, um sie zu hören.
»Äh … du hast was über mein Outfit gesagt?« Ich blicke an mir hinunter: schlichtes T-Shirt mit V-Ausschnitt, Jeansshorts, um die Hüfte gebundener Cardigan, Arbeitsstiefel. Mein Haar habe ich wie jeden Tag, abgesehen von besonderen Anlässen, zu einem praktischen Zopf zusammengebunden. Für gewöhnlich denke ich nicht viel über meine Kleidung nach, und heute war mir lediglich wichtig, etwas anzuziehen, worin ich gut arbeiten kann. »Was stimmt denn nicht daran?«
»Andie will, dass alle ihre Antlers-Polohemden tragen, für den Fall, dass die Presse erscheint.«
Mom hat ihres bereits an, wie mir nun auffällt. Sofort erkenne ich das Logo, das meine Schwester für ihren neuen Coworking-Space designt hat: ein Hirschgeweih, das aus einem Kranz Zweige und Blumen herausragt, durch die sich in verschlungener Schrift das Wort ANTLERS schlängelt. Es ist cool und edel, so wie alles, was Andie tut. Hinten auf dem Polohemd steht: WORK. WELLNESS. PLAY.
»Kommst du mit uns zum Campgelände?«, frage ich stirnrunzelnd.
Da Antlers das ehemalige Camp Lost Lake übernimmt, wird es das erste Mal seit den Morden sein, dass der Ort für die Öffentlichkeit zugänglich ist.
Mom lächelt. »Ich trage das Polo nur aus Solidarität, damit deine Schwester weiß, dass wir alle hinter ihr stehen.«
Ich schenke ihr ein dünnes Lächeln, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass Andie nicht weiß, dass unsere Familie sie in allem, was sie tut, unterstützt.
Mom betrachtet meine Stiefel. »Vielleicht solltest du auch darüber nachdenken, andere Schuhe anzuziehen«, fügt sie hinzu. Sie redet in dem Tonfall, den sie immer dann anschlägt, wenn ihr etwas nicht gefällt, sie es aber nicht offen ansprechen will. Gott bewahre, dass sie auch mal eine negative Meinung äußern könnte.
»Das sind Arbeitsstiefel.« Ich kann den Ärger in meiner Stimme nicht verbergen. »Du weißt schon, zum Arbeiten? Du predigst doch ständig, wie wichtig es ist, die richtige Ausrüstung zu haben.«
Um ehrlich zu sein, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie damit meint, man solle Wanderstiefel tragen, die gut passen, und einen angemessenen Helm und eine Schutzausrüstung, wenn man bestimmte Sportarten treibt. Doch mir ist nach Streit.
Mom verschränkt die Arme vor der Brust und wirkt verwirrt über meinen Tonfall, da ich mich normalerweise nicht mit ihr anlege – schließlich bin ich eine typische Perfektionistin, die es immer allen recht machen will. Ich würde alles für den metaphorischen goldenen Stern tun.
»Schatz, stimmt irgendwas nicht?«, fragt sie. »Geht es dir gut?«
Ich bin gerade im Begriff, unsere Diskussion fortzusetzen, als ich von dem Geräusch knirschender Kieselsteine unter Autoreifen in der Einfahrt unterbrochen werde.
Moms Augen leuchten auf. »Andie ist da.« Sie ist eindeutig erleichtert, dass der große Arbeitsstiefelstreit von 2024 ein natürliches Ende findet. »Schnell, geh dich umziehen.«
Ein paar Minuten wühle ich in meinem Schrank nach dem Antlers-Polohemd, wobei ich Klamotten von Bügeln reiße, Jacken auf den Boden fallen lasse und Schuhe durchs Zimmer werfe. Ich muss meine Frustration rauslassen.
Eigentlich sollte ich zurück nach unten gehen, meine Mom zur Rede stellen und sie dazu zwingen, mir die Wahrheit zu offenbaren, aber sie lügt mich schon mein ganzes Leben an. Sie hat auf meiner Geburtsurkunde gelogen, was … Ich weiß nicht mal, ob das legal ist. Ebenso hat sie wahrscheinlich meinen Dad und Andie angelogen. Warum sollte sie mir ausgerechnet jetzt die Wahrheit sagen?
Nein, wenn ich meine Mom sofort frage, wer mein richtiger Vater ist, wird sie mir nur noch mehr Lügen auftischen und alles mit einem Lächeln abtun, während sie vorgibt, ihre ordentlich manikürten Fingernägel zu begutachten. Zuerst brauche ich Beweise. Ich kann bereits hören, wie sie versucht, Erklärungen für den DNA-Test zu finden, und mir einredet, dass ich die falschen Haare eingeschickt habe – was ausgeschlossen ist. Ich habe die Haare von Dads Schnurrbartkamm verwendet, den niemand sonst benutzt. Ich will die gesamte Wahrheit, ganz egal, wie sehr sie schmerzt.
Immer noch in Gedanken vertieft finde ich meine Schwester und Mutter im Esszimmer vor. Sie umarmen sich und … Ich runzele die Stirn. Moment mal, weinen sie etwa? Mit angehaltenem Atem verstecke ich mich hinter der Wand, die den Flur vom Esszimmer trennt, damit ich sie unauffällig beobachten kann.
Andies schmächtige Schultern beben, und ihre dunklen Augenringe heben sich von ihrer blassen Haut ab, als hätte sie nicht viel geschlafen. Sie weint vollkommen lautlos, so wie sie es immer tut, wenn sie wirklich traurig ist. Intensive, stumme Schluchzer, als würde sie den Schmerz in sich einsperren. Mom hat die Arme fest um ihre Schultern gelegt. Eine einzelne Träne läuft ihr über die Wange und hinterlässt einen unschönen Streifen in ihrem sonst so makellosen, reduzierten Make-up. Andies Hund Pickle Rick schnüffelt um ihre Füße herum und winselt leise, was zeigt, dass ihn die Stimmung der beiden eindeutig beunruhigt.
Während ich dastehe und die Szene beobachte, überkommt mich ein Frösteln. Wir sind keine Familie, die weint. Ich weiß noch genau, wie mich Mom inmitten eines Weinkrampfes während meiner vorpubertären Heulphase einmal zur Seite nahm und sagte, dass ich mich beruhigen müsse, da den Leuten Tränen unangenehm seien. Sie ließ mich sogar ihr Taschentuch benutzen, um mir die Augen zu trocknen. Es war wunderschön, aus Seide, mit Blumenmuster und hauchzart. Ich erinnere mich noch daran, gedacht zu haben, dass es aussah, als sei es noch nie benutzt worden.
Irgendetwas stimmt nicht.
Langsam frage ich mich, ob ich mich einfach leise davonschleichen und so tun soll, als hätte ich sie nicht gesehen, doch in dem Moment nimmt Pickle Rick meine Witterung auf, dreht sich um und trottet japsend auf mich zu.
Meine Mom löst sich von Andie und wischt sich die Mascara von den Wangen. »Olivia.« Sie lacht, als hätte ich gerade einen Witz erzählt. »Es tut mir leid, Schatz, ich hab dich gar nicht bemerkt.«
Pickle Rick hat mittlerweile seine Vorderpfoten auf meinen Beinen platziert und bittet mich mit dieser Geste darum, ihn hochzuheben und zu knuddeln. Ich nehme ihn auf den Arm und kraule ihn hinter den Ohren.
»Ist alles okay?« Die Frage ist an meine Mutter gerichtet, mein Blick ruht jedoch auf Andie.
Meine Schwester trägt ihr Haar genau wie ich schulterlang, glättet es jedoch stets so ordentlich, dass die Spitzen eine gerade Linie über ihren Schulterblättern bilden.
»Ach, es ist nichts«, erwidert Mom und berührt die Wange meiner Schwester. »Ich freue mich einfach nur so sehr, Andie wiederzusehen, das ist alles.«
»Oh.« Ich runzele die Stirn. Es ist nicht nur so, dass unsere Familie nicht weint – wir lieben einander und stehen uns ziemlich nahe, aber auch verbale Gefühlsbekundungen dieser Art sind ungewöhnlich. Wenn Mom gerührt ist, macht sie eher einen Witz, als dass sie schluchzt. Sie hat nicht mal geweint, als Dad ihr einen Heiratsantrag gemacht hat, sondern ist in Gelächter ausgebrochen.
Das hier ist merkwürdig.
Ich starre immer noch Andie an und beschwöre sie stumm, mich anzusehen. Als sie es endlich tut, sind ihre Augen vollkommen trocken und ihre Wangen kein bisschen gerötet. Das überrascht mich nicht, denn Andie ist wahnsinnig gut darin, cool und gelassen zu wirken, ganz egal, wie es in ihrem Inneren aussieht. Schon mein ganzes Leben ist sie für mich das beste Beispiel dafür, wie sich ein »gutes Mädchen« verhält: perfekt, ohne sich anstrengen zu müssen.
»Bist du bereit aufzubrechen?«, fragt sie.
»Äh, ja«, antworte ich. »Ich hole mir nur noch schnell einen Müsliriegel. Hab vergessen, zu Mittag zu essen.«
»Okay, ich warte draußen im Auto.«
Als ich zurück in die Küche gehe, rutsche ich auf irgendetwas aus, sodass ich nach vorn taumele und mich an der Wand abstützen muss.
Mit einem Blick auf den Boden stelle ich fest, dass das Foto von meinen Eltern, das normalerweise am Kühlschrank klebt, runtergefallen ist. Ich muss es versehentlich von der Tür gerissen haben, als ich aus dem Raum gestürmt bin.
Als ich mich bücke, um es aufzuheben, halte ich inne, denn ich habe etwas entdeckt, das mir vorher noch nie aufgefallen ist. Neben meinen Eltern ist noch ein anderer Mann auf dem Bild zu sehen, zwar ein wenig verschwommen, doch ich erkenne ihn trotzdem. Natürlich tue ich das, denn er ist in dieser Gegend berühmt. Oder besser gesagt berüchtigt. Der bekannteste untreue Ehemann von ganz Lost Lake.
Jacob Knight, der vor sechzehn Jahren von seiner Frau Lori Knight ermordet wurde, weil er sie betrogen hatte, sitzt am Ende der Theke, hinter der meine frisch verlobten Eltern stehen. Der Blick aus seinen winzigen, unscharf abgebildeten Augen scheint auf meiner Mutter zu ruhen, und er wirkt … wütend. Mit zusammengepresstem Kiefer starrt er meine Mom an.
Mit einem Mal erfüllt Kälte meinen Magen.
Es gibt nicht viele Gründe, aus denen ich meiner Mutter verzeihen würde, dass sie mich in Bezug auf meinen richtigen Dad angelogen hat, aber man hat nie herausgefunden, mit wem Jacob seine Frau betrogen hat. Nun, da ich darüber nachdenke, wird mir bewusst, dass ich nie erfahren habe, woher die Leute wussten, dass er untreu war. Aber wenn er eine Affäre mit meiner Mom hatte, wenn sie in der Nacht, in der Lori Knight zu einer Hexe wurde, sein Kind zur Welt gebracht hat …
Nun. Dann war die Lüge vielleicht gerechtfertigt.
Ich drücke das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Es geht mir nicht einmal darum, schneller zu fahren, ich will einfach den Adrenalinschub spüren, den es mir verschafft, bei voller Geschwindigkeit an einem Stoppschild vorbeizurasen, den Wald hinter mir zu lassen und auf den staubigen einspurigen Highway einzubiegen, der in Richtung Süden führt.
Süden. Ich liebe es, mich in diese Himmelrichtung fortzubewegen, denn Süden bedeutet Stadt, Zivilisation, Menschen. Und ich vermisse Menschen.
Ich bin noch nicht lange unterwegs, als ich einen Typen mit gehobenem Daumen am Straßenrand stehen sehe. Er ist groß, von asiatischer Abstammung und hat schwarzes Haar mit Mittelscheitel, das ihm bis zu den Ohren reicht wie bei einem Teenie-Idol aus den Neunzigern. Er trägt ein offenes, rot-schwarz kariertes Flanellhemd über einem grauen T-Shirt und einer locker sitzenden Jeans.
Ich bremse und fahre rechts ran. »Hey! Wohin willst du?«
Kurz sieht der Typ mich schweigend an. »Kommt drauf an«, sagt er schließlich mit leiser Stimme. »Wohin fährst du denn?«
»Nach Camp Lost Lake.«
»Weißt du denn nicht, dass dieser Ort verflucht ist? Jeder, der diesen Wald betritt, begegnet der Hexe von Lost Lake. Du solltest umkehren und nach Hause fahren, kleines Mädchen.«
Als ich die letzten beiden Wörter höre, hält mich nichts mehr auf dem Sitz. Ich stoße die Tür auf und springe aus dem Wagen.
Die Augen des Typen weiten sich, und er hebt schützend die Hände, als rechne er damit, dass ich ihn schlagen werde.
Stattdessen schließe ich ihn in eine feste Umarmung.
»Whoa!«, stößt er hervor, wobei seine Stimme von meinem Jackenärmel gedämpft wird. »Du umarmst mittlerweile Leute?«
»Nur dieses eine Mal.« Ich drücke ihn ein wenig fester. »Damit musst du jetzt klarkommen.«
»Ich glaub, du bist gewachsen.«
»Oder du bist geschrumpft. Auf jeden Fall wirkst du kleiner.«
»Jetzt, wo du’s sagst – ich hab mich heute Morgen nach dem Aufwachen irgendwie kleiner gefühlt, das muss es also sein.«
Als er ebenfalls seine Arme um mich schlingt, bin ich plötzlich von weichem Flanell und festen Muskeln umgeben, die man nur von körperlicher Arbeit bekommt.
Ich löse mich von ihm, kurz bevor die Umarmung von freundschaftlich zu mehr wird, und versetze ihm so fest ich kann einen Schlag auf den Arm, nur um zu beweisen, dass ich noch immer ganz die Alte bin.
Er zuckt übertrieben heftig zusammen und reibt sich die Stelle. »Au! Verdammt, Reagan, für jemanden, der so klein ist, kannst du verdammt gut zuschlagen.«
»Danke, dass du dir Zeit genommen hast«, sage ich aufrichtig dankbar zu Jack. Er und seine Familie werden in ein paar Tagen nach Peking fliegen, um Verwandte zu besuchen, daher war heute der einzige Tag, an dem wir beide herkommen konnten. »Ich glaube nicht, dass ich das allein gepackt hätte.«
»Schon in Ordnung.« Als er lächelt, kommen all seine Zähne zum Vorschein. »Ich wollte schon immer einen Mordfall lösen.«
»Drei Mordfälle«, korrigiere ich ihn. »Streng genommen lösen wir drei.«
Mein Handy – ein uraltes Nokia im Ziegelsteinformat, das ich letztes Jahr im Secondhandshop der Heilsarmee gefunden habe – vibriert im Getränkehalter, nachdem wir in den Truck gestiegen und losgefahren sind.
Ich werfe einen raschen Blick auf das Display: Mom.
Das Herz rutscht mir in die Hose. Als ich los bin, hat sie geschlafen, doch wahrscheinlich war es eine unrealistische Hoffnung, dass mir eine weitere Stunde vergönnt sein würde, ehe sie bemerkt, dass ich nicht zu Hause bin.
»Du musst drangehen«, sagt Jack. Er und seine Mom stehen sich nahe, obwohl sie nichts gemeinsam haben. Sie erschafft Kunst mit politischen Statements, er begeistert sich genau wie sein Dad für Sport und die Natur. Dennoch erzählt er ihr alles. Ihm würde niemals in den Sinn kommen, einen Anruf von ihr zu ignorieren.
Der Gedanke versetzt mir einen Stich, denn zwischen meiner Mom und mir war es früher genauso.
»Was soll sie schon machen?«, fragt er und hält mir mein Handy hin. »Ihr habt doch kein zweites Auto, richtig? Und die Cops wird sie wohl kaum rufen. Erzähl ihr einfach die Wahrheit.«
Ich schaue ihn an. Wahrheiten sind ihm generell wichtig. Das ist einer der Gründe, warum er sich bereit erklärt hat, mich zu begleiten. Er versteht mein Bedürfnis, den damaligen Geschehnissen auf den Grund zu gehen.
Mit einem Mal mutiger nehme ich den Anruf entgegen und halte mir das Telefon ans Ohr. »Hi Mom. Was gibt’s?«
Obwohl sie angeblich eine flüchtige Mörderin und legendäre Verbrecherin ist, wird meine Mom Lori Knight, die Hexe von Lost Lake, nie wirklich wütend und nur sehr selten laut. Diesmal muss ich sie allerdings richtig verärgert haben, denn noch in der Sekunde, in der ich mich melde, beginnt sie, mich so heftig anzuschreien, dass ich zusammenzucke und das Handy ein Stück von meinem Ohr weghalte.
»Reagan Eleanor, bist du etwa mit dem Truck unterwegs? Was hast du dir nur dabei gedacht? Kehr sofort um …«
»Du weißt, dass ich das nicht tun werde«, erwidere ich. »Ich hab versucht, mit dir darüber zu reden, aber …«
»Und ich habe dir gesagt, dass es darüber keine Diskussion geben wird«, fällt sie mir ins Wort. »Ich bin die Mutter, du bist das Kind. Ich treffe die Entscheidungen.«
»Und wo hat das hingeführt?«, schreie ich zurück. Ich erhebe sonst nie die Stimme gegen meine Mom, und mir wird sofort bewusst, dass ich zu weit gegangen bin.
Am anderen Ende der Leitung entsteht eine bedeutungsschwere Stille, die eine Million Mal schlimmer ist als das Brüllen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Jack das Gesicht verzieht, als wollte er sagen: Oh Shit.
Ich stoße die Luft aus. »Aber ich brauche den Wagen doch nur für ein paar Stunden. Danach komme ich auf direktem Weg zurück, das schwöre ich.«
»In zwanzig Minuten fährt ein Bus nach Lost Lake, New York, ab.« Natürlich hat sie sich längst zusammengereimt, wohin ich unterwegs bin. »Wenn du nicht sofort umkehrst, komme ich dir persönlich hinterher.«
Mist.
Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie bereit wäre, in einen Bus zu steigen. In den letzten Jahren hat sie ziemlich schlimme Arthritis in den Händen bekommen, sodass ihr simple Dinge, wie ihren Rucksack auf- und abzusetzen oder ihre Schnürsenkel zu binden, häufig schwerfallen.
Obwohl es mir in der Seele wehtut, beende ich das Telefonat, denn nichts an ihren Worten ändert etwas an meinem Vorhaben. Es bedeutet lediglich, dass ich mich beeilen muss. Ich habe meine Mom ungefähr zwei Stunden nördlich von meinem aktuellen Standort in einem Wurfzelt zurückgelassen. Wenn sie tatsächlich den Bus nimmt, könnte sie in sechs Stunden in Camp Lost Lake sein. Sogar früher, falls es sich um einen Expressbus handelt.
Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor aufgelegt habe, ohne mich von meiner Mom zu verabschieden. Wir haben eine so widerlich enge Bindung, wie man sie normalerweise nur aus herzerwärmenden Sitcoms kennt. Abgesehen von der Tatsache, dass die Mütter in diesen Serien keine gesuchten Mörderinnen sind.
Im letzten Jahr habe ich viel Zeit damit verbracht, mich zu fragen, warum ich bis vor Kurzem keine Ahnung hatte, dass meine Mom wegen Mordes an drei Menschen gesucht wird. Zu meiner Verteidigung sei erwähnt, dass den Großteil meines Lebens nicht viel über die Camp Lost Lake-Morde bekannt war. Sie bekamen erst so viel Aufmerksamkeit, als ein Amateur-Podcast mit dem Titel How to Be a Final Girl eine ganze Staffel darüber ausstrahlte. Ich habe den Podcast nicht sofort gehört, als er erschienen ist, denn ich stand nicht auf True Crime, und dann habe ich mich aus Prinzip geweigert. Doch das spielte keine Rolle, denn innerhalb von einem Jahr schienen plötzlich alle die Geschichte zu kennen.
Vor dem Podcast war ich eine normale Fünfzehnjährige. Ich mochte gebratenes Hühnchen und schlechte Science-Fiction-Filme. Ich liebte es zu zeichnen und war so gut darin, dass ich darüber nachdachte, mich beim Pratt Institute für das Grafikdesign- und Illustrationsprogramm zu bewerben. Ich war im Schwimmteam der Schule, und ja, okay, vielleicht war ich nicht für die Olympischen Spiele bestimmt, aber ich war gut. So gut, dass meine Trainerin glaubte, ich hätte es schon in der Schule in ein Uniteam schaffen können, was fast auf niemanden sonst zutraf. Ich hatte ein Fahrrad, ein Bett und schon seit dem Kindergarten die drei gleichen besten Freundinnen: Hallie, Liza und Sam. Wir vier waren wie eine Familie. Zumindest glaubte ich das.
Hätte mir damals jemand erzählt, dass meine Mom – die Frau, die die streunende Katze aus unserem Garten gesund gepflegt hatte, die mir abends zum Einschlafen »Blackbird« von den Beatles vorgesungen und mir zum Geburtstag kunstvolle Kuchen in Form meiner Lieblings-Disney-Charaktere gebacken hatte – in Wahrheit auf der Flucht war, weil sie angeblich ihre Familie ermordet hatte, hätte ich es niemals geglaubt.
Doch dann ging der Podcast viral und unser Leben den Bach hinunter. Auf einmal sprachen alle, die wir kannten, über die Morde von Camp Lost Lake. Nein, sie redeten nicht nur von ihnen, sondern sie lasen Artikel über sie, studierten sie, suchten im Internet nach Fotos von Lori Knight, machten Witze darüber, dass sie meiner Mom ähnlich sah, die zu dem Zeitpunkt unter dem Namen Lauren Karl lebte, und, haha, war das nicht total merkwürdig?
Ich kann mich nicht mehr an den genauen Zeitpunkt erinnern, zu dem unsere Nachbarn begannen, uns genauer zu beobachten, oder Sam, Liza und Hallie aufhörten, Nachrichten in unserem Gruppenchat zu schreiben. Doch ich werde niemals die Nacht vergessen, in der mich meine Mom im Dunkeln wachrüttelte und mir zuflüsterte, ich solle ins Auto steigen und dass sie mir ein paar Dinge erzählen müsse.
Rückblickend hatte es immer Anzeichen gegeben. Meine Mutter weigerte sich stets, von meinem Dad oder irgendwelchen anderen Verwandten zu sprechen. Ihr Leben schien in dem Jahr begonnen zu haben, in dem ich geboren wurde und in dem wir in den kleinen Ort Pittsburg zogen – nein, nicht Pittsburgh, Pennsylvania, sondern Pittsburg, New Hampshire. Sie behauptete immer, ihr Leben vor meiner Geburt sei nicht von Bedeutung gewesen und dass es für sie nur wichtig sei, meine Mutter zu sein. Dass ich ihr »Neuanfang« sei. Und ja, ich gebe zu, dass ich es ein wenig verdächtig fand, als sie sich schlichtweg weigerte, mir einen Reisepass zu besorgen, oder als ich meine Geburtsurkunde suchte und sie behauptete, ich hätte keine. Doch auf die Wahrheit wäre ich niemals gekommen.
Sie hat es nicht getan. Ich weiß, dass sie es nicht getan hat. In der Nacht, in der wir geflohen sind, fasste sie für mich die wichtigsten Eckdaten der damaligen Geschehnisse zusammen: Ihr seien die Morde angehängt worden, die Cops aus dem Ort hatten sie von vornherein im Visier, sie hätte niemals ein faires Gerichtsverfahren bekommen. Und sie hat mir die Wahl gelassen. Sie musste fliehen, ich jedoch nicht. Wenn ich zurückbleiben und mein normales Leben hätte weiterführen wollen, hätte sie vollkommenes Verständnis gehabt. Sie hat schon immer alles dafür getan, mir das Leben zu ermöglichen, das ich ihrer Meinung nach verdiene, und daran wird sich niemals etwas ändern. Doch mir war klar, dass ich sie nie wiedersehen würde, wenn ich sie allein ließe.
Also entschied ich mich für sie. Ich werde mich immer für sie entscheiden, was allerdings nicht heißt, dass ich darüber glücklich sein muss.
Unsere Bleibe ist nun schon seit zwölf Monaten ein heruntergekommener alter Pick-up-Truck – der einzige Wagen, für den meine Mom genügend Bargeld hatte –, in dem wir von einem unbekannten Ort in den Bergen zum nächsten fahren. Wir kommen in billigen Mietshäusern unter, wenn wir das nötige Geld haben, und ziehen weiter, ehe uns jemand zu genau unter die Lupe nehmen kann oder zu viele Fragen stellt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gebratenes Hühnchen gegessen, Nagellack getragen habe oder schwimmen war. Natürlich kann ich immer noch zeichnen, und ich nehme im Internet an Highschool-Kursen teil, wann immer wir Zugang zu Computern und kostenlosem WLAN in Bibliotheken haben, aber ich vermute stark, dass das Pratt Institute von seinen Erstsemestern erwartet, dass sie einen Highschool-Abschluss in der Tasche haben. Diesen Traum kann ich also wohl vergessen.
Und damit wären wir wieder bei der heutigen Mission mit dem gestohlenen Truck und der Fahrt in Richtung Süden.
Schon seit Monaten versuche ich, Mom dazu zu bewegen, einen Plan zu schmieden, um ihre Unschuld zu beweisen, aber sie will nicht einmal darüber reden, ganz egal, wie oft ich das Thema zur Sprache bringe oder wie viele Strafverteidiger ich im Internet heraussuche. Sie führt sich auf, als sei es vorbei, als müssten wir einfach hinnehmen, dass dies unser Leben ist. Doch das kann ich nicht, denn ich will mein richtiges Leben zurück. Und ich will Mom an meiner Seite haben.
Wir sind immer noch ein paar Blocks von Camp Lost Lake entfernt, als ich den blau-weißen Streifenwagen am Straßenrand entdecke. Mit einem Mal fällt mir das Atmen schwer. Cops sind generell kein gutes Zeichen, aber Cops hier? Zu diesem Zeitpunkt?
Jack, dem meine Panik vollkommen entgeht, hebt eine Hand und winkt.
»Was soll das?«, zische ich. »Du kannst doch keinem Cop zuwinken!«
Er wirkt aufrichtig verwirrt über meine Reaktion. »Das ist kein Cop. Ich meine, streng genommen schon, aber es ist doch nur Karly. Sie kommt manchmal vorbei, um auf unserem Grundstück zu angeln. Im Ernst, sie ist cool.«
Ein Schauer durchfährt mich, doch ich beiße die Zähne zusammen, um ihn zu unterdrücken. Es kommt mir vor, als würden wir eine Ewigkeit brauchen, um an Karlys Streifenwagen vorbeizufahren. Wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein, aber ich habe den Eindruck, dass sie mein Gesicht besonders eingehend studiert.
Meine Mom und ich sehen uns nicht sonderlich ähnlich. Zwar haben wir beide helle Haut, aber ich habe Sommersprossen und bin blond, wohingegen sie viel blasser ist und graue Haare hat, die sie sich seit unserer Flucht aus Pittsburg braun färbt.
Dennoch röten sich meine Wangen. Ich bin mir sicher, die Polizistin wird jeden Moment erkennen, dass ich den Wagen von meiner Mom gestohlen habe und auf der Flucht bin, dass ich die Tochter der berüchtigten Verbrecherin Lori Knight bin.
Doch Karly lächelt, als wären wir Freundinnen, und winkt noch ein wenig enthusiastischer. Merkwürdig.
»Bieg hier ab«, sagt Jack plötzlich und deutet in eine schmale ungepflasterte Straße, an der wir schon fast vorbeigefahren sind.
Abrupt reiße ich das Lenkrad herum und biege scharf ab.
Jack stützt sich mit den Händen am Wagendach ab und bedenkt mich mit einem kritischen Blick. »Ich dachte, du wolltest vermeiden, dass du von der Polizei angehalten wirst.«
»Sorry«, murmele ich. Nun, da wir die Hauptstraße verlassen haben, fühle ich mich besser. Weniger sichtbar.