Tyger - S. F. Said - E-Book

Tyger E-Book

S. F. Said

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Beschreibung

Adam hat auf einer Müllhalde etwas Unglaubliches gefunden. Etwas Geheimnisvolles, Mythisches, Magisches. EINE Tyger. Doch Tyger ist in Gefahr und auch Adam hat mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Das Geschäft seiner Eltern läuft nicht gut, und obwohl Adam Botengänge in die hintersten Winkel Londons unternimmt, schaffen sie es kaum, über die Runden zu kommen. Und damit sind sie in dem Armenviertel, in dem sie leben, nicht die einzigen. Trotz der sich zuspitzenden gesellschaftlichen Verhältnisse schöpft Adam Hoffnung für diese wilde Welt, in der er lebt, und versucht, mit Hilfe seiner Freundin Zadie, Tyger zu retten. Doch dafür müssen sie erst das Tor zu einer anderen Welt finden und Tyger aus den Klauen des schrecklichen Tyrannen Urizen befreien. Mit eindrucksvollen Metaphern beschreibt Said eine Anleitung für eine bessere Welt. Fantastisch illustriert von Dave McKean.

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Seitenzahl: 207

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Es geschah im 21. Jahrhundert.

London war die Hauptstadt eines großen Empires,

und dieses Reich beherrschte noch immer die ganze Welt …

Kapitel 1

Noch ein paar Tage, dann war Wintersonnenwende. Es regnete in Strömen, und auf den engen Gassen von Soho standen tiefe Pfützen. Selbst mitten am Tag war der Londoner Himmel bleigrau und von schweren Rauchwolken verhangen. Wie immer.

Adam Alhambra hatte keine Augen für den düsteren Winterhimmel. Sein Blick war fest auf den vor ihm liegenden Kontrollpunkt gerichtet, und er zitterte. Er zog die Jacke enger zusammen, und trotzdem traf der Wind ihn wie eine Peitsche. Aber die Kälte war nicht das Einzige, was ihn frösteln ließ.

Durch die Gitter hindurch sah er einen Soldaten. Und er hörte, wie der Soldat mit knallharter Stimme Menschen zurückwies, die die Grenze zwischen Soho und dem Rest von London überqueren wollten. Adam konnte ihn dabei beobachten, wie er mit angelegtem Gewehr eine ganze Familie daran hinderte, das Ghetto zu verlassen. Er kaute auf seinem Bleistift herum.

»Der Nächste!«

Jetzt war er dran. Er steckte sich den Bleistift hinters Ohr und ließ sich durchsuchen. Über ihm hingen reihenweise britische Fahnen und außerdem ein Bild des Kaisers.

Der Grenzsoldat trug eine rote Uniform und hatte einen borstigen weißen Schnurrbart. Er musterte Adam von oben bis unten – seine Haut, seine Haare, seine Augen. Alles, was an ihm irgendwie fremdartig war. Dunkler. Dann sah er sich Adams Papiere an, und als er seinen Namen sah, ging’s los.

»Alhambra?«, fragte der Soldat. »Wo kommst du denn her?«

»Na ja, aus London«, sagte Adam und wollte dabei ruhig bleiben, aber das klappte nicht.

»Du weißt genau, was ich meine«, sagte der Soldat. »Wo kommst du wirklich her?«

Adam senkte den Blick. »Meine Eltern sind aus dem Nahen Osten hierhergekommen«, sagte er, »aber ich bin hier geboren und aufgewachsen.«

»Aus dem Nahen Osten.« Der Soldat runzelte verächtlich die Stirn. »Da kommen doch die Kamele her.«

»Kamele?«, fragte Adam verwirrt. »Keine Ahnung. Ich weiß so gut wie nichts über den Nahen Osten. Ich mach nur den Lieferdienst für den Laden meiner Eltern, Alhambra und Co. Die sind auf mich angewiesen.« Er zeigte dem Soldaten seine Tasche und die Pakete, die sorgfältig darin verstaut waren.

»Wo sind die Papiere für den Laden?«, fragte der Soldat.

»Hier, die hab ich.« Adam suchte die Dokumente aus der Jackentasche, und als er sie herauszog, flatterte ein kleiner Zettel zu Boden.

Sein Herz schlug heftiger. Blitzschnell hob er den Zettel auf und stopfte ihn zurück in seine Tasche.

»War das eine Zeichnung?«, fragte der Soldat. »Du bist wohl ein kleiner Künstler!«

Adams Gesicht brannte. Ihm standen die Haare zu Berge. »Nein, nein, überhaupt nicht«, sagte er. »Bitte. Hier sind die Dokumente für das Geschäft. Schauen Sie.«

Der Soldat sah sich Adam ganz genau an, und die Dokumente sah er sich noch viel genauer an. Dann brummte er etwas und winkte Adam durch. »Also los, Kameltreiber«, sagte er. »Mach bloß nichts falsch.«

»Danke. Vielen Dank«, sagte Adam mit gepresster Stimme, als er durch die Kontrollstelle ging und endlich hinaus auf die Oxford Street trat.

Und hier, auf der anderen Seite, war alles anders. Die Leute kauften auf der großzügigen Straße ein, Erwachsene gingen zur Arbeit und Kinder zur Schule. Keiner hielt sie an, keiner durchsuchte sie, und keiner stellte ihnen irgendwelche Fragen.

Einen Augenblick lang wünschte Adam sich, einer von ihnen zu sein. Ein ganz normaler britischer Junge auf dem Schulweg. Überall hingehen zu dürfen und sich alle Träume erfüllen zu können.

Aber er war Ausländer, und er hatte zu tun.

Er rannte los. Flitzte die Oxford Street entlang, an den großen Warenhäusern vorbei, auf die Tottenham Court Road. Einige Leute, an denen er vorbeirannte, schauten ihn so an, wie der Soldat ihn angesehen hatte. Er konnte spüren, wie sie seine Haut anstarrten. Immer runtergucken, hatte sein Vater ihm eingebläut. Wenn du sie direkt anschaust, wird alles noch schlimmer. Nur keinen Blickkontakt aufnehmen. Schau immer weg, sonst …

RUMS!

»Pass doch auf!«

Oh nein. Adam schaute auf und sah einen mageren, ausgehungert wirkenden Mann, der mit kalten blauen Augen auf ihn herunterstarrte.

»Es tut mir leid«, sagte Adam. Der Mann grinste. Seine weißen Zähne glänzten.

»Kein Problem«, sagte er freundlich. »Hier, ich zeig dir was.« Er legte den Arm um Adams Schulter und schob ihn in eine Seitenstraße.

Adam ging mit, erleichtert, dass er sich keinen Ärger eingehandelt hatte. Aber Zweifel nagten an ihm. Die Straßen um Tottenham Court Road waren dreckiger und viel weniger herrschaftlich als die Oxford Street. Hier gab es nichts, nur wuchtige, rauchschwarze Backsteinmauern. Hier war niemand zu Fuß unterwegs. Hier stimmte was nicht.

»Also«, sagte der Mann. In der Ferne donnerte es. »Gib mir mal deine Tasche und dein ganzes Geld, dann lass ich dich vielleicht am Leben.«

Adam fuhr der Schreck in die Glieder. Der Mann hatte ihn fest im Griff und versperrte ihm den Rückweg.

»Hilfe!«, schrie Adam. Aber auf der Hauptstraße nahm keiner Notiz davon.

»Wer kommt denn einem Ausländer zu Hilfe!« Der Mann grinste immer breiter. »Also, her mit der Tasche, du elende Kakerlake.«

Adams Puls raste.

Verzweifelt versuchte er, sich aus dem Griff des Mannes zu lösen.

Strampelte.

Drehte sich.

Und riss sich los.

Er rannte, und das ging nur in eine Richtung: weiter die Seitenstraße runter. Aber das war eine Sackgasse, am Ende war die Müllkippe. Ein riesiges Gelände, das der Stadt gehörte. Der Abfall stank zum Himmel.

Hinter sich hörte er den Mann, Schritte auf dem Bürgersteig, durch den Regen. Der Mann jagte ihn jetzt.

Adam hetzte durch das Metalltor der Müllkippe, an Stapeln von Müllsäcken und zerdrückten Dosen und Glasscherben und zerrissenen Postern vorbei. Der Mann war ihm auf den Fersen, immer dichter, jagte ihn, immer weiter in die Müllkippe hinein.

Blitze am Himmel. In ihrem gleißenden Licht sah Adam eine Holztür, hinter einem Berg von Asche.

Er stürzte hinein, ins Dunkel.

Zerbrochene Fensterscheiben flogen an ihm vorbei, er rannte durch die Zimmer eines verlassenen, verfallenen Gebäudes. Dann ragte vor ihm eine Mauer auf. Keine Türen, nur hinter ihm die, durch die er gekommen war. Es gab keinen Ausweg. Er saß in der Falle, allein.

Er drehte sich um und sah, wie der Mann durch die Tür trat. Da blitzte was in seinen Händen. Ein Messer.

Adam wurde fast schlecht. »HILFE!«, schrie er –

– und dann hörte er über sich ein Brüllen. Ein Brüllen, das noch viel lauter war als der Donner.

Kapitel 2

Adam schaute hoch, er zitterte am ganzen Körper, und dann sah er zwei Lichtpunkte im Dunkel der Ruine.

Die Lichter blinkten, blinzelten, wie Augen.

Da brach es aus dem Dunkel hervor, bewegte sich so schnell, er konnte es kaum sehen. Streifen, schwarze und goldene, sprangen aus dem Dachgebälk und landeten auf vier Pranken, direkt neben ihm.

Ein Tier! An seiner Seite stand das Riesentier und fauchte den Mann mit dem Messer an. Ein kräftiger Sprung, und diese massige Erscheinung war zwischen dem Mann und Adam. Dann warf sie den Kopf zurück und brüllte, als wollte sie Adam vor dem Messer beschützen.

Der Mann schrie auf. Er rannte, flüchtete durch dieselbe Tür, durch die er gekommen war, und schon war er verschwunden.

Adam war wie erstarrt. Das Tier stand immer noch zwischen ihm und der Tür. Er starrte dieses Wesen an. Atmete einen süßen, üppigen, hellen Duft wie von Blüten und Beeren. Spürte, wie sich seine Angst in etwas anderes verwandelte.

Er hatte Gänsehaut, die Augen weit aufgerissen. Was er empfand, war noch eigenartiger als Angst. Da war ein Tier aus dem Dunkel erschienen, um ihn zu beschützen. Warum?

Und … wer war sie?

Es war ein weibliches Tier, das wurde im flackernden Licht jetzt deutlich. Von den Schnurrhaaren bis zur Schwanzspitze war sie sicher drei Meter lang. Sie war so wuchtig, dass sie den ganzen Türrahmen ausfüllte. Ihr Fell glänzte so feurig wie Gold und war rabenschwarz gestreift.

Die Zeit schien stillzustehen. Sie sah Adam an, und Adam sah sie an. Er konnte einfach nicht wegschauen. So nah war er noch nie einem Tier gekommen, und schon gar nicht so einem großen und wilden.

Ihre Augen funkelten wie flüssiges goldenes Feuer. Glänzten. So ein strahlendes Licht hatte er noch nie gesehen. Aber irgendwie schien ihr Blick auch voll Schmerz. Er sah sie genauer an, und sie war verletzt. Da war Blut an ihrem Fell, zwischen den Streifen, es tropfte rot an ihr herunter.

Er schnappte nach Luft. Was für ein Tier sie auch war, sie war verwundet.

Sie zuckte zusammen, als ein Donnerschlag das Gebäude erschütterte. Drehte sich auf der Stelle und schnappte nach etwas und fauchte, weil sie es nicht erwischte. Sie wand sich, und Adam schlich sich an ihre Seite –

– und sah voller Schrecken, dass ihr der lange Schaft eines Pfeils aus der Schulter ragte. Auf der anderen Seite blitzte die Pfeilspitze hervor.

Das Tier war gejagt worden. Jemand hatte sie angeschossen und fast zur Strecke gebracht. Der Pfeil war quer durch sie durchgegangen. Wo er aus dem Körper herausragte, tropfte das Blut.

Adam rang nach Luft. Wenn der Pfeil da blieb, wo er war, würde sie sterben. Und sie selbst konnte ihn nicht herausholen. Sie hatte ihm das Leben gerettet – jetzt brauchte sie selber Hilfe, und zwar noch viel dringender als er.

Wieder ein Blitz. Donner über dem verfallenen Gebäude. Die Erscheinung sah Adam an. Sie stand völlig still vor ihm und blickte ihm direkt in die Augen.

Ihm lief es kalt den Rücken herunter. Sie bewegte sich nicht. Wedelte nicht mal mit dem Schwanz. Sah ihn einfach an, mit unwahrscheinlich klarem Blick aus goldenen Augen.

Ganz langsam und fast wie im Traum streckte er die Hand nach ihr aus.

Sie rührte sich immer noch nicht.

Er ging ein bisschen auf sie zu und noch ein bisschen weiter. Er sah, wie breit und stachlig die Pfeilspitze war. Zurückziehen konnte man sie nicht. Er musste sie nach vorne herausreißen.

Adams Mund war völlig ausgetrocknet, als er sich den Pfeil genauer ansah. Das Tier hielt völlig still, als er den langen Schaft des Pfeils abbrach, gerade oberhalb der Wunde, und dann zog er ganz langsam an der Pfeilspitze, zog sie Zentimeter für Zentimeter aus dem Fleisch und dem Fell heraus –

– da kam immer noch mehr von dem Pfeil, doch er zog und zog, bis alles endlich heraus war.

Das Tier atmete auf. Ließ sich auf den Boden sinken, leckte sich die Schulter, leckte und leckte, um die Blutung zu stoppen, während es draußen immer weiter regnete.

Adam legte sich daneben. Ihm war ganz weich in den Knien. Aber er hatte es geschafft – wie, das wusste er selbst nicht so genau. Der Pfeil war raus.

»Alles wird gut«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu dem Tier, »mach dir keine Sorgen.«

Und dann begann sie selbst zu sprechen, mit klarer Stimme und so nah an ihm dran wie sein eigenes, pochendes Herz.

»Danke, mein Retter«, sagte sie. »Ich bin dir dankbar für deine Hilfe.«

Kapitel 3

Adam beäugte das Tier, das da in der Ruine vor ihm lag. Diesen einen Augenblick lang gab es in der ganzen weiten Welt nur ihn und dieses unwahrscheinliche Tier. Das Tier, das gerade mit ihm gesprochen hatte.

War das ein Traum? Er streckte wieder die Hand aus, um sie zu berühren, um ihr Fell zu spüren. Er hörte ihr Herz schlagen. Und ihm wurde klar, dass der süße, üppige, helle Duft, der ihn umgab, von ihr ausging. Er hatte noch nie einen Traum gehabt, der so realistisch war, dass er ihn sogar riechen oder berühren konnte.

»Wie heißt du?«, flüsterte er.

»Man hat mir schon viele Namen gegeben«, sagte sie. »Nenn mich … Tyger.«

Adam stellten sich die Nackenhaare auf, als er wieder diese Stimme hörte. Er wusste nicht recht, was er tun sollte, und in dieser ganzen verzwickten Lage fühlte er sich fremd und schüchtern.

»Tyger?«, sagte er. »Aber … Tyger sind doch ausgestorben. Gejagt und getötet, alle, schon vor ganz langer Zeit.«

Tyger warf ihm ihren feurig goldenen Blick zu.

»Erzähl mir«, sagte sie nach einer Weile, »wie es dich hierherverschlagen hat«.

»Ich hab mich vor diesem Räuber versteckt«, sagte Adam. »Keiner hat mir geholfen, ich bin doch ein Ausländer.« Er räusperte sich. »Und du, Tyger? Was machst du hier? Warum steckst du nicht in irgendeinem Käfig? Bist du auf der Flucht?«

Tyger blinzelte. Ihr Schwanz klopfte auf den Boden. Ihre Schnurrhaare tasteten in die Luft.

»Was ist das nur für eine Welt?«, sagte sie. »Und was für ein Hüter bist du?«

»Was bin ich?«, fragte Adam überrascht.

Tyger ließ den Blick nach oben schweifen, Richtung Fenster. Adam folgte ihrem Blick. Da war schon seit Langem keine Scheibe mehr. Schlingpflanzen hatten fast alles überwachsen, und nur durch ein paar Lücken konnte man ein bisschen Himmel sehen.

»Ach so«, sagte Tyger schließlich. »Du bist gar kein Hüter? Ich hatte das Gefühl, jetzt sind sie wirklich da.« Sie sah wieder auf den schäbigen Türrahmen und die dicken, weißen Spinnweben, die daran hingen. »Ich verstecke mich hier schon so lange«, sagte sie, »aber du bist der Erste, der mich gefunden hat. Die Schergen meines Feindes verfolgen mich ständig. Du darfst niemandem sagen, dass ich hier bin.«

Adam wurde es ganz schwindlig. Er verstand nicht alles, was Tyger ihm erzählte. Aber er begriff, dass sie ein Risiko eingegangen war, als sie ihm half.

»Ich sag niemandem was«, sagte er. »Versprochen.«

Tyger entspannte sich wieder. Sie legte ihren Schwanz an den Körper und leckte still ihre Wunde. Adam sah zu. Das Streifenmuster faszinierte ihn. An beiden Seiten ihres Körpers liefen die Streifen gleichmäßig herunter, wie schmale, dunkle Bäche.

Er hatte so viele Fragen. Aber ihm wurde klar, dass Tyger jetzt nicht mehr reden wollte. Also versuchte er, sich ihre Geschichte auszumalen: wo sie wirklich herkam, wer ihre Feinde waren und wer wohl diese Hüter sein könnten.

Ihm schwirrte so viel durch den Kopf. Er konnte es sich nicht vorstellen. Nur eines wusste er genau: Er wollte, dass sie überlebte. Er würde sie nicht verraten, er würde sie so lange beschützen, bis die Hüter sie fanden.

Die beiden saßen still beisammen. Draußen fiel der Regen auf die Ruine, bis sich nach und nach das Gewitter verzog. Blitz und Donner entfernten sich, und bald hörte man auf dem Dach nur noch Regengetröpfel.

Tyger hatte die Augen zugemacht. Sie atmete tief, wie im Schlaf. Adam erhob sich behutsam, aber da stellte sie sofort ihre Ohren steif und riss die Augen auf.

»Ich muss erst wieder zu Kräften kommen«, sagte sie. »Aber wenn du willst, komm wieder. Vielleicht kannst du mir noch mal helfen.«

»Natürlich!«, sagte Adam. »Ich komme so schnell wie möglich wieder und schaue, ob es dir gut geht. Kann ich dir was mitbringen? Essen? Wasser? Oder etwas für die Wunde?«

Tyger schüttelte den Kopf und gähnte herzhaft. »Nur einen Funken«, sagte sie, aber er verstand sie nicht so genau. Die Augen fielen ihr schon wieder zu. In kürzester Zeit war sie tief und fest eingeschlafen. Die Ruine war still. Völlig still.

Adam beobachtete sie eine Zeit lang.

Zum ersten Mal seit Langem huschte ihm ein Lächeln über das Gesicht.

Dann schnappte er sich die Tasche und ging wieder hinaus in die Welt. Allein.

Kapitel 4

Adam lief auf die Tottenham Court Road. Das Getümmel der Welt traf ihn wie ein Schock. In der Ruine war die Zeit scheinbar stehen geblieben. Hier draußen raste die moderne Welt an ihm vorbei, hektisch und laut und brutal. Schon stieg ihm wieder der Rauch und der Dreck der Stadt in die Nase. Kein Vergleich mit Tygers süßem, hellem Duft.

Er schlug die Augen nieder und machte sich wieder an die Arbeit. Sofort spürte er, wie die Leute seine Haut angafften. Aber wenn er an Tyger dachte, begann er von innen heraus zu strahlen. Er spürte eine innere Wärme. Selbst der Regen, der auf ihn einprasselte, schien ihm ein bisschen sanfter.

Er lief durch die Straßen, lieferte Pakete ab, nahm Geld entgegen. Die letzte Lieferung des Tages führte ihn in die New Road. Hier wohnten die Superreichen in weißen Villen, die tief hinter schwarzen Eisentoren lagen. Am Ende der Straße, an einem Zaun um das allergrößte Haus, sah er das Schild, nach dem er Ausschau gehalten hatte:

MALDEHYDE’S MENAGERIE

DIEWUNDERBARSTETIERSCHAUINLONDON!

Zu der Tierausstellung gab es drei verschiedene Eingänge. Adam musste hintenrum gehen, erst am Eingang der Ersten Klasse vorbei, der den feinen Leuten vorbehalten war, und auch am Eingang für die Normalbürger. Dann kam er schließlich zum Ausländereingang, der auf der Rückseite lag. Da war eine Schlange. Die meisten Leute, die hier anstanden, waren Touristen aus den unterschiedlichsten Ecken des Empires, die ihre Winterferien in London verbrachten. Unter ihren Regenschirmen rissen sie Witze und lachten. Sie freuten sich auf die Tiere.

Adam spürte einen Windstoß an seiner Kehle. Er zitterte am ganzen Körper, während er durch die vielen Pfützen an den Wartenden vorbei stapfte, bis er schließlich bei den Wachleuten am Tor ankam.

»Lieferung von Alhambra und Co.«, sagte er und zeigte dem Wachmann seine Papiere.

»Allhamwas?«, sagte der Wachmann. Adam biss sich auf die Zunge. Sein Name handelte ihm nur Ärger ein. »Ach so, verstehe«, sagte der Wachmann, als er Adams Ausweis kontrollierte. »Aaaal-Haaaam-Braaaa!«, sagte er und zog jede Silbe böse in die Länge. »Und getauft bist du auf den Namen Adam?«

Adam schaute weg, aber der Frage konnte er nicht ausweichen. »Ich bin kein Christ«, sagte er. »Ich bin Muslim, wie meine ganze Familie auch. Mein Vorname ist Adam.«

»Aha«, sagte der Wachmann. »Na gut. Für einen Ausländer sprichst du ja ganz gut Englisch.« Er machte das Tor auf. »Geh da durch und dann zu dem großen Haus da drüben.«

Adam atmete erleichtert auf und lief über das Gelände. Sein Weg führte ihn an bunten Schildern vorbei:

SIRMORTIMERMALDEHYDEHEISSTSIEINSEINERBERÜHMTENMENAGERIEWILLKOMMEN!

DIESESELTENENTIERESINDZUIHREMEIGENENSCHUTZHIER.

BITTENICHTFÜTTERN!

Ihm lief es kalt den Rücken herunter, als er an den vielen abgedeckten Käfigen vorbeilief. Geschöpfe aus allen Teilen des Empires waren da zu sehen – aus Afrika, Indien und aus dem Nahen Osten. Sogar aus den Kolonien in Amerika.

Tyger waren natürlich nicht dabei. Aber ein Bär. Der wurde gerade gefüttert. Die Zuschauer staunten. Äffchen führten kleine Kunststücke vor. Sie sprangen einander auf die Schultern und ließen sich dann zur Freude des Publikums wieder fallen. Auf dem Rücken eines Elefanten mit einer großen Fußfessel saßen ein paar Kinder. Männer mit Turbanen führten den Elefanten an der Leine. Sie wichen den Blicken der Zuschauer aus, genau wie Adam.

Früher hätte er das alles vielleicht interessant gefunden. Aber jetzt, wo er Tyger kannte, stellte er sich vor, wie sie auch in so einem Käfig steckte. Da wurde ihm fast schlecht.

Er näherte sich der Villa am Ende des Parks. So ein herrschaftliches Gebäude hatte er noch nie betreten. Er musste an hohen Säulen vorbei und stand dann vor Flügeltüren, die ihm ein bisschen Angst machten. Ihm zitterte die Hand, als er den Klingelknopf drückte.

Nach ein paar Sekunden öffnete ihm ein dunkelhäutiger Sklave die Tür. Der Sklave trug die Uniform eines Dieners und verbeugte sich. Adam verbeugte sich auch. Schweigend übergab er ihm das Paket. Als der Sklave ihm das Geld dafür aushändigte, erlaubte Adam sich einen Blick durch die offene Tür in das Haus, das nur feine Leute betreten durften.

Und einen kurzen Augenblick lang sah er drinnen auch Käfige, lange Reihen von Käfigen. Was sich darin befand, konnte er so schnell nicht erkennen. Denn schon machte der Sklave die Tür wieder zu. Und Adam ging wieder los, den Kopf gesenkt, wie immer, und ohne ein Wort zu sagen. Er wollte jetzt nur noch weg und nach Hause.

Schnüffel, schnüffel schnüffel, schnüffel

Er schaute sich vorsichtig um und sah zwei Bluthunde am Tor. Sie beschnüffelten jeden, der hindurchging. Es machte den Anschein, als versuchten sie, einen ganz bestimmten Geruch zu erschnüffeln.

Ein paar Schritte vor Adam ging eine Touristin auf den Ausgang zu. Die Hunde beschnüffelten sie, und dann durfte sie durch.

Adam stockte der Atem, als er sich den Hunden näherte. Was suchten die nur?

Sie beschnüffelten seine Stiefel. Ihre Nasenflügel flatterten.

Und dann bellten sie los.

Sofort kam ein Mann auf einem Pferd angeritten. Er hatte ein blasses, weißes Gesicht, trug ein weißes Hemd und eine weiße Hose, und sein tiefroter Umhang wirkte da wie Blut auf einer verschneiten Wiese. Seine Kleidung war die eines Jägers. Adam sah ihn an und entdeckte auf seinem Mantel die gestickten Worte MALDEHYDE’S MENAGERIE.

»Meine Hunde haben angeschlagen«, sagte der Jäger mit einer so kalten, scharfen Stimme, dass Adam beinah das Blut in den Adern gefror. »Wo warst du heute? Du hast doch nicht etwa das Biest gesehen?«

Kapitel 5

Adam geriet in Panik. Die Bluthunde bellten immer noch. Alle starrten ihn an, wie er da am Tor vor dem Jäger stand.

Du hast doch nicht etwa das Biest gesehen? Vor seinem geistigen Auge sah er Tyger mit ihrem sanften, goldenen Blick. Er hatte ihr versprochen, sie nicht zu verraten.

»Ein fremdartiges Wesen läuft frei in London herum«, sagte der Jäger. »Es ist gefährlich. Hast du etwas gesehen?«

Adam stockte der Atem. Er schnappte nach Luft. Aber er konnte Tyger nicht verraten.

»Nein«, sagte er. »Habe ich nicht.«

Der Jäger sah ihn sich genau an. Und noch genauer. Sein Blick schien sich regelrecht in Adams Kopf zu bohren.

»Du hast doch was gesehen«, sagte der Jäger. »Meine Hunde haben es gemerkt. Also, was hast du gesehen? Und wo?« Vor Adams Augen entrollte er eine Lederpeitsche.

Im selben Moment kam ein Wachmann durch das Tor auf sie zu. Er schleppte jemanden mit. Die Person war ungefähr so groß wie Adam und trug eine Jacke mit einer Kapuze, die ihre Haare und das Gesicht verdeckte.

»Schauen Sie mal, wen ich hier gefunden habe«, sagte der Wachmann. »Die stand am Tor herum und hat sich verdächtig verhalten. Nimm gefälligst die Kapuze ab. Wir wollen dein Gesicht sehen.«

Widerwillig schob sich das Mädchen die Kapuze aus dem Gesicht. Ihre Haut war dunkel, sie hatte schwarze, geflochtene Haare, und ihre Augen leuchteten hinter einer Brille hervor.

Adam kannte sie. Das war Zadie True, aus dem Ghetto. Sie lieferte für das Geschäft ihres Vaters Pakete aus, genau wie er. Und jetzt hatte sie Ärger, genau wie er.

Der Jäger zeigte mit der Peitsche auf sie. »Bist du eine von Sir Mortimers Sklavinnen?«, fragte er. »Du versucht doch nicht etwa zu fliehen?«

»Ich bin keine Sklavin«, sagte Zadie mit fester Stimme. Ihre Angst konnte sie anscheinend gut verbergen. »Ich bin eine freie britische Bürgerin, und das kann ich beweisen. Ich habe auch nichts Verdächtiges gemacht. Ich mache nur meine Botengänge.«

»Du lieferst hier doch nichts an«, sagte der Wachmann. »Gib’s doch zu. Du wolltest die Tiere sehen, ohne Eintritt zu bezahlen. Stimmt’s?«

Zadie schaute zu Boden. Niemand sagte etwas. Das Schweigen zog sich in die Länge.

»Äh, sie hat auf mich gewartet«, sagte Adam. Er konnte doch nicht einfach nur unbeteiligt danebenstehen. Er musste ihr irgendwie helfen. »Wir liefern heute zusammen. Ich hatte hier zu tun, sie nicht, also hat sie gewartet. Stimmt doch, Zadie, oder?«

Zadie schaute auf und erkannte ihn. »Adam?«, sagte sie. Ein Lächeln huschte ihr über das Gesicht. »Da bist du ja! Du hast ganz schön lange gebraucht!«

Der Wachmann brummelte etwas vor sich hin und ließ sie los. Aber der Jäger starrte sie immer noch an.

»Wenn ihr heute zusammen wart«, sagte er, »dann wird mir einer von euch beiden jetzt die Wahrheit sagen. Meine Hunde haben an dem Jungen was entdeckt. Und zwar den Geruch von einem eigenartigen, schrecklichen Tier, das frei in London rumläuft. Ihr müsst mir sagen, was ihr wisst.«

Zadie sah Adam an. Der schüttelte den Kopf. Tygers Blick hielt ihn noch immer in seinem Bann. Er durfte nichts verraten. Aber was sollte er jetzt sagen?

»Ach!«, sagte Zadie und schnipste mit den Fingern. »Der Scheißhaufen!« Sie zeigte auf Adams Stiefel. »Weißt du noch?«, fragte sie. »Du hast mal wieder nicht aufgepasst, wo du hintrittst …«

»… und da bin ich in einen Scheißhaufen getreten!« Adam fiel eine Last von den Schultern, als er merkte, was Zadie da machte. Er spielte mit. »Na klar. Aber das Tier, das den da hingesetzt hat, haben wir nie zu Gesicht bekommen.«

»Das hätten wir aber gerne gesehen«, sagte Zadie wieder zu dem Jäger. »Dieser Haufen war ganz schön spektakulär. Ein riesiger, dampfender Scheißhaufen. Der stank wie die Pest! Bestimmt war es das, was Ihre Hunde gerochen haben.«

Die Bluthunde wedelten mit dem Schwanz. Der Jäger rümpfte die Nase. Er schlug mit der Peitsche nach ihnen.

»Ein Kothaufen?«, sagte er. »Was für ekelhafte Kinder ihr seid. Haut bloß ab, alle beide, wir haben wirklich Wichtigeres zu tun!«