Über Nacht - Beat Portmann - E-Book

Über Nacht E-Book

Beat Portmann

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Beschreibung

Nora Gossenreiter, Journalistin Anfang dreißig, hadert mit ihrer beruflichen Situation. Sie träumt davon, über Dinge zu schreiben, die etwas bedeuten – und vor allem: von ihrem eigenen Roman. Statt zur Premiere eines Volkstheaters fährt sie ihren Nachbarn, einen jungen Jazzpianisten, zum nächsten Konzert. Das Notizbuch in der Tasche stürzt sie sich in die Nacht, zusammen mit ihrem besten Freund Frank Landsteiner, einem ewig jugendlichen Frauenhelden und Chansonnier. Auf ihrer Odyssee durch die Bars und Kneipen einer namenlosen kleinen Stadt am Rand der Berge und durch die Wohnungen schlafloser Zeitgenossen werden sie mit den Geistern der Vergangenheit konfrontiert. Als es schließlich dämmert, steht Nora mit ihrem klapprigen Honda Legend wieder am selben Ort wie zu Beginn der Nacht. Hat die magische Reise, die sie mit ihrem Roman zu erfahren hofft, nur in ihrem Kopf stattgefunden, während sie schreibend der Handlung folgte?

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BEATPORTMANN

ÜBERNACHT

Roman

»Wir kennen uns nie ganz, und über Nacht sind wirandre geworden, schlechter oder besser.«

THEODOR FONTANE

Inhalt

LANDSTEINER

BEOBACHTER

HEUTE

STRASSEN

TEUFEL

ODE AN DIE LIEBE

SCHLAFLOS

UND TROTZDEM

VATER

ZAUBERBERG

Die Sonne geht unter, und niemand nimmt Kenntnis davon. Die Stadt am Fluss ist mit sich selbst beschäftigt, mit ihren Straßen voll Müdigkeit, dem Keuchen und Stampfen der Maschinen und Menschen, dem Krähengeschrei, dem Gesang der Güterzüge. Auch der Schichtwechsel ist unbemerkt erfolgt, allein eine Alte in der Dämmerung ihres Zimmers hatte beobachtet, wie die Lichter der Straßenbeleuchtung angingen. Unten beim Fluss wird ein Blinker gesetzt, ein Auto schert aus und verlässt die Straße. Verschlafen gleiten zwei Lichter über den Schotterplatz.

Nora Gossenreiter hält auf das Gelände der Verbauung zu, schaltet den Motor ab, die Scheinwerfer aus. Sekundenlang sitzt sie nur da und lauscht dem Knistern der Kühlerhaube. Sie ist gerade erst aufgestanden. Nun wartet sie darauf, dass sich ihre Gedanken ordnen. Dass sie sich zu klaren Sätzen formen, wie es ihre Arbeit als Journalistin erfordert.

In einer Stunde müsste sie aufbrechen, um über das neuste Stück eines bekannten Volksschauspielers zu berichten. Dessen berühmteste Rolle, eine Hörspielfigur nach dem Vorbild Peter Pans, hat sie, wie so viele ihrer Generation, durch die Kindheit begleitet. Der kleine Gaukler und die Pyramidenstadt, Der kleine Gaukler und die singenden Felsen, Der kleine Gaukler und die vierte Dimension – sie ist ihm durch alle Abenteuer gefolgt. Noch heute träumt sie manchmal davon, wie er die Zeit anhalten zu können, in Momenten der Gefahr oder einfach nur so zum Spaß. Sie fragt sich, was sie mehr beunruhigt: dem Mann zu begegnen, der in über vierzig Folgen dem kleinen Gaukler seine Stimme geliehen hat, oder feststellen zu müssen, dass sie trotz allem erwachsen geworden ist.

Sie greift unter den Sitz, greift nach der Biskuitschachtel, die einst ihrer Tante gehörte. Das Aroma aus ranzigem Fett und sonnenverbrannten Weiden weckt Erinnerungen an frühe Rebellion und die Fürsorge der alten Dame. Nora dreht den Joint; lässt das Fenster einen Spalt weit herunter. Das schwere Blei des Hochnebels ist in ein Nachtschwarz übergegangen. Es kommt ihr tröstlich vor.

Ein Blick auf die Armbanduhr bestätigt: Sie ist im Zeitplan. Trotzdem beschleicht sie die bekannte Mischung aus Panik und Euphorie; ein Gefühl, als müsse sie im nächsten Moment vor ein Publikum treten, dessen Begeisterung einer Fähigkeit gilt, von der sie selbst noch nichts weiß. Sie nimmt ihr Notizbuch hervor, zieht die bestrumpften Beine an und beginnt zu schreiben. Während ihre Hand über das Papier wischt, wird ihr Herzschlag ruhiger. Von Zeit zu Zeit blickt sie auf und horcht auf die Geräusche von draußen, zufrieden beim Gedanken, ein Teil dieser großen produktiven Welt zu sein.

Zeit aufzubrechen, denkt sie; steigt stattdessen aus. Flussaufwärts braust das Stahlwerk. Sie starrt auf die kanalisierten Fluten, stellt sich vor, mit ihren Doc Martens darauf zu gleiten wie auf massivem Glas. Sie macht ein paar Schritte, vorsichtig, als ginge sie auf instabilem Gelände, dreht sich zu ihrem Wagen um, einem schweren viertürigen Japaner, taubenkotfarben, Baujahr 1986. Manche ihrer Freunde sehen darin eine alte Schrottkiste, obwohl er doch erst in seinen frühen Zwanzigern ist. Ihr Blick hingegen ist nostalgischer. In den Neunzigern ein Auto zu haben, bedeutete Freiheit, erst recht für eine junge Frau, die zur Tante aufs Land abgeschoben wird.

Wenn sie noch rechtzeitig bei der Premiere eintreffen will, muss sie unverzüglich aufbrechen. Sie setzt sich hinters Lenkrad, checkt das Mobiltelefon. Das Display zeigt einen Anruf an und eine Mitteilung. Sie glaubt das abenteuerlustige Lachen des kleinen Gauklers zu hören, während sie die Frage ihres besten Freundes nach den Plänen für die kommende Nacht liest. Dann tastet sie sich zu den Angaben über den Anruf vor: Matthias, ihr Nachbar, ein junger Musiker; erfolgt vor wenigen Minuten.

Du hast versucht, mich zu erreichen? Ihre Stimme hört sich fremd an.

Ja, genau. Matthias schnappt nach Luft. Wie geht es dir?

Ganz gut. Und dir?

Auch gut, sagt er. Du hast mal erwähnt. Falls ich – ich meine, für den Transport –

Spielst du denn heute irgendwo?

Er macht eine Pause. Ich schaffte es nicht zum Soundcheck. Und ein Freund, obwohl er mir versprochen –

Kein Problem. Sie ist ihm erneut ins Wort gefallen und bricht ab, damit er den Satz beenden kann. Aber er schweigt. Möchtest du, dass ich –

Also, ich sollte in der nächsten Stunde vor Ort sein – mit dem ganzen Equipment.

Sie versucht, eine natürlich wirkende Pause einzulegen. Wenn du willst, kann ich jetzt gleich vorbeikommen.

Also nur, wenn du gerade nichts anderes zu tun hast.

Nora denkt einen Moment nach. In einer Viertelstunde bin ich bei dir.

Sie legt auf. Ihre Gedanken wirbeln durcheinander wie verkohlte Papierschnitzel, die beim Versuch, sie festzuhalten, zu Staub zerfallen. Als sie vor über zehn Jahren für die Zeitung zu arbeiten begann, hatte sie gerade die Maturität erreicht. Ihre Hoffnung, vom Lokalteil zum Kulturressort zu wechseln und dort über Konzerte und musikalische Neuerscheinungen zu berichten, hat sich längst zerschlagen. Nach all den Umbrüchen muss sie froh sein, ihren Job überhaupt zu behalten und hin und wieder über die Veranstaltungen schreiben zu dürfen, für die sich die Kultur nicht zuständig fühlt.

Sie entsperrt das Telefon, antwortet: Mach dich bereit, ich hol dich in fünf Minuten ab! Dann zieht sie die Lippen nach, kirschrot seit ihrer frühen Jugend, dreht den Rückspiegel zurück in Position. Der Himmel erglüht im Schein der ausgegossenen Schlacke. Sie dreht die Musik auf, startet den Motor und stößt den Wagen auf dem Schotter rückwärts.

Schon von Weitem sieht sie ihn, wie er im Widerschein des Erotikshops auf sie wartet, mit seinem perfekt sitzenden Anzug unter dem offenen Kaschmirmantel und dem Borsalino, den er wie Sinatra ein wenig schief trägt: Frank Landsteiner. Er schnippt die Zigarette auf die Straße und tritt auf den Randstein zu.

Selbst ein Blinder würde deine Kiste erkennen!

Sie wartet, bis er sich gesetzt hat. Irgendwas mit dem Auspuff.

Er wischt sich ein Staubkorn von der Anzughose.

Neu?, fragt sie und gibt Gas.

Letzte Woche; italienisch. Habe ich mir geleistet.

Er erzählt, dass er die Nacht von Amy Winehouse geträumt hat.

Sie war hinter meiner Plattensammlung her; hat sich als meine Mutter ausgegeben. Alles ziemlich wirr, weißt du.

Warst du nicht auf ihrem Konzert letzten Herbst?

Schrecklich, winkt er ab.

Es gab heftige Verrisse.

Das Publikum war schrecklich! Lauter Spießer; ich hätte es wissen müssen. Und? Wie sieht dein Plan aus?

Sie rollt auf die nächste Kreuzung zu und erzählt von Matthias, seinem bevorstehenden Auftritt, seiner erstaunlichen Meisterschaft. Davon, dass sie manchmal den Eindruck hat, man müsse sich ein wenig um ihn kümmern.

Vielleicht kann ich ihn überreden, bei Landsteiner mitzutun?

Sie schaltet in den vierten Gang. Wenn ihm euer Sound gefällt.

Kannst ja auf der Hinfahrt die CD abspielen – hab gerade eine bei mir.

Nora konzentriert sich auf den Verkehr. Franks Band, nach seinem Familiennamen benannt, ist in einer begeisterten Konzertkritik einmal als die sanfte Wiederbelebung des deutschen Chansons bezeichnet worden, in der sich auf kongeniale Weise das komödiantische Pathos der Zwischenkriegszeit mit der sehnsuchtsvollen Ironie der Postmoderne verbinde. Diese Kritik hat niemand anderes verfasst als Nora selbst, und sie hat nach jenem Konzert nicht nur begeistert, sondern auch mit einem ordentlichen Rausch und dem Verlangen, die Freundschaft dieses rastlosen Sängers zu gewinnen, den Heimweg angetreten. Noch in der gleichen Nacht hat sie sich an die Arbeit gemacht und anderntags bei der Redaktion durchgesetzt, dass ihr Konzertbericht für einmal im Kulturressort erschien. Seither sind sie Freunde – ein wenig, als hätten sie im andern das nie gehabte Geschwister gefunden. Trotzdem entspricht Franks Absicht, Matthias unter seine Fittiche zu nehmen, nicht gerade Noras fürsorglicher Intention. In seiner Gier nach dem Leben verschlingt er, was sich nicht zur Wehr setzen kann – Weibchen, Männchen, seine guten Vorsätze.

Ich hab in letzter Zeit viel über die Ausdehnung des Alls nachgedacht, holt Frank sie aus ihren Gedanken. Weißt du, was mich dabei beunruhigt – ja wahnsinnig macht?

Sags mir.

Da draußen könnte jemand sein, der uns beobachtet. Weißt du, einfach nur da ist und beobachtet. Und wir wissen von nichts.

Wer sollte denn dieser Jemand sein?

Was weiß ich? Irgendein glatzköpfiger Alter, der uns über die Brillengläser hinweg mustert.

An wen bloß erinnert mich das, sagt Nora gespielt nachdenklich. An Doktor Freud?

Freud hatte doch keine Glatze.

Dann muss es ein anderer Österreicher sein.

Du meinst meinen Vater? Frank sieht sie mit offenem Mund an.

War ein Witz, verteidigt sie sich und erzählt von der Theateraufführung, die sie nun verpassen würde. Sie weiß, dass auch Frank als Kind zur Gefolgschaft des kleinen Gauklers gehörte.

Hab gestern wieder mal in die alten Kassetten reingehört.

Kassetten!

Wie er als kleiner Junge erfährt, dass er erwachsen werden würde; und wie es ihm gelingt, aus der Zeit auszubrechen. Er wird gewissermaßen unsterblich, ein Wesen außerhalb der Zeit.

Die vierte Dimension?

Mein Lieblingsabenteuer. Nora nickt. Der Ausgang liegt im Tagträumen – das Kind, das alles um sich herum vergisst, die Zeit steht still, aber eben nicht für die Erwachsenen. Sie versuchen, das Kind zu erreichen, erzwingen seine Aufmerksamkeit, drängen es, ihr Zeitmaß anzunehmen. Und dann kehrt der Gaukler es um, versetzt die Welt in einen Tagtraum, während er und seine verlorenen Kinder sich frei bewegen können.

Sie schaltet einen Gang herunter und zweigt von der Hauptstraße ab.

Aber was mich wirklich erstaunt: Ich war plötzlich wieder das kleine Mädchen – empfand genau wie damals. Als hätten meine Gefühle all die Jahre unverändert überdauert.

Ja?

Weißt du, als wäre es tatsächlich möglich, die Zeit anzuhalten. Als existierten da draußen unendlich viele Welten, in denen wir unsere Erfahrungen machen; alle nebeneinander, und alles geschieht zur gleichen Zeit.

Sie merkt, dass Frank mit den Gedanken woanders ist, und bricht ab.

Sie nähern sich Noras Wohnblock, der in gebührlicher Zahl, wenn auch in unterschiedlichen Verwitterungsgraden, mit Regenbogenstandarten beflaggt ist.

Da steht er und wartet, beginnt Nora.

Ein Junge, dessen Mutter vergessen hat, ihn vom Ferienlager abzuholen, ergänzt Frank.

Matthias steht am Straßenrand – Keyboard, Akkordeon und Verstärker der Größe nach aufgereiht. Er trägt seine Lammfelljacke, balanciert zwischen den Beinen eine abgewetzte Umhängetasche. Die Schultern hat er hochgezogen – vermutlich ist ihm kalt.

Lass den Motor laufen! Frank springt aus dem Wagen und hilft Matthias, das Gepäck im Kofferraum zu verstauen. Dann hält er ihm die Beifahrertür auf, nimmt selbst auf der Rückbank Platz.

Alles in Ordnung?, fragt Nora.

Danke, ja, sagt Matthias mit tonloser Stimme und fingert am Sicherheitsgurt herum.

Sie wendet, lässt den Motor aufheulen. Von hier bis zum Konzertlokal sind es ungefähr zwanzig Minuten, vielleicht kann sie es auch schneller schaffen. Frank übernimmt die Gesprächsführung.

Wie bitte?

Nora stellt die Musik leiser.

Anlass? Was für einer?

Eine Art Festival, wir sind die zweite Band.

Stil?

Salsa – Party und so.

Und? Gefällt es dir?

Ziemlich professionell, gute Musiker. Die Leute fahren drauf ab.

Verdienst du auch ordentlich?

Könnte besser sein.

Auf der Zielgeraden hängt sich Nora an die Stoßstange des vorderen Wagens, entwischt einem Rotlicht und wechselt die Flussseite. Vor der einstigen Großmolkerei findet sie einen freien Parkplatz und lässt den ersten Gang einrasten.

Gemeinsam tragen sie die Instrumente zum Künstlereingang.

Good night, and good luck!

Aber Matthias ist zu angespannt, um Franks Segen zu würdigen.

Wie Rumpelstilzchen, das sich unbemerkt wähnt, notiert Nora und blickt auf. Matthias steht hinter dem Keyboard und verfügt mit generöser Geste über seine achtundachtzig Tasten. Er bildet gleichsam das Scharnier zwischen der Rhythmusgruppe auf der einen und der Sängerin und den Bläsern auf der anderen Seite. Die Besucher träumen ihre Tropennacht, darunter so manches Pärchen, das seine im Tanzkurs erlernten Lektionen in der Praxis erprobt.

Frank durchmisst die Tiefen des Saals. Wahrscheinlich verteilt er Flugblätter für sein nächstes Konzert, hält nach dem einen oder anderen Flirt Ausschau. Einmal trifft er auf einen seiner, wie er sie nennt, exklusiven Kunden – sie verständigen sich über Blicke, Gesten, eine flüchtige Berührung. Es sieht nicht gerade nach harter Arbeit aus, wie Frank seinen Lebensunterhalt verdient.

Als er damals im Café auf sie gewartet hat, das Gesicht von der Februarsonne halb beschienen, lag darauf eine unerwartete Verzagtheit. Erst viel später wurde ihr bewusst, dass er sich vor dieser ersten Begegnung fürchtete, auch wenn er sie selbst angeregt hatte – mit einer Ansichtskarte des brennenden Bahnhofs, auf der er sich für ihre Konzertbesprechung bedankte. Er war es nicht gewohnt, mit seiner Musik wahrgenommen zu werden, und ihr Lob tat ihm so wohl, wie es ihn einschüchterte – aus Furcht, sie könnte es wieder zurücknehmen.

Frank erscheint mit zufriedenem Ausdruck. Noch bevor er etwas sagen kann, steckt Nora das Notizbuch ins Futter ihrer Lederjacke.

Wenn man ihn so auf der Bühne sieht, würde man nicht denken, dass er ein Problem hat.

Problem?

Mangelndes Selbstvertrauen! Er ist der Überzeugung, dass er keine ins Bett kriegt. Kurzum: Er hält sich für einen Versager.

Vielleicht aber, gibt Nora zu bedenken, hat er noch was anderes im Kopf.

Franks Augen verschwinden im Schatten des Borsalinos. Vielleicht.

Auf der Bühne jedenfalls scheint er sich wohlzufühlen, bestätigt sie. Kaum wiederzuerkennen.

Sie will Frank auf ein Paar aufmerksam machen, das traumwandlerisch an den Fäden der Musik hängt, als eine junge Frau rücklings in seine Arme fällt. Er reagiert, als würde ihm das hin und wieder passieren: Er fängt sie auf, geht in die Knie und weist Nora an, ihre Beine hochzulagern.

Siehst du nicht? Sie ist ohnmächtig!

Vielleicht sollten wir eine Ambulanz –

Nimm ihre Füße und halte sie hoch – genau, so.

Er redet auf die Frau ein, und es dauert nicht lang, da schlägt sie die Augen auf.

Aber, aber, beginnt er. Du findest mich umwerfend?

Nora verdreht die Augen.

Nicht gerade die übliche Art, das mitzuteilen – aber gut, ich spendier dir einen Drink.

Er weist das besorgte Barpersonal an, eine Cola zu bringen, und reicht sie der Unbekannten. Nachdem sie ein paar Schlucke genommen hat, hilft er ihr auf die Beine.

Gehts besser? Ja? Er lässt ihre Hand los und zwinkert Nora zu. Dann verrätst du mir jetzt deinen Namen?

Sie haucht etwas, was in einer Schallwelle untergeht.

Lillie? Sehr schön. Ich bin Frank, Frank Landsteiner, und das hier ist meine beste Freundin Nora Gossenreiter, besser bekannt unter dem Kürzel ngo.

Nora nickt ihr zu, aber Lillie hat nur Augen für Frank.

Machst du das öfter? Wildfremden in die Arme fallen?

Ich weiß nicht. Sie räuspert sich. Vielleicht sollte ich besser nach Hause.

Fürs Erste setzt du dich mal hin. Frank führt sie zu den Stühlen, die neben der Bar an der Wand stehen.

So was ist mir noch nie passiert, sagt sie, nachdem sie sich gesetzt hat.

Das kann vorkommen. Die Wärme, die Aufregung.

Lillie sieht auf. Da war so ein Kerl, draußen vor dem Eingang. Er fesselte mich mit seiner Sprache – als wäre es der Text eines Bühnenstücks. Irgendwann begriff ich, dass er mir Gras verkaufen will. Und ich so zum Spaß, dass ich zuerst probieren möchte. Dabei vertrage ich es überhaupt nicht.

Ach ja? Franks Züge verdunkeln sich. Trink, danach gehts dir besser.

Vielen Dank jedenfalls.

Keine Ursache; war gerade in der Gegend.

Lillie legt ihr ganzes Zutrauen in ihr Lächeln, was die Wirkung auf Frank nicht verfehlt. Sie ist sehr hübsch mit ihren dicken blonden Zöpfen und dem leichten Silberblick. Nora bezweifelt allerdings, dass sie sich für die ungeheure Ausdehnung des Alls interessiert oder den Beobachter da draußen. Sie wäre jetzt gern mit Frank allein gewesen, irgendwo, um all die unfassbaren Gedanken auszusprechen, die ihnen durch den Kopf spuken.

Warum so ernst?, fragt Frank.

Nora zerstreut seine Sorge mit einem Lächeln.

Wir wollen trotz allem Spaß haben, nicht wahr? Er macht eine tiefe Verbeugung, hängt eine Pirouette an, springt und landet mit ausgestreckten Armen.

Lillie applaudiert. Du bist der geborene Tänzer!

Nora beschließt, die beiden allein zu lassen.

Vor dem Spiegel der Toilette begegnet sie ihrem Blick. Sie wundert sich über die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich erkennt. Sie hat kaum eine Vorstellung vom eigenen Aussehen, wenn sie sich in den Gesichtern der Menschen begegnet. Diese schwarzen Puppenhaare, das längliche Gesicht, die im Profil zu große Nase und das Piercing (ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie sich irgendwo zwischen Punk und Grunge positionierte) – dass sie all dies als ihr zugehörig erkennt, muss das Ergebnis täglicher Repetition sein; und vielleicht auch ein wenig der Indoktrinierung ihrer Tante, das eigene Äußere anzunehmen, wie es ist.

Nora steht an der Bar. Es bleibt gerade Platz genug für einen Ellbogen. Ein Mann sucht ihren Blick, zeigt seine Grübchen. Sie stellt sich vor, wie er sich in einer Annonce als gut aussehenden Akademiker bezeichnet. Die Musiker, eben noch fest im Sattel des Augenblicks, irren auf der Bühne umher und suchen die Habseligkeiten zusammen, die ihnen von ihrem halsbrecherischen Ritt geblieben sind.

Da bist du ja, sagt Frank. Hab dich überall gesucht.

Es klingt aufrichtig, auch wenn kein Zweifel besteht, dass er sich in der Zwischenzeit zumindest nicht gelangweilt hat.

Wir sitzen da drüben. Er zeigt auf eine Klubgarnitur, wo Lillie ihr zuwinkt. Wir wollen danach noch weiter. Matthias ist auch dabei. Du?

Natürlich.

Was machst hier überhaupt? Willst was bestellen? Ich zeige dir, wie das geht.

Er hebt den Arm, setzt sein Grinsen auf und wird unverzüglich von der Bardame bedient, die Nora zuvor so beflissen übersehen hat.

Sie gehen hinüber zu Lillie, versinken in den Polstern. Von hier aus hat Nora die Übersicht, den Blicken entzogen, die sie von der Beobachterin zur Beobachteten machen. Frank und Lillie in einer Blase. Sie kann sie vernachlässigen.

Worte fügen sich aneinander, Zeile für Zeile, führen durch die Seiten des Notizbuchs. Nora träumt von ihrem eigenen Roman, davon, Teil der Handlung zu sein, der sie immer weiter folgen würde. Von der Verwandlung der Welt und dem mönchischen Glück, das sich mit jedem zu Ende geführten Satz aufs Neue einstellt. Als kaum Zwanzigjährige hat sie überraschend einen Förderpreis erhalten, es danach aber nie geschafft, den Roman fertigzustellen. Ähnlich ist es ihr mit allen weiteren Versuchen ergangen: Sie fand keinen Schluss, verzettelte sich, verbesserte und verwarf. Diesmal würde es anders kommen, sie hat da so ein bestimmtes Gefühl.

Darf ich fragen, was du da schreibst?, erkundigt sich Lillie.

Eine Art Übertragung, sagt Nora. Ich lasse eine fiktive Leserschaft an unseren Abenteuern teilhaben.

Versteh ich nicht.

Ich verstehe es ja auch nicht, sagt sie und sieht auf. Ihr Blick ist klar. Kann Schatten von Schatten unterscheiden.

Auf der Bühne spielt inzwischen die nächste Formation. Rhythmus aus allen erdenklichen Fellen geprügelt, es schnattern die Kehrreime, es jagen sich die Salven der Bläser, Ausgelassenheit vor Intonation, die nackten Arme wie Grillgut im schweißtreibenden Flutlicht.

Plötzlich steht Matthias vor Noras Sessel. Hab gepackt.

Ja?

Er tippt mit der Schuhspitze den Boden an. Steht alles beim Bühneneingang.

Möchtest du? Jetzt? Sofort?

Er wendet den Blick ab.

Nora hat ihn beleidigt. Womit weiß sie nicht, aber es gibt, wenn sie es recht bedenkt, immer einen Grund, sich schuldig zu fühlen.

Warum setzt du dich nicht?, fragt Frank. Ich besorge dir ein Bier!

Matthias winkelt den Arm hinter dem Rücken an. Kann Backstage umsonst trinken.

Ist irgendwas?, fragt Nora. Etwas bedrückt dich.

Ich möchte jetzt lieber gehen, sagt er und wirft einen Blick zur Bar.

Dort steht ein Mann und sieht in ihre Richtung. Er könnte Matthias’ Vater sein.

Der?

Er verfolgt mich schon die ganze Zeit.

Was will er denn von dir?, fragt Frank.

Matthias zuckt mit den Achseln.

Ich geh mal rüber und stell ihn zur Rede!

Lass das, entfährt es Nora. Oder möchtest du, dass Frank?

Matthias scheint der Vorstellung nicht grundsätzlich abgeneigt, sagt dann aber: Schon gut. Wenn wir jetzt vielleicht gehen könnten?

Ist es einer?, ruft Lillie, als sie zu Noras Wagen kommen.

Ist es, ja.

Ein Honda Legend, ich fasse es nicht! Sie macht einen Hüpfer, dreht sich zu Nora um. Mein Vater hatte so einen – in Grün.