6,99 €
Ein fesselnder Schmöker über drei Frauen und ihre dunkelsten Geheimnisse ...
Serens heile Welt bricht zusammen, als ihr Vater ihre Mutter am vierzigsten Hochzeitstag sitzen lässt und zu seiner Geliebten Frankie zieht. Fest entschlossen, die Ehe ihrer Eltern zu retten, stellt Seren Nachforschungen über die neue Frau an der Seite ihres Vaters an. Dabei stößt sie auf ein dunkles Geheimnis aus Frankies Vergangenheit - und auf deren attraktiven Exmann Oliver. Schnell fasst Seren Vertrauen zu Oliver. Sie ahnt nicht, dass sie dadurch nicht nur Frankie, sondern auch ihre eigene Familie in größte Gefahr bringt ...
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Weitere Titel der Autorin
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Introduktion
SEREN
NESTA
FRANKIE
SEREN
NESTA
SEREN
NESTA
FRANKIE
SEREN
NESTA
FRANKIE
SEREN
FRANKIE
SEREN
NESTA
FRANKIE
SEREN
NESTA
SEREN
NESTA
FRANKIE
SEREN
NESTA
FRANKIE
SEREN
NESTA
FRANKIE
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
NESTA
SEREN
FRANKIE
NESTA
FRANKIE
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
FRANKIE
NESTA
SEREN
EIN JAHR SPÄTER FRANKIE
SEREN
NESTA
Das Bootshaus an den Klippen
Ein Sommer voller Kirschen
Ein fesselnder Schmöker über drei Frauen und ihre dunkelsten Geheimnisse …
Serens heile Welt bricht zusammen, als ihr Vater ihre Mutter am vierzigsten Hochzeitstag sitzen lässt und zu seiner Geliebten Frankie zieht. Fest entschlossen, die Ehe ihrer Eltern zu retten, stellt Seren Nachforschungen über die neue Frau an der Seite ihres Vaters an. Dabei stößt sie auf ein dunkles Geheimnis aus Frankies Vergangenheit – und auf deren attraktiven Exmann Oliver. Schnell fasst Seren Vertrauen zu Oliver. Sie ahnt nicht, dass sie dadurch nicht nur Frankie, sondern auch ihre eigene Familie in größte Gefahr bringt …
eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.
Kate Glanville wurde als Tochter irischer Eltern in Westafrika geboren. Heute lebt sie mit ihrem Mann, drei Kindern, vier Katzen und einem Hund in einem kleinen Dorf in Wales. Sie hat Modedesign studiert und in der Textilbranche gearbeitet, bevor sie eine sehr erfolgreiche Keramikerin wurde. Ihre kunstvollen Keramikarbeiten werden in Geschäften und Galerien auf der ganzen Welt verkauft, auch Prinz Charles, Madonna und Robbie Williams gehören zu ihren Kunden. Seit sie acht Jahre alt war, hat Kate Glanville unermüdlich Geschichten geschrieben. Obwohl sie zu Schulzeiten mit Rechtschreibproblemen und einer unschönen Handschrift zu kämpfen hatte, hat sie ihren Traum, Schriftstellerin zu werden, niemals aufgegeben. Mit ihren Familiengeheimnis-Romanen »Das Bootshaus an den Klippen« und »Über uns die Sterne« hat sie sich den Traum vom Schreiben erfüllt.
Besuchen Sie die Homepage der Autorin: https://www.kateglanville.com/.
Kate Glanville
ÜBER UNSDIE STERNE
Roman
Aus dem Englischen vonBritta Evert
beHEARTBEAT
Digitale Neuausgabe
»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2015 by Kate Glanville
Titel der englischen Originalausgabe: »Stargazing«
Originalverlag: Accent Press
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2016/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dorothee Cabras, Grevenbroich
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven von © iStockphoto/aimintang © Shutterstock: stavklem | Triff | Aless | Shchipkova Elena
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-9065-0
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Der schwarze BMW glitt im morgendlichen Verkehr langsam die Hauptstraße hinauf. Der Fahrer hatte die getönten Scheiben hinuntergelassen, und man konnte gut erkennen, dass seine Sonnenbrille teuer und sein Leinenjackett erstklassig geschnitten war.
Seren versuchte, sich auf den Tag zu konzentrieren, den sie seit Monaten plante. Sie wollte weder an den Wagen, den sie am Vortag gesehen hatte, noch an seinen Fahrer denken und schon gar nicht darüber nachgrübeln, warum er nach so vielen Jahren zurückgekehrt war.
Behutsam setzte sie den letzten Stern auf die Torte. Es hatte einiges an Zeit und Mühe gekostet, mit einem winzigen Förmchen die Sterne aus Fondant auszustechen. Jeder einzelne war mit essbarem Gold bestrichen, sodass sie auf der dunklen Schokoladenglasur strahlten und funkelten.
Seren drehte den Glasständer, um zu überprüfen, ob die Ganache gleichmäßig verteilt war, und leckte einen Schokoladenklecks von ihrem Finger. Schließlich stellte sie eine einzelne rote Rose neben den Kuchen und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu bewundern.
Seren lächelte. Die Jungs von der Patisserie Tremond hatten ihr angeboten, die Torte herzustellen, aber sie hatte sie selbst backen wollen – als ganz besonderes Dankeschön an ihre Eltern für alles, was sie für sie getan hatten. Sie machte mit ihrem Handy ein Foto und schickte es Trevor.
Die Antwort kam postwendend:
Starke Konkurrenz für uns, wie ich sehe. Edmond sagt: Hoch lebe die neue Zuckerbäckerkönigin! XXX
Seren lachte und bückte sich, um nachzuschauen, wie sich die Quiches im Backofen machten. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, und zum hundertsten Mal an diesem Morgen warf sie ihre ungezähmten roten Locken zurück. Sie hätte sich wie sonst auch die Haare zusammenbinden sollen, aber im Moment erfüllte ihre große Haarspange gerade eine lebenswichtige Funktion in dem zeltartigen Gebilde, das Griff und seine Cousins im Wohnzimmer bauten. Solange sie damit beschäftigt waren und ihr bei den Vorbereitungen für die Party nicht in die Quere kamen, störte es Seren nicht, Haare vor den Augen zu haben.
Sie stellte die Temperatur im Backofen niedriger und richtete sich auf. Jetzt fehlten nur noch Ben und Suki mit dem Geschenk und dem Champagner, dann würde alles perfekt sein. Sogar die Sonne war herausgekommen, um den morgendlichen Nieselregen zu vertreiben und ihnen den ersten milden Frühlingstag zu bescheren. Seren wünschte, Tom wäre hier. Er hätte genauso sehr wie sie gewollt, dass dieser Tag für ihre Eltern zu etwas ganz Besonderem wurde.
»Du fehlst mir, Tom«, wisperte Seren. Wieder musste sie an den Fahrer des BMW denken. »Du fehlst mir so sehr.«
Durch das offene Fenster konnte Seren die kleine Gruppe beim Kirschbaum sehen, dessen rosa Blütenpracht einen fast unwirklich schönen Hintergrund bildete. Anni, die Baby Lucy auf der Hüfte balancierte, füllte gerade großzügig Chardonnay in die roten Kelche, die Seren extra für diesen Anlass im Antiquitätengeschäft an der Hauptstraße gekauft hatte. Daniel schien wegen der Menge Wein in seinem Glas zu protestieren, aber Anni lachte nur, wandte den Kopf und sagte etwas zu Nesta. Auch Nesta lachte und tätschelte Daniels Knie. Seren lächelte beim Anblick ihrer Eltern.
Es kam nicht häufig vor, dass man ihre Mutter still sitzen sah, und obwohl Nesta sich mit heiterer Miene auf dem Leinensessel zurücklehnte, wusste Seren, dass es sie in den Fingern juckte, aufzustehen und die Organisation der Party selbst in die Hand zu nehmen.
Seinem Aussehen nach zu urteilen, schien sich auch Daniel in seiner Rolle als Ehrengast nicht unbedingt wohlzufühlen. Seren fiel auf, wie ihr Vater mit einem Finger in seinen Hemdkragen fuhr, als wäre er ihm zu eng, und ständig die Beine übereinanderschlug und dann wieder ausstreckte.
Früher am Morgen war er vor der Küchentür ihres Hauses, der sogenannten Scheune, aufgetaucht, das silbergraue Haar und der kurze Bart mit Regentropfen gesprenkelt, in einer Hand eine Schale mit Eiern, in der anderen ein frisch gebackenes Brot von Nesta. Eine Weile hatte er am Türpfosten gelehnt und schweigend zugeschaut, wie Seren einen Strauß Pfingstrosen in einer Vase arrangierte.
»Wunderschön«, bemerkte er.
Seren lächelte ihn an. »Waren nicht rosa Pfingstrosen in Mums Brautstrauß?«
Daniel antwortete nicht. Stattdessen kam er herein und sagte: »Ich wünschte, ihr würdet nicht so viel Brimborium machen.«
Seren nahm ihm das Brot und die Eier ab und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Lass uns doch den Spaß, Dad! Es kommt nicht jeden Tag vor, dass unsere Eltern Rubinhochzeit feiern.«
Jetzt warf Seren einen Blick auf die Uhr; Ben war spät dran, wie üblich. Sie schnitt Nestas Brot in Scheiben, die sie gefällig in einem Korb arrangierte. Ihr Vater hatte am Morgen noch etwas sagen wollen, erinnerte sie sich, angeblich etwas Wichtiges. Sie hatte ihn nicht zu Wort kommen lassen, sondern nach Hause gescheucht und gescherzt, er wolle wohl kaum in seinem alten Jeanshemd zur Party kommen. Jetzt fragte sie sich, was er hatte sagen wollen.
»Du bist so was von tot, du Zwerg!«
»Nicht, wenn ich dich zuerst erwische!«
»Ich krieg dich, Erbsenhirn!«
Schrille Stimmen zerrissen die Stille, und von einem Moment auf den anderen schien es, als stürmten ganze Horden von Kindern mit einem umfangreichen Waffenarsenal die Küche. Das Wohnzimmer hatte ganz offensichtlich seinen Reiz verloren. Seren drückte sich an die Küchenschränke, um nicht von ihren drei Neffen umgemäht zu werden, und atmete erleichtert auf, als sie in den Garten stürzten und quer über den Rasen auf die alte Windmühle zurannten, die seit Langem Nestas und Daniels Zuhause war.
»Passt auf Grannys Blumenbeete auf!«, rief Seren ihnen nach.
Zu spät. Der Anführer hatte eine Abkürzung durch eine Insel knospenden Grüns genommen und einen Pfad getrampelt, dem die anderen beiden folgten. Seren sah zu der Gruppe, die sich um den Kirschbaum scharte. Anni ignorierte ihre Jungen mit stoischer Ruhe, füllte die Gläser nach und versuchte, Nesta abzulenken, indem sie ihr die kleine Lucy in die Arme drückte.
»Wo sind sie hin, Mum?«, ließ sich eine leicht keuchende Stimme vernehmen.
»Hallo, mein Hübscher!« Seren fuhr ihrem Sohn mit einer Hand durch die kastanienbraunen Locken, während sie mit der anderen die Kommodenschublade aufzog und ihm den Inhalator reichte.
Dankbar griff er danach und hielt ihn sich an den Mund. Seren wandte den Blick ab. Das leise pfeifende Atemgeräusch versetzte ihr jedes Mal einen leichten Stich in der Herzgegend.
»Wo sind sie hin?«, wiederholte Griff, während er ihr die Plastikpumpe zurückgab und sie aus Augen ansah, die durch die dicken Brillengläser riesig wirkten.
Seren zeigte auf die offene Tür. »Ich glaube, zum Haus von Granny und Grandad.«
Griff setzte sich sofort in Bewegung und flitzte zur Küchentür hinaus und über den Rasen, machte aber einen Bogen um das Blumenbeet.
»Lauf nicht so schnell!«, rief Seren ihm nach. »Sonst bekommst du wieder einen Anfall.«
Gehorsam verlangsamte er seine Schritte. Seine dünnen Beine, die aus den weiten Shorts hervorlugten, sahen wie Zahnstocher aus, und seine Arme, die er zackig wie ein Soldat schwenkte, hoben sich grellweiß vom satten Grün des Rasens ab. Er drehte sich um und grinste Seren an, die einen Daumen hob und auf die Haustür der Mühlezeigte, durch die seine Cousins gerade verschwanden. Annis Kinder, die so groß und stark und gebräunt von der australischen Sonne waren, schienen einer anderen Spezies als Griff anzugehören.
Seren betrachtete Nestas prächtigen Garten mit den langen Randbeeten voller Kräuter und dem sorgfältig getrimmten Rasen. Hinter der bemoosten Mauer konnte sie im Obstgarten Hühner scharren und picken sehen. Weiße Bettwäsche flatterte auf der Wäscheleine zwischen den Bäumen.
Das Haus selbst, die alte Mühle, ragte wie ein gigantischer Pfefferstreuer aus rotem Backstein vor dem Himmel auf. Um die Außenseite wand sich eine Steintreppe, die früher einmal der Zugang zu den Flügeln gewesen war. Jahrelang hatte Daniel hin und her überlegt, ob er wieder große weiße Stoffsegel anbringen sollte, sich schließlich aber dagegen entschieden, weil sie das Licht, das durch die Balkontüren in Nestas und sein Schlafzimmer fiel, abhalten würden. Stattdessen hatte er am Balkongeländer ein großes Messingteleskop befestigt. Er hatte es Nesta zu ihrem vierzigsten Geburtstag geschenkt, um »ihre bizarre Leidenschaft, die Sternguckerin zu spielen, zu befriedigen«, wie er es ausgedrückt hatte, als sie die riesige Schachtel ausgepackt hatte.
In dem kreisrunden Raum im obersten Stockwerk hatte Seren ihren ersten Atemzug getan, und sie hatte ihre Kindheit damit verbracht, die Wendeltreppe im Inneren des Hauses hinauf- und hinunterzulaufen, aus den Fenstern zu schauen und mit ihren kleinen Fingern über die gewölbten Wände zu streichen. Innerhalb dieser Mauern hatte sie sich immer glücklich und geborgen gefühlt. Seren lächelte. Auch wenn Anni und Ben sie gern damit aufzogen, dass sie nie ihr Zuhause verlassen hatte, das hier war nun mal der einzige Ort, an dem sie wirklich sein wollte. Deshalb war auch Daniels und Nestas Hochzeitsgeschenk für Seren und Tom, die alte Scheune im hinteren Teil des Gartens, so märchenhaft gewesen: Das Gebäude hatte sich problemlos in ein Wohnhaus umbauen lassen, und Tom hatte sich mit Feuereifer auf Planung und Ausführung gestürzt. Es war das erste Projekt gewesen, das er in Eigenverantwortung übernahm, seit er in Daniels Architekturbüro eingestiegen war. Er liebte die Herausforderung, und Seren liebte es, so nahe bei dem Haus, das Daniel aus der verfallenen Mühle gemacht hatte, und dem wunderschönen Garten, den Nesta erschaffen hatte, zu leben.
Im Licht der Nachmittagssonne spiegelte sich die Scheune in den Glaswänden des spektakulären Anbaus an einer Seite der Mühle. Seren konnte im Glas die ersten Glyzinien sehen, die rund um ihre Tür genauso zu blühen begannen wie jene an der südlichen Tür der Mühle. Schon immer hatte sie davon geträumt, all das zu haben, was ihre Eltern hatten – ein schönes Zuhause, eine glückliche Ehe, Glyzinien vor der Tür, eine große, fröhliche Familie.
Wieder sah sie zum Kirschbaum und stellte sich einen Moment lang vor, Annis molliges Baby wäre ihr kleines Mädchen. Sie schloss die Augen bei der Erinnerung an Griff, als er gerade geboren war, ein winziges Bündel in ihren Armen, eine weiche rosige Wange, zarte Wimpern, die Andeutung roter Haare. Auf einmal sah sie ein anderes Baby vor sich – olivbraune Haut, ein Schopf dunkler Haare. Erschrocken riss sie die Augen auf. Daran wollte sie sich nicht erinnern. Ihr fiel der Wagen ein, den sie am Vortag gesehen hatte, und wieder hoffte sie inständig, sie hätte sich getäuscht.
Anni hatte sich vom Kirschbaum entfernt, und Nesta und Daniel waren allein. Sie saßen Seite an Seite. Nesta hatte das Baby auf dem Schoß, hob es sanft hoch und ließ es wieder runter, während es mit der langen Perlenkette um Nestas Hals spielte. Daniels Gesicht war der Sonne zugewandt, und er trommelte auf der Stuhllehne mit den Fingern den Takt zu den Jazznummern, die Seren extra für ihn aufgelegt hatte.
Eine leichte Brise wehte durch den Baum und ließ Kirschblüten wie Konfetti auf Daniel und Nesta herabrieseln.
»He, wo steckt meine kleine Schwester?« Das Klirren von Flaschen kündigte Bens Kommen an. »Ich würde dich ja gern knuddeln, aber ich bin mit Champagnerflaschen beladen.«
»Du bist spät dran.« Seren versuchte, streng zu klingen, ertappte sich jedoch wie üblich dabei, ihren Bruder anzugrinsen. Sie strich mit einem Finger über seine Wange. »Und du hast dich nicht einmal rasiert!«
»Tja, ich möchte doch bei Dad keinen falschen Eindruck erwecken, sonst will er bloß, dass ich mir einen anständigen Job suche und so.«
»Du hast einen anständigen Job.«
»Laut Dad ist Game-Designer kein ernsthafter Beruf.« Ben legte die Stirn in Falten und verkündete feierlich: »Nicht wie Architekt.« Er zwinkerte Seren zu, die dabei war, ihm die Flaschen abzunehmen, und sie unterdrückte ein Lachen.
Sowie Bens Arme frei waren, schlang er sie um Seren und zog sie an sich. »Wie geht’s dir so?«
»Gut, danke.« Serens Stimme klang leicht erstickt, weil er sie so fest drückte.
Er ließ sie los, trat einen Schritt zurück und sah sie forschend an. »Ehrlich?«
Seren zuckte mit den Schultern. »Na ja, du weißt schon, es gibt gute Tage und schlechte Tage. Heute ist ein guter Tag, weil ich viel zu tun habe.«
»Und Griff?«
»Er spricht kaum darüber, aber ich weiß, wie sehr er Tom vermisst. Dad ist unheimlich lieb. Er spielt endlos Schach mit Griff und hört zu, wenn er Trompete übt. Ich weiß nicht, was wir beide ohne Mum und Dad machen würden.«
Ein lautes Rumpeln war zu hören, und als Seren sich umdrehte, sah sie eine riesige rote Kiste, die offenbar versuchte, durch die Küchentür zu kommen. Die Kiste ruckelte ein Stück nach vorn und blieb im Türrahmen stecken.
»Hilfe!«, klagte sie.
Ben eilte zu Hilfe, zog kräftig daran, und wie bei einem Zaubertrick tauchte auf einmal Sukis hübsches Gesicht auf. Nach einem Blick auf Sukis kurze Seidentunika und die mörderisch hohen Absätze kam sich Seren in ihrem Leinenkleid und den flachen Ballerinas sofort langweilig und alltäglich vor. Außerdem hatte sie im letzten Jahr stark abgenommen, und Sukis knackige Kurven machten ihr bewusst, wie mager sie aussehen musste.
»Tausend Dank, dass du auf mich gewartet hast, Ben! Ich konnte kein bisschen sehen und bin auf der Suche nach der Tür blindlings in die Mauer gelaufen – wie eine benebelte Biene, die an die Fensterscheibe knallt. Ich hab mich wie ein Volltrottel gefühlt.«
Sukis irischer Akzent klang in Serens Ohren immer noch ungewohnt. Mit ihren feinen Zügen und dem lackschwarzen Haar sah Suki aus, als wäre sie im Kaiserlichen Palast der Ming-Dynastie aufgewachsen, nicht in einem chinesischen Lokal in Cork.
Suki durchbohrte Ben mit einem vernichtenden Blick und schenkte dann Seren ein strahlendes Lächeln. »Tut mir leid, dass wir zu spät kommen, aber dein Bruder hat einfach kein Zeitgefühl und verschwendet nie einen Gedanken daran, wie lange es dauert, aus London rauszukommen.« Wieder blickte sie Ben finster an, bevor sie Seren von oben bis unten musterte. »Toll siehst du aus! Das Kleid ist super, total Grace Kelly.«
Seren fühlte sich sofort besser.
Ben stellte die Kiste auf den Tisch. »Ich verstehe wirklich nicht, warum du mir die Schuld für die Verspätung gibst, Suki. Schließlich hast du das Umleitungsschild an der Putney Bridge übersehen. Ich wäre beinahe in den Schacht für die Wasserrohre gefahren!«
»Ich habe keine Schilder gesehen. Um genau zu sein, konnte ich gar nichts sehen, weil ich eine monströse Kiste auf den Knien balancieren musste und die ganze Zeit dieses knallige Hochglanzpapier vor der Nase hatte. Ich habe echt rotgesehen!« Suki schnitt der Kiste eine Grimasse, bevor sie sich zu Seren umdrehte und sie in die Arme nahm. »Wie geht es dir?«
Seren atmete Sukis betörendes Parfum ein. »Ganz gut.«
Suki hielt sie auf Armlänge von sich weg. »Falls du mal reden willst, ich kann echt gut zuhören. Wäre mal was anderes als das ewige Geschwätz deines Bruders, was für eine Herausforderung es ist, durch den achten Ring von Owldoor zu kommen, und wie viele Hochelben ein Skillet bilden.«
»He!«, rief Ben empört. »Ich dachte, du interessierst dich für meine Arbeit, und es heißt Scrivet, nicht Skillet. Außerdem muss ich mir ständig etwas über Lycra und hohe Beinausschnitte anhören.«
Suki lachte. »Aber das liebst du doch – all diese spärlich bekleideten Frauen!« Ihr Gesicht wurde ernst, als sie sich wieder an Seren wandte. »Ich wollte nur sagen, dass ich für dich da bin, wenn du mich brauchst.«
»Danke.« Seren beugte sich über eine kleine Schale und fing an, in der Salatmarinade zu rühren. Als ihr jetzt die Haare ins Gesicht fielen, strich sie sie nicht zurück, sondern war froh über diesen Schutzschild, der verhinderte, dass Suki die Tränen in ihren Augen sah. Hastig wechselte sie das Thema, wobei sie sich bemühte, ganz normal zu klingen. »Und wie sieht es in der Welt der Badekleidung aus?«
»Nicht gerade feuchtfröhlich! Es herrscht eher Seenot. Ich hatte gerade drei Monate an der nächsten Frühjahr-Sommer-Kollektion für unseren wichtigsten Kunden gearbeitet, als die Firma pleiteging. Ich bin so sauer, dass ich am liebsten den Betrieb von Mum und Dad übernehmen würde. Sie liegen mir sowieso ständig in den Ohren, dass sie sich aufs Altenteil zurückziehen wollen.«
»Oh, nein, das darfst du nicht!« Seren sah nervös zu Ben, von dem sie ebenfalls lautstarken Protest erwartete, aber er war gerade damit beschäftigt, im Kühlschrank zwischen all den Schüsseln mit Salat und Erdbeeren Platz für den Champagner zu schaffen. Von den zahlreichen Freundinnen, die ihr Bruder gehabt hatte, mochte sie Suki am liebsten. Die beiden waren mittlerweile seit drei Jahren zusammen, was für Ben als absoluter Rekord gelten konnte.
Bens Kopf tauchte aus dem Kühlschrank auf. »Willst du gar nicht wissen, was in der Kiste ist?«, fragte er grinsend.
»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, ihnen nur die Flugtickets zu schenken«, sagte Seren.
Bens Grinsen wurde noch breiter. Seren hob die Schachtel hoch. Irgendetwas im Inneren verrutschte und krachte an die Seite. »Nach Tickets fühlt sich das nicht an, dafür ist es viel zu schwer.«
»He, Vorsicht! Ich habe das Verpackungsmaterial vergessen, pass also auf!«
»Was ist da drin?«
Ben klopfte sich seitlich auf die Nase. »Später, Schwesterchen! Es ist eine Überraschung.«
Seren verdrehte die Augen und lachte. »Deine Überraschungen kenne ich! Die letzte war ein Goldfisch für Griff, der schon beim Schlafengehen mausetot war.«
»Der Mann im Laden hat geschworen, er würde fünf Jahre alt werden.«
»Und davor war es ein Karton mit dubiosen Feuerwerkskörpern, der von selbst in die Luft flog, als wir gerade bei Mum und Dad in der Küche saßen. Wir hätten alle sterben können!«
Ben zupfte die rote Satinschleife auf dem Paket zurecht und lächelte. »Vertrau mir, Seren, das hier ist hundertprozentig ein Knüller. Daniel und Nesta werden begeistert sein. Wo ist eigentlich Anwen?«
»Auf der Suche nach ihren Jungs vermutlich.«
»Und hoffentlich klug genug, sie für die Dauer der Party zu fesseln und zu knebeln. Ehrlich, die werden von Mal zu Mal schlimmer.«
»Das habe ich gehört, Ben.« Ihre Schwester stand mit verschränkten Armen in der Küchentür.
»Tut mir leid, Anwen, ich …«
»Anni«, verbesserte sie ihn, während sie an den Tisch trat und die Schachtel mit einem Finger anstupste. »Nenn mich bloß nicht Anwen! Was zum Teufel ist das? Wir wollten ihnen die Tickets nach Rom schenken, mehr nicht. Da waren wir uns doch einig, oder?«
Ben zuckte mit den Schultern.
»Immer musst du aus der Reihe tanzen.« Anni beugte sich vor und hielt ein Ohr an die Kiste. »Mein Gott, es tickt!« Sie hob die Schachtel auf und rüttelte daran. »Ist da eine Bombe drin?«
»Lass das, Anwen!«
»Sag gefälligst Anni zu mir!« Sie schüttelte die Kiste noch einmal hin und her.
»Okay, meinetwegen Anni, aber hör bitte auf, das Ding zu schütteln. Es ist höchst empfindlich.« Ben nahm seiner älteren Schwester den Karton aus der Hand und stellte ihn behutsam auf den Tisch.
Seren tippte mit einer Hand seinen Arm an. »Könntest du bitte die Stühle auf die Terrasse tragen? Das ist das Einzige, was vor dem Lunch noch erledigt werden muss.«
»Stets zu Diensten, Sternenkind. Aber erst mal muss ich dem glücklichen Paar gratulieren. Vierzig gemeinsame Jahre – ich kann mir echt nicht vorstellen, wie so etwas funktionieren soll.«
Als Ben in den Garten verschwand, stieß Anni zwischen zusammengebissenen Zähnen ein Knurren aus.
Suki lachte. »Familiendynamik – immer ein Hochgenuss für den unbeteiligten Beobachter!«
»Tut mir leid, Suki.« Anni gab ihr einen Kuss. »Vielleicht tut Ben dir ja gut, aber ich kann bloß sagen: Gott sei Dank lebe ich auf der anderen Seite des Erdballs!«
Das Mittagessen verlief in fröhlichem Chaos: Annis Jungen wurden daran gehindert, einander mit Essen zu bewerfen; Klein Lucy wurde von einem zum anderen gereicht, damit sie zu schreien aufhörte; Daniel und Nesta saßen Seite an Seite. Nesta lächelte und plauderte mit ihrer Familie, die sich um den Tisch versammelt hatte, während Daniel ungewöhnlich still war und sich auf seinem Stuhl zurücklehnte. Seren fiel auf, dass er sein Essen kaum anrührte, und fragte sich, ob das Lärmen und Toben so vieler Enkelkinder ihn ermüdete. Seine Gesichtszüge wirkten angespannt, die Falten auf seiner Stirn tiefer als sonst. Sie sah, wie Nesta seinen Arm berührte, und las »Alles in Ordnung?« von ihren Lippen. Daniel nickte, und als Nesta sich wieder abwandte, griff er in seine Tasche und starrte auf sein Mobiltelefon.
Nachdem der Hauptgang abgeräumt worden war, servierte Seren eine herzförmige, mit Erdbeeren und weißen Schokoladenkringeln verzierte Eisbombe. Ben schlug vor, auf Daniel und Nesta anzustoßen, und alle hoben ihre Gläser und jubelten dem Paar laut zu. Annis Söhne übertrieben es wieder einmal und johlten viel zu lange. Griff, der nicht zurückstehen wollte, fing an zu japsen. Seren wollte schon aufstehen, um seinen Inhalator zu holen, hielt aber inne. Lass ihm ein bisschen Zeit, gib ihm die Gelegenheit, sich von selbst zu erholen, hörte sie im Geist Toms ruhige Stimme. Seren zählte dreißig Sekunden ab. Griff hörte auf zu keuchen, und gleich darauf alberte er schon wieder mit seinen Cousins herum.
Als das letzte Stück Eis verzehrt war, durften sich die Jungen von der Tafel zurückziehen. Sie stoben davon wie eine Meute Jagdhunde, die aus dem Zwinger gelassen wird.
»Geht nicht zum Teich!«, rief Anni ihnen halbherzig nach. Sie war durch ihr Baby praktisch an den Stuhl gefesselt und hielt mit einer Hand ihr Kind und mit der anderen ihr Handy. »Und auch nicht auf die Wendeltreppe!«
»Los, komm!« Suki zog Ben hoch. »Mal sehen, ob wir irgendwas mit ihnen anstellen können, das nicht den unmittelbaren Einsatz eines Krankenwagens zur Folge hat.«
»Warum bist du immer so nett?«, stöhnte Ben und folgte Suki widerstrebend über den Rasen.
»Hier ist eine Nachricht von Mike«, verkündete Anni, die Mühe hatte, im grellen Licht der Nachmittagssonne die Worte auf dem Display zu entziffern. »Er schickt Glückwünsche und schreibt, er wäre heute viel lieber hier bei uns, statt sich auf diese Tagung in Perth vorzubereiten.«
»Armer Mike!«, meinte Nesta bedauernd. »Ein Jammer, dass er nicht mitkommen konnte!«
Seren spähte verstohlen zu ihrer Mutter hinüber und versuchte festzustellen, ob Nesta es wirklich so meinte. Annis Mann hatte nie wirklich in ihre Familie gepasst. Er war groß und kräftig und sehr direkt und schien in der Mühle zu viel Platz in Anspruch zu nehmen, und seine Ansichten waren denen von Daniel immer genau entgegengesetzt.
Daniel stand abrupt auf und fing an, die leeren Teller und die Schüsseln abzuräumen.
»Lass mich das machen, Dad!«, protestierte Seren und beugte sich vor, um nach einem Teller zu greifen. Aus der Jackentasche ihres Vaters erklang Jazzmusik, und mit einem Seufzer fischte er sein Handy heraus.
»Arbeit, fürchte ich«, sagte er nach einem Blick aufs Display. Er entfernte sich ein paar Schritte vom Tisch und stellte sich mit dem Rücken zu seiner Frau und seinen Töchtern unter den Kirschbaum.
»Komm, gib mir das!« Nesta nahm Seren den Stapel Teller ab. »Ich kann nicht die ganze Zeit herumsitzen und Däumchen drehen, das macht mich ganz verrückt.«
In der Küche packten Seren und Nesta die Speisereste in Frischhaltefolie, räumten den Geschirrspüler ein und spülten die größeren Stücke von Hand.
»Schön sind die Pfingstrosen.« Nesta strich behutsam über die blassrosa Blütenblätter. »Aus deinem Laden?«
Seren nickte. »Ich wollte die Blumen haben, die du in deinem Brautstrauß hattest.«
Nesta lachte. »Ach, Seren, du bist so süß! Nur du denkst an solche Sachen.«
Sie griff nach einem Geschirrtuch und rieb die Tischplatte ab. »Die Hochzeitssaison steht vor der Tür. Brauchst du im Geschäft meine Hilfe?«
»Ja, bitte«, sagte Seren. »Seit Ben die Webseite für Stems ins Netz gestellt hat, ist der Teufel los. Allein sechs Aufträge in dieser Woche und jede Menge Anfragen.«
Nesta lächelte. »Dann bist du wenigstens abgelenkt.« Seren biss sich auf die Lippe, und Nesta tätschelte ihre Schulter. »Du hältst dich wirklich gut.«
»Bitte, Mum«, bat Seren. »Fang jetzt nicht an, über Tom zu reden!«
»Schon gut, Liebes«, sagte Nesta. Sie lehnte sich an den Türrahmen und zeigte mit einer Kopfbewegung auf Daniel, der immer noch mit seinem Mobiltelefon unter dem Baum stand und in ein angeregtes Gespräch vertieft war, wie es schien. »Wie soll es dein Vater schaffen, jemals in Ruhestand zu gehen? Er dreht garantiert durch, wenn er keine Arbeit mehr hat.«
Seren hängte ein feuchtes Geschirrtuch zum Trocknen an die Herdstange und trat zu ihrer Mutter. »Ihr werdet eine tolle Zeit haben, du und Dad – durchs Land tingeln, Tagesausflüge unternehmen, nach London fahren, Kunstgalerien und Theater besuchen. Ihr könntet auch nach Australien fliegen und Anni und die Kinder besuchen.«
Nesta zog eine Augenbraue hoch, und Seren lachte. »Na ja, vielleicht wartet ihr damit lieber noch, bis ihre Jungs nicht mehr ganz so durchgeknallt sind.«
»Und du meinst, das wird in absehbarer Zeit sein? Meine Mutter hätte Annis Sprösslinge als bechgyn gwyllt – wilde Kerle – bezeichnet und ihnen bei der ersten Gelegenheit eins mit der Gerte übergezogen.«
Seren konnte sich noch gut an ihre robuste, scharfzüngige Großmutter, die unangefochtene Herrscherin auf ihrem walisischen Bauernhof, erinnern, und daran, wie ihre dunklen Augen funkelten, wenn sie in einer Sprache, die Seren nicht verstand, mit ihren Enkelkindern schimpfte und ihrem Schwiegersohn Vorwürfe machte, weil er Nesta nach England entführt hatte. Darauf erwiderte Daniel regelmäßig, wenigstens habe er Nesta vor dem ewigen Regen in Wales bewahrt. Wenn dann seine Schwiegermutter mit dem Geschirrtuch nach ihm schlug, lachte er und tat so, als ließe er sich von ihr rund um den massiven Eichentisch jagen, der mitten im Raum stand.
Als Kind konnte Seren die Geschichte, wie Nesta und Daniel einander kennengelernt hatten, gar nicht oft genug hören, am liebsten von jedem Elternteil einzeln, um beide Seiten vergleichen zu können. An ihrem neunten Geburtstag hatten Daniel und Nesta mit ihr einen Ausflug nach London gemacht, und statt zu Hamleys, dem berühmten Spielzeuggeschäft an der Regent Street, oder in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett zu gehen, wollte Seren viel lieber den Ort sehen, an dem sich ihre Eltern zum ersten Mal begegnet waren. Auf den Stufen des Victoria and Albert Museum erzählte Nesta, wie sie ebendiese Treppe hinaufgestiegen war – »Gerade mal drei Tage weg aus Wales und begierig, alles zu sehen, was London zu bieten hatte!« –, während Daniel vorführte, wie er zur Drehtür herausgekommen war, den Kopf voller Bilder von William-Morris-Möbeln, die er als Thema seiner Dissertation gewählt hatte.
»Und auf einmal war sie da – eine Vision in Violett!«
»Ich fand, dass er wie Robert Redford und Paul Newman in einer Person aussah«, sagte Nesta, während sie eine Stufe hinaufstieg.
»Sie hatte langes goldenes Haar, das wie Weizen in der Sonne leuchtete.«
»Er trug ein rosafarbenes Paisleyhemd, eine Samthose und eine Frisur, die meine Mutter als ›Affenschande‹ bezeichnet hätte.«
»Sie hatte einen unglaublich kurzen Wildlederrock an, der ihre tollen Beine zur Geltung brachte.«
»Männer wie ihn gab es bei uns in Llangadog jedenfalls nicht.«
»Sie hatte das schönste Gesicht, das ich je gesehen hatte – Augen wie Saphire und eine wahre Pfirsichhaut.«
»Er starrte mich an, und das war’s.«
Und ihre jüngste Tochter hatte unter ihnen auf der Treppe gestanden und vor Freude gestrahlt.
Jetzt betrachtete Seren ihre Mutter, wie sie am Türrahmen lehnte, immer noch schön, immer noch saphirblaue Augen und eine wahre Pfirsichhaut, auch wenn ihr Haar jetzt grau und zu einem schicken Bob geschnitten war. Trotz ihrer drei Kinder hatte sie sich ihre mädchenhafte Figur bewahrt und wirkte in ihrer langen Seidentunika und der weiten Leinenhose sehr anmutig und elegant.
Daniel trat zu ihr, den Kopf übersät mit Kirschblüten.
»Sehr hübsch«, meinte Nesta. Er sah sie verdutzt an. »Dein Haar.« Sie zupfte ein Blütenblatt aus seinen Haaren und zeigte es ihm. »Das Rosa passt ganz wunderbar zum Grau.«
Daniel fuhr sich über den Kopf, schaffte es aber nicht, die Blüten loszuwerden.
»Lass mich mal!«, sagte Nesta.
Er beugte sich vor, und sie klaubte ihm vorsichtig die Blüten aus den Haaren. Als sie fertig war, gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.
Seren lächelte die beiden an. Sie waren immer noch ein schönes Paar.
Plötzlich ertönten laute Klänge von Thelonious Monk.
»Schon wieder dein Handy, Daniel!«, rief Nesta. Er schob seine Hand in die Jackentasche, und die Musik verstummte.
Nach einem Moment des Schweigens seufzte er. »Es ist Odette. Sie kann die Pläne für die neue Touristeninformation nicht finden, und morgen ist die Besprechung mit dem Stadtrat.«
»Sie weiß doch sicher, dass wir mitten in einer Familienfeier sind, oder?« Nesta hielt immer noch die zarten Blütenblätter in der Hand. »Was macht sie überhaupt sonntags im Büro? Sie ist genauso ein Arbeitstier wie du.«
»Gibt’s jetzt Torte oder nicht?« Annis Gesicht erschien im offenen Fenster. Ihr Baby schlummerte friedlich an ihrer Schulter.
Wieder erklang Jazzmusik aus Daniels Jackentasche.
»Sag Odette, sie soll bis morgen früh warten!« Nesta lächelte, aber in ihrer Stimme lag eine Anspannung, die Seren nicht entging. Nesta zerknüllte die Blütenblätter in ihrer Hand und warf sie in den Eimer mit Bioabfall. »Oder hast du insgeheim wie jeder Mann Angst vor deiner Sekretärin?«
Der Klingelton verstummte.
»Ich habe keine Angst vor Odette, sie ist nur ein bisschen …«, setzte Daniel an, brach aber mitten im Satz ab, als das Telefon erneut läutete.
Seren beobachtete, wie sich die Wangen ihrer Mutter röteten. »Um Himmels willen, Daniel, stell das Ding ab!«
Er zog sein Handy hervor, aber statt es auszuschalten, starrte er es wie hypnotisiert an. Schließlich hörte es auf zu klingeln, und nur noch das Summen einer Fliege war zu hören, die über einer Schale mit Resten kreiste, bis sie eine Erdbeere entdeckte und sich darauf häuslich niederließ.
»Na dann, her mit der Torte!« Seren gab sich Mühe, fröhlich zu klingen.
Nesta holte Teller aus dem Küchenschrank und ging damit in den Garten hinaus, ohne ihrem Mann auch nur einen Blick zu widmen.
»Ich rufe die Kinder«, verkündete Anni und verschwand mitsamt der kleinen Lucy in Richtung Mühle.
Nach kurzem Zögern wandte sich Daniel zur Tür, blieb aber auf der Schwelle stehen und drehte sich um. »Seren?«
»Ja?«
»Es gibt da etwas, das du wissen solltest.«
»Ja?«
»Ich …«, begann er, wurde jedoch von ohrenbetäubendem Johlen unterbrochen, das vom Garten ertönte. Eine wilde Schar, unter ihnen auch Ben und Suki, die ihre hochhackigen Schuhe mittlerweile ausgezogen hatte, kam über den Rasen auf sie zugestürzt.
»Wie bitte, Dad?«, rief Seren über den Lärm hinweg. »Ich kann dich nicht verstehen.«
Daniel schüttelte den Kopf. »Ach, egal. Warte, ich helfe dir mit den Getränken.«
Seren stellte zwei Flaschen Champagner auf die Arbeitsfläche, und Daniel machte sich daran, eine zu entkorken.
»Alles in Ordnung, Dad?«, fragte Seren, während sie die Sektflöten auf ein Tablett stellte. »Du wirkst ein bisschen nervös.«
Daniel lächelte. »Mir geht’s gut, Liebes.« Der Korken flutschte mit einem satten »Plopp« aus der Flasche. »Ich habe ziemlich viel damit zu tun, im Büro alles auf die Reihe zu bringen, bevor ich in Rente gehe.« Er wartete einen Moment und fing dann an, die Gläser zu füllen. Seren fiel auf, dass seine Hände zitterten.
»Mach dich bloß nicht kaputt! Mum und ich haben gerade darüber geredet, wie viel Spaß ihr haben werdet, wenn du im Ruhestand bist.«
Der Champagner schäumte in einem der Gläser und lief über.
»Verdammt!« Daniel kehrte Seren den Rücken zu, um nach einem Spültuch zu greifen.
»Willst du nicht eine Rede halten, Dad?«, fragte Ben in dem Moment, als Seren das Messer hob, um die Torte anzuschneiden.
»Ich bin eine stillende Mutter, weißt du?« Anni starrte hungrig auf die Torte. »Niedriger Blutzucker ist ein nicht zu unterschätzendes Risiko.«
»Grandad hält bei Feiern immer eine Rede«, sagte Griff. Er hatte recht: Ein derartiger Anlass ging nie ohne eine von Daniels witzigen Ansprachen über die Bühne; oft waren sie der Höhepunkt des Ereignisses.
Alle sahen Daniel an. Er schüttelte den Kopf, ohne zu lächeln, und Seren fiel auf, wie blass er war. Ob er krank war?
Rasch hob sie ihr Glas. »Auf Mum und Dad! Mögen sie noch viele glückliche Jahre miteinander verbringen!«
»Auf Mum und Dad!«, rief Ben.
Die Erwachsenen nahmen einen Schluck Champagner, während die Kinder ihren Holundersaft tranken und so nahe wie möglich an die Torte heranrutschten. Daniel leerte sein Glas in einem Zug.
»Und jetzt ist es Zeit für das hier!« Ben bückte sich, zog den großen Geschenkkarton unter dem Tisch hervor und stellte ihn vor Daniel und Nesta. Alle Kinder sprangen auf und drängelten sich um das Geschenk.
»Um Himmels willen, Ben, können wir nicht erst mal ein Stück Torte essen?«, protestierte Anni, doch Nesta war bereits dabei, die rote Schleife zu lösen, wobei sie immer wieder die kleinen Hände der Jungen wegschieben musste.
»Komm, Liebling!« Sie lächelte Daniel an. »Fang du schon mal auf deiner Seite an. Wer auch immer das hier eingepackt hat, war ganz schön gründlich.«
»Das war ich.« Ben klang sehr selbstgefällig. »He, Anwen, gib ihnen das Kuchenmesser, damit sie das Klebeband durchschneiden können.«
Anni warf ihrem Bruder einen finsteren Blick zu.
Als Nesta das Geschenkpapier auseinanderriss, kam ein brauner Pappkarton mit einem Umschlag darauf zum Vorschein.
»Eins muss ich dazu noch sagen«, meldete sich Anni zu Wort. »Was in dem Umschlag steckt, ist euer Hauptgeschenk. Seren und ich haben keine Ahnung, was sich in dem Karton befindet, aber was es auch ist, es stammt ganz allein von Ben.«
»Bestimmt ist es was ganz Tolles.« Nesta lächelte ihren Sohn an. »Du findest immer die spannendsten Geschenke.«
Anni verdrehte die Augen.
Nesta griff nach dem Umschlag und reichte ihn Daniel. »Möchtest du ihn nicht aufmachen, Schatz?« Daniel zuckte zusammen und schüttelte den Kopf.
Nestas Lippen wurden einen Moment lang schmal, bevor sie wieder lächelte, den Umschlag öffnete und sie alle mit übertrieben freudiger Erwartung ansah. Dann zog sie ein bedrucktes Blatt Papier heraus und stieß einen Schrei des Entzückens aus. »Rom! Fantastisch! Schau mal, Daniel, eine Woche Rom, mit einem Flug erster Klasse und einem Zimmer im Plaza del Majestic, wo wir unsere Flitterwochen verbracht haben. Wie oft haben wir davon geredet, wieder einmal dorthinzufahren!« Sie betrachtete ihre versammelte Familie. »Ihr seid ganz, ganz schlimm. Das muss ein Vermögen gekostet haben.«
»Der Gutschein gilt erst ab Juli«, sagte Seren. »Es ist also auch ein Geschenk zu Dads Ruhestand.« Sie wartete darauf, dass ihr Vater sich in irgendeiner Weise äußerte, doch er saß nach wie vor mit unbewegter Miene da. Eine leichte Brise wehte noch mehr Kirschblüten vom Baum, und Seren fröstelte.
»Kommt schon, schaut in den Karton rein!« Ben hopste auf seinem Stuhl auf und ab wie ein Kind.
»Reg dich ab!« Suki legte die Hand auf seinen Arm.
Nesta spähte in den Karton und hob einen geheimnisvollen Gegenstand heraus.
Anni blieb der Mund offen stehen. »Oh, mein Gott!«
»Wow, megacool!« Annis Söhne drängten sich näher an den Tisch.
»Nun ja.« Nestas walisischer Akzent schien stärker ausgeprägt zu sein als sonst, als sie das erstaunliche Objekt hochhielt. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Ich schon«, fing Anni an. »Es ist …«
»Ich habe es auf dem Portobello-Markt entdeckt«, fiel Ben seiner Schwester ins Wort. »Das perfekte Geschenk zum Hochzeitstag, war mein erster Gedanke.«
Suki zog eine elegant gezupfte Augenbraue hoch. »Ich hatte leise Bedenken, ob es zur Einrichtung der Mühle passen würde.«
»Wir finden bestimmt einen geeigneten Platz«, meinte Nesta unsicher, während sie das massive Modell des Kolosseums, das sie in den Händen hielt, betrachtete. Die Mauern waren aus Gips modelliert, und auf dem Sockel stand ein kleiner Motorroller mit einem Pärchen darauf. Gekrönt wurde das antike Gemäuer von einer kleinen, knallrot lackierten Uhr.
»Das sind Gregory Peck und Audrey Hepburn«, erklärte Ben und zeigte auf den Roller. »Du weißt schon, aus dem Film Ein Herz und eine Krone. Warte mal ab, was zu jeder vollen Stunde passiert! Du wirst begeistert sein.«
Seren wechselte einen Blick mit Nesta und unterdrückte ein Lachen.
»Ich dachte, die Uhr könnte gut auf Grannys alter Kommode stehen.« Ben ließ sich vom Gesichtsausdruck seiner Mutter nicht in seinem Enthusiasmus dämpfen.
»Vielleicht …« Nesta nickte langsam und wandte sich zu ihrem Mann um. »Was meinst du?«
Daniel beachtete weder Nesta noch die Uhr, sondern starrte unverwandt auf seinen Teller.
»Daniel? Stimmt etwas nicht?«
Er nahm Nesta die Kolosseum-Uhr aus der Hand und schien sie einen Moment lang zu betrachten, bevor er sie behutsam absetzte und den Blick auf seine Frau richtete. »Ich kann das nicht mehr.« Seine Stimme klang, als würde ihm die Kehle zugeschnürt. Er stand auf.
»Was kannst du nicht mehr?« Nesta legte die Hand auf seinen Arm und sah ihn besorgt an. Sie schienen eine Ewigkeit so dazustehen.
»Das alles.« Daniel zeigte auf den Tisch. »Die Torte. Der Champagner. Die Geschenke. Die Feier. Ich kann nicht länger so tun als ob.«
»Was soll das heißen?« Nestas Arm sank herab.
»Das heißt …« Daniel holte tief Luft. »Das heißt, dass ich dir etwas sagen muss, das mir sehr schwerfällt.« Wieder deutete er auf die Runde um den Tisch, die mittlerweile verstummt war. »Genau genommen habe ich euch allen etwas zu sagen.«
Krebs! Das Wort schoss Seren sofort durch den Kopf und drang bösartig und schmerzhaft in ihr Bewusstsein wie ein scharfes Messer. Sie hätte es wissen müssen, sie hätte es an seinem Verhalten erkennen müssen. Im Geist griff sie nach Toms Hand und wünschte sich verzweifelt, er wäre jetzt wirklich hier bei ihr.
»Geht spielen, Jungs!« In Annis Stimme lag eine Autorität, die sie normalerweise bei ihren Kindern vermissen ließ. »Rennt im Garten rum, zählt die Hühner, riecht an den Blumen! Du auch, Griff!«
Zu Serens Erleichterung lief Griff seinen Cousins nach. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sein würde, ihrem Sohn beizubringen, dass sein Großvater schwerkrank war, aber es wollte ihr nicht gelingen. Ihr ganzer Körper schien von innen zu vereisen. Weder sie noch Griff hatten die Kraft, schon wieder mit dem Tod konfrontiert zu werden, das wusste sie.
Auf einmal merkte sie, dass ihre Mutter etwas sagte – einen Satz, der überhaupt nicht zur Situation zu passen schien.
»Wie heißt sie?« Nestas blaue Augen bohrten sich in das Gesicht ihres Mannes.
Daniel wandte sich ab und schien eher den Garten anzusprechen als seine Frau. »Es geht nicht darum, dass es jemand anders in meinem Leben gibt, Nesta. Es geht um mich und das, was ich für mich tun muss.«
»Wie heißt sie?«, wiederholte Nesta. Seren fiel auf, dass ihre Mutter sich mit einer Hand so fest an die Stuhllehne klammerte, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Nesta, bitte! Ist das wirklich so wichtig?«
»Einen Namen. Habe ich das nicht verdient?«
Seren sah von einem Elternteil zum anderen und versuchte zu erfassen, wovon sie redeten. Sie drehte sich zu Ben um, aber er starrte unverwandt auf den Tisch. Daniel blickte immer noch auf den Rasen.
»Warum?« Nestas Stimme bebte. Anni gab Suki das Baby und trat zu ihrer Mutter. »Warum?«, wiederholte Nesta. »Warum tust du das?«
Seren konnte den Blick nicht von ihrem Vater wenden.
»Ich will nicht …«, hob Daniel an, um gleich darauf wieder zu verstummen. Er wandte sich zu Nesta um und sah ihr ins Gesicht. »Ich glaube, wir brauchen eine Auszeit.« Nesta starrte ihn an. Er legte eine Hand an ihre Wange und ließ sie dort. Nesta sah ihn weiterhin unverwandt an. »Du weißt, dass ich dich liebe, oder?«, sagte er. »Aber ich muss mir selbst treu sein.«
Die Zeit verging, vielleicht Minuten, vielleicht Sekunden. Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten.
Nestas Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern, aber Seren hörte sie. »Scheißdreck!« Nesta fluchte nie und gebrauchte erst recht keine derben Schimpfwörter. Sie stieß Daniels Hand weg. »Du bist ein Haufen Scheißdreck, genau wie meine Mutter immer behauptet hat.«
Seren sah zu Ben; er hatte das Geschenkband aufgehoben und wickelte es langsam und mit äußerster Konzentration auf. Neben ihm wiegte Suki rhythmisch die kleine Lucy, dabei hielt sie den Blick von der Szene abgewandt, die sich vor ihr abspielte. Schweigen, schwer wie dichter Nebel, hing über ihnen allen. Seren wollte etwas sagen, versuchte zu sprechen. Sie sehnte sich verzweifelt danach, die richtigen Worte zu finden, die alles wieder ins Lot bringen würden, aber es gelang ihr nicht.
Ein greller Ton zerriss die Stille. Alle starrten auf die Uhr. Drei weitere helle Glockenschläge erklangen, während der kleine Roller anfing, immer schneller um das Kolosseum zu kreisen, begleitet von den etwas zu langsamen und leicht verstimmten Klängen der Filmmusik von Ein Herz und eine Krone.
»Mist!« Ben griff nach der Uhr und bemühte sich hektisch, sie zum Schweigen zu bringen.
»Bravo, Ben!« Anni wollte ihm die Uhr wegnehmen, doch ihr Bruder stellte sie unter den Tisch, wo sie leicht gedämpft, aber unaufhaltsam noch eine gute Minute weiterdudelte.
Daniel, der die Musik nicht wahrzunehmen schien, räusperte sich. »Ich hoffe, dass ihr es alle irgendwann einmal verstehen werdet, aber es ist einfach so, dass ich nicht mehr …«
»Geh jetzt lieber!«, unterbrach Nesta ihn. »Hat keinen Sinn, länger hier herumzuhängen. Bestimmt wartet sie schon darauf, von dir zu hören, ob du es tatsächlich hinter dich gebracht hast.«
Daniel legte eine Hand auf Nestas Arm. »Ich versuche schon seit Wochen, mit dir zu reden, aber ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte, und dann dachte ich mir, dass heute, wenn alle unsere Kinder hier bei dir sind und sich um dich kümmern können, vielleicht die beste Gelegenheit ist …«
»Ich will nicht, dass sich jemand um mich kümmert.« Nesta schüttelte Daniels Hand ab. »Der Name, Daniel. Das ist alles, was ich will.«
Wieder entstand eine lange Pause, bis Daniel sagte: »Frankie.«
Nesta riss erstaunt die Augen auf.
»Francesca«, fügte Daniel hastig hinzu. »Frankie ist ihr Spitzname.«
Nesta rang sich ein kurzes, knappes Lächeln ab. »Wie lange?«
»Bitte?«
»Wie lange geht das schon mit dir und dieser …« Ihre Stimme verebbte.
Daniel seufzte. »Ist das wichtig?«
»Ja.«
»Ich kenne sie seit zwei Jahren, aber …«
»Danke, Daniel.« Nesta räusperte sich und wandte sich zu Seren um. »So, jetzt sollten wir wohl deine köstliche Torte essen, sonst zerfließt sie noch.«
»Nesta.« Daniels Stimme bebte.
»Geh einfach.« Nesta setzte sich und zog die Tortenplatte zu sich heran. »Was für eine wunderschöne Dekoration, Seren! Daran musst du ja eine Ewigkeit gesessen haben.«
»Nesta«, sagte Daniel wieder. »Wir haben einiges zu besprechen – das Haus, die Finanzen.«
Nesta griff nach dem Messer, das neben ihr lag. »Wer will ein Stück?« Schwungvoll schnitt sie durch goldene Sterne, Rosenblätter, Glasur und Teig. Daniel nahm seine Jacke und wandte sich zum Gehen, während Nesta Tortenstücke auf die Teller verteilte.
»Willst du ihm nicht nachgehen, Mum?«
»Setz dich und iss deine Torte, Anwen!«
Anni blieb stehen. »Geh ihm doch nach und sag ihm, er soll nicht so ein Idiot sein!«
»Setz dich!«
»Wenn du ihm nicht nachgehst, dann mache ich es eben!« Anni lief über den Rasen, so schnell, dass ihr blonder Pferdeschwanz energisch wippte. Als ein Motor startete und das Knirschen von Reifen auf Kies zu hören war, blieb sie stehen. Von diesem Teil des Gartens aus war die Auffahrt nicht zu sehen, aber sie wussten alle, dass es Daniels Jaguar war, der jetzt zum Tor preschte und auf die Hauptstraße bog.
Anni marschierte zum Tisch zurück. »Ich fasse es nicht! Er ist weg!«
»Wahrscheinlich hatte er schon eine Tasche gepackt und hat nur noch auf den richtigen Moment gewartet, von hier zu verschwinden«, meinte Nesta.
»Das klingt, als hättest du so etwas erwartet.« Sukis Stimme war leise, und ihre Augen ruhten sorgenvoll auf Nesta.
Nesta griff nach einer Kuchengabel, nahm sich einen Bissen Torte direkt von der Tortenplatte und kaute langsam, während sie mit leerem Blick in die Ferne starrte und alle anderen stumm zuschauten. Schließlich schluckte Nesta das Stück Torte hinunter und wischte sich die Mundwinkel mit der mit kleinen Herzen bedruckten Papierserviette ab, die Seren extra im neuen Geschenkeladen an der Hauptstraße gekauft hatte.
»Nein«, sagte sie zu Suki. »Ich habe nicht erwartet, dass er sich heute davonmachen würde, nicht an unserem Hochzeitstag, nicht vor euch allen.« Sie brach ab und starrte wieder in die Ferne. »Aber wenn ich ehrlich bin, erwarte ich so etwas seit Jahren.« Sie stand auf, schob ihren Stuhl zurück und ging in Richtung Mühle davon.
Nesta wollte nach Hause. Ihr war schlecht. Die Schokotorte hatte einen schrecklich süßen Nachgeschmack in ihrem Mund hinterlassen. Sie brauchte etwas zu trinken, um alles hinunterzuspülen. Wenn sie erst einmal in ihrer Küche war, würde sie sich sofort ein großes Glas kaltes Wasser einschenken – in eines der blauen Gläser mit den eingravierten Vögeln, die sie während ihres Urlaubs in Indien gekauft hatten. Wie lange war das her? Zwölf Jahre? Dreizehn?
Einen Fuß vor den anderen setzen, auf das Gras, auf die Gänseblümchen. Ihr fiel das Moos auf, und sie machte sich im Geist eine Notiz, Daniel zu bitten, es auszuharken, und dann noch eine Notiz, die sie daran erinnern sollte, dass Daniel nicht mehr da war.
Hinter ihrem Rücken hörte sie Anni sagen: »Setz dich hin, Seren! Das Letzte, was sie braucht, ist eine Menschenmenge. Ich gehe zu ihr.«
Nesta blutete das Herz wegen Seren, und sie fragte sich, was ihr durch den Kopf gehen mochte. Anni würde bald wieder bei ihrem Mike am anderen Ende der Welt sein und sich mit ihren wilden Jungen und der kleinen Lucy abplagen. Und Ben würde in London sein, sich in seinen virtuellen Welten verlieren und nicht mehr an reale Dramen denken. Es war Seren, die allein zu Hause zurückblieb, Seren, die immer noch so sehr unter Toms Tod litt und noch immer damit beschäftigt war, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Anwen war nun bei ihr. Nesta wusste, dass ihre Tochter mit ihr redete, konnte die Worte aber nicht erfassen. Die breiten, mit Kräutern bepflanzten Randbeete links und rechts des Gartenpfads lenkten sie ab; alles wuchs so schnell, war so grün und lebendig. Akeleien schwankten im Wind, und ein Fleck mit Riesen-Zierlauch schien in der Luft zu schweben. Die Geranien standen kurz vor dem Erblühen, und durch das dichte Laub im Hintergrund drängte eine dunkelrote Pfingstrose. Vielleicht sollte ich sie nächstes Jahr weiter nach vorn pflanzen, dachte Nesta. Nächstes Jahr?
Anwen redete pausenlos auf sie ein. Ihre Stimme tat Nesta im Kopf weh. Wo die Kinder wohl stecken, fragte sie sich und hoffte, dass sie die Hühner in Ruhe ließen. Sie holte tief Luft, und der Boden schien auf sie zuzukommen; die ganze Welt rutschte plötzlich aus den Angeln, das Gefühl von Übelkeit verstärkte sich, in ihrem Kopf drehte sich alles, und sie hatte Schmerzen in der Brust. Sie brauchte Wasser, jetzt gleich, dringender als alles andere. Immer noch setzte sie einen Fuß vor den anderen und zwang sich weiterzugehen. Es wäre zu leicht, vor Daniels Turm zusammenzubrechen und zu sterben, viel zu leicht.
Anwens Stimme drang zu ihr durch. »Morgen ist er wieder da, du wirst schon sehen, Mum. Er weiß nicht, was er tut. Wahrscheinlich ist es eine Midlife-Crisis. Das dachte ich mir schon, als er sich den Wagen gekauft hat. Und du weißt ja, wie Männer in Panik geraten, wenn der Ruhestand näher rückt. Er war schon immer wie besessen von seiner Arbeit.«
Anwen, bitte! Nesta war nicht sicher, ob sie die Worte laut aussprach oder nur dachte. Hör bitte auf! Ich will das alles nicht hören …
»Eine alberne Affäre. Eine Frau, die ihm das Gefühl gibt, wieder jung zu sein. Er wird schon bald merken, wie sehr er dich braucht. Du warst doch immer die Einzige für ihn.«
Nicht jetzt …
»Mikes Dad hat seine Mum auch vor ein paar Jahren verlassen, weil er angeblich Freiraum brauchte, um zu sich selbst zu finden. Zum Abendessen war er wieder da – er konnte nicht mal einen Laden mit Pizza finden, geschweige denn sich selbst.«
Anwen …
»Und der Mann meiner Freundin aus der Krabbelgruppe hat sich eingebildet, dass er in eine Kellnerin aus Sydney verliebt ist und …«
Halt den Mund, Anwen!