Überwintern. Wenn das Leben innehält - Katherine May - E-Book
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Überwintern. Wenn das Leben innehält E-Book

Katherine May

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Beschreibung

Es gibt Zeiten, da liegt unser Leben „auf Eis“ und wir fühlen uns wie aus der Welt gefallen. Durch eine Krankheit oder den Verlust eines geliebten Menschen, durch Arbeitslosigkeit. Auch ein freudiges Ereignis wie die Geburt eines Kindes kann uns aus dem Gleichgewicht bringen. Katherine May nennt diese Zeiten des Rückzugs, die ihr selbst nur allzu vertraut sind, »Winter«. Und wie auch in der winterlichen Kälte alles ruht, um Kraft für den Frühling zu sammeln, so gibt May sich dem „Überwintern“ hin. Sie reist nach Tromsø zu den Polarlichtern, schwimmt im eisigen Meer, schwitzt in der Sauna und feiert das Winterfest Santa Lucia. Sie besinnt sich auf das Wesentliche und gibt sich der Ruhe und inneren Einkehr hin – bis sie sich wieder bereit fühlt, mit neuer Energie weiterzumachen.

Wir können uns unsere Winter nicht aussuchen. Aber wie wir überwintern, schon. Ein wunderbares Buch über die heilsame Kraft des Innehaltens.

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Titel

Katherine May

Überwintern

Wenn das Leben innehält

Aus dem Englischen von Marieke Heimburger

Insel Verlag

Widmung

All jenen, die schon einmal überwintert haben

Motto

Over the land freckled with snow half-thawed

The speculating rooks at their nests cawed

And saw from elm-tops, delicate as flowers of grass,

What we below could not see, Winter pass.

Über das Land gesprenkelt mit Schnee halb getaut

Krächzten sinnende Krähen von Nestern aus laut

In graszarten Wipfeln und sahen von dort

Was uns unten verborgen: Der Winter ging fort.

Edward Thomas, »Tauwetter«

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Motto

Inhalt

PROLOG September

Spätsommer

Oktober

Vorbereitungen

Heißes Wasser

Geistergeschichten

November

Metamorphose

Schlummer

Dezember

Licht

Mittwinter

Epiphanias

Januar

Dunkelheit

Hunger

Februar

Schnee

Kaltes Wasser

März

Überleben

Gesang

EPILOG Ende März

Tauwetter

Danksagung

Anmerkungen

Nachweis der verwendeten Zitate

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

PROLOG

September

Spätsommer

Manche Winter beginnen mit Sonnenschein. Dieser begann an einem strahlenden Tag Anfang September, eine Woche vor meinem vierzigsten Geburtstag.

Ich feierte mit ein paar Freunden am Strand von Folkestone, der in den Ärmelkanal ragt, als strecke er die Hand aus nach Frankreich. Um eine richtige, große Party zu vermeiden, mir aber dennoch den Übergang in das nächste Lebensjahrzehnt zu erleichtern, hatte ich für die kommenden zwei Wochen mehrere Abende geplant, an denen ich mit diversen Freunden gut essen und trinken wollte, und dieser war der erste. Die Fotos von jenem Tag kommen mir heute absurd vor. Wie berauscht von meinem Älterwerden knipste ich den in das warme Licht des Spätsommers getauchten Küstenort. Den Waschsalon, an dem wir auf dem Weg vom Parkplatz vorbeikamen und der wie aus der Zeit gefallen wirkte. Die den Strand säumenden, pastellfarbenen Betonhütten. Unseren zusammengewürfelten Haufen Kinder, wie sie über den Wassersaum sprangen und im unfassbaren Türkis des Meeres planschten. Den Becher Gypsy-Tart-Eis, den ich mir genehmigte, während die Kinder spielten.

Von meinem Mann, H, gibt es keine Fotos. Das ist erst mal nichts Ungewöhnliches: Ich habe zig Fotos von meinem Sohn Bert und dem Meer gemacht. Ungewöhnlich ist die dann folgende Lücke in meinem Fotoordner. Das nächste Bild ist zwei Tage später aufgenommen und zeigt H, wie er im Krankenhaus liegt. Für die Kamera ringt er sich ein gequältes Lächeln ab.

H hatte bereits am Strand über Bauchschmerzen und Übelkeit geklagt. Ich maß dem nicht viel Bedeutung bei, schließlich schleppt so ein Kleinkind wie Bert in einem fort irgendwelche Keime ins Haus, von denen man Halsschmerzen, Ausschlag, eine verstopfte Nase oder eben Bauchweh bekommt. Und H hat auch kein großes Aufheben gemacht. Nach dem Mittagessen, das er nicht angerührt hatte, marschierten wir die Steilküste hinauf zum Spielplatz. H verschwand für ein paar Minuten. Ich fotografierte Bert, wie er im Sandkasten spielte, er hatte sich einen Schweif aus Meertang hinten in den Hosenbund gesteckt. Als H wiederkam, sagte er, er habe sich übergeben.

»O nein!«, sagte ich und versuchte dabei mitfühlend zu klingen, während ich gleichzeitig dachte, wie ungelegen mir das kam. Jetzt mussten wir den Ausflug sicher abbrechen, damit er sich zu Hause hinlegen konnte. Er hielt sich den Bauch, aber das fand ich unter den gegebenen Umständen nicht weiter beunruhigend. Ich hatte keinerlei Eile, den Rückweg anzutreten, und das muss ziemlich deutlich gewesen sein, denn unser Freund – einer unserer ältesten Freunde, ein Schulfreund – tippte mir auf die Schulter und sagte: »Katherine, ich glaube, H geht es wirklich nicht gut.«

»Ach ja?«, sagte ich. »Glaubst du?« Ich sah zu H, dessen schmerzverzerrtes Gesicht schweißnass glänzte. Ich sagte, ich würde das Auto holen. Ich kann mich noch gut an den Schrecken erinnern, den ich in jenen Minuten empfand.

Als wir nach Hause kamen, glaubte ich immer noch nicht daran, dass wir es mit etwas Schlimmerem als dem Norovirus zu tun hatten. H legte sich ins Bett, und ich versuchte, Bert zu beschäftigen, der ja nun um seinen Nachmittag am Strand gebracht worden war. Zwei Stunden später rief H nach mir, und als ich nach oben ins Schlafzimmer kam, war er dabei, sich anzuziehen. »Ich glaube, ich muss ins Krankenhaus«, sagte er. Ich lachte überrascht auf.

Mit einer Kanüle im Handrücken saß H auf einem der Plastikstühle im Wartezimmer und sah hundeelend aus. Es war Samstagabend. In der Notaufnahme wimmelte es von Rugbyspielern, die ihre gebrochenen Finger bewunderten, Bierleichen mit lädierten Visagen und alten Menschen in Rollstühlen, deren Betreuer sich weigerten, sie zurück ins Seniorenheim zu bringen. Ich hatte Bert bei den Nachbarn abgegeben und versprochen, ihn in ein bis zwei Stunden wieder abzuholen, aber es dauerte nicht lange, bis ich eine Nachricht schrieb und fragte, ob er bei ihnen übernachten könne. Es war bereits nach Mitternacht, als ich H schließlich im Krankenhaus alleine ließ, und da hatte man ihn immer noch nicht auf eine Station gebracht.

Ich fuhr nach Hause und machte kein Auge zu. Als ich am nächsten Morgen wieder ins Krankenhaus kam, ging es H deutlich schlechter. Er war sehr matt und fiebrig. Die Schmerzen hätten im Laufe der Nacht zugenommen, erzählte er, doch gerade als er meinte sie nicht mehr aushalten zu können, sei Schichtwechsel gewesen, und keine der Krankenschwestern konnte ihm Medikamente zur Linderung geben. Dann sei sein Blinddarm geplatzt. Er hätte das gespürt. Er habe vor Schmerzen gebrüllt und sei von der Stationsschwester angegangen worden, er könne sich wohl nicht benehmen und würde furchtbar übertreiben. Der Mann im Nachbarbett sei aufgestanden und habe sich für ihn eingesetzt. Durch den Vorhang rief der Nachbar uns zu: »Dabei war ihm doch anzusehen, wie schlecht es ihm ging, dem armen Kerl.«

Aber von einer Operation war offenbar immer noch keine Rede. H hatte Angst.

Und dann bekam auch ich Angst. Ganz offensichtlich war während meiner Abwesenheit etwas sehr Gefährliches und Schreckliches passiert, doch es kümmerte keinen: Die Pflegerinnen und Ärzte bewegten sich mit einer Seelenruhe durch die Station, als bestünde keinerlei Eile – als solle jemand, dem ein inneres Organ platzt, sich bitte einfach entspannen und das klaglos hinnehmen. Schlagartig und sehr heftig wurde mir bewusst, dass ich H verlieren könnte. Er brauchte jemanden an seiner Seite, der für ihn kämpfte. Also blieb ich bei ihm, ohne mich um die Besuchszeiten zu scheren, und wenn seine Schmerzen unerträglich wurden, lief ich der Stationsschwester hinterher, bis sie ihm half. Normalerweise bringe ich es nicht mal fertig, mir eine Pizza zu bestellen, aber das hier war etwas anderes. Das hier war ich gegen sie, das Elend meines Mannes gegen ihre starren Routinen. Ich würde mich nicht geschlagen geben.

Um neun Uhr abends ging ich an dem Sonntag nach Hause und rief stündlich im Krankenhaus an, bis H endlich im OP war. Sollten sie mich doch für hysterisch und nervig halten. Dann lag ich wach, bis mein Mann wieder raus war aus dem OP und man mir sagte, es gehe ihm gut. Trotzdem konnte ich nicht schlafen. Es gibt Situationen, in denen schlafen sich für einen anfühlt wie fallen: Erst versinkt man in köstlicher Finsternis, und dann fährt man auf einmal hoch und sieht sich suchend in der Dunkelheit um. Doch alles, was ich in jener Zeit fand, waren meine eigenen Ängste: davor, dass mein Mann unerträglich leidet; davor, dass ich ihn verlieren könnte und dann alleine weiterleben, überleben müsste.

Die ganze Woche hielt ich an seinem Krankenbett Wache, während Bert in der Schule war. Ich war da, als der Chirurg fast schon ehrfürchtig vom Entzündungszustand berichtete; ich war da, um mit wachsender Sorge zu beobachten, dass Hs Temperatur nicht sinken wollte und sein Blutsauerstoff sich nicht normalisierte. Ich half H dabei, kleine Spaziergänge auf der Station zu unternehmen, und sah ihm hinterher beim Schlafen zu. Manchmal nickte er mitten im Satz ein. Ich zog ihm saubere Sachen an und reichte ihm winzige Portionen zu essen. Ich versuchte, Bert zu beruhigen, der Angst um seinen Vater hatte, weil der an so vielen Schläuchen und Kabeln und piepsenden Geräten hing.

Irgendwo inmitten dieser Katastrophe tat sich etwas in mir auf, wie ein Riss. Ich verbrachte so viele Stunden im Auto auf dem Weg zum Krankenhaus und zurück; ich saß an Hs Bett, während er schlief; wartete in der Cafeteria, bis die Visite abgeschlossen war. Ich stand unter enormer Anspannung und war gleichzeitig dazu verdammt, ruhig zu bleiben. Die ganze Zeit musste ich anwesend und in Alarmbereitschaft sein – aber gleichzeitig war ich ein zum Nichtstun verdammter, überflüssiger Eindringling. Ich verbrachte Ewigkeiten damit, Löcher in die Luft zu starren und mich zu fragen, was ich tun sollte, während gleichzeitig alles in mir daran arbeitete, diese völlig neuen Erfahrungen irgendwie zu sortieren und in einen Zusammenhang zu bringen.

Und je tiefer dieser Riss ging, desto klarer wurde mir, was jetzt unvermeidlich auf mich zukam. Es fegte ja ohnehin bereits ein merkwürdiger, unaufhaltsamer Orkan durch mein Leben, und das hier war einfach noch eine seiner Auswirkungen. Erst vor einer Woche hatte ich meinen Job als Dozentin gekündigt – in der Hoffnung, abseits des ständigen Drucks und Lärms einer modernen Universität ein besseres Leben zu finden. Ein paar Monate musste ich jetzt noch durchhalten – und ausgerechnet am Anfang des Semesters, in der hektischsten Zeit, nahm ich mir nun Sonderurlaub, um meinen kranken Mann zu pflegen. Aber wer hätte es sonst tun sollen?

Außerdem hatte ich nach sechs Jahren mein erstes Buch veröffentlicht, und die nächste Deadline stand kurz bevor. Mein Sohn war nach den langen Sommerferien in die erste Klasse gekommen, und ich machte mir wie wohl jede Mutter Sorgen, ob er den Herausforderungen in der Schule gewachsen war. Ich steckte also mitten in einer Phase der Veränderung, und da tauchte auch noch deren große Schwester, die Sterblichkeit, auf und klopfte nicht nur an, sondern trat mit aller Macht die Tür ein.

An meinem dreißigsten Geburtstag hatte ich mich unversehens auf einer Trauerfeier wiedergefunden. Ich hatte mich mit einer Freundin in einem Pub verabredet, in dem – wie sich herausstellte, als ich mitten hineinstolperte – der letzte Akt einer irischen Beerdigung stattfand. Alle trugen Schwarz, in einer Ecke spielten zwei junge Frauen Geige und sangen Volkslieder. Ich hätte auf dem Absatz kehrtmachen und wieder rausgehen sollen, aber ich hatte Angst, meine Freundin würde mich dann nicht finden, und außerdem regnete es. Ich dachte, ich könnte einfach ein bisschen an der Tür herumlungern und würde nicht weiter auffallen. Obwohl, eigentlich weiß ich gar nicht genau, was ich dachte. Jeder vernünftige Mensch wäre gegangen und hätte der Freundin eine Nachricht geschickt. Aber ich blieb und dachte, das war mal wieder typisch für mich, dass das endgültige Ende meiner Jugend mit derartigen Vorboten des Todes garniert wurde.

Die Lage spitzte sich zu, als meine Freundin dazukam, die einer der bereits von der Bühne verschwundenen Musikerinnen verdammt ähnlich sah. Und das fand nicht nur ich. Die gesamte Familie des Verstorbenen verwechselte sie mit der verschwundenen Geigerin, alle umarmten sie, gaben ihr die Hand, klopften ihr auf die Schulter und bestanden darauf, dass sie auf einen Drink blieb. Meine Freundin hatte keine Ahnung, in was sie da hineingeraten war, ließ sich in der Annahme, es handele sich bei diesen Leuten einfach um ganz besonders gastfreundliche Iren, tatsächlich einladen und brachte es sogar fertig, sämtliche Fragen zu ihrem musikalischen Talent zu beantworten. Die anderen hielten sie vermutlich für wahnsinnig bescheiden, als sie sich selbst rundheraus jede Begabung absprach. Wir wurden nur deshalb irgendwann entlassen, weil wir Theaterkarten vorweisen konnten, die bestätigten, dass wir nun wirklich an einem anderen Ort sein sollten.

Das Ganze hatte etwas von einer eigens für mich inszenierten shakespearischen Posse. Im Rückblick war es aber durchaus eine kleine Hilfe für den schwierigen Übergang von einem Lebensjahrzehnt ins nächste. An meinem vierzigsten Geburtstag war H frisch aus dem Krankenhaus entlassen, und ich hatte sämtliche Feierlichkeiten abgesagt. Um zehn Uhr abends rief Bert nach mir, und kaum saß ich auf seiner Bettkante, übergab er sich. Und zwar einmal quer über mich drüber. Das ging fast die ganze Nacht so weiter. Aber das war dann auch egal, da ich es ohnehin aufgegeben hatte, noch auf Schlaf zu hoffen. Irgendetwas in mir hatte sich bereits verschoben.

Im Geflecht des Alltäglichen gibt es Lücken, und manchmal tun sie sich auf und man fällt durch sie hindurch ins Anderswo. Im Anderswo läuft alles in einem völlig anderen Tempo ab als im Hier und Jetzt, wo alle ständig immer weitermachen. Im Anderswo leben versteckte Geister, die nur ab und zu sehr kurz von den Menschen in der echten Welt gesehen werden. Anderswo existiert mit einer gewissen Verzögerung, man kann gar nicht richtig Schritt halten. Vielleicht habe ich mich ohnehin immer an der Grenze zum Anderswo bewegt, aber jetzt war ich dort so still und selbstverständlich gelandet wie Staub, der zwischen Bodendielen fällt. Und zu meiner Überraschung fühlte ich mich da wie zu Hause.

Der Winter war da.

*

Jeder durchlebt irgendwann mal einen Winter. Und bei manchen kehrt er immer wieder.

Winter ist nicht einfach nur eine kalte Jahreszeit. Auch im Leben kann es Phasen geben, die sich wie Winter anfühlen. Karge Phasen, in denen man sich ausgesondert, ausgeschlossen und ausgebremst fühlt, in eine Außenseiterrolle gedrängt. Das kann die Folge einer Erkrankung sein oder eines Lebensereignisses wie zum Beispiel des Verlustes eines geliebten Menschen oder der Geburt eines Kindes; aber auch das einer Demütigung oder eines Scheiterns. Man kann sich in einem Umbruch befinden und vorübergehend zwischen zwei Welten schweben. Manche derartigen winterlichen Phasen schleichen sich langsam an uns heran, manchmal begleiten sie das langsame Sterben einer Beziehung oder die schrittweise Zunahme der Zuständigkeiten für unsere alternden Eltern oder ganz allgemein den tröpfchenweisen Verlust von Zuversicht. Manche Winter brechen schlagartig ein, wenn man begreift, dass die eigenen Fähigkeiten nicht mehr benötigt werden, dass die Firma, für die man arbeitet, pleite ist oder dass der Partner sich in jemand anderen verliebt hat. Doch ganz gleich, wie sanft oder unsanft der Winter sich auf uns legt: In der Regel haben wir nicht darum gebeten, und er ist mit dem Gefühl von Einsamkeit und großem Schmerz verbunden.

Aber er lässt sich nicht abwenden. Wir stellen uns das Leben immer so gerne als einen wunderbaren, endlosen Sommer vor und glauben, wir hätten als Mensch versagt, wenn es das nicht ist. Wir träumen von einem äquatorialen Dasein, stets nah an der Sonne, von einer einzigen, immer gleichen, warmen Jahreszeit. Aber so ist das Leben nicht. Allein unser Gefühlsleben durchläuft immer wieder stickige Sommer und dunkle Winter, macht Temperaturstürze mit, ist mal viel Licht ausgesetzt, mal viel Schatten. Selbst wenn es uns aufgrund einer gehörigen Portion Selbstdisziplin und schieren Glücks gelänge, ein ganzes Leben lang gesund und glücklich zu bleiben, so könnten wir dem Winter dennoch nicht vollkommen entgehen: Unsere Eltern werden älter und sterben. Freundschaften zerbrechen. Ganz allgemein richten sich so einige Machenschaften des Lebens gegen uns. Und irgendwie, irgendwo, irgendwann versemmeln wir eben doch auch mal irgendwas. Und schon pirscht sich der Winter an.

Ich habe diese Erfahrung bereits sehr früh gemacht. Ich gehöre zu den vielen Frauen meines Alters, deren Autismus jahrzehntelang unentdeckt blieb, und so verbrachte ich meine komplette Kindheit mehr oder weniger in einem Zustand der Kälte. Mit siebzehn rutschte ich in eine Depression, die mich monatelang lähmte. Ich war damals sicher, das nicht zu überleben. Ich wollte es auch gar nicht. Aber irgendwo tief in mir drin fand ich dann doch einen Funken Überlebenswillen, und ich staunte, wie hell er glomm. Mehr noch: Er stimmte mich seltsam optimistisch. Mein persönlicher Winter hatte alles in mir ausgelöscht und mich aufgesprengt. Alles in mir war vollkommen leer, ein weißes Blatt Papier, und ich erkannte meine Chance, ganz von vorne anzufangen. Ich machte einen neuen Menschen aus mir: einen, der hin und wieder unhöflich war und nicht immer das Richtige tat, einen, dessen großes, dummes Herz viel zu verletzlich war, aber auch einen, der seinen Platz in der Welt verdiente, weil er jetzt auch etwas zu geben hatte.

Jahrelang erzählte ich jedem, der bereit war, mir zuzuhören: »Mit siebzehn hatte ich einen Nervenzusammenbruch.« Den meisten war es peinlich, das zu hören, aber manche waren dankbar, eine Gemeinsamkeit mit mir festzustellen. So oder so war ich überzeugt dass über derlei Themen geredet werden musste und dass ich, die ich Strategien erlernt hatte, damit umzugehen, anderen davon erzählen sollte. Das bewahrte mich nicht restlos vor weiteren Tiefs und Abstürzen, aber es minimierte tatsächlich das Risiko. Ich entwickelte ein Gespür für meine Winterphasen – wie lange sie dauerten, wie breit sie sich machten, wie heftig sie zuschlugen. Ich wusste, dass sie vorbeigehen würden. Ich wusste, dass ich einfach nur herausfinden musste, wie ich am besten durch sie hindurchkam, bis der Frühling wieder einsetzte.

Mir ist klar, dass mein Anliegen gegen jede Regel für höflichen Smalltalk verstößt. Dass Menschen phasenweise nicht mit dem ganz normalen Leben zurechtkommen, ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema. Wir werden nicht dazu erzogen, unsere persönlichen Winterperioden als solche zu erkennen, geschweige denn, ihre Notwendigkeit anzuerkennen. Stattdessen tendieren wir dazu, solche Phasen als Demütigungen zu betrachten, als etwas, das wir besser vor anderen verbergen, wenn wir die Welt nicht schockieren wollen. Nach außen setzen wir eine tapfere Miene auf, und wenn wir allein sind, fallen wir in uns zusammen. Wir tun, als würden wir die Kämpfe der anderen gar nicht sehen. Wir tun, als wäre jede dieser Winterphasen eine beschämende Anomalie, die es zu verstecken oder zu ignorieren gilt. So haben wir es geschafft, aus einem völlig normalen Vorgang ein großes Geheimnis zu machen und all jene, die einen solchen Vorgang durchleiden, zu Aussätzigen zu degradieren, denen nichts anderes übrigbleibt, als sich aus dem täglichen Leben zurückzuziehen, um ihr Scheitern zu verbergen. Und das kommt uns teuer zu stehen. Denn Winter- und Ruhephasen bescheren uns einige der wichtigsten und einsichtsvollsten Momente überhaupt: Menschen, die solche Phasen durchlebt haben, gehen weiser aus ihnen hervor.

In unserer unablässig geschäftigen modernen Welt streben wir aber ständig danach, jede Art von Winter zu vermeiden. Wir wagen es nicht, seine volle Kälte zu spüren, und wir wagen auch nicht, anderen zu zeigen, wie sehr er uns zusetzt. Ein kurzer, knackiger Winter hin und wieder würde uns allen guttun. Wir müssen uns von dem Glauben verabschieden, dass derartige Lebensphasen irgendwie albern seien und schwachen Nerven oder mangelnder Willenskraft geschuldet. Wir dürfen sie nicht länger ignorieren oder versuchen, sie abzuschütteln. Es gibt sie, es gibt sie wirklich, und sie wollen uns etwas sagen. Wir müssen lernen, unsere Winter zuzulassen. Es liegt nicht bei uns, ob ein Winter einkehrt – aber es liegt bei uns, wie wir mit ihm umgehen.

*

Erstaunlich viele Romane und Märchen spielen im Schnee. Unser Winterwissen ist ein Fragment aus der Kindheit, fast wie angeboren. Tiere treffen viele sorgfältige Vorbereitungen, um die kalten, nahrungsarmen Monate zu überstehen: Die einen verkriechen sich monatelang in ihren Bau, die anderen ziehen in wärmere Gefilde. Bäume werfen ihr Laub ab. Das ist alles kein Zufall. Die Veränderungen, die im Winter stattfinden, haben etwas Alchimistisches. Ganz gewöhnliche Wesen machen wundersame Wandlungen durch, um zu überleben. Haselmäuse fressen sich fett, bevor sie in den Winterschlaf gehen, Schwalben fliegen nach Südafrika, Bäume stehen in den letzten Herbstwochen in Flammen. Es gehört nicht viel dazu, die strotzenden Frühlings- und Sommermonate zu überleben. Die wahre Pracht der Natur wird im Winter deutlich, wenn sie trotz magerer Zeiten erblüht.

Pflanzen und Tiere kämpfen nicht gegen den Winter an. Sie tun nicht so, als würde der Winter gar nicht einziehen, sie versuchen nicht, genauso weiterzuleben wie im Sommer. Sie bereiten sich vor. Sie passen sich an. Sie durchlaufen unglaubliche Metamorphosen, um den Winter zu überstehen. Winter ist die Zeit des Rückzugs von der Welt, der maximalen Ausnutzung knapper Ressourcen, brutaler Effizienz und Unsichtbarwerdung – aber genau da findet Verwandlung statt. Winter ist nicht Tod, ist nicht das Ende eines Lebens, sondern eine Bewährungsprobe.

Wenn wir aufhören, uns ständig nach Sommer zu sehnen, kann der Winter eine ganz wunderbare Jahreszeit werden, in der die Welt von sparsamer Schönheit ist und selbst der Asphalt funkelt. Eine Zeit zum Nachdenken, zum Erholen, zum langsamen Wiederaufladen, zum Aufräumen.

All das ist verdammt uncool, und wer die Dinge langsamer angeht, sich mehr unverplante Zeit und mehr Schlaf gönnt, wer sich einfach mal ausruht, handelt heutzutage fast schon radikal – dabei ist genau das doch lebenswichtig. Wir alle kennen solche Momente, in denen wir uns entscheiden müssen: Streifen wir unsere alte Haut ab oder nicht? Wer es tut, ist mehr als nackt, er ist wund, dem tut alles weh, und er kann sich eine ganze Weile nur um sich selbst kümmern. Und wer das nicht tut, dessen Haut wird verhärten.

Es ist eine der wichtigsten Entscheidungen im Leben.

Oktober

Vorbereitungen

Ich backe Bagels. Oder sagen wir, ich versuche es. Im Rezept steht was von einem festen Teig, und so weit lief das auch ganz gut, bis in meiner Küchenmaschine irgendwas kaputtging und das Gerät kreischte, als hätte ich ihm Gewalt angetan. Ich ließ mich nicht beirren, legte den Teig auf die Arbeitsfläche und knetete ihn zehn Minuten lang mit der Hand. In einer geölten Schüssel stellte ich ihn an den Lieblingsplatz unserer Katze auf dem Wohnzimmerfußboden, da, wo quasi direkt unter den Dielen die Heizungsrohre verlaufen.

Eine Stunde später hatte sich so gut wie nichts getan, darum wartete ich eine weitere Stunde, dann war ich mit meiner Geduld am Ende und formte kleine Ringe aus der Masse. Erst als ich sie alle pochiert hatte (wobei sie unter meinem hilflosen Blick die Form merkwürdiger Croissants annahmen) und sie sich im vorgeheizten Ofen befanden, kam ich auf die Idee, einen Blick auf das Mindesthaltbarkeitsdatum der Trockenhefe zu werfen: Januar 2013. Das war vor fünf Jahren. Die Dose musste ich vor der Geburt meines Sohnes gekauft haben, denn da hatte ich zum letzten Mal Zeit und Muße, auch nur darüber nachzudenken, in der Küche Backtriebmittel einzusetzen.

Die Bagels waren, wie nicht anders zu erwarten, ungenießbar. Egal. Schließlich backe ich nicht, weil ich Hunger habe. Ich backe, um etwas zu tun zu haben. Die Bagels sind zwar nicht ganz so geworden, wie sie hätten sein sollen, aber sie haben eine wichtige Funktion erfüllt: Sie haben die Lücke in meinem Tag gefüllt, wo sonst immer meine Arbeit war, und die Beschäftigung mit ihnen hat mir dabei geholfen, wenigstens vorübergehend nicht meinen düsteren Gedanken nachzuhängen.

H ist wieder zu Hause, es geht ihm gut, und er hat wieder angefangen zu arbeiten. Ich bin immer noch zu Hause. Seit Jahren hetze ich rastlos durchs Leben, mein Stresslevel hat allmählich zugenommen, und jetzt ist schlagartig Sense. Ich sehe mich körperlich nicht dazu in der Lage, zur Arbeit zu gehen. Mir ist, als wäre ich über eine Gummileine mit dem Haus verbunden, die mich jedes Mal zurückzieht, wenn ich versuche, mich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Das ist keine kleine Laune von mir, es ist wirklich mein Körper, der sich strikt verweigert. Ich habe das lange ignoriert, habe immer weitergemacht, aber jetzt ist Schluss. Als H im Krankenhaus lag, bemerkte ich rechts im Bauch einen dumpfen Schmerz, den ich für so eine Art Solidaritätsbekundung mit Hs Blinddarmentzündung hielt. Doch der Schmerz ließ nicht parallel zu Hs Genesung nach, im Gegenteil, er nahm immer weiter zu. Bei der geringsten körperlichen Anstrengung zuckte ich zusammen. Vor einer Woche klappte ich an meinem Vortragspult in der Uni zusammen und konnte an nichts anderes mehr denken als an diesen Schmerz. Ich fuhr mit dem Bus nach Hause, und seither habe ich mich so gut wie nicht mehr von dort wegbewegt.

Ich quälte mich durch das demütigende Gespräch mit meiner Hausärztin, in dessen Verlauf ich einräumen musste, seit ungefähr einem Jahr sämtliche deutlichen Anzeichen für Darmkrebs geflissentlich ignoriert zu haben, dann wurde ich zu dringenden Untersuchungen weitergeschickt und meldete mich krank. Ich habe das Gefühl, in den letzten Jahren den Stress in einem Umfang zugelassen zu haben, dass er mich nun auffrisst. Ich hätte früher Hilfe suchen sollen. Aber für mich ist Stress ein Stigma, eine Bestätigung meiner Leistungsunfähigkeit. Insgeheim bin ich ganz froh, dass ich mit echten Schmerzen zu kämpfen habe und nicht mit einem schwammigen Gefühl der Überforderung. Schmerzen sind irgendwie konkreter. Dahinter kann ich mich verstecken und sagen Nein, nein, das hat nichts damit zu tun, dass ich nicht in der Lage bin, mein Arbeitspensum zu schaffen. Ich bin wirklich richtig krank.

Jetzt habe ich massenweise Zeit, über das alles zu sinnieren – zu konzentrierten Überlegungen ist meine Matschbirne ohnehin nicht in der Lage. Seit ich krank bin, koche ich ziemlich viel. Das sind hübsche kleine Aktivitätspäckchen, wie ich sie zurzeit gerade so schaffen kann. Nicht, dass ich früher nie gekocht hätte, ich habe sogar viel und gerne gekocht. Aber in den letzten Jahren wurde das Kochen mehr und mehr aus meinem Leben verdrängt, und mit ihm die wunderbare Begleiterscheinung des Einkaufens von Zutaten. Ich habe einfach so viel um die Ohren gehabt, und aus dem ganzen allgemeinen Wust wurden diese Dinge, Dinge, die mich ausmachten, irgendwie rausgequetscht. Ja, natürlich haben sie mir gefehlt, aber ich nahm das achselzuckend hin. Was soll man denn machen, wenn man schon alles macht?

Das Problem mit »alles« ist, dass es am Ende leider meist aussieht wie nichts: eine einzige nebulöse Abfolge hastiger und sinnbefreiter Aktivitäten. Die Zeit ist so schnell vergangen, seit ich ein Kind habe, Bücher schreibe und Vollzeit arbeite – darum meist auch an den Wochenenden –, dass ich gar nicht recht weiß, was ich all die Jahre gemacht habe. Nicht, dass da eine totale Lücke klaffen würde, aber alles ist so verschwommen und so belanglos – abgesehen von dem verzweifelten Gefühl, überleben zu wollen. Ich betrachte die Trockenhefedose in meiner Hand und habe Schwierigkeiten, meinen Weg von damals bis jetzt nachzuvollziehen. Mir ist, als wäre ich in einen unfassbar tiefen Aufzugschacht gefallen und gerade unten aufgeschlagen. Ich befinde mich in einem großen Raum mit Widerhall, und ich weiß noch nicht recht, wie ich hier wieder rauskommen soll. Ich versuche, etwas zu finden, das ich kenne und das mir den Weg weisen könnte.

In Tove Janssons Winter im Mumintal wacht Mumin aus Versehen zu früh aus dem Winterschlaf auf. Er, der sonst den ganzen Winter über schläft, stellt mit Entsetzen fest, dass die Welt unter Schnee begraben und sein Garten ihm völlig fremd ist. »Die ganze Welt ist gestorben, während ich schlief«, denkt er. »Die Welt ist nicht für Mumins gemacht.« Er fühlt sich so schrecklich einsam, dass er zurück in den Bau geht und seiner Mutter die Decke wegzieht. »Wach auf!«, ruft er. »Die ganze Welt ist weg!« Seine Mutter rollt sich zusammen und schlummert weiter. So ähnlich geht es mir auch gerade mit meinem Winter: Alle anderen schlafen, nur ich bin glockenwach und habe schreckliche Angst.

In solchen Momenten im Leben muss man irgendwie in Bewegung bleiben. Ich unternehme jeden Tag einen langsamen, mir sehr schwer fallenden Spaziergang und kaufe ein paar Zutaten fürs Essen ein. Mein Kühlschrank, bis vor Kurzem noch prall gefüllt mit online bestellten, nach Hause gelieferten und dann doch nicht verzehrten Lebensmitteln, ist jetzt leer. Ich kaufe nur, was ich brauche. Ich schäme mich für den vielen Abfall, den ich bis vor Kurzem noch produziert und für unvermeidlich gehalten habe. Und das ist genau der Unterschied, den es macht, mehr Zeit zu haben: Ich kann es mir leisten, mal eben in die Stadt zu schlendern und zu gucken, was es an Gemüse gibt. Wenn ich kein Brot mehr habe, gehe ich welches kaufen. Beim Schlachter kann ich mir genau die Menge Fleisch abwiegen lassen, die ich an dem Tag verbrauchen möchte – statt eine Packung Hähnchenfleisch einzufrieren und eine Woche später wieder aufzutauen, nur um dann nicht dazu zu kommen, es zu essen, und es letztendlich wegzuwerfen.

Diese Woche habe ich einen Lammeintopf mit Karotten und Thymian gemacht, garniert mit Kartoffelscheiben – und dabei das Gefühl gehabt, den Herbst herbeizukochen. Ich habe eine Kiste wunderbarer, in Seidenpapier gewickelter Feigen erstanden, die ich an drei aufeinanderfolgenden Tagen morgens klein geschnitten auf meinem Porridge aß. Ich habe aus einem blassgrünen Kürbis eine sämige Suppe gekocht und ein Lachsfilet mit Salz, Zucker, Dill und Rote Bete gebeizt – wovon es eine tiefrote Farbe annahm. Dann dachte ich, dass eingelegte Gurken gut dazu passen würden, also habe ich ein paar Gurken eingelegt. Ich hatte Zeit. All das war möglich und der Mühe wert.

Außerdem habe ich mich mit den richtig guten Buntstiften vergnügt, die ich für Bert gekauft hatte, Marke Lyra – wie die junge Heldin in Philip Pullmans Trilogie His Dark Materials. Die Stifte sind hoch pigmentiert und von wachsähnlicher Konsistenz – überhaupt kein Vergleich zu den Billigstiften, die wir normalerweise, ohne nachzudenken, kaufen. Mit ihnen malt Bert völlig anders. Und ich habe auch Lust bekommen, zu malen. Inzwischen habe ich Lyra auch beinahe den mir fast die Tränen in die Augen treibenden Preis verziehen, denn diese Buntstifte sind wirklich allen anderen Fabrikaten haushoch überlegen.

Mir war gar nicht richtig aufgefallen, in welchem Ausmaß sich diese stillen Freuden aus meinem Leben verkrümelt hatten, während ich ständig herumgehetzt bin – doch jetzt lade ich sie nach und nach wieder zu mir ein. Ich genieße nicht nur die ruhige, rhythmische Arbeit mit den Händen, die eine Form von Konzentration erfordert, neben der sich wunderbar träumen lässt, sondern auch das Gefühl, mir etwas Gutes zu tun. Zusammen mit Bert backe ich Lebkuchenmänner, und ich kümmere mich mit einer Hingabe um sie, als handele es sich um positive Voodoo-Puppen. Ich stelle mir jede einzelne von ihnen vor als eine Art Trotzhandlung gegen das Leben, das ich in den letzten Jahren geführt habe. Und es hat tatsächlich etwas von Analogiezauber, etwas so Nutzloses mit so großer Ehrfurcht zu behandeln: Ich kümmere mich um die Verstorbenen, ich bette einen ganzen Wertekatalog zur Ruhe, den ich nicht mehr benötige.

Die Tage werden kürzer, und wir versuchen, die unterschiedlichen Sorten von Dunkelheit im Haus zu vertreiben. Ich plündere die Schränke mit den Kerzenvorräten, ich hänge in den düstersten Ecken Lichterketten auf und fange an, meine eigene Geschichte zu erzählen, auch wenn es nur für mich selbst ist. Genau das tun wir Menschen immer wieder: Wir erzählen unsere Geschichten, wir ändern sie ab, wir verabschieden uns von Erzählungen, die uns nicht mehr passen, und probieren neue aus. Ich erzähle mir jetzt gerade die Geschichte von einer irren Arbeitsroutine, der ich unwillkürlich verfiel, weil ich Angst hatte, nach der Geburt meines Sohnes beruflich nicht wieder Fuß zu fassen. Die Schwangerschaft hat mich überfordert, das Baby hat mich überfordert, also habe ich wieder angefangen zu arbeiten, wie um mich freizuschwimmen und wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Das hat kein einziges meiner Probleme gelöst, aber immerhin hatte ich mir einen Bereich meines Lebens zurückerobert, in dem ich das Gefühl hatte, doch etwas zu taugen.

Morgens um fünf fing ich an, meine Vorlesungen vorzubereiten, und abends um neun, kurz bevor ich ins Bett fiel, klappte ich den Laptop noch einmal auf. An den Wochenenden korrigierte ich Hausarbeiten und schrieb Vorlesungsskripte, sobald ich meinen Mann und meinen Sohn davon überzeugen konnte, etwas ohne mich zu unternehmen. Alle bewunderten, wie viel ich schaffte. Das ging runter wie Öl, aber insgeheim hatte ich ständig das Gefühl, allen anderen hinterherzuhecheln, die noch viel mehr schafften als ich. Immerhin gab es so einige Kollegen, die regelmäßig nach Mitternacht E-Mails beantworteten, wenn ich schon längst schlief. Ich schämte mich. Ja, wirklich. Ich habe immer gedacht, ich wäre so verdammt schlau und würde nie zum Workaholic werden. Und jetzt? Jetzt habe ich solange viel zu viel gearbeitet – und bin davon krank geworden. Und was das Schlimmste ist: Ich habe fast vergessen, was ich tun kann, um zur Ruhe zu kommen.

Und natürlich bin ich darum jetzt müde. Mehr als das. Ich bin leer. Ich bin überempfindlich, fühle mich wie ein Beutetier, ständig auf der Hut, halte alles für furchtbar dringend und glaube, nichts und niemandem gerecht zu werden. Und mein Haus – mein geliebtes Heim – hat schleichend einen Zustand angenommen, in dem nach und nach alles verschleißt, kaputtgeht und zusammenbricht, die Trümmer sammeln sich in sämtlichen Ecken und auf allen Oberflächen, und ich habe hilflos dabei zugesehen.

Seit ich krankgeschrieben bin, bin ich gezwungen, stundenlang auf dem Sofa zu sitzen, das Chaos zu betrachten und mich zu fragen, wie es bloß so weit kommen konnte. Im ganzen Haus gibt es keinen einzigen Ort des Trostes mehr, an dem ich mich mal ausruhen könnte, ohne daran erinnert zu werden, dass irgendetwas repariert oder sauber gemacht werden müsste. Die Fenster sind vom grauen Film zahlloser Regengüsse verschleiert. Der Fußbodenlack wird immer dünner. Die Wände sind übersät mit Nägeln, an denen keine Bilder hängen, und Löchern, die ausgespachtelt und überstrichen werden sollten. Selbst der Fernseher hängt schief. Als ich auf einen Stuhl steige und die obere Ablage im Kleiderschrank ausräume, geht mir auf, dass ich in den vergangenen Jahren mindestens drei Mal vorhatte, im Schlafzimmer neue Vorhänge aufzuhängen: Jedes Mal habe ich den dafür erstandenen Stoff säuberlich zusammengelegt im Schrank verstaut und dann komplett vergessen.

Dass mir diese Dinge jetzt auffallen, wo ich körperlich nicht in der Lage bin, mich ihrer anzunehmen, kommt mir fast vor wie die handverlesene Folter rachsüchtiger griechischer Götter. Da ist er: mein Winter. Eine offene Einladung, mein Leben in Richtung mehr Nachhaltigkeit zu verändern und die Kontrolle zurückzugewinnen über das Chaos, das ich verursacht habe. Eine Gelegenheit, mich zurückzuziehen und nachzudenken. Es gilt, alte Allianzen zu verlassen, freundschaftliche Bande zu lockern, zumindest übergangsweise. Dieser Weg ist mir nicht neu, ich bin ihn schon so oft gegangen. Überwintern ist eine Kunst, und ich bin durch eine harte Schule gegangen, um sie zu lernen.

Dieses Mal habe ich meinen Winter nicht von Weitem kommen sehen, aber immerhin habe ich ihn in einem frühen Stadium erkannt. Ich fühle mich nur ein bisschen verloren, das ist alles; meine Seele ist nur ein bisschen trüb, so wie meine Fenster. Ich bin fest entschlossen, mich sehenden Auges in diesen Winter zu begeben und eine Übung daraus zu machen, eine Übung, um mich selbst besser kennenzulernen. Ich möchte vermeiden, bald wieder dieselben Fehler zu begehen. Fast frage ich mich, ob der Winter vielleicht auch Spaß machen könnte, wenn ich mich nur gut genug darauf vorbereite. Ich spüre, wie ich ganz langsam abrutsche. Ich weiß, dass Backen und Suppe kochen auf Dauer nicht ausreichen wird, um das Abgleiten aufzuhalten. Es wird mir zusehends schlechter gehen: Alles wird dunkler, karger, einsamer. Ich möchte mich in ein Nest aus Stroh schmiegen, um den Aufprall zu dämpfen. Ich möchte alles vorbereiten.

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Eine Freundin schickt mir eine Tüte voller Quitten – Fallobst, sagt sie, ihr Baum hat dieses Jahr so reich getragen wie noch nie. Ich weiß nicht, wie so etwas kommt, ob der Frühling ganz besonders fruchtbar war oder der Sommer die perfekte Niederschlagsmenge gebracht hat, aber auch mein Reneclodenbaum hat dieses Jahr zum ersten Mal, seit wir ihn vor neun Jahren pflanzten, so richtig getragen. Am Küstenpfad biegen sich die übervollen Brombeerruten, und in den Hecken leuchten rote Hagebutten wie chinesische Laternen. Der sterbende Sommer wirft mit Geschenken um sich.

Meine Mutter konserviert schon immer alles Mögliche, und ich komme da ein bisschen nach ihr. Früher sind wir jedes Jahr einmal in den Garten meiner Tante eingefallen und haben Zwetschgen, Kochäpfel, Pflaumen und Maulbeeren gepflückt, in einem fort geplappert und vom Saft ganz bunte Finger bekommen. Die Ernte wurde zu Marmelade und Chutney verarbeitet, und zwar in dem großen Einkochtopf meiner Großmutter, den ich immer noch habe. Mein Großvater legte die Schalotten aus seinem Gemüsegarten sauer ein, und meine Mutter füllte Glas um Glas mit Picalilli und kirschrotem Kohl. All das wurde bis Weihnachten ins Regal gestellt und am zweiten Feiertag für das große gemeinsame Mittagessen in kleine Schälchen gefüllt.