Ukraine 2030: Vision einer Nation -  - E-Book

Ukraine 2030: Vision einer Nation E-Book

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Beschreibung

Essays von führenden Persönlichkeiten, Außenpolitikexperten, Schriftstellern und Historikern, gesammelt und herausgegeben vom ehemaligen ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba. Vor dem Hintergrund des brutalen Krieges bieten die Autoren nicht  nur einen einzigartigen, über die westliche Sichtweise hinausgehenden Einblick in die Auswirkungen des Krieges auf die Ukraine und die Welt. Sie widmen sich vor allem auch der Frage, wie das Engagement der Ukraine für Freiheit und internationale Stabilität ihren künftigen Platz in der Welt bestimmen wird.

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Seitenzahl: 393

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ukraine 2030: Vision einer Nation

Dmytro Kuleba (Hrsg.)

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

«ВІЙНА ТА НОВІ ГОРИ3ОНТИ» під упорядкуванням Амитра Куʌеби

[WAR AND NEW HORIZONS edited by Dmytro Kuleba]

ISBN 978-617-8286-13-2

Copyright der Originalausgabe:

Copyright © ТОВ «Книгоʌав», 2024

All rights reserved.

Copyright der deutschen Ausgabe 2025:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Börsenmedien AG, Christoph Landgraf, Egbert Neumüller, Jaroslaw Piwowarski

Coveridee/-gestaltung: Karla Sachs

Gestaltung, Satz und Herstellung: Maja Hempfling

Korrektorat: Elke Sabat

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-68932-004-1 eISBN 978-3-68932-005-8

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 ◆ 95305 Kulmbach

Tel: +4992219051-0 ◆ Fax: +4992219051-4444

E-Mail: [email protected]

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Inhalt

Vorwort

Die Ukraine nach dem Krieg: Neue Horizonte für den globalen Wandel Dmytro Kuleba – Außenminister der Ukraine 2020–2024

1

Was hat die EU von der Ukraine und den Ukrainern gelernt? Welchen Wert haben diese Lektionen für die Zukunft? Josep Borrell – Hoher Vertreter der EU für Außen– und Sicherheitspolitik

2

Widerstehe, Ukraine: Der Krieg aus der Sicht Lateinamerikas Juan Gabriel Vásquez – kolumbianischer Schriftsteller und Kolumnist

3

Einigkeit in der Ukraine ist Einigkeit in Sachen Frieden und Gerechtigkeit Ban Ki-moon – ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen

4

Präzedenzfall, Verfahren und der ständige Rechtsverletzer: Russland in der UNO in die Schranken weisen Thomas D. Grant – Völkerrechts–Experte und Senior Associate des Lauterpacht Centre for International Law an der Universität Cambridge

5

Die Ukraine muss jetzt der NATO beitreten Boris Johnson – ehemaliger britischer Premierminister

6

Der Krieg in der Ukraine: Eine grenzüberschreitende Herausforderung Ellen Johnson Sirleaf – ehemalige Präsidentin von Liberia und Friedensnobelpreisträgerin

7

Warum die Ukraine gewinnen muss Tsakhia Elbegdorj – ehemaliger Präsident der Mongolei

8

Was passiert wäre, wenn der Westen die Ukraine nicht unterstützt hätte Anne Applebaum – US–amerikanische Journalistin und Historikerin

9

Der ukrainische Sieg, der russische Imperialismus und Zentralasien Botakoz Kassymbekova – kasachische Osteuropahistorikerin

10

Die Ukraine: Krieg im digitalen Zeitalter Jared Cohen – US–amerikanischer Politikberater und Unternehmer

11

Russlands Krieg im jugoslawischen Spiegel Ivan Krastev – bulgarischer Politologe und Politikberater

12

Danke, Ukraine Bernard-Henri Lévy – französischer Journalist, Publizist und Mitbegründer der Nouvelle Philosophie

13

Der Russland-Ukraine-Krieg und seine militärischen Implikationen James Mattis – 26. Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten

14

Was die Welt von der Widerstandsfähigkeit der Ukraine lernen kann – Ukraine: Frontlinie der Demokratie, Vorhut der Entwicklung Samantha Power – Leiterin der US–Behörde für internationale Entwicklung USAID

15

Der Russisch-Ukrainische Krieg: Eine historische Perspektive Serhii Plokhy – Professor für ukrainische Geschichte an der Harvard University

16

Die Ukraine und der Weg zu einer wohlhabenden globalen Zukunft Condoleezza Rice – 66. Außenministerin der Vereinigten Staaten

17

„Frei mit den Freien, gleich mit den Gleichen.“ Ritterliche Freiheitsliebe als Gegengewicht zu Moskaus Despotismus - das gemeinsame Erbe der Ersten Republik in der politischen Kultur Polens und der Ukraine Zbigniew Rau – Außenminister Polens 2020–2023

18

Eine kriminologische Sichtweise auf Russlands Aggression gegen die Ukraine Sergey Sayapin – Professor an der juristischen Fakultät der KIMEP University

19

Eine Einleitung zu der Frage, wie die Ukraine, ihre Handlungen und die russische Aggression gegen die Ukraine das Völkerrecht verändern und seine Entwicklung beeinflussen Philippe Sands – britischer Jurist und Experte für Völkerrecht

20

Ukrainische und globale Geschichte Timothy Snyder – Professor an der Yale University mit Forschungs– schwerpunkt Osteuropäische Geschichte und Holocaust

21

Ein Zusammenprall zweier Systeme Nassim Nicholas Taleb – Finanzmathematiker, Essayist und Forscher in den Bereichen Risiko und Zufall

22

Zeitenwende Revisited Ralf Fücks / Marieluise Beck – Gründer der Denkfabrik „Zentrum Liberale Moderne“

Vorwort

Die Ukraine nach dem Krieg: Neue Horizonte für den globalen WandelDmytro Kuleba – Außenminister der Ukraine 2020–2024

Die Idee zu diesem Buch entstand aus der Erkenntnis, dass Russlands Aggression gegen die Ukraine die Welt, in der wir leben, grundlegend verändern wird. In der Tat ist dieser Wandel bereits im Gange. Aus den Flammen des größten Krieges in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg werden eine neue globale Sicherheitsarchitektur, eine neue Diplomatie und neue Regeln für die Koexistenz hervorgehen.

Krieg bringt Blutvergießen, unsägliches Leid, Angst um Angehörige und die drohende Ungewissheit der Zukunft mit sich. Er steht auch für den täglichen Kampf von Millionen von Menschen, die nach einem friedlichen Himmel streben und sich nach dem Recht ihrer Kinder sehnen, in Sicherheit zu leben, frei zu sein und Ukrainer zu sein – ein edler Kampf, um ein gerechtes Ende dieses ungerechten Krieges zu finden.

In der gesamten Menschheitsgeschichte haben Katastrophen wie die russische Aggression gegen die Ukraine historische Prozesse ausgelöst, die die Welt neu geformt haben. Doch welche Gestalt wird die Welt diesmal annehmen? Es gibt viele mögliche Ergebnisse. Sie zu entdecken, erfordert ein kühnes Denken, das über den Tellerrand hinausgeht.

Und die Ukraine muss die Führung in dieser historischen Debatte übernehmen. Ich glaube nämlich, dass die Ukraine der Ausgangspunkt für eine neue Weltordnung ist, die aus der Asche des Krieges aufsteigt. Die grundlegenden Wahrheiten, von denen sich die ukrainischen Soldaten leiten lassen, sind die grundlegendsten Wahrheiten der Welt.

Der Schmerz und das Leid ihrer Angehörigen haben ein unvergleichliches Gerechtigkeitsempfinden hervorgebracht. Es ist eine tiefe Überzeugung, dass, wenn die russischen Verbrecher für die auf ukrainischem Boden begangenen Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden, eine rechtschaffene Gerechtigkeit als moralisches Fundament für eine neue Nachkriegswelt dienen wird.

Ich habe keinen Zweifel daran, dass der Kampf der Ukraine um ihr Existenzrecht noch jahrzehntelang den Geist anderer Nationen beflügeln wird, die mit einer Bedrohung ihrer Freiheit und ihres Überlebens konfrontiert sind. Die Ukraine hat sich bereits als Modell dafür etabliert, wie man trotz scheinbar unüberwindlicher Hindernisse überleben kann, wenn scheinbar niemand an einen glaubt. Die Ukraine hat der Welt etwas wahrhaft Unbezahlbares geschenkt: die Hoffnung, dass das Licht die Dunkelheit und der Schwache den Starken besiegen kann, solange seine Verbündeten die Wahrheit und unerschütterliche Unterstützung sind. Ich bin aufrichtig davon überzeugt, dass die Ukraine die Hoffnung der Welt auf eine bessere Zukunft ist.

In Anbetracht der zentralen Rolle, die die Ukraine in den globalen Diskussionen über die Zukunft spielt, sah ich mich veranlasst, die einflussreichsten Intellektuellen und politischen Persönlichkeiten der Welt zu bitten, persönliche Essays für dieses Buch beizusteuern.

Führende Staatsmänner und -frauen, zeitgenössische Intellektuelle, militärische Führer, Unternehmer, Wissenschaftler, Juristen und Historiker aus Europa, Amerika, Afrika und Asien wurden gebeten, ihre Visionen für die Zukunft nach dem Ende der russischen Aggression mitzuteilen. Jeder wurde gebeten, drei Schlüsselfragen zu berücksichtigen: Was sind die globalen Auswirkungen dieses Krieges? Wie wird dieser Krieg die Welt verändern? Was wird ein ukrainischer Sieg für die Welt bedeuten?

Ich bin allen, die sich mit ihren maßgeblichen Beiträgen an dieser Diskussion beteiligt haben, sehr dankbar. Dieser Essayband bietet eine dreidimensionale Sicht auf die Ukraine und die Welt, die über eine enge eurozentrische oder westliche Sichtweise hinausgeht. Schließlich stammen die Autoren aus verschiedenen Regionen der Welt und repräsentieren einzigartige historische Perspektiven und Erfahrungen. Zu dieser außergewöhnlichen Autorengruppe gehören der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez und die erste weibliche Staatschefin Afrikas, die liberianische Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf, ebenso wie die kasachische Wissenschaftlerin Botakoz Kassymbekova und der mongolische Präsident Tsakhia Elbegdorj.

Zu den Autoren gehören auch prominente internationale Politiker, Staatsmänner, Historiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Ban Ki-moon, Samantha Power, Boris Johnson, Condoleezza Rice, Josep Borrell und Zbigniew Rau sowie die Intellektuellen Nassim Taleb, Anne Applebaum, Ivan Krastev, Serhii Plokhy, Timothy Snyder, Bernard-Henri Lévy, Sergey Sayapin, Marieluise Beck und Ralf Fücks, der Unternehmer Jared Cohen, General James Mattis sowie die Rechtsanwälte Philippe Sands und Thomas Grant.

Nachdem ich diese großartigen Köpfe zusammengebracht hatte, forderte ich unsere Mitwirkenden auf, intellektuellen Mut zu beweisen. Schließlich sollte ein dynamischer Denker immer über das Offensichtliche hinausschauen, den Status quo und gelegentlich sogar sich selbst infrage stellen. Das Ergebnis unseres ehrgeizigen Unterfangens ist eine Sammlung unkonventioneller Gedanken und Prognosen, die von einer außergewöhnlichen Gruppe von Personen mit einzigartigen Erfahrungen und Ansichten präsentiert werden.

Ich hoffe, der Leser findet dieses Buch auf drei Ebenen nützlich.

Erstens ist das Buch ein Bindeglied zwischen der ukrainischen und der globalen politischen Debatte. Die Ukraine sollte im Mittelpunkt der Diskussion stehen, wobei sowohl ukrainische als auch ausländische Stimmen zu Wort kommen sollten. Wie eine metaphorische Ideenautobahn sollten diese Erkenntnisse ungehindert in beide Richtungen fließen: Die Beiträge der Ukraine müssen problemlos in die intellektuellen Diskussionen im Ausland einfließen und die inspirierenden Ideen der globalen Stimmen müssen in die Ukraine zurückgetragen werden. Tatsächlich sind die zeitlosen Worte von Taras Schewtschenko, dem ukrainischen Dichter, Schriftsteller, Künstler und politischen Aktivisten aus dem 19. Jahrhundert, auch heute noch aktuell: „Lerne und studiere alles Fremde genau, aber meide nicht das Eigene.“ In diesem Sinne muss diese aufgeklärte intellektuelle Superautobahn die zweischneidige Barriere niederreißen, die die Ukraine einerseits jahrhundertelang von der Welt isolierte und sie andererseits auf eine subjektive, nach innen gerichtete Weltsicht beschränkte.

Zweitens: In diesem Buch geht es in erster Linie um die Ukraine, nicht um Russland. Diese Aufsatzsammlung versucht bewusst, das Erbe von zwei historischen Hindernissen zu überwinden. Das erste ist ein inhärenter ukrainischer Makel: die Fixierung auf eine Opferhaltung, die aus einem jahrhundertelangen kolonialen Trauma resultiert. Die ukrainische Neigung, sich auf das Erbe der Unterdrückung zu konzentrieren, hat dazu geführt, dass die Welt die ukrainischen Errungenschaften nicht kennt und nicht weiß, wer die Ukrainer wirklich sind. Das andere bemerkenswerte Versäumnis betrifft die internationale Gemeinschaft, insbesondere ihre gewohnheitsmäßige Neigung, die Ukraine ausschließlich durch eine russische Brille zu betrachten, die durch jahrhundertelangen russischen Einfluss und imperiale Narrative geprägt ist. Deshalb wurden die namhaften Autoren ermutigt, ihre Meinung zu äußern, und wurden aufgefordert, vorherzusagen, wie die globale Landschaft nach dem Sieg der Ukraine aussehen könnte, in einer neuen Weltordnung, in der Russland, wie wir es derzeit sehen, nicht mehr existiert oder irrelevant ist. Mit anderen Worten: Das Buch ist ein Versuch, die Ukraine ohne die koloniale Brille zu betrachten.

Drittens ist dieses Buch ein weiterer Schritt zur Überwindung des uralten Problems der Ukraine, auf der Weltbühne nicht gehört zu werden. Ob es nun das Ergebnis der andauernden russischen Gefangenschaft, des Versagens, in internationale Diskurse einbezogen zu werden, oder anderer Gründe ist, die Weltgemeinschaft hat zu lange wenig über die Ukraine gehört, wenig gewusst und wenig gelesen. Es bedurfte eines schrecklichen Krieges, um der Welt das wahre Gesicht des ukrainischen Volkes vor Augen zu führen. Die Welt wurde von dem, was sie sah, in den Bann gezogen und fragte sich erstaunt: „Wie haben die Ukrainer das alles geschafft? Wie kommt es, dass sie so bemerkenswert cool sind?“ In einem meiner Interviews mit der BBC im letzten Jahr konnte ich nicht umhin, direkt auf eine ähnliche Frage zu antworten: „Ich bedaure, dass es Blutvergießen und einen verheerenden Krieg brauchte, damit die Welt erkennt, wie cool wir sind. Wir waren schon immer cool, aber es hat einfach zu lange gedauert, bis ihr das erkannt habt.“

Viel zu lange wurde die westliche Geschichtsschreibung mit den Erzählungen des russischen Imperiums gefüttert, die die ukrainische Staatlichkeit als ein künstliches Konstrukt darstellten. In der Tat weiß die Welt nur wenig über den Beitrag, den das alte Kiew vor mehr als einem Jahrtausend zur Weltgeschichte geleistet hat. Die mittelalterliche Rus war ein mächtiger Staat, doch moderne Historiker tun sich oft schwer, diesem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Machtzentrum eine Stimme zu geben. Leider wurde die Geschichte der Ukraine allzu oft von anderen umgeschrieben. Es überrascht nicht, dass diese kolonialistischen Stimmen immer wieder versuchten, die legitimen Bestrebungen der Ukraine nach Freiheit abzulehnen.

Daher ist dieses Buch eine zeitgemäße Rüge der falschen Botschaften, die den aktuellen internationalen Diskurs allzu oft verzerren. Es ist von großer historischer Bedeutung, die weltweit führenden Denker und Staatsgründer in eine Diskussion über die Ukraine und ihren künftigen Platz auf der internationalen Bühne einzubinden. Wir müssen nicht mit allem einverstanden sein, was sie sagen. Der dynamische Dialog, den sie in dieser Publikation anbieten, kann uns jedoch helfen, unsere Welt und die Ukraine besser kennenzulernen. In vielerlei Hinsicht dienen die außergewöhnlichen Autoren dieses Buches als globaler Spiegel für die Ukraine. Ich hoffe, dass Sie nach der Lektüre dieser Sammlung von Artikeln die Ukraine und unseren gemeinsamen Platz in dieser Welt neu entdecken werden. Dank unserer außergewöhnlichen Autoren werden Sie sich in neue Ideen vertiefen und über die heutigen Ereignisse hinaus zu neuen Horizonten gelangen, die uns über die Schrecken des Krieges hinausführen.

Ich bin überzeugt, dass die Ukraine gemeinsam mit unseren internationalen Freunden und Partnern dazu beitragen kann, eine Welt zu gestalten, in der die Wahrheit über Verrat und Ungerechtigkeit triumphiert und in der sich die einfachen Menschen wirksam gegen die schlimmsten Formen von Brutalität und Unmenschlichkeit wehren können.

Der Ausgang dieses Krieges wird das Gesicht des 21. Jahrhunderts prägen. Denn es geht nicht nur um Land, sondern vor allem um Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit. So wie der Sieg über den Nationalsozialismus und die weltweite Verurteilung seiner Gräueltaten ein Beispiel für unsere Nachkriegsmenschlichkeit war, die den Grundstein für das System des internationalen Strafrechts legte, so wird nur ein entscheidender Sieg über den Ruskismus (russischer Faschismus) und die Anprangerung seiner Verbrechen eine bessere Welt für unsere Kinder und Enkelkinder schaffen.

Dies wird jedoch nur möglich sein, wenn wir einen tragfähigen globalen Rahmen schaffen, in dem die Ukraine Gehör findet und sich voll engagiert – im Interesse der Freiheit, der internationalen Stabilität, der Sicherheit und eines dauerhaften Friedens.

Dies ist die gemeinsame Vision unseres Aufsatzbandes.

1

Was hat die EU von der Ukraine und den Ukrainern gelernt? Welchen Wert haben diese Lektionen für die Zukunft?Josep Borrell – Hoher Vertreter der EU für Außen– und Sicherheitspolitik

Ein Tag wie kein anderer

Ich erinnere mich sehr gut an den 24. Februar 2022. In den frühen Morgenstunden wurde ich durch einen Anruf von einem meiner Mitarbeiter geweckt. Er nahm kein Blatt vor den Mund: „Es hat angefangen“, sagte er nur. Es folgten Dutzende von Telefonaten, eines nach dem anderen, mit unseren ukrainischen Freunden und Kollegen, mit EU-Mitgliedstaaten und -Institutionen, mit unseren internationalen Partnern, und ich berief in dieser Woche die dritte Dringlichkeitssitzung des Rates für Auswärtige Angelegenheiten ein, um unsere gemeinsame EU-Position für das weitere Vorgehen zu vereinbaren. Trotz des Schocks, der Wut und des Nebels der Desinformation waren mir drei Dinge klar. Erstens: Die Ukraine wird sich durchsetzen. Zweitens: Wir werden die Ukraine bis zu ihrem Sieg unterstützen. Drittens: Russland wird zur Rechenschaft gezogen werden. Dies sind auch heute noch die wichtigsten Leitlinien unserer Politik.

Lehren aus der Ukraine und von den Ukrainern

Wie oft haben wir aus verschiedenen Ecken gehört, dass die eine oder andere Art der Unterstützung der Ukraine nicht möglich ist? Waffen waren ein No-Go, bis sie es nicht mehr waren. Panzer waren ein Tabu, bis sie es nicht mehr waren. Sanktionen gegen russisches Öl, Gas und gegen Medien, die Kriegspropaganda verbreiten – wenige Monate vor der Invasion undenkbar –, bis sie es nicht mehr waren. Die Ukraine als Kandidat für den Beitritt zur Europäischen Union hätte für das nächste Jahrzehnt nicht auf der Tagesordnung gestanden.

Ich hatte den Donbass nur wenige Wochen vor dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine besucht. Ich wurde Zeuge der katastrophalen Situation, der die Menschen in einem Konflikt ausgesetzt waren, der Tausende von Menschenleben forderte und Familien auf beiden Seiten der Kontaktlinie entzweite. Es war seit Langem klar, dass Russland eine Partei in diesem Konflikt war und nicht ein Vermittler, wie es oft behauptete. Seit November 2021 hatte Russland in gewohnter Weise Truppen und Waffen an den Grenzen der Ukraine zusammengezogen. Bei diesem Besuch traf ich mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal zusammen, der auf meine Frage, was die Ukraine am dringendsten brauche, antwortete: die Mittel, sich militärisch zu verteidigen. Russland wird versuchen, bei uns einzumarschieren. Nur wenige Wochen später hat sich seine Warnung leider bewahrheitet.

Der Krieg und das Wissen um das Vorgehen Russlands bedeuten, dass es mit dem „business as usual“ vorbei ist. Alle Berechnungen wurden beiseitegelegt, um Platz zu machen für den Einsatz der diplomatischen, politischen, militärischen, wirtschaftlichen und humanitären Instrumente der EU, um die Ukraine mit allem, was wir haben, zu unterstützen und über den Krieg hinaus nach vorn zu blicken und den Tag vorzubereiten, an dem die Ukraine der Europäischen Union beitreten wird.

Neben dem politischen Willen und den unermüdlichen Bemühungen derjenigen, die wissen, was auf dem Spiel steht, sind es die Widerstandsfähigkeit und die Würde der Ukraine, die es der EU ermöglichen, Schritte zu unternehmen, die unwahrscheinlich, undenkbar oder unmöglich waren.

Wenige Stunden nach dem Einmarsch Russlands habe ich den Außen- und Verteidigungsministern der EU vorgeschlagen, die Europäische Friedensfazilität zu nutzen, um die Ukraine mit tödlicher Ausrüstung, mit Waffen, zu unterstützen. Wir einigten uns auf die erste Tranche im Wert von 500 Millionen Euro innerhalb von 48 Stunden, nachdem Russland seine Invasion in vollem Umfang gestartet hatte, und mobilisierten sofort tödliche Militärhilfe für das Land, das sich gegen den Aggressor verteidigte. Das war ein absolutes Novum – ein Tabubruch, den noch wenige Tage zuvor niemand für möglich gehalten hätte.

Mehr als eineinhalb Jahre später haben die EU und ihre Mitgliedstaaten der Ukraine zusammen mehr als 25 Milliarden Euro an Militärhilfe zur Verfügung gestellt und damit ist unser letztes Wort noch nicht gesprochen.

Wie die Ukraine wollen auch wir einen gerechten Frieden und keinen anhaltenden Krieg. Aber damit die Ukraine einen gerechten Frieden erreichen kann, müssen wir ihr die Mittel geben, um auf dem Schlachtfeld zu bestehen.

Wenn die Ukraine den Frieden gewinnen will, muss sie den Krieg gewinnen.

Es wird immer noch mehr und schnellere militärische Unterstützung benötigt, und deshalb werden wir weiter liefern. Zusätzlich zu den Lieferungen von Waffen, Munition und Panzern haben wir die bisher ehrgeizigste militärische Ausbildungsmission gestartet – die EU-Militärunterstützungsmission für die Ukraine (EUMAM) –, bei der ukrainische Soldaten zusammen mit ihren EU-Kollegen trainieren. Als ich die Mission im Dezember 2021 zum ersten Mal vorschlug, herrschte allgemein die Meinung vor, dass diese Mission nicht notwendig sei oder sogar als Provokation für Russland angesehen werden könnte. In diesem Jahr bildet die EUMAM auf Wunsch der Ukraine 40.000 Soldaten auf EU-Boden aus, damit sie über das Rüstzeug und die Fähigkeiten verfügen, dem russischen Aggressor mit noch mehr Ausdauer die Stirn zu bieten. Der Besuch und der Austausch mit den Frauen und Männern, die ihr Land nach einigen Wochen Ausbildung an der Front verteidigen, war eine mir Demut lehrende Erfahrung, die ich im vergangenen Jahr gemacht habe.

Wir haben auch einen ehrgeizigen Dreierplan vorgelegt, der die gemeinsame Beschaffung von Munition und Fortschritte bei den Fertigungskapazitäten der europäischen Verteidigungsindustrie vorsieht. Wir haben eine gemeinsame Aktion gestartet, um der Ukraine zu helfen, mehr Munitionslieferungen zu erhalten: schnellere Lieferung vorhandener Bestände, gemeinsame Beschaffung und ein gemeinsamer Produktionshochlauf zur Aufrechterhaltung der Lieferungen.

Parallel dazu arbeiten wir bereits mit den ukrainischen Behörden bei der Unterstützung der Minenräumung zusammen, um die befreiten Gebiete wieder vollständig bewohnbar zu machen. Die Ukraine ist das am stärksten verminte Land der Welt, was es zu einer gewaltigen Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte macht, die explosiven Kampfmittel aufzuspüren und aus den Feldern und Wäldern zu entfernen, die vor allem die Zivilbevölkerung gefährden, wobei unverhältnismäßig viele Kinder unter den Opfern sind.

Wir haben viel von der ukrainischen Armee gelernt: Sie ist die mutigste und einfallsreichste Armee in Europa. Die Verteidigungsausgaben in den EU-Mitgliedstaaten steigen insgesamt weiter an – ein notwendiger Trend, der durch Russlands groß angelegte Invasion offensichtlich noch verstärkt wurde. Auch die EU-Länder investieren sowohl in die Beschaffung als auch in Forschung und Entwicklung. Diese Erhöhungen sind zweifellos eine hervorragende Nachricht, auf die wir alle lange gewartet und die wir gefordert haben, aber wir müssen das richtige Gleichgewicht zwischen „Reparatur der Vergangenheit“, „Reaktion auf die Gegenwart“ und „Vorbereitung der Zukunft“ finden. Eine Aufstockung der Verteidigungshaushalte wird dazu beitragen, seit Langem bestehende Fähigkeitslücken zu schließen, die Fragmentierung zu verringern und die EU-Verteidigungsindustrie zu stärken.

Das Kind beim Namen nennen

Die Aussage, dass der Krieg nicht nur auf dem eigentlichen Schlachtfeld stattfindet, sondern auch im Informationsraum, ist mittlerweile eine ebenso abgenutzte wie wahre Botschaft. Leider bedurfte es erst der groß angelegten Invasion in der Ukraine, damit viele von uns in Europa dies in vollem Umfang erkannten. Russland hat verschiedene Instrumente der Desinformation und Informationsmanipulation eingesetzt, um den Boden für seine Aggression gegen die Ukraine zu bereiten und zu rechtfertigen. Das tat es 2022, aber auch 2014 und in den folgenden Jahren, vor und nach der Annexion der Krim und dem Angriff auf den Donbass. Dieser Satz ist heute eine Binsenweisheit, etwas, das jeder weiß, und sowohl die Ukraine als auch die EU haben erheblich dazu beigetragen, das Bewusstsein für Desinformation als Kriegsinstrument zu schärfen. All diese Lektionen zusammengenommen haben die EU dazu veranlasst, beispiellose Schritte zu unternehmen, um den Informationsraum für diejenigen zu schließen, die mithilfe der sogenannten Medien und des gesamten Ökosystems der Informationsmanipulation desinformieren und versuchen, Krieg und Kriegsverbrechen zu rechtfertigen. Die enge Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine sowie die harten Erfahrungen mit der Ukraine als Hauptziel der russischen Desinformation haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass es keinen Raum und keine Straffreiheit für die Rechtfertigung von Kriegsverbrechen und die Aufstachelung zur Aggression geben kann.

Wir sind immer wieder begeistert von der strategischen Kommunikation der Ukraine – ihrer Authentizität und Kreativität und der Einbeziehung aller Sektoren, von der Regierung bis zur Zivilgesellschaft. Die Ukraine hat ihre Lektion aus dem Jahr 2014 gelernt und weiß sehr gut, dass sie nur mit einem gesamtgesellschaftlichen Ansatz den ständigen Versuchen der Desinformation und Informationsmanipulation standhalten kann. Ich bin sehr stolz darauf, dass die EU den Kampf gegen Desinformation und Informationsmanipulation schon seit Jahren konsequent unterstützt mit Projekten zur Förderung von Suspilne und vielen anderen unabhängigen Medien. Wir waren vom ersten Tag an dabei, um die konzeptionelle und finanzielle Grundlage für das Zentrum für strategische Kommunikation der ukrainischen Regierung zu schaffen. Unser Projekt EUvsDisinfo wäre ohne die unermüdlichen freiwilligen Beiträge der ukrainischen Fact-Checking-Organisationen in den ersten Jahren nicht dasselbe gewesen. Mit Unterstützung der EU werden ukrainische Geschichten weltweit auf vier Kontinenten gesehen und gehört, auch auf Arabisch und Chinesisch.

Solidarität und Unterstützung

Wir haben der Ukraine und den Ukrainern seit dem Beginn der russischen Invasion zur Seite gestanden. Von einem EU-Beamten würden Sie an dieser Stelle erwarten, dass er diese Unterstützung beziffert, und genau das werde ich tun: Insgesamt haben die EU und die Mitgliedstaaten der Ukraine und ihrer Bevölkerung wirtschaftliche, humanitäre und militärische Unterstützung in Höhe von mindestens 81 Milliarden Euro zugesagt;1 darin enthalten sind 25 Milliarden Euro an militärischer Unterstützung und über 38 Milliarden Euro an Haushaltshilfe und humanitärer Hilfe. Aber ich möchte Ihnen mehr als nur abstrakte Zahlen nennen, so beispiellos und beeindruckend sie auch sein mögen. Was bedeuten sie eigentlich?

Sie bedeuten unter anderem, dass ukrainische Ärzte, Lehrer und Polizeibeamte weiterhin ihre Arbeit verrichten können. Sie bedeuten auch Schutz, medizinische und soziale Hilfe für über vier Millionen Menschen, die aus der Ukraine fliehen mussten und in der Europäischen Union Schutz gefunden haben.

Sie bedeuten Tausende von Generatoren, die der ukrainischen Bevölkerung zur Verfügung gestellt wurden, um ihre Wohnungen warm zu halten, während Russland ihnen Strom, Heizung und Wasser vorenthielt. Sie bedeuten Licht in den ukrainischen Haushalten, da wir 35 Millionen LED-Glühbirnen bereitgestellt haben, die jeder in seinem örtlichen Postamt erhalten kann. Dies ermöglicht Energieeinsparungen, die der Leistung eines Atomreaktors entsprechen.

Sie bedeuten, dass Hunderte von Landwirten und landwirtschaftlichen Betrieben dank der Solidaritätskorridore weiterhin ihre Produkte ernten und verkaufen können, während bedürftige Länder weiterhin auf Getreide und Ölsaaten aus der Ukraine angewiesen sind. Sie sind jetzt noch wichtiger, da Russland die Schwarzmeer-Getreide-Initiative einseitig ausgesetzt hat und damit Millionen der bedürftigsten Menschen auf der ganzen Welt gefährdet sind, die von Getreide aus der Ukraine abhängig sind.

Sie bedeuten über 94.000 Tonnen an Sachleistungen, von Blutbeuteln und medizinischen Hilfsgütern bis hin zu Krankenwagen, Baggern und Feuerwehrfahrzeugen aus allen Mitgliedstaaten der EU, die gemeinsam dafür sorgen, dass die Helden der Ukraine das haben, was sie brauchen, um den Kampf an der Kriegsfront und zu Hause fortzusetzen.

Rechenschaftspflicht

Mein erster Besuch in der Ukraine nach der umfassenden Invasion führte mich nach Butscha, wo ich aus erster Hand Zeuge der Exhumierung eines Massengrabes und damit der unsäglichen Kriegsverbrechen wurde, die an Zivilisten begangen wurden, nur weil sie Ukrainer waren. Russland muss und wird für Kriegsverbrechen und Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden.

Mariupol, Bachmut, Irpin und all die anderen Orte, an denen wir so viel Leid gesehen haben – Straffreiheit für die von Russland begangenen Verbrechen ist keine Option. Die EU und die Ukraine arbeiten Hand in Hand, um sicherzustellen, dass alle russischen Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden, und wir sind hier, um Beweise für künftige Prozesse zu sammeln, zu sichern und aufzubewahren.

All diese Unterstützung kommt zu dem hinzu, was normale Europäer getan haben, einfach weil sie es für richtig hielten. Die Europäer sehen den Kampf und helfen – sie spenden, nehmen Familien auf und unterstützen die Politik ihrer Regierungen. Viele befürchteten, dass sich unweigerlich eine gewisse Müdigkeit einstellen würde. Aber unsere Solidarität ist ungebrochen. Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten und unermüdlicher Propaganda und Manipulation halten die Europäer an ihrer Solidarität mit ihren ukrainischen Brüdern und Schwestern fest. Die Europäer werden der Ukraine bis zu ihrem Sieg zur Seite stehen, und wenn die Ukraine gewonnen hat, werden sie der Ukraine bei der Heilung und beim Wiederaufbau helfen.

Die Werte und den europäischen Weg leben

Die Ukrainer inspirieren uns nicht nur, weil sie so widerstandsfähig sind und sich mit so viel Würde und Durchhaltevermögen gegen brutale Aggressionen wehren. Sie haben uns auch wieder vor Augen geführt, was unsere gemeinsamen Werte wirklich bedeuten. Egal, welche Rede ein EU-Beamter hält oder wie er sich in der Öffentlichkeit verhält, er wird wahrscheinlich auf die Werte verweisen, die uns wichtig sind. Aber im Jahr 2022 waren es die Ukrainer, die den Worten Taten folgen ließen, und die Europäer taten es ihnen nach. Gemeinsam haben wir gezeigt, was Werte bedeuten und was es heißt, buchstäblich für sie zu kämpfen. Frieden, Freiheit, Solidarität sind keine abstrakten Begriffe; es ist leicht, diese Werte für selbstverständlich zu halten, bis sie direkt bedroht sind oder eine Armee vor der eigenen Haustür steht. Das Bild des Mutes und der Aufopferung ist jetzt in Blau und Gelb gemalt.

Die Ukraine hat sich entschieden, wohin sie gehört, und ist diesen Weg mit Klarheit, Mut und Aufopferung gegangen. Die Ukraine hat sich unwiderruflich für freie Wahlen, Meinungsfreiheit, demokratische Reformen und eine moderne Verwaltung entschieden. Lebendige kleine und mittlere Unternehmen, IT- und Kreativsektoren tragen zum Reichtum und zur Vielfalt Europas bei. Die russische Invasion im großen Stil war nicht nur durch eine rachsüchtige, imperialistische Ideologie motiviert. Es war auch ein gehässiger Angriff auf alles, was der Kreml den Russen nicht bieten kann oder will.

Die Verteidigung des ukrainischen Territoriums, der Souveränität und des Lebensunterhalts der Ukraine sowie die Sicherung der ukrainischen Zukunft umfassen auch die Verteidigung des ukrainischen Kulturerbes, den Schutz und die Förderung ukrainischer Filmemacher, Schriftsteller und Architekten. Wenn sich die Ukraine durchsetzt, gedeiht Europa. Die Ukraine ist weiterhin eine widerstandsfähige Demokratie, die sich der Europäischen Union annähert und sich schrittweise an deren Besitzstand anpasst. Selbst in diesen schwierigen Zeiten des Krieges macht die Ukraine bedeutende, stetige Fortschritte bei den Reformen. Wir werden weiterhin Hand in Hand mit der Ukraine auf die EU-Mitgliedschaft hinarbeiten. Wenn die Ukraine unter solch brutalen Umständen so viel erreichen kann, dann stellen Sie sich vor, was die Ukraine erreichen kann, wenn sie siegt und ihr Land wieder aufbaut!

  1Stand: 3. Oktober 2023.

2

Widerstehe, Ukraine: Der Krieg aus der Sicht LateinamerikasJuan Gabriel Vásquez – kolumbianischer Schriftsteller und Kolumnist

1.

Geschichte, sagt Paul Valéry irgendwo, ist die Wissenschaft von den Dingen, die sich nicht wiederholen. Ich denke, ich weiß, was er meint, aber gleichzeitig scheint mir klar zu sein, dass die Geschichte sich zwar nicht exakt wiederholt, mit denselben Akteuren und denselben Szenarien, aber eine unbestreitbare Tendenz hat, sich selbst zu plagiieren, wobei natürlich Details verändert werden, damit das Plagiat nicht zu sehr auffällt.

Valérys Worte gingen mir in diesen Tagen durch den Kopf, als ich versuchte, die unterschiedlichen Positionen Lateinamerikas gegenüber dem Krieg in der Ukraine zu verstehen. Im Jahr 2001 verurteilte mein Kontinent fast einstimmig die US-Intervention in Afghanistan; 2003 sprach sich eine deutliche Mehrheit gegen den Krieg im Irak aus. Heute jedoch ist er in Bezug auf das verbrecherische Vorgehen von Putins Russland zutiefst gespalten. In Lateinamerika gibt es eine lange diplomatische Tradition, die sich immer gegen die einseitige Anwendung von Gewalt durch starke Länder gegen schwächere Länder gewandt hat: eine Position der präventiven Selbstverteidigung, wie jeder sehen kann, da uns imperialistische Interventionen in den zwei Jahrhunderten unserer Unabhängigkeit nicht fremd waren. Das Problem ist, dass diese Interventionen hauptsächlich von den Vereinigten Staaten durchgeführt wurden, und das hat bei uns eine andere Tradition hervorgebracht: einen heftigen Antiamerikanismus, vor allem in bestimmten Kreisen der ideologischen Linken, der uns manchmal dazu gebracht hat, die Klarheit der Vision zu verlieren, mit ungewollten Folgen.

Ich glaube, das ist es, was jetzt geschieht; und wenn ich recht habe, kann man sich leicht daran erinnern, dass dies schon einmal geschehen ist. In den 1930er-Jahren zum Beispiel verwandelten mehrere lateinamerikanische Führer, die noch die Erinnerung an den Krieg in Kuba und die Intervention der US-Marine in Panama im Hinterkopf hatten, ihren Antiamerikanismus in eine Unterstützung für alles, was antiamerikanisch war. Aber sie taten es blindlings mit etwas, das ich nur als Eifer bezeichnen kann, und sie sympathisierten schließlich mit Nazideutschland: Denn die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde. In einer der seltsamsten Passagen seines Buches „Delirio Americano“1 beschreibt der kolumbianische Schriftsteller Carlos Granés den Fall von José Vasconcelos. Er war eine der Koryphäen des postrevolutionären Mexiko, Rektor von Universitäten und Bildungsminister; 1929 hatte er gute Chancen, Präsident zu werden, aber ein amerikanischer Botschafter sabotierte seine Kandidatur; dieser persönliche Groll gesellte sich zu den kollektiven Klagen, und so wachte Vasconcelos eines Tages als Herausgeber einer von Deutschland finanzierten pro-nazistischen Zeitschrift auf.

2.

Das von Russland begangene Verbrechen der Aggression hat unsere Länder in zwei Lager gespalten: Auf der einen Seite diejenigen, die einer Tradition folgen, die man als republikanisch bezeichnen könnte, und die Sanktionen unterstützen, die sich diplomatisch auf die Seite der Ukraine und der seit dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen internationalen Ordnung gestellt haben und die die Selbstbestimmung der Völker und den Grundsatz der Nichteinmischung verteidigen; auf der anderen Seite diejenigen, die Putins Propaganda zugelassen oder akzeptiert haben. Diese Länder glauben (oder sagen, dass sie glauben), dass die Invasion keine Invasion ist, sondern eine Verteidigung; und dass der aggressive Expansionismus nicht der Russlands, sondern der der NATO ist – dem bewaffneten Flügel des US-Imperialismus. In der Mitte lagen bis vor einigen Monaten Länder wie Mexiko und Brasilien, deren Diplomaten die Aggression verurteilten, deren Präsidenten – López Obrador und Jair Bolsonaro – jedoch eine Zurückhaltung bei der Verurteilung Russlands an den Tag legten, die zu sehr nach Duldung aussah. Kolumbiens Petro hat eine Haltung der isolationistischen Neutralität eingenommen. Als er als Kandidat zu diesem Thema befragt wurde, antwortete er: „Qué Ucrania ni qué ocho cuartos.“ Was, frei aus dem kolumbianischen Slang übersetzt, bedeutet: All das passiert den anderen; kümmern wir uns darum, was hier passiert.

Diejenigen, die der russischen Version des Krieges buchstabengetreu gefolgt sind – und sogar die absurdesten Unwahrheiten von Putins Propaganda lächerlich nachgeplappert haben –, sind Kuba, Nicaragua und Venezuela: allesamt autoritäre Regierungen, in denen die Demokratie gescheitert ist und Menschenrechtsverletzungen zur traurigen Routine gehören; allesamt Regierungen, die aus geopolitischen Gründen oder zur wirtschaftlichen Unterstützung von Putins Handreichungen abhängig sind und die glauben, dass sie politischen Nutzen daraus ziehen, wenn der Kreml verschleierte Drohungen gegen die Vereinigten Staaten ausspricht. Das war im Januar 2022 der Fall, als Putins Leute einen Monat vor der am meisten angekündigten Invasion der jüngeren Geschichte mitten in den Verhandlungen zur Abwendung der Katastrophe, die schließlich eingetreten ist, die Möglichkeit vorschlugen, Raketen in der Nähe der amerikanischen Küste aufzustellen. Kein Analyst, dessen Einschätzungen ich gelesen habe, nimmt diese Möglichkeit ernst, aber der bloße Gedanke, dass die Geschichte die dunklen Tage des Oktobers 1962 nachahmt, lässt uns immer wieder einen Schauer über den Rücken laufen.

All das ist nicht überraschend: die Spaltung zwischen den Parteien, die ideologische Nutzung einer humanitären Krise, die den meisten weit weg erscheint, der unangenehme Hauch des Kalten Krieges, der in den politischen Gesprächen dieses orientierungslosen Lateinamerikas auftaucht. Aber jetzt sollten wir über all das hinausblicken. Jetzt, ein Jahr nach der Invasion, haben wir schon genug Bilder von dem Leid gesehen, das der Krieg jeden Tag hinterlässt. Und es scheint mir, dass wir Ockhams Rasiermesser benutzen und zu einfachen Beobachtungen zurückkehren könnten. Jenseits der Bündnisse und Ausrichtungen unserer Regierungen sollten wir Bürgerinnen und Bürger in der Lage sein, den Krieg in der Ukraine als das zu sehen, was er ist, wenn man die Schleier abnimmt: ein verbrecherischer – und unverzeihlicher und nicht zu rechtfertigender – Akt der Aggression.

So oder so ähnlich äußerte sich Sergio Jaramillo vor einigen Tagen, als er eine Handvoll Schriftsteller und Aktivisten zusammenrief, um eine Art Aufruf an die Zivilgesellschaft in Lateinamerika zu starten. Jaramillo war einer der Architekten des Friedensabkommens von Teatro Colón, mit dem es der Regierung von Juan Manuel Santos gelang, die FARC-Guerilla zu demobilisieren; aber er hat diese Kampagne – #AguantaUcrania oder Resist, Ukraine – ohne jeden politischen Eifer oder als Vertreter einer Institution, Partei oder Regierung ins Leben gerufen. Im vergangenen Herbst besuchte er die Stadt Kiew und machte sich ein Bild von den Verwüstungen des Krieges; er hörte sich die Geschichten der Ukrainer an, die voller Schmerz über die jüngste Vergangenheit waren, und er hörte sie auch über ihre ungewisse Zukunft sprechen: Der Winter stand vor der Tür, und das Leben, das in den ersten Monaten des Krieges sehr hart war, würde noch härter werden. Dieser Besuch war der Ausgangspunkt für diese Kampagne. Es handelt sich wirklich um eine Bürgerbewegung, die von so einfachen Gefühlen wie Solidarität und der Bewunderung angetrieben wird, die viele von uns für den Widerstand der Ukrainer empfinden. Natürlich muss man kein Zyniker sein, um an der Nützlichkeit dieser Initiativen zu zweifeln oder sie zumindest infrage zu stellen. Am Tag des öffentlichen Starts von #AguantaUcrania fragte die kolumbianische Journalistin Catalina Gomez Oleksandra Matviichuk, die Direktorin des ukrainischen Zentrums für bürgerliche Freiheiten und Friedensnobelpreisträgerin des letzten Jahres, ob die Unterstützungsbekundungen der Bürger dieses fernen Kontinents ihrem geschundenen Land etwas nützen. Matviichuk bejahte diese Frage dankbar, wobei sie weitaus mehr Worte verwendete. Die Ukrainer haben der Aggression Putins mit etwas widerstanden, das man nur als Heldentum bezeichnen kann, und solche sozialen Bewegungen ermöglichen es ihnen, sich in der Welt weniger allein zu fühlen; sie ermöglichen es ihnen auch, auf dem narrativen Schlachtfeld Widerstand zu leisten. Dort, glaube ich, wird viel auf dem Spiel stehen.

Denn Putins Krieg hatte vom ersten Tag an auch eine narrative Komponente, wie wir sie seit den Zeiten der großen Totalitarismen nicht mehr gesehen haben. Die Umschreibung der Geschichte begann 2014 im Donbass mit jenem Manifest, in dem Putin so weit ging, die Existenz der ukrainischen Nation zu leugnen, und setzte sich im letzten Jahr mit den wahnwitzigen Versionen seiner verbrecherischen Handlungen fort: alles verlogene Konstruktionen, verfälschte Versionen der Realität, die für die ganze Welt sichtbar ist. (Es überrascht nicht, dass das meistverkaufte Buch in Russland im letzten Jahr George Orwells „1984“ war.) Inmitten dieses Narrativs, das von Bots oder Handlangern, von fanatischen Propagandisten oder Postwahrheitsherstellern konstruiert wird, haben die Zeugnisse echter Menschen aus erster Hand enorm an Bedeutung gewonnen. Ich habe das gesehen: Überall auf der Welt haben Ukrainer die Aufgabe übernommen, die Wahrheit zu sagen.

„Freiheit“, schreibt Orwell, „ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ergibt. Wenn das gewährt wird, folgt alles andere.“2

3.

Am Tag des russischen Einmarsches wurde Olena Bratel, eine Spanischlehrerin in Kiew, von einem Anruf ihres Vaters geweckt, der ihr riet, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen: Bidens Warnung, die vielen unwahrscheinlich erschien, hatte sich bewahrheitet. Die einen sagten, dass die Panzer bald in die Hauptstadt eindringen würden, die anderen, dass die ukrainischen Streitkräfte die nördliche Brücke gesprengt hätten und so wertvolle Zeit gewinnen konnten. Aber Olena Bratel hatte kein eigenes Auto und mit ihren beiden Kindern – einem fünfjährigen Mädchen und einem elfjährigen Jungen – war es nicht leicht, sich fortzubewegen. Sie beobachtete, wie verzweifelte Menschen die Märkte und Apotheken leer räumten, und am Nachmittag dieses ersten Kriegstages, als Gerüchte über Luftangriffe aufkamen, nahm sie ihre beiden Kinder an die Hand, lief 45 Minuten lang und beobachtete dabei den Himmel, um dann in den Kellerräumen einer Schule Schutz zu suchen. Von dort aus begann sie, per Telefon oder Videobotschaft mit den spanischen Medien zu sprechen.

Daher kennen wir ihre Geschichte, die die Geschichte von Tausenden von Ukrainern ist, deren Leben sich durch Putins Aggression verändert hat. (Es gibt noch Tausende andere, Zehntausende, deren Leben vorzeitig beendet wurde.) Olena Bratel hat gesagt, dass sie dieses unerwartete Rampenlicht nicht mag, aber sie weiß, dass es für die Menschen nützlich ist, ihren Fall zu kennen. Wir haben erfahren, dass sie am frühen Morgen nach der ersten Nacht von einem Brüllen, das sie noch nie zuvor gehört hatte, aus dem Schlaf geweckt wurde. Sie hatte mehrere Stunden damit verbracht, ihren Sohn zu beruhigen, der immer wieder Fragen stellte. Waren sie in dieser Schule wirklich sicher, fragte er. Olena Bratel erklärte ihm, dass sie unterirdisch untergebracht waren, geschützt vor Bombenangriffen. Was wäre, wenn das Gebäude zerstört würde, fragte der Junge, was wäre, wenn das Gebäude auf sie fiele und sie eingeschlossen wären? Nun, sagte Olena Bratel, in ein oder zwei Tagen würde jemand kommen und sie herausholen, aber das Gebäude würde sie schützen: Sie seien hier sicherer als zu Hause. Eine Schule werden sie jedenfalls nicht bombardieren, erklärte Olena Bratel ihrem Sohn, so wie sie ihm am Tag zuvor erklärt hatte, dass niemand ein Wohnviertel bombardieren würde. Später erfuhr sie jedoch, dass es sich bei dem Rumpeln am frühen Morgen um eine Rakete handelte, die von der ukrainischen Abwehr abgelenkt wurde und mitten in ihrem Viertel einschlug.

Damals beschloss sie zu fliehen. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht, so wie es ihr auch nicht leichtgefallen war, ihr Zuhause gegen die Schule einzutauschen, nicht nur wegen der Ungewissheit, die alle belastete, sondern auch wegen der Verantwortung, die auf ihren Schultern lastete: Das Schicksal ihrer Kinder hing von ihrer richtigen Einschätzung der Situation und der Klarheit ihrer Entscheidung ab. „Ihr Leben hängt von meiner Entscheidung ab“, sagte sie in einer dieser Mitteilungen an die Medien. Olena Bratel hatte Kontakt zu ihren spanischen Freunden gehalten; auf deren Rat hin machte sie sich auf den Weg in ein kleines Dorf nahe der polnischen Grenze und sah unterwegs die Panzer, die in Kiew einmarschieren sollten. Mitten in der Nacht schickte sie aus dem Dorf eine Videobotschaft, um mitzuteilen, dass sie sicher angekommen war. Die nächste Nachricht schickte sie aus Polen: Sie hatten soeben die Grenze überquert; ihre Kinder waren in Sicherheit; ja, sie erlebte Schreckensmomente, wenn sie keine Nachricht von ihren Verwandten, den Verwandten, die sie zurückgelassen hatte, erhielt, aber ihre Kinder waren in Sicherheit, und das war das Wichtigste. Einer ihrer spanischen Freunde kaufte ihr schließlich das Flugticket, das sie brauchte, und Olena Bratel kam am 8. März vor etwa 13 Monaten in Spanien an, mit einem Leben, das durch den Krieg für immer zerrüttet war, aber wohl in dem Bewusstsein, dass sie das Glück hatte, ihre Geschichte erzählen zu können.

Ich habe sie letzten Montag getroffen, aber ich habe ihre Geschichte nicht von ihr erfahren: Ich habe sie selbst aus einer Bemerkung rekonstruiert, die sie während unseres Gesprächs gemacht hatte. Olena Bratel war eine von zehn oder zwölf Hispanisten, Männern und Frauen, die sich mit mir und dem kolumbianischen Schriftsteller Hector Abad im Rahmen von #AguantaUcrania trafen.

Während des Treffens sagte sie: „Es ist wichtig für uns zu wissen, dass wir nicht allein sind.“

Und ihre Worte sind mir im Gedächtnis geblieben.

Ich weiß nicht, welchen Nutzen diese Begleitung hat, die wir ihnen aus der Ferne und aus einer viel angenehmeren Realität als der, die sie belastet, gewähren. Aber ich bin nicht zynisch genug, um zu leugnen, dass gerade deshalb diese Kommunikation (diese Brücken) für die Bürger der Ukraine eine gewisse Bedeutung und manchmal eine gewisse Dringlichkeit haben. Ich glaube nicht, dass ich mich täusche: Wenn ich von einem Ort aus schreibe, an dem kein Krieg herrscht (nicht so ein Krieg wie dieser, meine ich, wo eine sehr mächtige Militärmaschinerie nicht nur die Familien, sondern auch die Menschen, die Sprache und die Geschichte zerstören will), kann die bloße Möglichkeit, persönlich mit ukrainischen Bürgern zu sprechen und aus erster Hand die Geschichten von Menschen zu hören, die überleben, so gut sie können, oder die sich am Widerstand beteiligen, einen Wert erlangen, den Skeptiker nicht ermessen können. Zumindest kann dies eine abgelenkte und erschöpfte Welt, deren Aufmerksamkeit jeden Tag abschweift und deren Aufnahmefähigkeit für das Leid anderer verständlicherweise begrenzt ist, an diese einfache Wahrheit erinnern: Für die Ukrainer geht der Krieg weiter.

Genau das habe ich meinen lateinamerikanischen Mitbürgern vorgeschlagen: Wenn wir den Ukrainern schon nichts anderes geben können, sollten wir ihnen wenigstens unsere Aufmerksamkeit schenken. Das ist keine Kleinigkeit, wie mir scheint, und meine Intuition hat sich in Dutzenden von Gesprächen bestätigt, die ich seit Beginn der russischen Aggression geführt habe. Die Aufmerksamkeit, die ich meine, ist nicht nur die Bereitschaft, die Schleier der Abstraktionen zu lüften, die betäubenden Statistiken der namenlosen Toten, die geopolitischen Fakten und Zahlen, die es jedem erlauben, eine fundierte Meinung zu diesem Krieg zu haben – oder vorzugeben, eine zu haben. Die Aufmerksamkeit besteht auch darin, sich der enormen Macht der Propaganda bewusst zu werden: das Narrativ – um dieses Wort zu verwenden, das uns bereits zu ermüden beginnt – von Russland als einem Land, das weder Aggressor noch Imperialist ist, sondern Opfer eines ungerechtfertigten Angriffs der westlichen Allianz, und das keine Kriegsverbrechen gegen die freie Republik begangen hat, sondern vielmehr versucht, eine gequälte Gesellschaft zu entnazifizieren (ich greife hier zu meiner Kursivschrift) und ihre Opfer zu befreien.

Wir müssen uns dieser ausgeklügelten Unwahrheiten bewusst werden. Wir müssen sie, wann immer es möglich ist, mit dem wahrheitsgemäßen Bericht von Männern und Frauen aus Fleisch und Blut konfrontieren, wie diejenigen, die ich kürzlich getroffen habe: Zivilisten, die bis vor Kurzem Übersetzer oder Lehrer der spanischen Sprache oder Gelehrte der Literatur der amerikanischen Anden waren und heute plötzlich, wie mir einer von ihnen sagte, zu einer regelrechten Informationsfront geworden sind. Auf diese Weise verbringen sie mehr Zeit, als sie sollten: mit dem Kampf gegen Desinformation, Lügen, Verzerrungen und groteske Propaganda.

„Wir sind zu Soldaten der Presse geworden“, sagt Oleksander Pronkevich, ein Experte für „Don Quijote“.

Soldaten, in der Tat – denn dies ist ein Krieg. Aber ihre einzigen Waffen sind Worte; und in diesem Fall sind es die Worte unserer Sprache.

  1Carlos Granés, Delirio Americano: Una Historia Cultural y Política de América Latina [Amerikanisches Delirium: Eine kulturelle und politische Geschichte Lateinamerikas] (Madrid: Taurus, 2022).

  2George Orwell, 1984 (London: Penguin Books, 2008), 84.

3

Einigkeit in der Ukraine ist Einigkeit in Sachen Frieden und GerechtigkeitBan Ki-moon – ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen

Der illegale Einmarsch Russlands in die Ukraine – ein unverhohlener Versuch, einen unabhängigen, souveränen Staat zu zerstören, der friedlich innerhalb anerkannter Grenzen lebt – hat alle Teile der Welt berührt und tiefgreifende Fragen darüber aufgeworfen, wie die internationalen Beziehungen in Zukunft gestaltet werden sollten.

Millionen von Menschen auf der ganzen Welt waren beeindruckt von der Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit des ukrainischen Volkes, für seine Freiheit zu kämpfen. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt sind auch direkt von den Auswirkungen des Krieges auf die bestehenden, miteinander verknüpften Lebensmittel-, Energie- und Finanzkrisen betroffen.

Angesichts eines solchen Angriffs sind die Staats- und Regierungschefs überall in der Verantwortung, für die Grundprinzipien der Souveränität und territorialen Integrität einzutreten, die auf dem Spiel stehen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass autokratischen und aggressiven Regimen auf der ganzen Welt die Tür geöffnet wird.

Als ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen aus einem asiatischen Land, das ebenfalls Schauplatz eines erbitterten Konflikts war, betrachte ich den illegalen Krieg Russlands gegen die Ukraine aus einem globalen Blickwinkel.

Als ich im August 2022 auf Einladung von Präsident Selenskyj Kiew besuchte, war ich stellvertretender Vorsitzender von The Elders, einer von Nelson Mandela gegründeten Gruppe unabhängiger Führungskräfte, die sich für Frieden, Gerechtigkeit, Menschenrechte und einen nachhaltigen Planeten einsetzt.

Während dieses Besuchs und seither habe ich deutlich gemacht, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit und des Völkerrechts, der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung universell sind und nicht „westlich“, wie einige Kritiker zu behaupten versuchen. Diese Grundsätze sind in Artikel 1 der UN-Charta verankert, und ein solch schockierender Verstoß erfordert eine konzertierte und konsequente globale Reaktion.

In diesem Zusammenhang hat die UN-Generalversammlung die entscheidende Rolle übernommen, den Willen der Weltgemeinschaft am besten zum Ausdruck zu bringen. In einer Reihe von Abstimmungen hat sie mit überwältigender Mehrheit die Verletzung der UN-Charta durch Russland verurteilt, die Souveränität der Ukraine bestätigt und sich gegen den Versuch der Annexion ukrainischen Territoriums ausgesprochen.

Doch während sich der Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar zum ersten Mal jährt, bleiben tiefe Gräben bestehen, und einige der mächtigsten und bevölkerungsreichsten Länder der Welt haben sich für Neutralität entschieden oder schweigen sogar zu diesen Grundprinzipien.

Es gibt viele Gründe für diese Haltung, die nicht ohne eine ernsthafte Analyse und ein gewisses Maß an Demut seitens der westlichen Staaten abgetan werden können.

Es stimmt, dass für viele Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika das Gerede von den Werten der „internationalen Gemeinschaft“ hohl klingt, wenn man bedenkt, dass die reichen Länder es versäumt haben, während der Covid-19-Pandemie Impfstoffe gerecht zu verteilen oder lange versprochene Mittel zur Bewältigung der Klimakrise bereitzustellen.

Unsere Reaktion sollte nicht darin bestehen, dass wir uns vom Völkerrecht und den universellen Rechten zurückziehen oder gegenüber den Geschehnissen in der Ukraine neutral bleiben. Im Gegenteil.

Eine solche Neutralität fördert nicht die Aussichten auf Frieden, wie manche meinen – sie ermutigt Präsident Putin lediglich, an seinem Ziel der Zerstörung der Ukraine festzuhalten, und kann autokratische Herrscher in anderen Ländern dazu ermutigen, ähnliche Aggressionsakte in Erwägung zu ziehen.

Der Grundsatz der Nichteinmischung wird allzu oft als Rechtfertigung für Untätigkeit gegenüber staatlicher Gewalt angeführt, sei es gegenüber einem Nachbarstaat wie der Ukraine oder gegenüber der eigenen Bevölkerung, wie wir es in Myanmar seit dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 erlebt haben.

In diesem zerklüfteten und polarisierten Kontext glaube ich jedoch, dass die asiatischen Staaten das Potenzial haben, eine konstruktive Rolle bei der Überwindung dieser Spaltungen zu spielen, indem sie auf Indonesiens Führungsrolle beim G20-Gipfel im November 2022 aufbauen.

Frieden ist das oberste Ziel, aber jeder Frieden muss gerecht und nachhaltig sein und im Einklang mit der UN-Charta stehen. Die 10-Punkte-Friedensformel von Präsident Selenskyj enthält einige der wichtigsten Grundsätze und Ziele, die für die Erreichung dieses Ziels von grundlegender Bedeutung sind.

Ein Dialog auf verschiedenen Ebenen ist unerlässlich, um die schlimmsten Auswirkungen des Konflikts zu mildern, die Risiken einer Eskalation zu beherrschen und hoffentlich den Weg für künftige Friedensverhandlungen zu ebnen. Aber nur die Ukraine hat das Recht zu entscheiden, ob, wann und zu welchen Bedingungen sie in bilaterale Verhandlungen über die Lösung des Konflikts eintritt.

Ein Jahr nach der Invasion bleibt das größte Hindernis für den Frieden die mangelnde Bereitschaft Russlands, sich vollständig aus dem ukrainischen Gebiet zurückzuziehen. In Zeiten des Krieges sagen Taten mehr als Worte, und alle Handlungen Russlands deuten auf seine Entschlossenheit hin, große Teile des ukrainischen Territoriums dauerhaft zu annektieren.