Um ein Haar - Marietta Moskin - E-Book

Um ein Haar E-Book

Marietta Moskin

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Beschreibung

Amsterdam, 1940. Für die 13-jährige Jüdin Rosemarie und ihre Familie beginnt eine Odyssee voller Schrecken: Immer zwischen Hoffen und Todesangst, werden sie in verschiedene Lager deportiert – bis sie eines Tages als Austauschjuden in die Schweiz ausreisen sollen. Kurz vor der Grenze erlischt auch die letzte Hoffnung auf Rettung. Doch wie durch ein Wunder überlebt die Familie in einem Lager bei Biberach ...
Biberach, 2002. Ein Lehrer stößt auf Rosemaries in den USA veröffentlichte Erinnerungen und startet mit seinen Schülern ein beispielloses Übersetzungsprojekt!

Ein bewegender autobiografischer Roman – von deutschen Schülern übersetzt

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Seitenzahl: 277

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Marietta Moskin

Um ein Haar

Roman

Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Horstmann

Copyright

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Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1972unter dem Titel »I am Rosemarie«bei John Day Co., New York.PeP eBooks erscheinen in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Copyright © 1972 der Originalausgabe by Marietta MoskinCopyright © 2005 der deutschsprachigen Ausgabebei cbt / cbj Verlag, Münchenin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München.Alle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenISBN 3-89480-857-0www.cbt-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

VorwortI Amsterdam Mai 1940 – August 1942Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5II Westerbork August 1942 – Januar 1944Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11III Bergen-Belsen Januar 1944 – Januar 1945Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17IV Biberach 1945Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Anmerkungen der AutorinGlossarEpilogÜber das BuchÜber den AutorCopyright

Vorwort

1.

Ich schlage die letzte Seite von »Um ein Haar« zu und denke: »Keine dichterische Phantasie – nicht die von Dante, Shakespeare, Goethe oder Cervantes – keine dichterische Phantasie hätte sich je vorstellen können, was es hieß, in Hitlerdeutschland und dem deutsch besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges jüdisch gewesen zu sein.«

Wem diese Geschichte der Rosemarie Brenner alias Marietta Moskin nicht zu Herzen geht, der hat keines.

Es ist die Odyssee eines Mädchens, das 1928 als Kind jüdischer Eltern in Wien geboren wird, in den Niederlanden Zuflucht findet, dort im Mai 1940 den Einmarsch der Wehrmacht erlebt und in das Deportationslager Westerbork verbracht wird – Beginn eines langen Leidensweges. Er führt über die Ungeheuerlichkeit des Daseins im KZ Bergen-Belsen und den verfehlten Versuch, als »Austauschjüdin« gegen internierte Deutsche die Schweiz zu erreichen, ins Biberacher Internierungslager Lindele, wo kurz vor Kriegsende französische Truppen ihren Qualen dann ein Ende bereiten.

Rosemarie Brenner, das Alter ego der Autorin, hatte den Holocaust überlebt –»durch die Verquickung von Zufall, Glück und Fügung«, wie die in New York lebende heute Sechsundsiebzigjährige das Unglaubliche kommentiert: die Befreiung.

An diesem Punkt der Lektüre angelangt, stockte mir vollends der Atem: War doch das, was ich da las, auch die eigene Geschichte! Nur daß meine Retter keine Franzosen waren, sondern Truppen der 8. Britischen Armee des Feldmarschalls Bernard Law Montgomery, nachdem Hamburg am 3. Mai 1945 kapituliert hatte. Nach Jahren der Entrechtung, der Denunziationen, Berufsverbote, Gestapoverhöre, Mißhandlungen, Zwangsarbeit und der Flucht in die Illegalität mit ständiger Entdeckungsgefahr, krochen meine Familie und ich aus einem dunklen, feuchten, kalten und von Ratten verseuchten Kellerloch an das augenschmerzende Licht des Tages – wir waren befreit!

Das ist jetzt fast 60 Jahre her, aber ich frage mich immer noch: »Hast du das wirklich überlebt?«

Es ist nicht nur diese Gleichheit im Schicksal und seinem Ausgang – auch wie das Erlittene von Marietta Moskin publizistisch verarbeitet wird, hat ihre Parallelen mit meiner eigenen Familien- und Verfolgten-Saga »Die Bertinis«: Durch die Entscheidung der Autorin für den autobiographischen Roman, und das mit Gründen, die auch die meinen waren – künstlerische Freiheit der Gestaltung, »ohne daß die Wahrheit verfälscht würde.«

Die Wahrheit ständig drohender Deportation; der vollgestopften Züge in den Osten auf Nimmerwiedersehen; der gnadenlosen SS- und Gestapowillkür; des Kampfes gegen Läuse, Kälte, ewigen Hunger und der schlaflosen Furcht vor dem jederzeit möglichen Gewalttod …

Marietta Moskins Buch, 1972 unter dem Originaltitel »I am Rosemarie« herausgekommen und 1976 als Beitrag zur jüdischen Jugendliteratur mit dem »Shirley Kravitz Children’s Book Award« ausgezeichnet, ist in den USA als Schullektüre eingeführt worden. Und dazu das Werk einer Frau, die sich, wie sie in den »Anmerkungen der Autorin« zur deutschen Ausgabe schrieb, ihre Fähigkeit zum Anstand und die positive Einstellung zur menschlichen Natur bewahren wollte –»trotz der Grausamkeiten, die wir durch unsere Peiniger erfuhren«.

»Um ein Haar«– ein Buch das mich erschüttert hat, tief erschüttert.

2.

Wie auch das, was es hier in Deutschland auslöste.

Ich spreche von jenen 40 Zehntkläßlern der Dollinger-Realschule und des Pestalozzi-Gymnasiums Biberach und von ihren Lehrern Reinhold Adler und Wolfgang Horstmann, die der Sache auf die Spur kamen, sich dann zusammenschlossen und das Buch aus dem Englischen ins Deutsche übersetzten – eine Arbeitsgemeinschaft, ohne die es keine hiesige Leserschaft geben würde.

Als der Verleger mich mit dem Projekt bekannt machte, mir Näheres über seinen Inhalt mitteilte, über die Begeisterung, die Kontinuität und die Ernsthaftigkeit, mit denen Schülerinnen, Schüler und ihre beiden Pädagogen ans Werk gegangen sind, und mich dabei um ein Geleitwort bat, da antwortete ich, unfähig, meine innere Bewegung zu verbergen, sofort: »Sie können in mir einen begeisterten Bundesgenossen voraussetzen.«

Und als ich erfuhr, daß ich aus den Reihen der Schülerinnen und Schüler als gewünschter Verfasser eines solchen Prologs genannt worden war, weiter: »Es ist mir eine Ehre, daß mein Name in diesem Zusammenhang aus dem Munde junger Deutscher von heute fiel, und ein Ansporn in währender Zeit, weiterzumachen.«

Je tiefer ich mich in die Arbeit der jungen Menschen aus Biberach versenkte, desto wärmer wurde mir ums Herz; desto dringender verspürte ich das Bedürfnis, mich über ihre Persönlichkeiten, ihre Gegenwart und ihre Hoffnungen zu informieren; desto bestätigter sah ich meine seinerzeit schwere Entscheidung, trotz allem, was mir und den Meinen vor 1945, aber auch durch die Verdrängung der NS-Vergangenheit danach widerfahren ist, in Deutschland geblieben zu sein.

Wenn der Platz es erlauben würde, hätte ich schon hier vorn gern die Namen einer jeden Schülerin, eines jeden Schülers aufgeführt, um so meinen Gefühlen der Dankbarkeit, der Freude und der Ermutigung jenen Ausdruck zu verleihen, in den die beiden schon genannten Lehrer selbstverständlich einbezogen sind – ebenso wie Rotraud Rebmann und Werner Toporski, die den deutschen Text redigierten. Wird mit der Biberacher Erfahrung doch erfreulicherweise bestätigt, daß dort, wo aus Pädagogenkreisen ein Keim zu ehrlicher Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gelegt wird, auch das jugendliche Reservoir existiert, das bereit ist, ihn zu pflegen und hegen.

So danke ich denn allen Beteiligten, die »Um ein Haar« entdeckt und das Buch vom Englischen ins Deutsche übersetzt haben, mit der Solidarität eines Überlebenden des Holocaust, verbunden mit dem gleichzeitigen Wunsch an meine Schicksalsgenossin in New York: Masel tov, masel tov, Marietta Moskin – und ein langes, langes Leben noch!

Ralph Giordano

Köln, im Januar 2005

I Amsterdam Mai 1940 – August 1942

Kapitel 1

Ich hätte ausschlafen sollen an diesem sonnigen Maimorgen, denn die Osterferien hatten begonnen, und ich brauchte nicht aufzustehen, um zur Schule zu gehen. Doch ich erwachte Viertel nach fünf, Stunden früher als sonst. Halb verärgert, halb froh im Bewusstsein, noch Zeit zu haben, machte ich die Augen wieder zu und vergrub mich in mein Kissen, um weiterzuschlafen. Aber ich schlief nicht weiter. Durch das halb geöffnete Fenster drangen die Geräusche des Hinterhofes und des erwachenden Viertels an mein Ohr: das Scheppern eines Mülltonnendeckels, den jemand zuwarf, das leise Jammern eines Babys und irgendwo zwischen den Hinterhofzäunen der durchdringende Schrei eines streunenden Katers. Und dann, sozusagen im Hintergrund der anderen, vertrauten Geräusche, war da noch ein leises, aber anhaltendes Dröhnen, das ab und zu von längerem, dumpfem Grollen unterbrochen wurde. Wie weit entfernter Donner, dachte ich schläfrig. Aber wie konnte es an einem so herrlich sonnigen Tag donnern? Faul ließ ich meine Gedanken zu anderen, näher liegenden Dingen schweifen. Was zum Beispiel würde ich an meinem ersten Ferientag unternehmen? Ziemlich sicher würde ich ihn mit Anneke verbringen, meiner besten Freundin, die nur – quer über die Hinterhöfe – eine Straße weiter wohnte. Anneke würde wieder einmal diejenige sein, die für uns Pläne schmiedete. So war es immer und mir war das recht. Vielleicht würden wir unsere Fahrräder nehmen und zu den Dünen fahren, die kurz hinter unserem Viertel im Süden von Amsterdam begannen. Erst vor ein paar Tagen hatte ich zu meinem zwölften Geburtstag ein brandneues, glänzendes Fahrrad bekommen und brannte darauf, es auf einer längeren Fahrt auszuprobieren.

Ich überlegte, ob Anneke auch gerade wach lag und dem merkwürdigen Grollen und Dröhnen lauschte, das immer lauter und eindringlicher zu werden schien. Mich beunruhigte, dass ich die Geräusche nicht einordnen konnte. Wie Flugzeuge, dachte ich, die in großer Zahl durch den wolkenlosen Himmel dröhnten. Aber warum sollte eine Staffel Flugzeuge die fast ländliche Stille von Amsterdams Süden stören? Selten genug kam es vor, dass überhaupt ein Flugzeug über unser Haus flog.

Plötzlich fiel mir ein: Natürlich, die Mobilmachung! Seit Wochen hatten die Leute von kaum etwas anderem gesprochen. Seit Deutschland und England sich seit letztem Herbst im Krieg befanden, hatten meine Eltern und ihre Freunde endlos darüber diskutiert, ob Holland neutral bleiben konnte. Eingezwängt zwischen die verfeindeten Nationen, fiel es Holland schwer, sich aus dem Krieg herauszuhalten. Schließlich hatte die Regierung vor einigen Wochen vorsorglich die holländischen Truppen mobilisiert, um sie vor allem an der deutschen Grenze einzusetzen.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich, dass dieses seltsame Donnern von Kanonen stammte, die schon halb Holland passiert haben mussten. Aber was für eine unchristliche Uhrzeit zum Kriegführen! Allerdings: Soldaten müssen immer früh aufstehen, oder?

Ich nahm mir vor, Anneke später nach diesen Manövern zu fragen. Annekes ältester Bruder war vor ein paar Wochen in die Armee eingezogen worden, und sie wusste vielleicht mehr darüber, was die Soldaten an der deutschen Grenze machten.

Zufrieden, eine Erklärung gefunden zu haben, strich ich die fernen Kanonen aus meinen Gedanken. Und fast im selben Augenblick wurde ich von anderen Geräuschen beunruhigt, näher und dringlicher, direkt im Haus.

Ich hörte Schritte im Flur und auf der Treppe, Türen wurden geöffnet und zugemacht, und dann Getuschel vor meiner Zimmertür. Was um Himmels willen machten meine Eltern da schon vor sechs Uhr?

Rasch kam mir eine Erklärung: Oma! Kein Zweifel. Oma, im Zimmer gleich nebenan, hatte sicher wieder eine ihrer Herzattacken.

Ich sprang aus dem Bett und rannte hinaus auf den Flur. Aber ich sah niemanden. Die Tür zu Omas Zimmer war offen, aber es war leer. Ebenso das große Schlafzimmer meiner Eltern.

Ich zog mir hastig den Morgenmantel über den Pyjama und rannte die Treppe hinab. Schon auf halbem Wege hörte ich Stimmen aus dem Wohnzimmer: die meiner Eltern und meiner Großmutter und dazu die laute, beschwörende Stimme eines Radiosprechers.

»Fallschirmjäger«, wiederholte die Stimme. »Vorsicht vor Fallschirmjägern! Gehen Sie nicht auf die Straße! Trauen Sie keinem Fremden! Achtung! Achtung! Fallschirmjäger!«

Die laute Stimme hallte durch den unteren Flur, aber ich war in zu großer Hast, um auf die Worte zu achten. Ich stürmte ins Wohnzimmer und blieb abrupt stehen.

Meine Eltern und Oma standen um das Radio und hörten so gespannt zu, dass sie mein Erscheinen erst bemerkten, als ich sie ansprach. Dann wandten sie sich mir zu, ihre Gesichter voller Sorge.

Ich schaute von ihnen zu Oma, die immer noch reglos neben dem großen, altmodischen Kurzwellenempfänger stand.

»Ich habe diesen Lärm gehört und dachte, es wäre Oma«, sagte ich.

»Wir befinden uns im Krieg, Rosemarie«, sagte Papa leise. So leise, dass ich die Bedeutung der Worte zuerst gar nicht verstand.

»Krieg?«, wiederholte ich naiv. »Es ist doch schon Krieg und wir sind neutral.«

»Erzähl das mal diesem Hitler«, erwiderte Oma scharf hinter Papas Rücken. »Wir hätten damit rechnen müssen, jeder hätte damit rechnen müssen. Nach der Tschechoslowakei, nach Österreich und Polen war es dumm zu glauben, er würde sich um unsere Neutralität scheren.«

»Deutschland ist ohne Vorwarnung heute Nacht in Holland einmarschiert«, erklärte Papa.

Krieg. Einmarsch. Wie oft hatte ich diese Worte in den letzten beiden Jahren in Unterhaltungen gehört, ohne sie wirklich zu beachten. Krieg und Einmarsch passierten anderen Völkern, aber doch nicht uns, nicht dem sicheren, neutralen und friedlichen Holland. Selbst die Worte kamen mir unwirklich vor, wie sie so in der vertrauten Umgebung unseres sonnigen Wohnzimmers ausgesprochen wurden.

Doch die Wirklichkeit war Papa, sonderbar elegant zu dieser ungewohnt frühen Morgenstunde in seinem gemusterten seidenen Morgenmantel. Und Mama…

Zum ersten Mal, seit ich das Zimmer betreten hatte, sah ich Mama wirklich an. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren, um ihre Augen und auf ihren Wangen waren Spuren von Tränen. Wie Papa seinen Arm um sie legte, wirkte sie seltsam still und verletzlich. Diese Stimmung passte nicht zu Mama, die mir immer wie ein Fels in der Brandung erschienen war. Und der unerwartete Ausdruck des Schreckens in ihrem Gesicht ließ meinen Hals ganz trocken werden.

»Was werden wir tun, Papa?«, fragte ich bestürzt. »Was passiert denn jetzt? Unsere Soldaten werden doch gegen die Deutschen kämpfen, oder? Wir werden doch gewinnen?«

Mit seinem freien Arm, den anderen noch immer um Mama gelegt, zog Papa mich zu sich heran.

»Das weiß keiner«, meinte er, »Deutschland hat einen großen Fallschirmangriff gestartet. Niemand hat eine Vorstellung, wie viele deutsche Soldaten hinter den holländischen Linien als Zivilisten abgesprungen sind. Deswegen die Warnungen im Radio. Jeder, der mit deutschem Akzent auf der Straße angetroffen wird, ist verdächtig.«

»Dann bleibe ich wohl besser zu Hause«, sagte Oma mit gezwungenem Lächeln.

Ihr hilfloser Scherz schien die Spannung etwas zu lösen, aber gerade dadurch wurde uns allen erst bewusst, dass wir soeben deutsch gesprochen hatten, die Sprache, die nun die des Feindes war.

Es gab Zeiten, in denen ich mich kaum daran erinnerte, dass ich nicht in Holland geboren worden war. Ich war sehr jung gewesen, als meine Eltern aus ihrem Heimatland Österreich aus geschäftlichen Gründen hierher gekommen waren. Ich hatte die neue Sprache schnell gelernt, beherrschte das Holländische nahezu perfekt, viel besser als meine Eltern, die einige der schwierigeren Kehllaute noch immer nicht aussprechen konnten, ohne ihre fremde Herkunft zu verraten. Zu Hause sprachen sie lieber ihr weiches, österreichisch gefärbtes Deutsch, und mir war es gleich, da ich in beiden Sprachen so zu Hause war, dass ich kaum merkte, welche man gerade sprach.

Oma konnte fast gar kein Holländisch. Sie war vor knapp zwei Jahren hierher gekommen, nachdem Großvater in Wien gestorben war und Hitlers Truppen Österreich annektiert hatten.

Obwohl ich damals erst zehn war, wusste ich noch genau, wie besorgt meine Eltern um ihre Verwandten in Wien gewesen waren, als die ersten Nachrichten über den »Anschluss« kamen. Es hing alles damit zusammen, dass wir Juden waren, und mit Hitlers wahnhaftem Judenhass. Es war wohl das erste Mal, dass ich mich wirklich damit beschäftigte, was es hieß, Jüdin zu sein. Davor war es einfach nur eine von vielen Fassetten meiner Selbst gewesen, wie man sie als Kind selbstverständlich lernt und hinnimmt. Mit der Religion war meine Familie stets eher lässig umgegangen. In meinem Alltag kam sie kaum vor.

Im Laufe des darauf folgenden Jahres kam ein unaufhörlicher Flüchtlingsstrom von Onkeln, Tanten, Neffen und Nichten zu uns, alle mit dem Ziel, in die Vereinigten Staaten oder nach Südamerika zu gelangen. Sie redeten über Hitlers Judenverfolgung, über plötzliche Verhaftungen und Folter, über geraubten Besitz und beschlagnahmte Häuser. Mit großen Augen lauschte ich den schrecklichen Geschichten, erschauerte über das Schicksal namenloser Fremder und war erleichtert, dass meine Verwandten vor dem Schlimmsten hatten fliehen können. Als aber einer nach dem anderen unser Haus verließ, um die lange Seereise in die »Neue Welt« anzutreten, war ich froh, all das wieder aus meinem Hirn löschen zu können. Die Bedrohung durch Hitler verschwamm wieder in der Ferne, schien etwas, das fremde Leute ganz woanders betraf.

Und nun war die Gefahr plötzlich da. Ich versuchte, mir ein Bild von den feindlichen Flugzeugen hoch am wolkenlosen Himmel zu machen, unaufhörlich als Zivilisten getarnte Soldaten ausspeiend, die über ahnungslose Holländer herfielen. Da war fast etwas Lustiges an der Vorstellung, wie alle diese »Zivilisten« an aufgeblähten Fallschirmen durch die Luft herabschwebten. Und auch die gedämpften, weit entfernten Geräusche der Kanonen klangen eigentlich nicht bedrohlich, eher wie ein Feuerwerk zu einem Festtag.

Wie bedrohlich es jedoch tatsächlich war, spiegelte sich deutlich in den reglosen Gesichtern meiner Eltern und meiner Großmutter und in der eindringlichen Stimme des Radiosprechers. Trotz der warmen Sonne, die durch die breite Verandatür drang, lief mir ein Schauer den Rücken hinunter.

»Vielleicht sollten wir erst mal frühstücken«, sagte Mama schließlich. Das waren ihre ersten Worte, seit ich nach unten gekommen war, und ich fand es komisch, etwas so Normales von ihr zu hören, wo sie doch immer noch blass und zerzaust aussah und ein bisschen zitterte.

Ich sah, wie sie ihren hellblauen Morgenmantel zuband und sich ein paar hellblonde Strähnen feststeckte. Mit diesen einfachen Handgriffen schien sie sich wieder gefasst zu haben und die Herausforderung des Krieges anzunehmen samt dem, was er uns bringen mochte.

»Los, Rosie, hilf mir«, sagte sie und ging zur Küche. »Um seine Gedanken zu ordnen, geht nichts über eine heiße Tasse Tee.«

Ein merkwürdiges Frühstück. Im Grunde aßen wir gar nicht, schmierten nur Butter auf unsere Croissants und taten Zucker in den Tee. Vom Zimmer nebenan hörten wir immer noch Warnungen vor Fallschirmjägern und Spionen aus dem Radio und die Geschützsalven schienen plötzlich gar nicht mehr so weit weg.

Ich starrte aus dem Esszimmerfenster auf die ruhige, sonnige Straße. Sie war so verlassen, wie sie zu so früher Stunde nur sein konnte, und ich fand es abwegig, dass irgendwo da draußen zwischen den sauberen Ziegelhäusern Spione und Feinde lauern könnten, bereit, sich auf friedliche Passanten zu stürzen.

Nach dem Frühstück zogen wir uns an, und kaum hatten wir uns wieder unten versammelt, klingelte Herr van Dam bei uns, der Blockwart.

»Ihr habt die Nachrichten gehört«, sagte er bedrückt. »Ab jetzt gilt der Plan für den Ernstfall. Heute Abend wird alles verdunkelt.«

Papa nickte. »Klar, wird gemacht. Kann ich sonst noch etwas tun, Henk?«

Herr van Dam zögerte und sah Papa eigentümlich an. Eine unangenehm lange Stille trat ein, die Herr van Dam am Ende mit einem Räuspern zu überspielen versuchte.

»Entschuldige, Charles. Ich fürchte, es ist besser, wenn ihr einfach hier zu Hause bleibt«, sagte er schließlich, und man sah ihm an, dass ihm unbehaglich zu Mute war. »Natürlich weiß ich, dass ihr der deutschen Sache nicht gerade Sympathien entgegenbringt. Aber der Widerwille gegen alles Deutsche spitzt sich jetzt zu und die Leute werfen leicht Deutsche und Österreicher in einen Topf. Du weißt, Charles, ich meine es nicht persönlich…«

Zwei rote Flecken erschienen auf Papas Wangen. Er ist wütend, dachte ich. So sieht er immer aus, wenn er wütend ist. Aber Papa beherrschte sich: »Ich glaube, hier gibt es genug für mich zu tun.«

Ich rannte aus dem Zimmer, damit ich Herrn van Dam beim Abschied nicht die Hand schütteln musste. Er hatte es zwar nicht gesagt, aber er hatte durchblicken lassen, dass wir als feindliche Ausländer betrachtet würden. Wie konnte einer denken, dass wir mit den Nazis sympathisierten! Wo doch alle unsere Verwandten aus Österreich hatten fliehen müssen und wir die Nazis deswegen doch wohl mehr hassen müssten als irgendjemand sonst!

Die nächsten Stunden waren wir mit den Maßnahmen für den Ernstfall beschäftigt, sodass niemand von uns viel Gelegenheit hatte, sich über den Krieg oder unsere eigene Lage Gedanken zu machen. Wir füllten die Badewanne und ein paar Eimer mit Wasser und brachten Kübel mit Sand von einem leer stehenden Grundstück an der Ecke ins Haus. Der Sand würde im Ernstfall dem Brandschutz dienen. Um uns selber bei Bombenangriffen vor herumfliegenden Glassplittern zu schützen, schnitten wir Zeitungen in lange Streifen und klebten sie kreuz und quer auf alle Fenster. Wir arbeiteten wie am Fließband: Oma saß am Esszimmertisch und schnitt die Papierstreifen, ich beschmierte sie mit einer dicken weißen Paste aus Getreidestärke und Wasser, und meine Eltern standen abwechselnd auf der Trittleiter, um die Streifen an die Fensterscheibe zu kleben.

Zum Mittagessen legten wir eine kleine Pause ein und dachten über unsere Vorräte nach.

»Du kannst sicher sein, dass das Hamstern sofort beginnt«, meinte Oma. »1914 war es genauso. Wie Heuschrecken fielen sie über die Läden her und leerten die Regale. Wir sollten selbst einige Vorräte anlegen: Zucker und Dosenmilch und Seife. Das braucht man so ziemlich immer.«

»Ich mache mir mehr Sorgen, ob wir genug dahaben, um uns die nächsten paar Tage über Wasser zu halten«, erwiderte Mama. »Wenn wir wirklich nicht rauskönnen, wer kauft dann für uns ein?«

Das führte zu einer lebhaften Diskussion, wer von uns unter diesen Umständen ungefährdet einkaufen gehen könnte. Schließlich entschied sich Mama für mich.

»Keiner wird eine Zwölfjährige der Spionage verdächtigen«, erklärte sie. »Und außerdem spricht Rosemarie holländisch ohne Akzent. Sie kann ihr Fahrrad nehmen und die Einkäufe im Korb nach Hause bringen.«

Ich war froh, aus dem Haus zu kommen. Ich wollte raus, unter andere Leute, wollte mich vergewissern, dass es nicht so schlimm war, wie es daheim erschien.

Aber die Stimmung im Lebensmittelladen war auch nicht gerade beruhigend. Die Theke wurde von Frauen belagert, die aufgeregt und durcheinander nach allem Möglichen verlangten, von Zucker über Kerzen bis zu Schmalz.

Ich fand den netten, grauhaarigen Verkäufer, der mich kannte, und er stellte ein Pfund Zucker und zwei Stück Seife vor mich hin, bevor er Mamas Einkaufsliste überhaupt anschaute.

»Ein Pfund pro Kunde«, erklärte er mir. »Du bekommst deins auch.«

Zu Hause war Mama im Wohnzimmer dabei, zwei alte Bettlaken als improvisierte Verdunkelungsvorhänge zusammenzunähen.

»Gut, dass du wieder da bist, Rosemarie«, begrüßte sie mich. »Es schwirren so viele Gerüchte herum. Frau Dijkman von nebenan kam rüber und erzählte von Barrikaden und Straßenkämpfen im ganzen Land. Nur Amsterdam scheint bis jetzt ruhig.«

In dieser Nacht fielen Brandbomben auf Amsterdam. Die Luftschutzsirenen heulten ihre Warnung in die stille Dunkelheit und rissen uns aus den Betten. Wir hatten die schrillen Sirenen schon vorher gehört, aber damals war es nur eine Übung gewesen. Diesmal war es ernst.

Im schwachen Licht der Taschenlampe fand ich meine Kleider und den kleinen Koffer, den wir vor dem Zubettgehen gepackt hatten. Unten war der Rest der Familie schon in der Eingangshalle versammelt.

»Sollen wir in den Bunker gehen?«, überlegte Mama.

Papa schüttelte den Kopf. »In unserem eigenen Keller oder hier unter der Treppe sind wir genauso gut aufgehoben. Der sicherste Platz ist immer unter der Treppe.«

Zweifellos hatte Papa das alles bei seiner Schulung in Zivilverteidigung gelernt, wo er zum Feuerwehrmann ausgebildet worden war. Damals fand ich es lustig, mir meinen sonst so gemächlichen Vater vorzustellen, wie er Feuerleitern hochkletterte und mit langen, gewundenen Schläuchen hantierte. Jetzt schien es alles andere als lustig. Aber mit dem Luftschutzbunker hatte er Recht. Wir hatten zugesehen, wie er auf dem leeren Eckgrundstück gebaut wurde. Eine einfache Konstruktion aus Balken und Sandsäcken, und die schräg stehenden Wände samt dem flachen Dach waren mit rechteckigen Grassoden getarnt, damit es aus der Luft so aussah wie der Rasen rundum. Alle Kinder aus dem Viertel hatten wochenlang im und um den Bunker herum gespielt. Zum Spielen war er herrlich gewesen. Aber dass er einem Bombenangriff standhalten würde, konnte ich mir nicht vorstellen.

Wir saßen auf dem Boden des engen Flurs unter der Treppe und warteten auf das Ende des Bombenangriffs. Gelegentlich hörten wir entfernte Explosionen und das scharfe »Ack-ack« der Flak-Geschütze, die auf dem Dach der Schule gegenüber aufgebaut waren.

Zwei Mal ging Papa an das Vorderfenster, um zu erkunden, was draußen passierte. Kopfschüttelnd kam er zurück.

»Diese Idioten«, murmelte er. »Rennen auf die Straße, um Splitter und Patronenhülsen von den Flaks zu sammeln. Wissen die denn nicht, dass das lebensgefährlich ist? Souvenirjagd mitten in einem Bombenangriff!«

»Sie sind noch nicht an den Krieg gewöhnt«, sagte Mama. »Die Menschen müssen erst lernen, wie man sich im Krieg verhält, das kommt nicht von alleine.«

Die nächste Bombenwelle schien bereits ein gutes Stück näher. Wir konnten das jaulende Geräusch der fallenden Bomben hören, ehe die schweren Detonationen das ganze Haus erzittern ließen.

»Solange man eine Bombe fallen hört, ist sie weit genug weg, um dich nicht zu treffen«, sagte Oma tapfer. »Die gefährlichen sind die, die du nicht hörst.«

Dennoch war es schaurig. Vier, fünf, sechs Bomben fielen in kurzen Abständen, jede schien näher als die vorige. Endlich befreite uns die Entwarnung aus der Enge unter der Treppe.

»Geh wieder ins Bett, Rosemarie«, forderte Mama mich auf. »Aber lass die Kleider an, sicherheitshalber.«

Mama behielt Recht. Noch zwei Mal in dieser Nacht riefen uns die schrillen Sirenen aus den Betten. Noch zwei Mal kauerten wir uns in der Dunkelheit zusammen und warteten auf die Entwarnung.

Irgendwie schien der ganze Krieg aus endlosem Warten zu bestehen. Wir warteten darauf, dass die Luftangriffe kamen und gingen, wir warteten auf Nachrichten und auch auf Gerüchte, wir warteten darauf, dass die Briten über den Kanal kamen, um Holland vor den Deutschen zu retten. Niemand zweifelte daran, dass die Briten kommen würden. Es war nur eine Frage der Zeit.

Die meiste Zeit verbrachten wir in diesen Kriegstagen im Esszimmer, weil es mit einem großen Fenster zur Straße unseren engsten Kontakt zur Außenwelt bot.

»Wir hätten mit den anderen gehen sollen«, jammerte Oma zum fünfzigsten Mal und schüttelte den Kopf. »Wir hätten auf die Warnungen hören sollen.«

Es hatte Warnungen gegeben, erinnerte ich mich. Ganz am Anfang des Krieges zwischen Deutschland und England hatten unsere Verwandten aus den USA uns aufgefordert, zu ihnen in die Neue Welt zu kommen. Freunde meiner Eltern waren damals ebenfalls gegangen und hatten uns gedrängt, doch auch mitzukommen. Aber Papa hatte abgelehnt.

»Ich werde nicht davonrennen«, hatte er hartnäckig wiederholt. »Wir leben hier und fühlen uns hier zu Hause. Und deswegen setzen wir auf eine Zukunft in diesem Land.«

In solchen Augenblicken war ich stolz auf Papa gewesen. Ich liebte Holland, und es wäre mir sehr schwer gefallen, meine Wahlheimat zu verlassen. Jetzt sah es so aus, als hätten Papa und ich uns geirrt.

»Vielleicht sollten wir doch noch weggehen«, sagte Mama langsam. Ihre Augen wanderten durch das geöffnete Fenster zu der blauen Ford-Limousine, die einladend vor unserer Tür parkte.

»Aber es herrscht Ausgangssperre«, erinnerte Papa sie. »Was glaubst du, wie weit wir überhaupt kämen, wenn wir es versuchten? Meinst du, da sind keine Straßensperren zur Küste hin?«

»Ja, aber hier auf die deutsche Besetzung warten?«

Papa antwortete nicht. Das war eine Frage, die man nicht beantworten konnte. Sie hatten sie sich schon mehr als hundert Mal gestellt.

Ich hielt das nicht länger aus. Durch das Wohnzimmer und die Verandatür floh ich in den Garten. Meine Augen hefteten sich an das Pflaster des Hofs. Vor langer Zeit, als Kind noch, hatte ich ein Himmel-und-Hölle-Spiel in die Steine geritzt. Jetzt schimmerten die schwachen Umrisse der Kästchen in der Sonne. Fast automatisch hob ich einen Stein auf und begann zu spielen. Es war kindisch, aber ich musste etwas tun, musste mich bewegen. Und zugleich wirkte der vertraute Rhythmus des Spiels beruhigend.

Auf die Deutschen warten? Das würde nicht passieren. Das durfte nicht passieren! Die Engländer würden kommen. Sie mussten kommen!

Zwei Tage später waren die Engländer immer noch nicht da. Stattdessen starteten die Deutschen einen mörderischen Bombenangriff auf Rotterdam, der die Hafenstadt praktisch dem Erdboden gleichmachte. Die verheerende Nachricht sickerte am nächsten Morgen langsam bis nach Amsterdam durch und erzeugte eine beklemmende, angsterfüllte Stimmung.

An diesem Abend versammelten wir uns vor dem Radio, um eine Ansprache der Königin zu hören. In bestürztem Schweigen hörten wir, wie Königin Wilhelmina sich zögernd von ihrem Volk verabschiedete. Die Königin sprach zu uns von Bord eines Schiffes, schon auf dem Weg ins Exil nach England. Sie forderte ihr Volk auf, tapfer und geduldig zu sein, und versprach, sich vom Ausland aus unermüdlich für unsere Befreiung einzusetzen.

Die Stimme der Königin klang zwar vertraut, aber ich konnte die Bedeutung ihrer Worte einfach nicht fassen. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie konnte uns doch nicht einfach verlassen, konnte doch ihr Land nicht einfach aufgeben!

Aber es stimmte. Die königliche Familie war bei Nacht und Nebel aus dem Palast geflohen. Die Königin wollte so etwas wie eine holländische Exilregierung bilden, aber mir fiel es schwer, ihre Gründe zu akzeptieren. Ich fühlte mich verraten und verkauft. Das Land wurde seinem Schicksal überlassen. Alle hatten wir Tränen in den Augen, als die Übertragung endete.

»Das war’s also«, sagte Papa leise, als es vorüber war. »Wir müssen der Wahrheit ins Gesicht sehen. Holland hat den Krieg verloren.«

Irgendwann in dieser Nacht ergab sich der Rest der holländischen Regierung. Für uns war der Krieg vorbei.

Am nächsten Tag sahen wir durch die geschlossenen Fenster, wie die deutschen Truppen stramm und im Gleichschritt in Amsterdam einmarschierten. Nur ein paar Nazi-Sympathisanten bejubelten die Soldaten beim Einmarsch in ein Land, das sie durch Verrat erobert hatten.

»Ich habe das komische Gefühl, dass es das Gleiche wie in Österreich ist«, sagte Oma und blickte grimmig auf die Soldaten mit ihren Stahlhelmen hinab. »Vor zwei Jahren sind sie in Wien genauso einmarschiert. Nur dass ihnen damals viele Leute zujubelten. Aber sonst ist es das Gleiche.«

»Es ist nicht das Gleiche«, sagte Mama barsch. »In Wien konnte fliehen, wer fliehen wollte. Die Grenzen von Deutschland und Österreich waren offen. Jetzt aber gibt es kein Entkommen mehr. Wir sitzen in der Falle. Wir sind umzingelt vom Krieg und vom Meer und es gibt keinen Ausweg. Es ist ganz und gar nicht das Gleiche!«

»Bei Anneke reden sie nicht von Flucht«, sagte ich. »Sie reden von der Gründung einer Widerstandsbewegung und davon, was man zur Befreiung Hollands von innen heraus tun kann.«

»Es braucht Zeit, eine Widerstandsbewegung zu organisieren«, entgegnete Mama. »Anneke und ihre Familie haben Zeit, sie sind keine Juden.«

Das Wort platzte wie eine Bombe in meinem Kopf: Juden! All die Gesprächsfetzen, die ich aufgeschnappt hatte, die Horrorgeschichten, die ich gehört und wieder vergessen hatte, die Bruchstücke von Wissen, die ich unbewusst über die Jahre gesammelt hatte, all das vereinigte sich plötzlich und ergab einen Zusammenhang.

Wir sitzen in der Falle, hatte Mama gesagt. Ich dachte an die weiße Ratte, die Annekes Bruder als Haustier gehalten hatte. Eine dicke weiße Ratte in einem kleinen Drahtkäfig. Kein schönes Bild!

Unter unserem Fenster marschierten die letzten deutschen Soldaten in ihren Knobelbechern vorbei und verschwanden am Ende der Straße.

Kapitel 2

Früh genug fand ich heraus, was es unter den Nazis hieß, Jude zu sein. Es begann mit den Ausweisen. Jeder in Holland musste einen haben. Aber auf unseren prangte ein großes rotes »J« für »Jude«.

»Warum mögen die Deutschen keine Juden?«, war meine erste Frage, nachdem wir die Ausweise bekommen hatten.

Mama zuckte mit den Schultern.

»Antisemitismus ist nichts Neues«, sagte sie. »Das gab es schon immer. Immer und überall. Der Unterschied liegt nur in Hitlers fanatischem Hass. Die Besessenheit, mit der er die Juden verfolgt, kann man nicht begreifen.«

Es war ein komisches Gefühl, dass ich plötzlich anders sein sollte als alle meine Freundinnen. In grellen roten Lettern verkündete der Ausweis: Diese Person ist anders, diese Person ist Jude.

Mit dem Ausweis in der Hand betrachtete ich mich im Badezimmerspiegel. Sah ich anders aus? Hatte ich mich über Nacht verändert? Doch mein Gesicht schaute mich wie immer an: braune Zöpfe, rundes Gesicht, haselnussbraune Augen.

»Kann man mir ansehen, dass ich jüdisch bin?«, fragte ich.

»Nein, Schatz, du siehst nicht jüdisch aus. Aber sie werden es wissen, wenn sie deinen Ausweis kontrollieren.«

Jüdisch aussehen? Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Kannte ich Menschen, die jüdisch aussahen? Sahen Leute evangelisch oder katholisch aus? Woran erkannte man das?

Ich sah meinen Ausweis noch einmal genauer an. Rosemarie Sarah Brenner stand darauf. Nie hatte ich einen zweiten Vornamen gehabt. Jetzt hatte ich einen. Auf Anordnung der Nazis: »Jede jüdische Frau erhält zusätzlich den Vornamen Sarah, jeder jüdische Mann zusätzlich den Namen Isaak.«

Charles Isaak Brenner stand in Papas Ausweis.

Ich starrte auf mein Spiegelbild.

»Rosemarie Brenner«, murmelte ich. »Ich bin einfach Rosemarie Brenner.«

Ich wollte nicht anders sein. Ich wollte mich nicht verändern. Aber es hatte sich schon etwas verändert. Es stand in nüchternen Lettern in meinem Ausweis. Wenn sie deinen Namen durch eine Vorschrift ändern konnten, dann warst du anders. Genauso wie sie mir meine österreichische Staatsbürgerschaft genommen hatten. Alle Juden sind staatenlos, hatten die Deutschen erklärt.

Wer war ich? Was war ich? Ich wusste es nicht mehr.

Jede Woche brachte neue Veränderungen. Einige davon betrafen alle, wie die Lebensmittelkarten und die Ausgangssperre. Aber einige betrafen nur uns Juden. Manche Berufe waren Juden verboten, auch einige Gebiete im Land, und dann Theater- und Kinobesuche.

Aus Wochen wurden Monate.

Auch Papa verlor seine Arbeit. Die österreichische Firma, die ihn nach Holland versetzt hatte, wollte jetzt keine Juden mehr beschäftigen. So ging Papa eine Art Partnerschaft mit einem seiner nicht jüdischen Freunde ein, doch er war nur wenig in seinem neuen Büro. Die meiste Zeit und Energie brachte er in den Warteräumen der Botschaften verschiedener neutraler Staaten zu. Vielleicht würde eine uns ein Visum geben, vielleicht hatten wir die Möglichkeit, doch noch aus Holland zu entkommen. Da war Kuba, da war die Dominikanische Republik, da war sogar Portugal…