Umbrüche in der deutschsprachigen Literatur um 1900 - Yomb May - E-Book

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Beschreibung

Kompakt, übersichtlich, vollständig – so präsentiert dieser Band das prüfungsrelevante Wissen zu den Umbrüchen in der deutschsprachigen Literatur um 1900. Vorgestellt werden die sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergründe der Zeit, die literaturgeschichtlichen Strömungen vom Naturalismus bis zum Expressionismus, typische und neue Formen des lyrischen Sprechens und Erzählens sowie die zentralen Themen und Motive in der Literatur der Epoche.  Damit gelingt die effiziente Vorbereitung für eine erfolgreiche Abiturprüfung!

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Yomb May

Umbrüche in der deutschsprachigen Literatur um 1900

Kompaktwissen XL

Reclam

Kompaktwissen XL | Nr. 962202

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962202-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015247-8

www.reclam.de

Inhalt

Zur Benutzung

Problematik des Epochenumbruchs um 1900

Kurzübersicht: Strömungen der deutschsprachigen Literatur um 1900

1 Die Moderne um 1900: Epochenbild

Zeitgeschichtlicher Kontext

Die Literarische Moderne

2 Naturalismus (1890–1900)

Zeitgeschichtlicher Kontext

Leitgedanken

Das Programm des Naturalismus

Literarische Formen und Gattungen

Hauptthemen und Motive / Sprache und Stilmerkmale

Textbeispiel und Kurzkommentar

Autoren und Werke (Auswahl)

3 Fin de Siècle / Décadence (1890–1914)

Zeitgeschichtlicher Kontext und Begriffsbestimmung

Leitgedanken

Das Programm des Fin de Siècle / Décadence

Literarische Gattungen

Hauptthemen und Motive / Sprache und Stilmerkmale

Textbeispiel und Kurzkommentar

Autoren und Werke (Auswahl)

4 Impressionismus (1890–1920)

Begriffsbestimmung und zeitgeschichtlicher Kontext

Leitgedanken

Das Programm des Impressionismus

Literarische Formen

Hauptthemen und Motive / Sprache und Stilmerkmale

Textbeispiel und Kurzkommentar

Autoren und Werke (Auswahl)

5 Symbolismus/Ästhetizismus (1890–1920)

Zeitgeschichtlicher Kontext und Begriffsbestimmung

Leitgedanken

Das Programm des Symbolismus

Literarische Gattungen

Hauptthemen und Motive / Sprache und Stilmerkmale

Textbeispiel und Kurzkommentar

Autorinnen/Autoren und Werke (Auswahl)

6 Wiener Moderne (1890–1910)

Zeitgeschichtlicher Kontext: Warum Wien?

Leitgedanken

Das Programm der Wiener Moderne

Literarische Formen

Hauptthemen und Motive / Sprache und Stilmerkmale

Textbeispiel und Kurzkommentar

Autoren und Werke (Auswahl)

7 Jugendstil (1890–1915)

Zeitgeschichtlicher Kontext

Leitgedanken

Das Programm des Jugendstils

Literarische Gattungen

Hauptthemen und Motive / Sprache und Stilmerkmale

Textbeispiel und Kurzkommentar

Autoren und Werke (Auswahl)

Randständige weitere Strömungen

8 Expressionismus (1905–1925)

Zeitgeschichtlicher Kontext und Begriffsbestimmung

Leitgedanken

Das Programm des Expressionismus

Literarische Gattungen

Hauptthemen und Motive / Sprache und Stilmerkmale

Textbeispiel und Kurzkommentar

Autoren und Werke (Auswahl)

Nebenströmungen: Dadaismus und Surrealismus

Literaturhinweise

Textausgaben

Weiterführende Literatur

Zum Autor

Zur Benutzung

Jedem Kapitel steht eine Checkliste Schlüsselbegriffe voran, in der alle wichtigen Begriffe zur behandelten Strömung zusammengestellt sind. Diese Begriffe werden in der anschließenden Darstellung im Zusammenhang erläutert. Sie sind im Text fett hervorgehoben und am Rand mit dem Checklistensymbol gekennzeichnet. Die Checkliste kann auf zwei verschiedene Weisen gebraucht werden:

Vor dem Lesen der inhaltlichen Darstellung: Die Checkliste strukturiert den zu lernenden Inhalt vor, indem eine Übersicht über die folgenden Gegenstände geboten wird. (Was erwartet mich? Was ist neu? Was muss ich am Ende können?)

Nach dem Lesen der inhaltlichen Darstellung: Die Checkliste kann der Wiederholung des jeweiligen Epochenwissens dienen. (Kann ich die Begriffe erläutern? Dann habe ich das prüfungsrelevante Epochenwissen parat.)

Alle Kapitel haben den gleichen inneren Aufbau. Das erleichtert den Vergleich zwischen den Strömungen. Die Kommentare zu den Textbeispielen bieten keine vollständigen und umfassenden Analysen, sondern dienen als Anregungen für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem jeweilen Text im Kontext seiner Strömung.

Problematik des Epochenumbruchs um 1900

Literarische Werke bilden ein Medium der Reflexion über die Zeit, in der sie entstanden sind. Sie sind vielfach an ihren kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext gebunden, weisen aber manchmal auch darüber hinaus. Wer Literatur angemessen verstehen will, muss daher über literaturhistorisches Wissen (Epochenwissen) verfügen. Dieses Wissen umfasst sowohl die sozial-historischen als auch ideengeschichtlichen Rahmenbedingungen, in denen Texte verfasst wurden, sowie die poetologischen Grundsätze, die solchen Texten zugrunde liegen.

In der deutschsprachigen Literaturgeschichtsschreibung nimmt die »Literatur um 1900« – auch »Literatur der Jahrhundertwende« oder »Literarische Moderne« genannt – eine besondere Stellung ein: Sie setzt sich mit grundlegenden politischen, wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Umbrüchen auseinander, die den Beginn der Moderne eingeläutet haben. Gleichzeitig werden in diesem Zeitraum zahlreiche ästhetische Programme formuliert, die das innovative Potenzial jenes Abschnittes der deutschsprachigen Literaturgeschichte veranschaulichen, der vor allem auch durch seine Vielfalt gekennzeichnet ist.

Das vorliegende Buch bietet einen Überblick sowohl über den historischen Kontext als auch über die ästhetischen Leistungen der wichtigsten literaturgeschichtlichen Strömungen zwischen dem Naturalismus und dem Expressionismus. Im Mittelpunkt stehen die Wechselwirkungen zwischen Literatur und den gesellschaftlichen, technischen, naturwissenschaftlichen und kulturellen Veränderungen um 1900. Auf diese Weise soll der Leser mit der Entwicklung der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende sowohl in Bezug auf den historischen Kontext als auch hinsichtlich der damals innovativen poetologischen Ideen vertraut gemacht werden.

Bevor dies im Einzelnen dargestellt wird, ist ein Hinweis vorab wichtig: Ein häufiges Missverständnis besteht in der Vorstellung von Literaturepochen als klar abgrenzbaren, in sich abgeschlossenen und homogenen Zeiträumen mit festen Ideen, Autoren und Werken. Diese Vorstellung führt oft zu einer ungenauen, undifferenzierten und manchmal sogar falschen Einordung von literarischen Texten in ihren Epochenkontext. Denn die Antwort auf die Frage, was eine literarische Epoche ausmacht und wie sie sich gegenüber benachbarten Epochen und Strömungen abgrenzen lässt, fällt in der Literaturgeschichtsschreibung selten eindeutig aus. Angemessenes literaturhistorisches Wissen setzt daher ein differenziertes Verständnis des Epochenbegriffs und ein Bewusstsein für die damit verbundene Problematik voraus. Denn Epochenwechsel bilden in der Regel keine Zäsuren.

Die deutschsprachige Literatur um 1900 liefert ein exzellentes Beispiel dafür, dass eine klare Zuordnung eines Autors oder eines Werkes zu einer Epoche, einer Literaturströmung oder zu einer Stilrichtung oft nur bedingt möglich ist. Was die Bestimmung von Epochen und Strömungen in jedem Fall bereits problematisch erscheinen lässt ist, dass sich kaum mit Bestimmtheit angeben lässt, wann eine Epoche oder Strömung beginnt oder endet: Die Hauptwerke des Naturalismus, etwa Holz’ und Schlafs Die Familie Selicke (1890), und Hauptmanns Die Weber (1892), erscheinen zugleich mit Stefan Georges Hymnen (1890), Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891), und Hugo von Hofmannsthals Der Tod des Tizian (1892), die anderen Strömungen zugeordnet werden. Zeitlich lässt sich folglich keine klare Grenze ziehen.

Epochenwechsel vollziehen sich nicht punktuell bzw. schlagartig. Sie bilden in der Regel einen längeren Prozess, der, im Falle der deutschsprachigen Literatur um 1900, mehrere Strömungen und Stilrichtungen umfasst, die einander nicht chronologisch ablösen, sondern parallel nebeneinander herlaufen, ineinander übergehen, sich gegenseitig als Basis dienen (so z. B. der Impressionismus für den Expressionismus) oder einander oppositionell abgrenzen, z. B. die antinaturalistischen Strömungen (Impressionismus, Symbolismus, Fin de Siècle etc.).

Zu bedenken ist zudem, dass historische Ereignisse und ästhetische Innovationen, die für die Eingrenzung von Epochen und Strömungen herangezogen werden, selten isoliert in Erscheinung treten. Sie knüpfen meistens an vorausgehende Entwicklungen und Ideen (hier z. B. Neuromantik, Neuklassik) an. So bleibt etwa der Einfluss naturwissenschaftlichen Wissens auch bei jenen Autoren wirksam, die sich um 1900 vom Naturalismus abwenden. Hinzu kommt, dass manche Autoren der deutschsprachigen Literatur um 1900 einige literarische Strömungen der damaligen Zeit nur phasenweise vertreten. Das gilt insbesondere für Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke.

Andererseits gibt es herausragende Autoren der Moderne, die sich keiner der literarischen Strömungen ihrer Zeit zuordnen lassen. Das gilt beispielweise für Franz Kafka (1883–1924). Zwar fallen Kafkas Werke zeitlich mit dem Expressionismus zusammen, deren Zuordnung zu dieser Strömung ist jedoch literaturgeschichtlich nicht haltbar, zumal sich Kafka selbst vom Expressionismus distanziert hat. Gleiches gilt für Thomas und Heinrich Mann. Beide haben die deutschsprachige Literaturgeschichte vom Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts nachhaltig bestimmt, doch nicht alle ihrer Werke lassen sich einer bestimmten Strömung zuordnen. So fügt sich beispielsweise der 1918 erschienene Roman Der Untertan von Heinrich Mann (1871–1950) zwar in die gesellschaftskritische Haltung der damaligen Zeit gut ein, stilistisch ist er aber kein typisches Werk des Expressionismus.

Erschwert wird die Zuordnung nicht zuletzt dadurch, dass sich in vielen literarischen Werken Elemente verschiedener literarischer Strömungen und Stilrichtungen finden lassen – oft ist eine eindeutige Zuordnung gar nicht möglich. Das wird im Folgenden auch daran sichtbar, dass manche Werke unter verschiedenen Strömungen Erwähnung finden.

Und manche Werke weisen über die Strömung hinaus, in der sie ursprünglich entstanden sind. So überschreiten die Traum- und Märchendichtungen Hanneles Himmelfahrt (1893) oder Die versunkene Glocke (1896) von Gerhart Hauptmann die Grenzen des Naturalismus und nehmen Verklärungsmomente der Neuromantik vorweg. Trotz der Unterschiede in der Gestaltung der gesellschaftlichen und ästhetischen Umbrüche um die Jahrhundertwende zeigt sich, dass die Autoren der Literarischen Moderne den gleichen Zeitgeist teilen.

Der hier nur grob skizzierte Sachverhalt macht die Problematik des Epochenumbruchs um 1900 augenscheinlich. Literaturhistorisches Wissen (Epochenwissen) ist mehr als normative Kenntnisse über Daten, Namen und Fakten zu bestimmten Abschnitten der Literaturgeschichte. Es befähigt im Idealfall zu einem reflektierten Nachdenken über die Komplexität literaturgeschichtlicher Entwicklungen, über die Bezüge zwischen den Epochen oder Strömungen zueinander und ihre Spuren im literarischen Text.

Für die Analyse und Interpretation eines Textes aus dieser Zeit bedeutet es, dass es oftmals nicht darum gehen kann, eine eindeutige Zuweisung zu einer einzigen Strömung vorzunehmen, sondern die Vielfalt möglicher Einflüsse zu erkennen und zu begründen.

Kurzübersicht: Strömungen der deutschsprachigen Literatur um 1900

Die soeben genannten Einschränkungen bezüglich klarer Abgrenzungen im Blick behaltend, gibt die folgende Tabelle zur leichteren Handhabung eine Übersicht über die Strömungen und Stilrichtungen der deutschsprachigen Literatur um 1900. Wie an den ungefähren Zeitangaben zu sehen ist, handelt es sich um nahezu gleichzeitige Strömungen; die Tabelle ist also nicht als chronologische Abfolge zu betrachten.

Wichtig ist, dass es sich bei den Bezeichnungen nicht um Epochenbegriffe handelt, auch wenn sie häufig fälschlicherweise so verwendet werden, sondern um Strömungen. Die literaturgeschichtlichen Begriffe gehen dabei oft auf gleichlautende kunst- oder musikgeschichtliche Bezeichnungen zurück, decken sich aber in vielen Fällen nicht mit ihnen.

Die in der Übersicht angedeutete Gruppenbildung verweist darauf, dass es bei den Strömungen untereinander nicht nur Übergänge, sondern auch Abgrenzungen gibt. Insbesondere definiert sich die ›mittlere‹ Gruppe (Symbolismus bis Jugendstil) auch als Gegenmodell zum Naturalismus, während der etwas später beginnende Expressionismus sich wiederum davon vielfach absetzt und sogar teils an den Naturalismus anknüpft.

Bezeichnung der Strömung

Ungefähre Daten

Naturalismus

1890–1900

Symbolismus

1890–1920

Impressionismus

1890–1920

Fin de Siècle / Dekadenz / Literatur der Jahrhundertwende

1890–1914

Wiener Moderne

1890–1910

Jugendstil

1890–1915

Expressionismus

1905–1925

1 Die Moderne um 1900: Epochenbild

Zeitgeschichtlicher Kontext

Der Wechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert ist von zahlreichen Umbrüchen geprägt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts befindet sich Deutschland in einem tiefgreifenden Transformationsprozess, wie ihn die Menschen bis dahin noch nicht kannten. Das markanteste politische Ereignis dieser Zeit ist wohl die Gründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 im Schloss von Versailles im Anschluss an den Deutsch-Französischen Krieg (1870/71). Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verzeichnet das Deutsche Reich einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung und steigt Schritt für Schritt zu einer der führenden Industrienationen der Welt auf. Beschleunigt wird dieser Prozess nicht zuletzt durch die hohen Reparationszahlungen, zu denen sich der Kriegsverlierer Frankreich 1871 verpflichtet. Sie bilden eine wichtige Grundlage für die Gründerzeit oder die Gründerjahre, die einen enormen Modernisierungsschub mit sich bringen.

Basisinformation: Gründerzeit, Gründerjahre

Die Zeit nach der Gründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 im Schloss von Versailles, im engeren Sinne bis 1873. Gründerfieber infolge des durch französische Reparationszahlungen ausgelösten Wirtschaftsaufschwungs mit anschließender Krise. Im weiteren Sinne bis ca. 1890, stilgeschichtlich insbesondere im Hinblick auf den Baustil bis zum Jahrhundertende reichend.

Industrialisierung und Urbanisierung

Um 1890 ist der Übergang Deutschlands von einem Agrar- zu einem Industriestaat weit fortgeschritten. Von grundlegender Bedeutung ist die Entstehung von Großstädten: Innerhalb weniger Jahrzehnte vergrößert sich beispielweise Berlin von einer überschaubaren preußischen Residenzstadt mit weniger als einer halben Million Einwohner zur Reichshauptstadt mit zwei Millionen Menschen (1913). Grund dafür ist, dass die Industrialisierung im 19. Jahrhundert eine gewaltige Binnenwanderung auslöst. Da sich die Industriezentren in Großstädten ansiedeln, ziehen viele Menschen auf der Suche nach Arbeit dorthin. Folgerichtig steigen neben der Reichshauptstadt Berlin auch Städte wie Wien und München zu Metropolen auf. Diesen Prozess der Verstädterung bezeichnet man als Urbanisierung.

Geprägt wird das großstädtische Leben zum einen durch bahnbrechende technische Entwicklungen: Motorisierte Verkehrsmittel wie Omnibusse, elektrische Straßenbahnen, Dampfer, Eisenbahn etc. beschleunigen die Mobilität der Menschen und verändern das Stadtbild. Verschwunden ist das stille, behagliche Leben der Vergangenheit, welches ein wichtiges Merkmal des bürgerlichen Selbstverständnisses bildet, so etwa im Biedermeier (1815–1850) und noch im Realismus (1848–1890). Die ersten elektrischen Straßenlampen stehen im Jahr 1882 in Berlin. Auch Innovationen im Medienbereich wie das Telefon, das Grammophon, der Film, die Fotografie und das Kino prägen den Kontext, in dem Literatur um 1900 geschrieben und gelesen wird. Zum anderen entstehen im Zuge der Urbanisierung und aufgrund der Wohnungsknappheit Elendssiedlungen für Arbeiter und ihre Familien, die sogenannten »Mietskasernen«, eng und mehrstöckig, oft mit mehreren Hinterhöfen, dunkel und ohne ausreichende sanitäre Ausstattung. Sie bilden Brennpunkte der sozialen Frage.

Definition: Soziale Frage

Bezeichnung für die sozialen Missstände, insbesondere die verheerenden Lebensumstände der Industriearbeiter, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Begleit- und Folgeerscheinungen der Industrialisierung in Deutschland in Erscheinung getreten sind.

Der wirtschaftliche Aufschwung der Gründerjahre beschleunigt zugleich auch die Proletarisierung großer Bevölkerungsteile und schafft erhebliche soziale Probleme: Pauperismus, d. h. Massenarmut, Hunger und Krankheiten beherrschen den Alltag und das Leben vieler Menschen. Soziale Spannungen sind die Folge. Während die Reichen vom Fortschritt profitieren, lebt das Industrieproletariat unter schlechten Bedingungen. Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) rufen in ihrer gemeinsamen programmatischen Schrift Das Kommunistische Manifest (1848) das Proletariat zum Kampf gegen den Kapitalismus auf. Die SPD (seit 1890 unter diesem Namen) steht um 1900 noch in dieser Tradition. Sie konnte die Anzahl ihrer Reichstagssitze in dieser Zeit kontinuierlich von 2 (1871) auf 110 (1912) steigern.

Vor allem in Großstädten sind die Menschen mit den rasanten technischen Entwicklungen und den neuen Herausforderungen konfrontiert und zum Teil überfordert. Der Großstadtmensch steht in ständiger Anspannung. Man spricht vom Zeitalter der Nervosität und Hysterie. Das Individuum der urbanen Moderne ist fragmentiert und einsam in der großen Masse. Die Großstadt zeichnet sich zum einen durch den beständigen Wechsel der Ereignisse und Eindrücke und zum anderen durch die Anonymität aus. Friedrich Engels über die Großstadt:

»Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas wogegen sich die menschliche Natur empört. Diese Hunderttausende aus allen Klassen und aus allen Ständen, die sich da aneinander vorbeidrängen, sind sie nicht alle Menschen, mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten, und mit demselben Interesse, glücklich zu werden? Und doch rennen sie aneinander vorüber, als ob sie gar nichts gemein, gar nichts miteinander zu tun hätten […] Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen tritt umso widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind.«

F. E.: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Stuttgart 1892. S. 24.

Dass die Großstadt den Hauptschauplatz der Literatur bildet, ist vor diesem Hintergrund kein Zufall. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Metropolen wie München und Berlin nicht nur wirtschaftlich an Bedeutung gewinnen, sondern auch kulturell zu Zentren der Literarischen Moderne avancieren.

Janusköpfigkeit der Moderne

Die rasante Industrialisierung und Urbanisierung führen bei den Zeitgenossen zu einer kollektiven Gefühlslage, die sich durch Zwiespalt auszeichnet. Ein Stimmungsbild der Zeit lässt sich am Titelbild der in München erscheinenden Zeitschrift Jugend in der Ausgabe vom 1. Januar 1900 ablesen (Abb. 1): ein Januskopf, der gleichzeitig voraus- und zurückschaut. In diesem Titelbild ist eine typische Haltung der Menschen zum Phänomen Moderne um 1900 festgehalten. Insbesondere Vertreter der jüngeren Generation bekennen sich zu einer Welthaltung, die sich durch die Abwendung von den jahrhundertealten Annahmen und stattdessen durch eine Ausrichtung auf das Neue auszeichnet. Vergangenheit und Autoritäten verlieren ihre Leitbildfunktion bei der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Aber generell ist das Lebensgefühl von Gegensätzen bestimmt.