Umkämpft, verhandelt, ausgegrenzt -  - E-Book

Umkämpft, verhandelt, ausgegrenzt E-Book

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Beschreibung

Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg gehört zum festen Bestandteil der politischen Kultur in den europäischen Gesellschaften. Aus bundesrepublikanischer Perspektive besteht dabei der Eindruck einer weitgehenden Homogenität und Akzeptanz des Erinnerns und Gedenkens. Bei genauerem Hinsehen allerdings weist der vordergründige erinnerungskulturelle Konsens Brüche auf: Der Blick auf die Vergangenheit ist transnational, national, regional und lokal heterogen und oftmals umstritten. Die Beiträge dieses Bandes machen auf diese Dissonanzen aufmerksam und markieren zentrale Konflikte im aktuellen (geschichts-)politischen Diskurs.

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Andreas Pilger, Robin Richterich (Hg.)

Umkämpft, verhandelt, ausgegrenzt

Dissonantes Erinnern an den Nationalsozialismus und seine Folgen

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg gehört zum festen Bestandteil der politischen Kultur in den europäischen Gesellschaften. Aus bundesrepublikanischer Perspektive besteht dabei der Eindruck einer weitgehenden Homogenität und Akzeptanz des Erinnerns und Gedenkens. Bei genauerem Hinsehen allerdings weist der vordergründige erinnerungskulturelle Konsens Brüche auf: Der Blick auf die Vergangenheit ist transnational, national, regional und lokal heterogen und oftmals umstritten. Die Beiträge dieses Bandes machen auf diese Dissonanzen aufmerksam und markieren zentrale Konflikte im aktuellen (geschichts-)politischen Diskurs.

Vita

Andreas Pilger, Dr. phil., leitet das Stadtarchiv Duisburg und ist Co-Projektleiter des Zentrums für Erinnerungskultur der Stadt Duisburg.

Robin Richterich M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Erinnerungskultur der Stadt Duisburg.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Andreas Pilger und Robin Richterich: Einleitung

Malte Thießen: Krieg im Gedächtnis der Städte – Warum Dissonanzen zum guten Ton der Erinnerungskultur gehören

1.

Hegemoniale Harmonie: Erinnerungskultur als Problem

2.

Städtische Gedächtnisse als Forschungsgegenstand und Vermittlungsangebot

3.

Überlieferungs-Schleusen: Ursprünge und Pfadabhängigkeiten städtischer Erinnerung

4.

Räume: Spuren und Nähe

5.

Parallelerinnerungen: Diversität, Distanz und Dissonanzen

6.

Fazit

Robin Richterich: Dissonante Erinnerungen an den Judenmord in der lokalen Erinnerungskultur – Fallbeispiele aus Duisburg

1.

Einleitung

2.

Dissonanzen bei der Erinnerung an die Verfolgung der Duisburger Juden

3.

Retroperspektive Homogenisierung des jüdischen Lebens

4.

Ein Foto weckt dissonante Erinnerungen

5.

Dissonanzen in der lokalen Geschichtsschreibung

6.

Buchprojekt »Geschichte der Duisburg Juden« 1968–1986

7.

Dissonanzen im Kontext der Entstehung und Rezeption von Gendenkzeichen

8.

Fallbeispiel I: Ein Gedenkstein für die »Opfer des Faschismus« (1947)

Nur politisch Verfolge? Juden in der Begräbnisstätte

Die Einweihung

70 Jahre VVN-Gedenkveranstaltung

9.

Fallbeispiel II: Ein Mahnmal für die Jüdische Gemeinde!?

Kontext: die Etablierung einer »Gedenkstunde« zur »Kristallnacht«

Die Planung eines Mahnmals (1968)

Der erste Anlauf: Kostenexplosion und Krach mit dem Künstler

Der zweite Anlauf: neuer Künstler, Neues Mahnmal

Die Einweihung des Mahnmals (1974)

Die Ansprachen: Sinnstiftung und Geschichtspolitik

Der Nachbau des Mahnmals (2006)

10.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Lenard Suermann: Die Geschichtspolitik der extremen Rechten – ein Angriff auf die Gedenkkultur zum Nationalsozialismus

1.

Einleitung

2.

Zu den Begriffen »extreme Rechte« und »Geschichtspolitik«

Extrem rechte Geschichtspolitik

3.

»Historischer Revisionismus« und Volksverhetzung

4.

Dekontextualisierung und Konternarrative

Rehabilitierung durch Schuldumkehr

Heldenverklärung

Alliierte Kriegsverbrechen

Kampfbegriff »Schuldkult«

5.

Exkurs: Querdenken-Bewegung

6.

Fazit

Lea Fink: Orte des Gedenkens – Überlegungen zur Geschichtsschreibung bei Walter Benjamin, Paul Celan und Claude Lanzmann

1.

Benjamin, Celan und Lanzmann unter Eindruck des Nationalsozialismus

2.

Architektur und Eingedenken bei Walter Benjamin

3.

Gedenkbrunnen auf dem Platz der Alten Synagoge in Freiburg

4.

Umgang mit den Spuren des Nationalsozialismus und der Schoa bei Claude Lanzmann und Paul Celan

5.

Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas

6.

Der Walter-Benjamin-Platz in Charlottenburg

7.

Orte des Eingedenkens

Arnd Bauerkämper: Dissonanz und Konsonanz – Erinnerungen an den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust in Europa seit 1945

1.

Überblick: von heroischen zu (selbst-)kritischen Erinnerungen

2.

Die justizielle Aufarbeitung

3.

Politische Erinnerungskonflikte

4.

Gesellschaftliche Auseinandersetzungen

5.

Auf dem Wege zu einer europäischen Erinnerungskultur? Transnationale Bezüge

Cornelia Chmiel: Zwischen Macht und Ohnmacht − Mitarbeiter*innen in Museen und Gedenkstätten als Akteur*innen erinnerungskulturellen Wandels in der Migrationsgesellschaft

1.

»Geschichten in Bewegung«: Geschichtskulturen, Erinnerungspraktiken und Historisches Lernen in der deutschen Migrationsgesellschaft

Gedenkstätten und Museen: Arbeit an der Schnittstelle

Stichprobe und Vorgehen bei der Auswertung

2.

»Ich weiß gar nicht, ob wir jemals Jahre hatten, wo das konstant geblieben ist« (BII17: 31): Konzeption von Wandel

Pluralisierung von Erzählungen

Politische Polarisierung

3.

Positionierung zum Wandel

4.

Spannungsfelder zwischen Macht und Ohnmacht

Wandel als Herausforderung und Chance

Agieren vs. Reagieren

Historisches Lernen: normative Ausrichtung vs. Ergebnisoffenheit

Reproduktion vs. Transformation

5.

Fazit

Jennifer Farber und Jens Hecker: »Dies ist eine schöne Gedenkstätte. Lasst sie uns besetzen« – Ein Gespräch unter Praktiker*innen

1.

Intro

2.

Ein Problemaufriss

3.

Was ist der Arbeitskreis »Räume Öffnen«?

4.

Räume, die es zu öffnen gilt

5.

In bestehende Verhältnisse intervenieren

Literatur

Bücher und Artikel

Internetquellen

Autorinnen und Autoren

Einleitung

Andreas Pilger und Robin Richterich

»Ereignisse verwandeln sich nicht von selbst in Erinnerung, sondern werden dazu geformt, werden zu Erinnerung gemacht – oder auch nicht«

Edgar Wolfrum, 20101

Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und an die NS-Verbrechen, insbesondere die Shoa, gehört zum festen Bestandteil der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland.2 Das war nicht immer so. Viele Jahrzehnte rangen engagierte Akteure, vor allem aus der Generation der Täterkinder, um die Anerkennung und Aufarbeitung von NS-Unrecht. Die Durchsetzung des erinnerungskulturellen Imperativs vollzog sich in den 1980er Jahren gegen heftige politisch-gesellschaftliche Widerstände. So reagierten Zeitzeugen auf Richard von Weizsäckers heute berühmte Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes durchaus mit Vorbehalten und Kritik. Bei weitem nicht alle waren damals schon bereit, das Kriegsende als Befreiung zu sehen. Heute gilt die Rede des Bundespräsidenten als Auftakt und Manifest einer sensiblen und selbstkritischen Erinnerungskultur. Gleichzeitig melden sich jetzt aber auch Stimmen zu Wort, denen Weizsäckers Versöhnungspathos im Rückblick angesichts der weitgehenden Schrecken und Gewalt als unangemessen erscheinen. Max Czollek spricht in Anlehnung an Michal Bodemann vom Gedächtnistheater, bei dem die Juden als idealisierte Opfergruppe der Mehrheitsgesellschaft als Instrument der Läuterung dienen.3 Dass wir in dieser Weise die Juden erinnerungskulturell instrumentalisieren, ist ein scharfer Vorwurf und Sprengstoff für unsere konsentierte Erinnerungskultur. Vielleicht gewinnt der Vorwurf sogar noch an Schärfe und Gewicht, wenn man auf andere, aus Perspektive der Mehrheitsgesellschaft bisweilen »sperrige« Opfergruppen schaut, denen die Anerkennung lange verwehrt wurde. Der Deutsche Bundestag hat zum Beispiel erst im Februar 2020 die Anerkennung »Asozialer« und »Berufsverbrecher« als Opfer der NS-Gewaltherrschaft beschlossen. Für die verfolgten Sinti und Roma gibt es seit 2012 ein zentrales Denkmal in Berlin. Dessen breite gesellschaftliche Verankerung allerdings muss sich auch zehn Jahre nach dem Bau noch bewähren, wie unlängst die unsensible Debatte um den Bau einer S-Bahnstrecke unter dem Denkmal offenbart.

Bei allem vordergründigen Konsens wird noch immer der Nationalsozialismus nicht von allen gleich erinnert, nicht in der gleichen Intensität und auch nicht unter den gleichen Gesichtspunkten. Das Zentrum für Erinnerungskultur hat diesen Befund zum Ausgangspunkt seiner Tagung »Dissonantes Erinnern« im Herbst 2020 gemacht. Konzeptionell knüpft der Tagungsansatz an das Modell der »dissonant heritage« an, das Mitte der 1990er Jahre von John E. Tunbridge und Gregory Ashworth in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt wurde.4 Die beiden Autoren adaptierten aus der Musiktheorie den Begriff der Dissonanz, um auf erinnerungskulturelle Spannungen und Konflikte hinzuweisen, die aus konkurrierenden Deutungen und Aneignungen der Vergangenheit durch unterschiedliche Akteure resultieren. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten entwickelten sich mit Blick auf die NS-Zeit solche Deutungskontroversen in der Mitte der Gesellschaft. Dort spielen sie sich heute nur noch selten ab. Offizielle Gedenkveranstaltungen werden meist parteiübergreifend von einem breiten politisch-gesellschaftlichen Spektrum getragen. Gerade vor Ort in den Kommunen bedeutet das aber nicht, dass man nicht trotzdem über erinnerungskulturelle Priorisierungen und die damit oft verbundenen Ansprüche auf Verortung im städtischen Raum streiten oder zumindest debattieren kann. Dabei geht es nicht nur um die unmittelbare Sicht auf Vergangenes, sondern immer auch mittelbar um die Auseinandersetzungen mit historisch überlieferter oder sedimentierter Erinnerung, die schon da ist und ständig neu angeeignet und auf ihre Aktualitätspotenziale hin überprüft werden muss.

Die Erinnerungskultur ist dynamisch und kein statisches, vor allem kein apolitisches Gebilde, wie der Begriff indirekt suggerieren mag. Auch ist es analytisch präziser, im Plural von Erinnerungskulturen zu sprechen, die von unterschiedlichen sozialen Gruppen getragen werden. Manchmal agieren sie – darauf weist Christoph Cornelißen hin – »in Übereinstimmung miteinander, teilweise aber auch in einem konfliktreichen Gegeneinander«.5 In der pluralen Migrationsgesellschaft kursiert eine Vielzahl von Geschichtserzählungen, die sich zum Teil widersprechen, um Deutungshoheit konkurrieren und sich zudem im Wandel befinden bzw. immer wieder neu ausgehandelt werden. Konsens herrscht nur an der Oberfläche; unter der Oberfläche werden schnell Interessenskonflikte und kontroverse Deutungen sichtbar. Der vorliegende Tagungsband legt hierauf seinen Fokus.

Malte Thießen kann in seinem Beitrag aufzeigen, dass es bei der Frage, wie und was erinnert wird, starke Pfadabhängigkeiten gibt. Eine Längsschnittanalyse kann zum Beispiel die Grundierung eines Erinnerungsnarrativs offenlegen. Thießen weist auf das Potenzial regionaler und stadtgeschichtlicher Untersuchungen zum Verständnis pluraler und dissonanter Erinnerungen hin, sieht hier aber noch beachtliche Forschungslücken. Neu und spannend ist vor allem Thießens Sicht auf die Kontinuitäten, die die »Volksgemeinschaft« der NS-Zeit mit der »Schicksalsgemeinschaft« der frühen Nachkriegszeit verbinden. Das noch lange gültige Selbstverständnis der Deutschen als Opfer des Krieges verhinderte allerdings nicht, dass früh auch schon der politisch und rassisch Verfolgten gedacht wurde. Diese Erinnerung formiert sich zuerst vor Ort in den Städten und sie etabliert sich gleichzeitig und parallel zum Gedenken an die Leidtragenden von Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg. Bis heute konstatiert Thießen eine »städtische Diversität« der Erinnerungs(-sub-)kulturen, die von einer großen »Vielfalt an Akteuren« getragen wird.

Diesen Befund unterstreicht auch Robin Richterich. Am Beispiel des öffentlichen Gedenkens an die Verfolgung und Ermordung der Juden in Duisburg zeigt er auf, dass die lokalen Akteure des Erinnerns oft von sehr eigenen Prägungen und Motiven geleitet waren; im Zusammenwirken konnten dabei durchaus Spannungen und Konflikte entstehen. Das frühe Gedenken an »die Opfer des Faschismus« durch den Duisburger Stadtverband der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) widmete den verfolgten Jüdinnen und Juden kaum Aufmerksamkeit; sie interessierten – wenn überhaupt – nur, wenn sie gleichzeitig Opfer politischer Verfolgung waren. Die in den1960er Jahren einsetzende wissenschaftliche Aufarbeitung der Judenverfolgung und die zeitgleichen Bemühungen um ein zentrales Mahnmal wurden vor allem von Akteuren vorangetrieben, die selbst mehr oder weniger stark in das NS-Unrecht verstrickt waren. Sowohl der damalige Stadtarchivar Günter von Roden als auch der Initiator der »Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft Niederrhein« Heinz Kremers verbanden mit ihren Initiativen die Hoffnung auf künftige Versöhnung und damit indirekt auch auf eine Wiedergutmachung der eigenen Schuld. Die marginale Einbindung von jüdischen Überlebenden und Nachfahren führte in der Duisburger Erinnerungskultur zu opferzentrierten und pauschalisierenden Darstellungen, in denen sich gerade die Betroffenen nicht immer angemessen repräsentiert sehen.

Fundamentalkritik an einer erinnerungskulturellen Verantwortung, die aus dem Wissen um die seinerzeit breite Mittäterschaft erwächst, formiert sich seit jeher und jüngst wieder deutlich sichtbarer am rechten Rand der Gesellschaft. Mit dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen sind auch die Angriffe aus dem Spektrum der extremen Rechten auf die etablierte Erinnerungskultur und ihre Institutionen wieder sichtbarer geworden. Welche Strategien und Narrative die extreme Reche mit ihrer Geschichtspolitik verfolgt, zeigt Lenard Suermann in seinem Beitrag. Er weist darauf hin, dass die extreme Rechte die etablierten Formen der Erinnerungskultur nicht einfach nur ablehnt, sondern vielmehr aufgreift, indem sie »teils subtile, teils offen provokative Gegenerzählungen sowie Techniken zur De-Thematisierung nationalsozialistischer Verbrechen« entwickelt. Greifbar werden diese Techniken unter anderem in der Beschreibung des Luftkriegs als »Bombenholocaust« oder in der Parallelisierung von Corona-Gegnern und Opfern der Shoa. Dissonante Bezugnahmen auf Motive der etablierten Erinnerungskultur werden hier bewusst genutzt, um historische und aktuelle Entwicklungen und Ereignisse mit einem besonderen Aufmerksamkeitsmarker zu versehen und sie gleichzeitig moralisch als Opfergeschichten in besonderer Weise aufzuladen.

Im Unterschied zur extremen Rechten, die von sich aus aktiv Dissonanzen und Konflikte durch Umkehrung von Bedeutungszuschreibungen schürt, lassen sich im öffentlichen Raum auch erinnerungskulturelle Momente beobachten, die auf den ersten Blick keinen offensichtlichen Konflikt aufwerfen, bei näherer Betrachtung aber durchaus Potenzial für ein »Dissonantes Erinnern« entwickeln. Es gibt zum Beispiel Gedenkorte, die zwar an den Holocaust erinnern (sollen), aber durch ihre Konzeption, Gestaltung und ihren Standort zu einer Entwirklichung und Entrückung des Nationalsozialismus und der Shoa beitragen (können). Solche Orte untersucht Lea Fink in ihrem Beitrag. Sie kontrastiert bekannte Holocaust-Gedenkorte in Berlin und Freiburg mit dem Verständnis von Geschichte und Erinnerung von Paul Celan, Claude Lanzmann und Walter Benjamin und zeigt, wie ihre Entstehung auf »fragwürdigen Geschichtskonzeptionen und problematischen erinnerungspolitischen Entscheidungen beruhen«.

Der Blick über den bundesdeutschen Tellerrand hinweg macht noch einmal deutlich, dass »Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und den Holocaust [auch] in Europa trotz unübersehbarer Konsonanzen dissonant geblieben« sind, wie Arnd Bauerkämper in seinem Beitrag feststellt. In vielen ehemals von Deutschland besetzten Ländern bildeten sich nach 1945 heroische Widerstands- und Opfermythen als nationale »Basisnarrative«. Erfahrungen von Konformität und Kollaboration blieben im kulturellen Gedächtnis lange Zeit ausgeblendet oder zumindest unterbelichtet: Das galt in besonderem Maße für die »politisch gelenkten und überwachten Öffentlichkeiten in den kommunistischen Diktaturen Ostmittel- und Südosteuropas«. Erst nach dem Umbruch von 1989/90 und damit deutlich später als zum Beispiel in der Bundesrepublik setzte hier eine »Konfliktualisierung« des kulturellen Gedächtnisses ein, die auch Raum für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld und Involviertheit bot. Für die jüngere Vergangenheit konstatiert Bauerkämper, dass sich in Europa die Erinnerungskulturen unter Berufung auf einen universalistischen Werterahmen (vor allem Menschenrechte) stärker aufeinander zubewegen und die Konsonanzen zunehmen. Dissonanzen bleiben trotzdem bestehen, wie beispielhaft Debatten über Restitutionsansprüche dokumentieren und machen sich bis in die Gegenwart vor allem in einem »Wechselverhältnis von partikularen (vor allem nationalen) und universalistischen Erinnerungsbezügen« bemerkbar.

Der vorliegende Band schließt mit einem Blick auf die Museen und Gedenkstätten. Sie sind öffentliche Orte, an denen Erinnerungskultur ständig aktualisiert und neu verhandelt wird. Dissonante Perspektiven ergeben sich vor allem aus der Pluralisierung in der modernen postmigrantischen Gesellschaft. Wie Cornelia Chmiel in Ihrem Beitrag über das Verbundprojekt »Geschichte in Bewegung« schildert, führt diese Pluralisierung dazu, dass künftig die Geschichtserzählung in Museen und Gedenkstäten diverser, globaler und leichter zugänglich dargestellt werden müssen. Gefordert wird unter anderem eine »konsequente Multiperspektivität entlang sozialer Differenzierungen wie race, class und gender«, eine Relativierung der klassischen Nationalgeschichten und der Abbau von Zugangsbarrieren und – damit verbunden – eine Stärkung der Vermittlungsarbeit. Dieses Aufbrechen klassischer Muster in inhaltlicher wie methodischer Hinsicht verlangt auch eine organisatorische Öffnung von Gedenkstätten und Museen für neues Personal, das die »gesellschaftliche Diversität« repräsentiert. In die gleiche Richtung argumentieren auch Jennifer Farber und Jens Hecker. Beide stellen in ihrem Beitrag den Arbeitskreis Räume Öffnen vor, in dem sich seit 2016 pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Gedenkstätten zusammengefunden haben »mit dem Ziel[,] diskriminierungskritische Ansätze in der Gedenkstättenarbeit voranzubringen.« Auch wenn der Arbeitskreis an etablierte Zielsetzungen der Gedenkstättenarbeit anknüpft, setzen seine zugespitzten Forderungen nach Öffnung demokratischer, partizipativer und antifaschistischer Räume in der Gedenkstättenarbeit neue Akzente. Die Forderung des Arbeitskreises, strukturelle Ausschlüsse sichtbar zu machen und zu bekämpfen und in diesem Zusammenhang »Diskriminierung als gesellschaftliche Realität anzuerkennen, in die [auch] unsere Institutionen verstrickt sind«, bedeutet eine bisweilen durchaus »dissonante« Herausforderung für das tradierte Selbstverständnis der Gedenkstätten als Orte der Gleichberechtigung und Demokratie. Indem Farber und Hecker auf oft prekäre Arbeitsverhältnisse von pädagogischen Mitarbeiter*innen hinweisen, machen sie einen Konflikt zwischen Anspruch und Praxis der Gedenkstättenarbeit deutlich, der nur im Modell einer »gleichberechtigte Zusammenarbeit« und »Wertschätzung der Vielfältigkeit aller« überwunden werden kann.

Der vorliegende Band versucht thematisch breit gefächert den Blick auf Spannungen in der Erinnerungskultur zu lenken. Diese Spannungen sind kein Defizit der Erinnerungskultur; sie stellen die Erfolgsgeschichte nicht infrage. Vielmehr kann das Aufzeigen von Dissonanzen in produktiver Weise das Erinnern und Gedenken als Teil einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft weiterentwickeln.

Die Herausgeber danken allen Autorinnen und Autoren, die unter den nicht immer einfachen Bedingungen der Pandemie an der Tagung im Oktober 2020 teilgenommen und ihre Beiträge für diesen Band bereitgestellt haben. Einen besonderen Dank verdienen die Offenheit und Geduld, mit der die Autor*innen und Autoren die Redaktion dieses Bandes begleitet haben. Unser Dank gilt auch und nicht zuletzt dem Campus-Verlag, der die Drucklegung des Bandes mit wichtigen und konstruktiven Impulsen und darüber hinaus mit großem Engagement und Geduld unterstützt hat.

Krieg im Gedächtnis der Städte – Warum Dissonanzen zum guten Ton der Erinnerungskultur gehören

Malte Thießen

Dissonanzen sind leicht zu hören. Sie stören die Harmonie und sorgen für Unstimmigkeiten, auch im eigentlichen Wortsinne: als Widerspruch, als Spannung oder als Konflikt zwischen Menschen und Gruppen. Insofern gehören Dissonanzen seit jeher zum guten Ton der Erinnerungskultur. Erinnerungen sind in einem hohen Maße identitätsrelevant. Deshalb wurden und werden sie verhandelt, schärfen sie politische Argumente und öffentliche Auseinandersetzungen.

Mitunter dienen Erinnerungen sogar als Waffe, um Kriege zu begründen. Wladimir Putins Mixtur aus Geschichts- und Geopolitik im Ukrainekrieg 2022/23 bietet ein besonders aktuelles Beispiel für die unheilvolle Tradition eines erinnerungskulturellen Bellizismus. Der russische Präsident sprach der Ukraine mit historischen Bezügen nicht nur ihre Eigenständigkeit ab. Darüber hinaus schrieb er die »Spezialoperationen« in die Tradition des »Großen Vaterländischen Krieges« ein, kämpfe Russland auch im 21. Jahrhundert für die »Befreiung« und »Entnazifizierung« der Ukraine. In diesem Fall nahmen die Dissonanzen der Erinnerungskultur geradezu globale Ausmaße an. Insbesondere in der Ukraine, in Europa und in den USA brachte man die lange Nationalgeschichte der Ukraine als Gegenerinnerung in Stellung. Zudem suchten westeuropäische Politiker*innen und Publizist*innen fieberhaft nach Zeitzeug*innen, die mit ihren Erinnerungen Putins Kritik an der Osterweiterung der NATO abwehren sollten.

Dissonanzen der Erinnerungskultur werden indes nicht erst im Krieg hörbar. Insbesondere in Deutschland war die Konfliktträchtigkeit von Erinnerung auch in Friedenszeiten stets mit Händen zu greifen. Lange Zeit stach der Nationalsozialismus als dissonanter Erinnerungsort besonders hervor. In der Bundesrepublik ebenso wie in der DDR stritt man von Anfang an um die richtige Erinnerung an das »Dritte Reich« und an den Zweiten Weltkrieg. Dieser Streit prägte zunächst deutsch-deutsche Gründungsmythen, später die politische und letztlich sogar die Popkultur. Diese Dauer der Dissonanz mag erstaunen. Ist die Geschichte des Nationalsozialismus nicht irgendwann auserzählt und genug gedeutet? Woher rühren die Dissonanzen selbst bei Themen, die schon unzählige Male diskutiert und gedeutet wurden? Warum geriet beispielsweise der Jahrestag des Kriegsendes, der 8. Mai 1945, in Europa immer wieder zu einem Zankapfel, an dem sich ganze Nationen entzweiten?6 Die Antwort auf diese Fragen ist trivial und schon oft formuliert worden: Erinnerungen drehen sich nicht um Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Die Dissonanzen der Erinnerung erklären sich weniger aus der Konfliktträchtigkeit von Vergangenheit, sondern aus Konfliktlagen und Bedürfnissen der Gegenwart. Erinnerung ist umstritten, weil es in dem Streit um uns selbst und um unsere Sicht auf die Welt geht. Dissonanzen sind damit der beste Beweis, dass Erinnerungen uns alle angehen.

1.Hegemoniale Harmonie: Erinnerungskultur als Problem

Dieser Beweis bereitet heute Sorgen. Denn die Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus ist zumindest an der Oberfläche harmonisch geworden. Seit vielen Jahren mahnen insbesondere Gedenkstätten und Vertreter*innen der Geschichtsdidaktik, dass sich die Erinnerung an den Nationalsozialismus in wohlfeile Konsensformeln auflöse. Zwar ist Erinnerungskultur seit jeher ein normatives Koordinatensystem gewesen. Dank ihrer jahrzehntelangen Tradierung ist die Erinnerung an die NS-Zeit heute allerdings besonders vorhersehbar, in moralischen Narrativen tradiert oder schlicht und einfach: oft langweilig. Jens-Christian Wagner, der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, brachte diese Beobachtung vor einigen Jahren treffend auf den Punkt. Seiner Meinung nach verwandle sich Erinnerungskultur in eine »Wohlfühloase«, weil wir uns beim Nationalsozialismus sehr schnell sehr einig seien: »Wir erleben in Deutschland in den letzten 20 Jahren eine Art Wohlfühl-Erinnerungskultur: Wir trauern und identifizieren uns mit den Opfern, bekennen, dass das 20. Jahrhundert ein ganz schreckliches Jahrhundert der Massenmorde gewesen ist – und fühlen uns dann wohl, dass es heute nicht mehr so ist.«7 Der Publizist Stefan Reinecke ging Ende 2020 in einem Beitrag für die »taz« noch einen Schritt weiter. Er konstatierte, dass sich heute »mit NS-Geschichte keine diskursiven Distinktionsgewinne mehr erwirtschaften lassen. Die NS-Zeit […] gilt 2020 als zu Ende erzählt.«8 Die »Alternative für Deutschland« (AfD) und ihre Versuche, den Nationalsozialismus zum »Vogelschiss« umzudeuten, haben den Trend zur Harmonie wohl noch bestärkt. Denn gegen die AfD hat sich eine breite Allianz an Parteien und Gruppierungen zusammengeschlossen, die vor dem Aufstieg der Rechtspopulisten kaum denkbar gewesen wäre. So sehr diese Allianz als Abgrenzung gegen rechts zu begrüßen ist, so sehr befördert auch sie eine allzu harmonische Erinnerung, die wenig Anlass für intensive Debatten oder Impulse für neue Perspektiven auf den Nationalsozialismus bietet.

Die Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus ist offenbar Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Sie ist mittlerweile sowohl im Geschichtsunterricht als auch in der politischen Kultur fest verankert. Die Gedenkstättenlandschaft kann sich ebenso sehen lassen wie zahllose Angebote und Einrichtungen zur historisch-politischen Bildung. Von der Hitze vergangener Auseinandersetzungen ist heute jedoch nur noch wenig zu spüren. Der Nationalsozialismus ist normal geworden nicht in dem Sinne, dass die einmaligen Verbrechen jemals »normal« erscheinen könnten. Aber die Auseinandersetzung mit dem Thema hat an Schärfe und Intensität verloren. Sie ist bequem, konsensfähig und konfliktfrei. Obgleich das Interesse gerade bei den Jüngeren ungebrochen ist, verliert die Erinnerung an den Nationalsozialismus allmählich an Aufmerksamkeit. Während bis in die 2000er Jahre »Erinnerung als Erregung« und damit als zuverlässige Stichwortgeberin für gesellschaftliche Grundsatzdebatten galt,9 gehören die großen Auseinandersetzungen um den Nationalsozialismus mittlerweile der Vergangenheit an. Selbst die 2020 von Achille Mbembe provozierte Debatte um das Verhältnis zwischen Kolonialismus und Holocaust bestätigt diesen Befund noch.10 Zum großen Aufreger brachte es nicht mehr der Nationalsozialismus, dessen zentrale Stellung in der Erinnerungskultur keine*r der Diskutant*innen infrage stellte. Für Aufregung sorgte allenfalls der Versuch, andere Verbrechen wie jene der Kolonialzeit auf den Holocaust zu beziehen und die etablierte Erinnerungskultur damit um einige Narrative und Akteure zu erweitern.

Auch das mit großen Erwartungen begonnene Gedenkjahr 2020 machte den schleichenden Bedeutungsverlust des Nationalsozialismus sichtbar. Im Nachhinein konnte man den Eindruck gewinnen, dass die großen Events zum 75. Jahrestag des Kriegsendes der Coronapandemie zum Opfer gefallen seien. Doch bereits beim großen europäischen Referenzdatum von 2020, beim »Holocaust-Gedenktag« zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, fiel die Aufmerksamkeit gegenüber früheren Gedenktagen auch ohne Corona zurück. Ein entsprechendes Stimmungsbild zeichnete in diesem Zusammenhang das Unternehmen Policy Matters für »Die Zeit«. Mitte Januar 2020, also immerhin unmittelbar vor dem Holocaust-Gedenktag, hatte das Unternehmen 1.044 Menschen die erinnerungskulturelle Gretchenfrage gestellt und Aussagen zu folgender These erbeten: »75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollten wir Deutschen einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen.« Eine knappe Mehrheit aller Befragten (53 %) stimmten dieser Frage »voll und ganz« oder »eher zu«, nur ein Fünftel (18 %) aller Befragten stimmten »gar nicht zu«.11 Dass unter den AfD-Anhängern ganze 80 Prozent einen Schlussstrich ziehen mochten, verwundert kaum. Alexander Gaulands berüchtigte »Vogelschiss«-Rede war eben kein rhetorischer Ausrutscher, sondern eine bewusste Bagatellisierung der NS-Vergangenheit mit Blick auf die eigene Klientel. Erstaunlicher ist dagegen, dass der Schlussstrich auch unter Anhänger*innen anderer Parteien großen Zuspruch fand: Gut jede*r zweite CDU-, SPD- und FDP-Anhänger*in (55 %, 50 % sowie 51 %) stimmten dem Schlussstrich »voll und ganz« oder »eher zu«. Von den Anhänger*innen der Linken und Grünen bejahten einen Schlussstrich »ganz« oder »eher« immerhin noch jeweils knapp ein Drittel (31 % und 33 %).12 Solche Umfrageergebnisse sind mit Vorsicht zu genießen, zumal eine zweite Befragung im selben Jahr eine etwas beruhigendere Bilanz zog. So konstatierte das Meinungsforschungsinstitut infratest dimap zum selben Zeitpunkt, dass »nur« 37 Prozent der Deutschen einen »Schlussstrich« ziehen wollten. Im Gesamtüberblick schlussfolgerte infratest allerdings, dass die Bereitschaft zum Schlussstrich seit mehreren Jahren kontinuierlich zunehme.13

Vor wenigen Jahren hätten solche Umfrageergebnisse wahrscheinlich noch für einen Aufschrei gesorgt. Anfang 2020 gingen die Ergebnisse hingegen im medialen Grundrauschen des Blätterwaldes weitgehend unter. Das dürfte auch mit dem zunächst paradox scheinenden Befund der Umfragen zusammenhängen, dass die aktuelle Affinität zum Schlussstrich sowohl mit einem relativ guten Wissensstand als auch mit einem anhaltenden Interesse auch an der Zeit des Nationalsozialismus einhergehe. Die wachsende Bereitschaft zum Schlussstrich scheint mir daher weniger für eine verbreitete Verdrängungsneigung zu stehen, wie sie noch bis in die 1980er Jahre in Westdeutschland vorherrschte. Vielmehr sehe ich in den Umfrageergebnissen einen Trend zur »Normalisierung« der NS-Zeit in dem Sinne, dass ein Großteil der Bevölkerung eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zwar durchaus für sinnvoll hält, allerdings die dominierende Stellung der NS-Zeit in der Erinnerungskultur infrage stellt.

So oder so unterstreicht die fehlende mediale Resonanz auf die Umfragen den Ausgangsbefund meines Aufsatzes: Die Zeit großer Auseinandersetzungen um das »Dritte Reich« ist vorbei, die Erinnerung an den Nationalsozialismus ist konfliktfreier, harmonischer und damit unwichtiger geworden. Nicht nur ist das »Holocaust-Mahnmal« im Herzen Berlins mittlerweile tatsächlich ein Ort, »an den man gerne geht«.14 Darüber hinaus mutierte die Aufarbeitung des Nationalsozialismus mittlerweile zum »Exportschlager«, mit dem das positive Selbstbild der Deutschen im 21. Jahrhundert seine festen Konturen gewann. Die erinnerungskulturelle Harmonie fußt somit auf der verbreiteten Selbstgewissheit, Vorbild für »Vergangenheitsbewältigung« zu sein. Der Althistoriker Christian Meier brachte dieses Problem bereits anlässlich des 70. Jahrestag des Kriegsendes 2015 treffend auf den Punkt: »Wir sind Erinnerungsweltmeister.«15

2.Städtische Gedächtnisse als Forschungsgegenstand und Vermittlungsangebot

Der Befund einer hegemonialen Harmonie bildet den Ausgangspunkt für meinen Beitrag, der den Potenzialen städtischer Gedächtnisse sowohl für neue Erinnerungsforschungen als auch für die Vermittlungsarbeit und damit für neue Wege in die Erinnerungskultur nachspürt. Gegenüber dem nationalen Gedächtnis sind in städtischen Gedächtnissen Dissonanzen nach wie vor deutlich hörbar, und mehr noch: Kleinere Erinnerungsräume wie Städte folgen spezifischen Strukturen und anderen Logiken. Stark vereinfacht lautet meine Ausgangsthese, dass es »vor Ort« in erinnerungskultureller Hinsicht schneller und häufiger knallt. In den Städten gehen Erinnerungen eher ans Eingemachte, sie betreffen unseren sozialen Nahbereich und unsere alltägliche Lebenswelt.

Ein erstes Potenzial städtischer Gedächtnisse sehe ich demnach in der Spezifik kleiner Erinnerungsräume, an denen Dissonanzen der Erinnerung besonders gut greifbar werden. Obwohl die Erinnerungsforschung seit Jahrzehnten ein gut bestelltes Forschungsfeld beackert, klaffen »vor Ort« immer noch erstaunliche Lücken. Das räumlich Naheliegende liegt der Forschung relativ fern. Zwar sind in den vergangenen Jahren eine Fülle an stadt- und regionalgeschichtlichen Studien zur Erinnerung an die NS-Zeit erschienen. Ein Großteil dieser Studien schöpft das Potenzial ihrer Untersuchungsorte indes kaum aus. Städte-Gedächtnisse spiegeln nämlich nicht nur die große, also die nationale Erinnerungskultur, sozusagen »im Kleinen« wider. Der Blick auf Städte eröffnet vielmehr spezifische Erinnerungskulturen mit spezifischen Rahmungen und Tradierungsmöglichkeiten. Konzeptionelle und methodische Überlegungen zur Spezifik kleiner Erinnerungsräume stehen nach wie vor am Anfang, obgleich Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaftler*innen wie Aleida Assmann, Kirstin Buchinger, Paul B. Jaskot, Gavriel D. Rosenfeld und Harald Schmid bereits vor Jahren auf Spezifika städtischer Erinnerungskulturen verwiesen haben.16

Diese Vorarbeiten greife ich auf, um drei Forschungsperspektiven nachzuzeichnen, mit denen sich zugleich mein Aufsatz gliedert. Zunächst geht es um Pfadabhängigkeiten von Erinnerungen, die sich in städtischer Perspektive besonders gut nachweisen lassen und die zugleich eine Erklärung für erstaunliche Erinnerungstraditionen bis heute bieten (1.). Anschließend steht der städtische Raum im Fokus, der in Form von Spuren und Topografien spezifische Untersuchungsebenen und -felder eröffnet. Städtische Gedächtnisse erweitern damit unseren Blick sowohl für die Materialität als auch für die »dritte Dimension« von Erinnerungskulturen (2.). Abschließend zeige ich an den Parallelerinnerungen städtischer Gesellschaften auf, welche Rolle Diversität und Distanz als Kategorien für die Erinnerungsforschung spielen könnten und sollten (3.).

Solche neuen Forschungsansätze geben zugleich der Vermittlungsarbeit von Städten und Gedenkstätten Impulse. Damit wäre das zweite Potenzial städtischer Gedächtnisse umschrieben: Kleinräumige Erinnerungen machen Dissonanz zum Ausgangspunkt und immunisieren uns gegen eine allzu harmonische Erinnerungskultur. Eine dissonante Erinnerungskultur stellt unterschiedliche Kontexte und Bedürfnisse für Erinnerungen sowie Kontingenzerfahrungen, Kohäsionsversuche und Konflikte zwischen Akteuren in den Fokus. Eine dissonante Erinnerungskultur trägt damit zu einer »produktiven Verunsicherung« bei, die als Vermittlungskonzept in Gedenkstätten schon lange diskutiert wird.17 Dissonante Erinnerungskultur fordert zur Dekonstruktion von Erinnerungen sowie zur Reflexion des eigenen Sehepunkts heraus und regt somit ein reflexives Geschichtsbewusstsein an.18 Sie erfordert und befördert damit ein Bewusstsein für die eigene Beteiligung an der Strukturierung von Erinnerungen als Sinnkonstruktion und als ein Sich-Einschreiben in soziale Gedächtnisse, ja als eine Form gesellschaftlicher Teilhabe und geschichtspolitischer Auseinandersetzungen.

Diese Potenziale für die Vermittlungsarbeit werde ich in meinem Beitrag allenfalls anreißen. Auch wenn mein Fokus stärker auf den Potenzialen für die Erinnerungsforschung liegt, halte ich das Zusammenspiel von Forschung und Vermittlung für eine dissonante Erinnerungskultur für bedeutsam. Sie ist ja nicht nur ein Konzept für eine offene, spannungsreiche und damit spannende Auseinandersetzung mit Erinnerungen. Sie ist ebenso ein Plädoyer, dass auch wir als Forscher*innen unsere eigenen Sehepunkte und Narrative dekonstruieren sollten. Wir sind ja nicht nur Beobachtende bzw. Produzent*innen von Erinnerungen und Erinnerungskultur, sondern ebenso ihr Produkt und damit genauso ein Untersuchungsgegenstand wie jene städtischen Gedächtnisse, um die es im Folgenden gehen soll.

3.Überlieferungs-Schleusen: Ursprünge und Pfadabhängigkeiten städtischer Erinnerung

Am Anfang war Erinnerung. Viele Ereignisse, an die wir heute erinnern, sind bereits zeitgenössisch erinnert worden. Die »Machtergreifung«, die Boykotte »jüdischer« Geschäfte, die Pogrome und Deportationen, die Bombenangriffe, die verschiedenen Kriegsenden »vor Ort« und vieles mehr wurden bereits während des Geschehens in Erinnerungen überführt. Augenzeugen, lokale Eliten, Presse und Parteidienststellen oder Geflohene im Exil transformierten das Ereignis in Erinnerung. Diese Beobachtung ist nicht trivial. Denn die frühen Transformationen vom Ereignis in Erinnerung sind zwar Voraussetzung jeglicher Erinnerungskultur nach 1945. Sie werden in der Forschung allerdings nach wie vor kaum reflektiert, geschweige denn auf Gedenkveranstaltungen zum Thema gemacht. Ich möchte diesen Zusammenhang an zwei Beispielen konkretisieren, an städtischen Erinnerungen an das Kriegsende sowie an den alliierten Bombenkrieg.

Im Gegensatz zur landläufigen Meinung war der Bombenkrieg nie ein Tabu, im Gegenteil: Kein Ereignis wurde in deutschen Städten intensiver erinnert als der »Untergang«, der »Feuersturm« und die »Katastrophe«, wie der Bombenkrieg in Büchern, Broschüren, Zeitungsserien und Gedenkfeiern seit den 1950er Jahren umschrieben wurde. Bereits diese drei Begriffe machen das Ausgangsproblem deutlich. Denn sie stammen alle aus der NS-Zeit, meist aus Berichten der Partei oder Presse, die den Luftkrieg den »Volksgenossen« erklären bzw. verklären wollten. Der »Untergang« wurde von ihnen umgedeutet in einen strahlenden Neuanfang: Nun endlich könne man eine neue Gesellschaft aufbauen, gewissermaßen ganz ohne Altlasten. Den schweren Luftangriffen auf Hamburg während der »Operation Gomorrha« Ende Juli 1943 konnte der Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann daher durchaus etwas Positives abgewinnen. Hamburg, so versprach er in seinem Jahresrückblick, werde »schöner denn je einmal auferstehen«.19

Auch die »Katastrophe« und der »Feuersturm« waren Floskeln der Propaganda: Sie galten in der Presse als »Schmiedefeuer«, das die »Volksgemeinschaft« erst richtig zusammengeschweißt habe. Auch dazu noch ein Beispiel aus der »Operation Gomorrha«, nach der die »Hamburger Zeitung« die Bombennächte zur großen Gemeinschaftsstiftung verklärte. Nach den Angriffen, so behauptete die Zeitung, habe sich »eine Geschlossenheit und Einmütigkeit herausgebildet, die man früher niemals für möglich gehalten haben würde. Ein Geist und ein Wollen beherrschen jetzt wirklich den Alltag. Kennzeichnend dafür sind vielleicht am ehesten die Abende in und vor den Luftschutzbunkern. […] Vor diesen Bunkern entwickelt sich dann in tiefer Dunkelheit eine Art Dorfplatzleben. Hier sitzen Nachbarn zusammen, um den Tag zu besprechen, dort treffen sich entfernte Bekannte, die wieder zueinander gefunden haben, drüben sitzt ein Ehepaar, das in der Notzeit fester denn je die Bindung aneinander empfindet. […] Herzbewegend aber ist die mutige Stimmung einer Gruppe von Männern und Frauen, die unter einem breitästigen Baum zusammengefunden hat, um gemeinsam zu singen. Und was singen sie? Schöne alte Volkslieder, und es geschieht das Wunder, daß die seelische Spannung nachlässt unter der Wirkung der schlichten Melodien.«20

In solchen Verwandlungen der Bunker- in eine idyllische Dorfgemeinschaft manifestierte sich eine zeitgenössische Erinnerungskultur, die den Tenor für die kommenden Jahre und Jahrzehnte vorgab. Die Luftangriffe avancierten schon im »Dritten Reich« zu kollektivstiftenden Erinnerungen. Erst das gemeinsam erlittene Schicksal habe die gesamte Bevölkerung geeint, sodass die »Hamburger noch stärker als früher eine wahre Gemeinschaft geworden sind«.21 Ganz ähnliche Vorstellungen finden sich in privaten Erinnerungen wie Zeitzeugenberichten, die gern vom tapferen Zusammenhalt und Aufbauwillen schwärmten. Wenn man sich den Entstehungskontext dieser Zeitzeugenberichte ansieht, überrascht dieser kämpferische Tenor nicht. Schon in den rauchenden Trümmern versuchte die Partei sich als Helfer in der Not zu inszenieren. Sie sammelte Stimmen aus der Bevölkerung, die auch für Imagekampagnen dienten und mitunter veröffentlicht wurden.

Die Beharrungskraft früher Erinnerungen lässt sich in Ost- und Westdeutschland nachweisen, wo die »Katastrophe« seit den 1950er Jahren zum wichtigsten Bezugspunkt städtischer Gedächtnisse geriet. Ein Beispiel bietet der Bericht »aus den Tagen des Luftkrieges und des Wiederaufbaues«, der 1960 den städtischen Überlebenswillen mit markigen Worten feierte: »Ein starker Wille zum Leben und zur Wiederherstellung zivilisierter Lebensbedingungen kennzeichnen die harten Jahre. […] Wie stark ist doch die Wurzel, die an die Heimat bindet – und wie viel Kräfte vermag sie zu wecken.«22 Die hier zitierte Begeisterung über den Durchhaltewillen in den zerstörten Städten entstammt einem Vorwort von Peter Paul Nahm, Staatssekretär von Bundesminister Theodor Oberländer, aus einem Band der »Dokumente deutscher Kriegsschäden«. Die mehrbändige Buchreihe des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte veröffentlichte seit Mitte der 1950er Jahre umfangreiche Erfahrungsberichte, Erinnerungen, Fotos und Statistiken aus vom Bombenkrieg zerstörten Städten. In zahlreichen Wiederveröffentlichungen fanden diese Dokumente noch nach Jahrzehnten Verbreitung,23 obgleich sie mit vollen Händen die frühen Erinnerungen aus der NS-Zeit aufgriffen. Gleich mehrere Neuauflagen, unter anderem im populären dtv-Verlag, erfuhr beispielsweise der Bericht des Polizeipräsidenten und SS-Brigadeführers Hans Julius Kehrl über die Luftangriffe auf Hamburg.24 Kehrls Bericht steht pars pro toto für die Transformation zeitgenössischer Deutungen in die Erinnerungskulturen westdeutscher Städte, die den Durchhaltewillen seit den 1950er Jahren fortschrieben. In den Bombennächten, so lautete der Tenor dieser jungen Erinnerungskultur, habe sich eine Schicksalsgemeinschaft zusammengefunden, die in den Trümmern ihrer Städte mit Improvisationsgeschick und ungebrochenem Lebenswillen den Grundstein für das anschließende »Wirtschaftswunder« gelegt habe.