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Xavier "Scarecrow" Wallace, ein MMA-Kämpfer jenseits der Dreißig, steht vor dem Kampf seines Lebens. Allerdings kann er nicht länger leugnen, dass er seinen Kampf gegen die chronisch-traumatische Enzephalopathie, bekannt als Boxerdemenz, allmählich verliert. Im Nebel von Gedächtnisverlust, Migräne und Paranoia tut Xavier alles, um in Form zu bleiben, als ein Anruf kommt, der ihn wieder in den Ring schickt. Er trainiert in einem Fitnessstudio Jugendliche und wohnt mietfrei im Haus seines weißen Vaters, den er aufgrund einer fortschreitenden Alzheimer-Erkrankung in ein Pflegeheim einweisen musste. Die Demenz hat seinen latenten Rassismus offenbart, und Xavier erfährt endlich, warum seine schwarze Mutter die Familie verließ, als er noch klein war.
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Seitenzahl: 416
Veröffentlichungsjahr: 2025
John Vercher
Aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke Herausgegeben von Wolfgang Franßen
Polar Verlag
Originaltitel: After The Lights Go Out
Copyright: © 2022 by John Vercher
First published by Pushkin Press
Alle Rechte vorbehalten
Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2025
Aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke
Mit einem Nachwort von Lore Kleinert © 2025
© 2025 Polar Verlag e.K.
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Lektorat: Tobias Schumacher-Hernández
Korrektorat: Andreas März
Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta Kuhlmann
Coverfoto: © Sunnydays / Adobe Stock
Autorenfoto: © Rachel Kathryn
Satz/Layout: Martina Stolzmann
Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign
Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Leck, Deutschland
ISBN: 978-3-910918-30-6
eISBN: 978-3-910918-31-3
My Mind Playing Tricks on Me
Grand Champ
Me, Myself, And I
Punks Jump Up to Get Beat Down
So Wat Cha Sayin'
Damien
Papa'z Song
It's a Fight
Sound of Da Police
Breathe Easy
Here We Go Again
Things Fall Apart
Dear Mama
I Ain't Mad At Cha
Slippin'
Don't Sweat the Technique
I Against I
One More Road to Cross
Kick In The Door
Ante Up
Everyday Struggle
Danksagung
»Ich neige dazu, ein Beobachter zu sein. Ich liebe es, den Menschen beim Sprechen zuzuhören.« Ein Nachwort von Lore Kleinert
Für Mom und Dad
Wasser hat ein perfektes Gedächtnis, es will immer nur dorthin zurück, wo es früher einmal war.
Toni Morrison
Nichts hält etwas intensiver in der Erinnerung fest als der Wunsch, es zu vergessen.
Michel de Montaigne
Letztes Jahr hatte er seine Einkäufe zwei Tage im Kofferraum liegen lassen.
Er hatte gerade den Anruf erhalten – es ging um einen Titelkampf. Nach ein paar Siegen und Niederlagen hatte er eine Vierer-Erfolgsserie hingelegt und war dem Rauswurf aus dem Kader gerade noch mal entgangen. Der Old-Timer, der Journeyman. Nicht abgehalftert, sondern nie richtig durchgestartet. Trotz – nein, wegen der Zweifler, die ihm rieten, die Handschuhe ein für alle Mal im Käfig zu lassen. Niemand hätte es ihm verübelt, wenn er einfach aufgehört hätte. Der Sport hatte Xavier »Scarecrow« Wallace links liegen lassen. Zu viele Jungspunde auf dem Weg nach oben hatten nach einem Sprungbrett zum nächsten Level gesucht. Im Käfig war kein Platz für zahnlose Löwen, die um ihren Stolz kämpften.
Und dann gleich vier Siege hintereinander. Und keine Flachpfeifen. Kickbox-Champs. Jiu-Jitsu-Asse. Jeder die nächste große Nummer. Aber richtig drauf hatte es am Ende keiner. Alles bloß Talent plus Hormone. Fehlende Ausdauer machte sie zu Feiglingen. Xavier brachte sie ins Schwitzen in den langen Runden, wenn Muskeln übersäuern. Wenn selbst tiefe Atemzüge keinen Sauerstoff enthalten, sondern dich nur noch verzweifelter nach Luft ringen lassen. Wenn Schultern schmerzen. Submissions der Druck fehlt. Schlägen die Power. Kicks schlapp werden, weil sich müde Beine nur noch wegen des Schwungs in den Gelenken drehen. Brich sie mental, und ihr Körper wird folgen.
Aber auch er hatte für die langen Runden im Käfig einen Preis bezahlt. Schlimmer als der Flickenteppich aus zusammengenähter Haut an seiner Stirn; schlimmer als das Narbengewebe über seinen mehrfach gebrochenen Augenhöhlen; sogar schlimmer als die endlosen, stetig zunehmenden Kopfschmerzen. Schlimmer als all das war das Vergessen.
Zuerst noch milde. Sekunden verschollener Zeit, kleine Erinnerungsfetzen, ausradiert von einer Tafel, auf der nur Umrisse von Wörtern und Bildern zurückblieben. Dann immer häufiger. Das Gefühl, irgendwo gewesen zu sein, irgendetwas gemacht zu haben und nie genau zu wissen, wann, wie und ob es überhaupt geschehen war. Es lag am Alter, redete er sich ein. An manchen Tagen glaubte er es fast selbst.
Als das Angebot mit dem Titelkampf kam, war er bestens vorbereitet. Inzwischen wurde er die Kilos nicht mehr so schnell los wie noch vor zehn Jahren, deshalb hielt er immer strikte Diät. Ein Fight bedeutete, sich weiter einzuschränken. Ein leerer Kühlschrank führte nur in Versuchung, also auf zum Supermarkt und die üblichen Verdächtigen in den Wagen gelegt. Hähnchenbrustfilet ohne Haut. Brauner Reis. Süßkartoffeln. Blattgemüse. Brokkoli. Kanister mit destilliertem Wasser. Er warf die Tüten mit der kalorienarmen Kost in den Kofferraum und fuhr auf dem Weg nach Hause beim Gym vorbei, um Shot von der guten Nachricht zu erzählen.
In der Nacht fand er keine Ruhe. Er beschwor Bilder des bevorstehenden Fights herauf. So oft er die Stufen zum Käfig auch schon hochgestiegen war, die mentale Vorbereitung war immer mit Ängsten verbunden. Abstellen konnte er das nicht. Außerdem hatte noch nie so viel auf dem Spiel gestanden wie dieses Mal. Ein Titelkampf brachte Medienaufmerksamkeit mit sich. Pressekonferenzen. Auftritte im Lokalfernsehen. Auch das spielte er alles im Kopf durch. Die Fragen nach seinem Alter und danach, wie oft er noch in einen Fight ziehen konnte. Danach, was er vom Gegner hielt, nur um ihn dazu zu bringen, über den anderen herzuziehen. Die Augen aufgerissen, lag er ausgestreckt im Dunkeln. Ein warmer Wind wehte durchs offene Schlafzimmerfenster herein. Schweißtropfen sammelten sich auf seiner nackten Brust. Das kaputte Klimagerät steckte im Fenster wie sein eigener Grabstein. Sogar nachts hing die Schwüle des späten Augusts über Philadelphia und drückte gegen die Holzwände des Bungalows seines Vaters im Montgomery County.
Er fand sich mit der Schlaflosigkeit ab und setzte sich auf die Bettkante. Er umklammerte den Rand der Matratze, schloss die Augen und wartete, bis der Schwindel langsamer wurde und sich legte. Eine weitere ungewollte Trophäe, verliehen für die Jahre heftiger Schläge gegen den Kopf. Wie der Arzt ihm erklärt hatte, lag die Ursache des Lagerungsschwindels in seinen Ohren, irgendwelche Kristalle hatten sich gelöst und bewegten sich nun frei in der Flüssigkeit im Innenohr; er sollte sich von einem Spezialisten behandeln lassen. Xavier stellte sich einen Typen mit Ziegenbärtchen und Socken in Sandalen vor, der mit einer Glasscherbe vor seinen Ohren herumwedeln und für fünf Minuten fünfundsiebzig Dollar verlangen würde. Er sagte dem Arzt, er würde es darauf ankommen lassen, worauf dieser ihm ein Medikament verschreiben wollte, zu dessen Nebenwirkungen Schwindelgefühle zählten. Xavier ging nicht mehr hin.
Das Drehen hörte auf, und er kam hoch. Alle seine Gelenke knackten und knirschten. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte weder das Druckgefühl hinter seinen Augen noch den Tinnitus in seinen Ohren ausblenden, beides seit Kurzem Begleiterscheinungen seiner Vergesslichkeit. Aus einem Klamottenhaufen neben dem Bett fischte er ein Tanktop und Basketballshorts mit Farbflecken heraus, streifte beides über und trat in den Flur. Malerfolie bedeckte den Boden. In einer kleinen Wanne lag ein Farbroller. In den Plastikrillen der Wanne war die Farbe ausgehärtet.
Der Roller zischte leise, als er ihn an der Wand hin und her, hinauf und herunter schob und das schmutzige Weiß salbeigrün überstrich. Als er mit der ersten Schicht fertig war, fühlte er sich nicht müder als vorhin, nur sein Tinnitus war lauter geworden. Er ging in die Küche und stützte sich mit den Händen an der Arbeitsplatte ab. Die Augen fest geschlossen, befahl er dem Fiepen, sofort aufzuhören, worauf es noch intensiver wurde. Er setzte sich auf den Boden, streckte die langen Beine aus und legte den Hinterkopf an die kühle Schranktür.
Dann wachte er auf.
Nicht im Bett.
Augen offen. Hals steif. Im Hintern ein Kribbeln.
Vom Schweiß klebte sein Hinterkopf fast an der Schranktür. Er schüttelte sich die Steifheit aus den Knien und stand auf, wobei er sich an der Kante der furnierten Arbeitsplatte festhielt, um das Zimmer ruhigzustellen. Während er den Schwindelanfall abwartete, stach ihm die Sonne durchs Fenster auf die Augenlider. Als die Karussellfahrt vorbei war, blickte er sich um und sah den Farbroller in der Wanne liegen. Auf den Wänden im Flur war mehr Farbe als vorher.
Oder?
Wahrscheinlich waren die Ausdünstungen schuld. Das ergab Sinn. Sie hatten ihn benebelt, und er hatte sich hinsetzen müssen. Er hätte vorher das Fenster weit aufmachen sollen. Warum war ihm das nicht gleich eingefallen? Nur deshalb war er eingeschlafen. Auf dem Fußboden. In der Küche. Alles ganz normal. Nur nicht die Uhrzeit auf der Mikrowelle. 15:24.
Kann nicht sein.
Den Kopf im Türrahmen einziehend ging er ins Wohnzimmer und nahm sein Handy. Auf dem Display stand dieselbe Uhrzeit wie auf der Mikrowelle. Außerdem hatte Shot ein paarmal angerufen und getextet. Xavier hatte das Morgen-Work-out verpasst. Und das Training am Nachmittag auch.
Mein Fehler, Shot. Dafür laufe ich gleich die doppelte Strecke.
Wir sehen uns morgen im Gym.
Er schaute aufs Display. Die drei Punkte erschienen und verschwanden wieder. Xavier biss sich auf die Unterlippe. Dann lediglich:
OK.
»Fuck«, sagte Xavier. Jetzt nach Manayunk rauszufahren, lohnte nicht. In der Lincoln Avenue wäre die Rushhour der reinste Albtraum. In seinem Hinterkopf braute sich bereits der nächste Schmerz zusammen. Wieder in der Küche holte er einen Kanister destilliertes Wasser aus der Vorratskammer und warf zwei Ibuprofen ein. Neben der Haustür standen seine Laufschuhe. Er nahm sie und trat hinaus in den sommerlichen Dunst.
Eine Stunde später kam er schweißgebadet und mordshungrig wieder nach Hause. Die Hitze des Asphalts hatte sich durch seine Schuhsohlen gebohrt und ihn schneller als geplant vorwärtsgetrieben. Die unerbittliche Sonne hatte seine Schultern nach unten gedrückt und gerundet. Er streifte sich das Tanktop über den Kopf, ließ es auf den Linoleumboden fallen und stürzte fast den halben Inhalt eines Wasserkanisters hinunter. Den Rest goss er in einen Topf und stellte ihn auf den Herd. Er entzündete die Gasflamme und nahm ein Hähnchenbrustfilet aus dem Kühlschrank. Es war das Letzte, auch das Gemüsefach war fast leer, und der Reis in dem Sack in der Vorratskammer reichte nur noch für eine Portion. Also musste er am nächsten Tag zum Supermarkt.
Am nächsten Morgen erinnerte ihn die Liste, die er an den Kühlschrank gepinnt hatte, an den Einkauf. Er ging zum Auto und öffnete die Fahrertür, als ihm ein übler Geruch in die Nase stach. Ranzig wie das Fleischfach in seinem Kühlschrank, als es in einem Sommer mal einen Stromausfall gegeben hatte (wie lang war das her?). Er schob den Kopf am Sitz vorbei nach hinten, und der Gestank wurde stärker. Ein durchgeschwitztes Rashguard und Shorts lagen zusammengeknüllt hinter dem Beifahrersitz. Den Geruch kannte er gut, das war es nicht.
Er öffnete den Kofferraum. Dort stand die Tüte mit den Lebensmitteln, die er gestern eingekauft und vergessen hatte. Gammliges Hühnerfleisch im eigenen trüben rosa Saft. Matschiger, schleimglänzender Brokkoli. Gegart in der Sommersonne.
Er hielt die Tüten mit den verdorbenen Sachen auf Armeslänge von sich, ging zur Mülltonne neben der Garage und warf sie hinein. Aus der offenen Tonne stieg eine stinkende Wolke hoch, und er musste würgen. Um das Auto durchzulüften, ließ er die Tür auf der Fahrerseite offen und setzte sich schräg auf den Sitz. Er erinnerte sich daran, dass er zum Einkaufen hatte fahren wollen. Weil er Lebensmittel brauchte. Aber er erinnerte sich nicht mehr daran, dass er im Supermarkt gewesen war. Er war abgelenkt gewesen, sagte er sich. In Gedanken war er schon beim Fight, das hatte ihn zu sehr beschäftigt. Er hatte einfach nicht mehr an die Tüten mit dem Einkauf gedacht. Das hätte jedem passieren können. Genau wie das Einschlafen auf dem Küchenboden.
Es hätte wirklich jedem passieren können.
Die Erinnerung an diesen Tag war wie so viele andere inzwischen verblasst, und er hatte nicht mehr daran gedacht – bis zu diesem Morgen.
Weil er (mal wieder) zu spät zur Arbeit im Gym kam, riss er die Autotür auf. Mit der eingeschlossenen Hitze waberte ihm ein übler Gestank entgegen – aber es war nicht der gammlige Geruch aus dem letzten Jahr. Reflexhaft warf er die Tür wieder zu, dann hielt er sich ein Nasenloch zu und schnaubte mit dem anderen aus, aber der Gestank hatte sich in seiner Nase bereits festgesetzt. Eindeutig nach Scheiße und Pisse, aber da war noch etwas anderes, das er nicht einordnen konnte.
Er wollte zum Kofferraum gehen, blieb zwischendurch stehen und schaute auf die Rückbank. Hinter dem Fahrersitz ragte ein Kothaufen in einer Urinpfütze auf. Und daneben, hinter dem Beifahrersitz, lag ein Hund mit blaugrauem Fell.
»Ach du Scheiße.« Xavier rannte zur Beifahrertür, riss sie auf und hielt den Atem an. »Nein, nein, nein«, rief er und hoffte einen Moment lang, der Hund wäre eine Fata Morgana, hervorgerufen durch die gleißend grelle Morgensonne. Er kniete sich auf der Einfahrt hin und ließ eine Hand dort über dem Hund schweben, wo sich die Rippen unter seinem Fell abzeichneten. Xavier wollte die Hand zum Kopf des Hundes bewegen, als sich die Rippen anhoben.
Er riss die Hand zurück. Bestimmt war es nur eine Halluzination, herbeifantasiert vom Wunschdenken, aber als er die Hand erneut senkte, hoben die gewölbten Knochen sich ihr wieder entgegen.
»Hey«, flüsterte Xavier.
Der peitschenartige Schwanz des Hundes löste sich von den Hinterbeinen und klopfte auf den Boden.
»Hey.« Etwas lauter.
Jetzt klopfte der Schwanz zweimal.
Xavier schob die Hände unter Kopf und Hinterläufe des Hundes und hob das Tier behutsam aus dem Wagen. Die Haut unter dem kurzen Fell war heiß. Xavier hielt den Hund an seine Brust und konnte nicht mehr auseinanderhalten, ob es das Herz des Tieres oder sein eigenes war, das so schnell schlug. Xavier drückte seine Nase auf den Kopf des Hundes und atmete ein.
Unter dem Gestank nach Exkrementen nahm er im Fell noch einen anderen Geruch wahr, der bei ihm eine Flut an Erinnerungen auslöste. Eine allerdings war besonders stark. Als er den Hund hinter dem Beifahrersitz gesehen hatte, hatte er sich gefragt, was für ein Mensch das sein musste, der ein Tier in der Sommerhitze in seinem Auto leiden ließ. Der Geruch beantwortete die Frage, dafür musste er nicht erst auf die Adoptionspapiere des Tierschutzvereins schauen, die auf dem Beifahrersitz lagen und mit seiner Unterschrift versehen waren.
Es war sein Hund.
Der Hund zitterte, obwohl die Haut unter seinem Fell glühte. Xaviers Shirt wurde schweißnass, als er ihn das kurze Stück bis zur hinteren Veranda trug. Während er mit einer Hand nach dem Knauf des Fliegengitters tastete, drückte er den Hund noch fester an sich. Er hörte ein Geräusch und nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ray, der Nachbar seines Vaters – und somit jetzt auch Xaviers – saß auf der Veranda seines Hauses. Demonstrativ blätterte er eine Seite in seiner Zeitung um, als würde er sich nur um seinen eigenen Kram scheren, was ganz sicher nicht stimmte.
Zum ersten Mal hatte Xavier den Nachbarn nach einem Besuch im Supermarkt gesehen. Xavier hatte Medikamente für seinen Vater geholt und einen Vorrat an Fertiggerichten und Diät-Limos mitgebracht. Ray hatte im Vorgarten Laub geharkt, und Xavier hatte ihm zur Begrüßung zugewunken. Die weiße MAGA-Aufschrift auf der roten Basecap, die Ray über der beginnenden Glatze trug, hatte er da noch nicht bemerkt. Doch das Käppi war Xavier ins volle Bewusstsein gerückt, als Ray ihn mit dreistem Selbstverständnis fragte, ob er denn in der Straße wohne. Xavier hatte schmallippig gelächelt, so wie er es sich über die Jahrzehnte angewöhnt hatte, in denen ihm Aberhunderte von Rays ähnliche Fragen gestellt hatten; es war die Maske, hinter der er sich versteckte, wenn er niemandem eine Erklärung schuldete, diese aber trotzdem von ihm erwartet wurde.
Er sei Sam Wallaces Sohn, hatte er Ray erklärt. Im Gesicht des anderen hatte sich eine Mischung aus Erstaunen und Enttäuschung abgezeichnet. Ob der Gesichtsausdruck aus der Erkenntnis herrührte, dass der Sohn seines Nachbarn schwarz war oder dass Ray nun keinen triftigen Grund mehr hatte, die Polizei zu rufen, hatte Xavier nicht einschätzen können. Aber darauf kam es ohnehin nicht an. Wegen der schweren Einkaufstüten hatte Xavier die Schlüssel nicht gleich zur Hand gehabt und es dann auch noch zweimal mit dem falschen versucht, bevor er, in dem vollen Bewusstsein, dass Ray ihn die ganze Zeit anstarrte, den richtigen fand, aufschloss und hineinging. Drinnen hatte er sich vorgestellt, wie Ray etwas auf Rassistisch grummelte, ebenfalls in sein Haus ging und dann durch die Jalousien spähte, die er gerade so weit auseinanderschob, dass er erkennen konnte, welches schwarze Unwesen Xavier nebenan mit aller Wahrscheinlichkeit trieb.
»Wehe, das Viech scheißt mir auf den Rasen«, rief Ray jetzt. Den zitternden Hund noch fester an sich drückend, langte Xavier mit der freien Hand am Türknauf vorbei. Seine Arme brannten vor Anstrengung. Er verlagerte das Gewicht des Tieres, drückte mit dem Daumen auf den Entsperrer am Knauf. Ray schlug die Zeitung zu. »Oder einem anderen Nachbarn. Das hier ist eine anständige, saubere Gegend. Und ich will nach zwanzig Uhr nicht mal ein Gewinsel hören. Wir haben hier nämlich feste Ruhezeiten, nur damit Sie es wissen.«
Xavier lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und drückte sie ins Schloss. Obwohl ihm jetzt das Publikum fehlte, setzte Ray die Tirade fort. Xavier ging ins Schlafzimmer, gleich links neben der Hintertür. Ohne den Hund abzusetzen, zog er das Laken von der Matratze und schleifte es in die Küche. Dort schob er es mit einem Fuß zu einem Behelfsbett zusammen und legte den Hund behutsam ab. Aus einem Hängeschrank nahm er eine Schüssel und füllte sie mit kaltem Wasser. Er platzierte sie neben der Schnauze des Hundes, bevor er sich vor ihm auf den Boden legte, sodass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Der Hund blähte die trockenen Nasenlöcher auf, kämpfte mit jedem Atemzug. Er hob eine Augenbraue, dann die andere, während er auf die Wasserschüssel, zu Xavier und wieder zurück schaute. Sein Blick löcherte Xavier mit Fragen, wollte wissen, warum er es getan hatte. Xavier hörte die ungestellten Fragen, die ein Echo seiner eigenen waren, doch die Antworten waren von der Tafel gewischt worden wie so viele in letzter Zeit.
Gestern war, im Verhältnis gesehen, einer von Sams besseren Tagen im Seniorenheim gewesen. Die Woche über hatte Xavier ihn nicht so oft besuchen können, wie er es gewollt hätte – oder es zu wollen seinem Vater gegenüber behauptete. Denn jetzt, da sich seine Wettkampfsperre dem Ende neigte, hatte Xavier seine Trainingsfrequenz gesteigert, um für jeden noch so kurzfristig angesetzten Fight bereit zu sein, auch wenn die Chancen darauf wegen der Umstände seiner Sperre wohl eher gering waren. Wenigstens hatte der Promoter ihm das so gesagt. In Form bleiben musste er natürlich trotzdem. Unvorbereitet zu sein, wenn der Anruf kam, war ein Luxus, den sich nur Kämpfer unter Vertrag leisten konnten. Und wenn er Pop dann seltener besuchen konnte, ließ sich das eben nicht vermeiden. Seinen körperlichen und geistigen Verfall mitzuerleben, war schlimm. Nicht dabei zu sein, machte es erträglicher.
Natürlich gab es auch Tage, an denen Xavier den Besuch im Pflegeheim schlicht vergaß – und solche, an denen er vergaß, dass er es vergaß. Gestern war keiner dieser Tage gewesen.
Als er nun dem Hund gegenüberlag, fiel ihm ein, dass er daran gedacht hatte, an der Familienkonferenz mit Sams Pflegekoordinatoren teilzunehmen. Wie die Therapeuten und Pflegerinnen Xavier erklärt hatten, hatte sich Sams COPD weiter verschlechtert. Weil er wegen seiner Demenz aber zu Nervosität und Reizbarkeit neigte, zog er sich immer wieder die Nasenkanüle heraus, was dann schnell zu Hypoxie führte. Als Xavier erwiderte, er habe nur die Hälfte verstanden und bräuchte für die andere einen Übersetzer, hatte eine Frau aus dem Team erklärt, sein Vater würde von allein immer schlechter atmen können, sich wegen der Symptome seiner Alzheimer-Erkrankung aber immer wieder den Sauerstoffschlauch aus der Nase ziehen. Wenn ihm die Pfleger helfen wollten, wehrte er sich. Sie konnten ihm die Nasenbrille erst wieder aufsetzen, wenn er wegen des Sauerstoffmangels ohnmächtig geworden war.
Und als hätte das nicht schon gereicht, hatten sie Xavier dann auch noch erklärt, dass sein Vater seinem Mitbewohner gegenüber verbal ausfallend geworden war, denn anscheinend konnte Sam sich nicht daran erinnern (und es auch nicht begreifen), dass ihm kein Einzelzimmer mehr zustand, seit sich seine finanziellen Mittel erschöpft hatten. Das alles wurde vorgetragen mit einstudiertem Mitleid, aber unter die Höflichkeit in ihren Stimmen mischte sich Ermüdung, weil sie es offenbar leid waren, immer nur schlechte Nachrichten überbringen zu müssen.
Xavier hatte die Hände auf dem Tisch übereinandergelegt und den Kopf hängen lassen. »Ich richte sein Haus gerade her, damit ich es auf den Markt bringen kann. Der Erlös sollte doch für ein Einzelzimmer reichen, oder?« Die Pflegerinnen und Therapeuten wechselten Blicke. »Was? So teuer kann es doch nicht sein.«
»Darum geht's nicht«, sagte die Sozialarbeiterin. »Das heißt, ja, es kann ziemlich teuer sein, aber das ist nicht der Grund. Jedenfalls nicht der Hauptgrund.«
»Sondern?«
»Er war nicht nur seinem Mitbewohner gegenüber ausfallend. Einige unser Mitarbeiter haben sich ebenfalls beschwert.«
Langsam hatte Xavier genug von den Andeutungen. »Das tut mir ausgesprochen leid. Aber er ist nun mal nicht mehr der Jüngste. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber könnten Sie nicht einfach …«
»Er hat einige unserer Schwestern rassistisch beleidigt«, sagte die Pflegedirektorin. Sie war eine schlanke schwarze Frau mit kurzen, grau durchwirkten Haaren. Die Hände auf dem Tisch gefaltet, saß sie kerzengerade auf ihrem Stuhl. Dass ihre weißen Kollegen nun unbewegt auf ihre Notizblöcke starrten, verriet Xavier, dass diese Frau es sich längst abgewöhnt hatte, sich den anderen gegenüber als einzige Schwarze im Raum zurückhaltend zu benehmen. Xavier dachte an seine Mutter und fühlte sich mit der Frau verbunden und gleichzeitig von ihr abgelehnt.
»Ja, nein, das macht doch keinen Sinn.« Xavier spähte zum Namensschild der Frau. »Mrs Thomas. Sind Sie sicher, dass Sie oder Ihre Kollegen sich nicht verhört haben? Ich meine, schauen Sie mich an.«
»Leider hat sich da niemand verhört, Mr Wallace. Ich weiß, Sie machen eine schlimme Zeit durch, und bestimmt gibt es Dinge, die Sie nur schwer akzeptieren können.«
»Okay, weil hier ja offenbar niemand Tacheles reden will, spreche ich es mal aus: Sie wollen mir sagen, dass ich mich damit abfinden soll, dass mein Vater, der mit einer Schwarzen verheiratet war und seinen schwarzen Sohn liebt, eigentlich ein Rassist ist, und dass sein wahres Ich durch den Alzheimer endlich zum Vorschein kommt? Habe ich das richtig verstanden? Merken Sie nicht selber, wie lächerlich das klingt?«
Bis auf Mrs Thomas rutschten alle unruhig hin und her, schoben Papiere auf dem Tisch zurecht, räusperten sich. Mrs Thomas schaute Xavier weiterhin ruhig, aber durchdringend an. Ihr Blick entwaffnete ihn. Sie sagte nichts, und unter dem Gewicht ihres Schweigens senkte Xavier den Blick. Ihr unausgesprochener Tadel nahm seiner Wut den Wind aus den Segeln. Reumütig brach er das Schweigen.
»Schicken Sie ihn jetzt weg?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete die Sozialarbeiterin. »Also, wenigstens jetzt noch nicht.«
Mrs Thomas schüttelte wegen der zweideutigen Aussage der Kollegin den Kopf. »Mr Wallace, wir können hier keine Betreuung für fortgeschrittene Demenz anbieten. Wenn sich der Zustand Ihres Vaters weiterhin so rasch verschlechtert und er zu einer Gefahr für sich und unsere Mitarbeiter wird, dann werden wir uns gemeinsam nach einer Einrichtung umsehen müssen, wo man sich besser um seine besonderen Bedürfnisse kümmern kann.«
»Ich würde meinen Vater jetzt gerne sehen. Geht das?«
Mrs Thomas kniff die Lippen zusammen. »Ist er nach der Therapie in sein Zimmer zurückgekehrt?«, fragte sie eine junge blonde Frau, die ihr gegenübersaß.
»Ich glaube, er ist mit einigen anderen Bewohnern im Garten. Die von der Hunderettung sind heute wieder da. Wenn die uns besuchen, blüht er immer richtig auf.«
»Als Kind hatte er einen Boxer«, sagte Xavier. Wenn er verunsichert war, redete er immer zu viel, als müsse er Dampf ablassen. »Sully. Er hat ständig von ihm erzählt. Der Hund hat Blätter gejagt, als wären es Katzen. Mein Vater wollte mich sogar nach dem Hund nennen, aber davon wollte meine Mutter nichts wissen. Er hat sich wohl immer beschwert ›nach einer Comicfigur dürfen wir ihn nennen, aber nicht nach dem wunderbarsten Vierbeiner auf der ganzen Welt‹.« Xavier lachte in sich hinein, und das Pflegeteam lächelte. Seine Augen fingen an zu brennen, und er kaute auf der Innenseite seiner Wange herum. »Ich schweife ab, sorry. Wo ist der Garten?«
Die Beschäftigungstherapeutin stand auf, der Rest des Teams ebenfalls. Xavier bedankte sich bei Mrs Thomas, die ihm zunickte. Die Therapeutin hielt Xavier die Tür auf und führte ihn in einen Flur. Als sie die Glastür zum Garten öffnen wollte, hielt Xavier sie zurück. »Augenblick noch.« Sie sagte, sie müsse zu einem Termin bei einem anderen Patienten, und ging. Xavier betrachtete die Szene im Garten.
Sam saß in seinem Rollstuhl. Er trug ein weißes T-Shirt und Pyjamahose. Obwohl er den Kopf wegzog, drückte ein brauner Labradormischling, der so breit wie hoch war, seine Nase an ihn und leckte ihm übers Gesicht. Als die Liebesattacke des Hundes vorbei war, kraulte Sam ihn hinter den Ohren und unter dem Kinn. Die anderen Bewohner wirkten ähnlich verliebt in die vierbeinigen Freunde, sie warfen Tennisbälle und tätschelten Köpfe. Die glücklichen Paare ließen Xavier lächeln.
Eine Mitarbeiterin der Hunderettung, eine zierliche Mittvierzigerin mit blondem Pferdeschwanz, beobachtete die Gruppe ebenfalls. Neben ihr hockte ein Hund, ein Staffordshire Bullterrier mit blaugrauem Fell und gewaltigem Kopf, unter dem man den Hals nicht sah. Xavier konnte den Blick nicht von dem Tier lösen, dem es mit ihm genauso ging. Xavier hatte genug Hunde erlebt und erkannte auf Anhieb, dass in den Augen des Bullterriers nichts Böses lag. Nur eine große Neugier, die Xavier mindestens so stark in den Garten lockte wie der Wunsch, seinen Vater zu sehen.
Er näherte sich dem Rollstuhl von hinten und legte Sam die Hände sanft auf die Schultern. Sams Muskeln waren angespannt von der ständigen Anstrengung, Luft in die Lungen zu pumpen, doch die Haut drumherum hing schlaff herunter, weil dem Fleisch die alte Kraft fehlte.
»Hey, Pop. Wie geht's?«
Sam blickte auf, sein Lächeln war trotz Nikotinflecken strahlend. Seine Wangen hoben sich, bis die Augen kaum noch zu sehen waren. Als er Xavier wahrnahm, weiteten sich seine Augen und die Mundwinkel sackten herunter. Den Blick kannte Xavier.
»Ja, hallo«, sagte Sam. Xavier kam auf die andere Seite des Stuhls und hockte sich vor seinem Vater hin. »Ist ja schon etwas her.« Am Satzende hob er die Stimme wie bei einer Frage.
»Ist okay, Pop.« Xavier kraulte den Hund, der Sam übers Gesicht geleckt hatte. Das Tier lehnte sich an ihn und gab ein zufriedenes Grollen von sich.
»Na, das gefällt ihr«, sagte Sam. »Wenn du so weitermachst, musst du sie mitnehmen.«
»Ihr scheint es bei dir gut zu gefallen.«
»Ach, könnte ich bloß wieder einen Hund haben. Früher hatte ich einen Boxer. Der wunderbarste Hund der Welt. Dumm wie Brot, aber, Gott, wie sehr ich ihn geliebt habe.« Sam lachte. In seinen Augen schimmerte es, und er schaute weg, in eine Zeit vor diesem Garten. »Wenn es gestürmt hat, hat er Blätter gejagt, bis ihm die Nägel gerissen sind. Einmal hätte er mir fast die Schulter ausgekugelt. Trotzdem gab es auf der ganzen Welt keinen zweiten Hund, der so treu und lieb war. Aber eben auch wahnsinnig dumm. Mann, hab ich ihn geliebt. Fast hätte ich meinen Jungen nach ihm benannt.«
Xavier schluckte schwer. »Sully.«
Ruckartig schaute Sam wieder zu Xavier, und eine Träne löste sich aus einem Augenwinkel.
»Xavier?«
»Das bin ich«, antwortete Xavier. Sam breitete die Arme aus und zog ihn an sich, sodass die Hündin zwischen ihnen gefangen war. Als würde die Umarmung ihr gelten, wedelte sie mit dem Schwanz. Xavier trat einen Schritt zurück und wischte sich die Augen. Sam tat es auch.
»Bringst du mich heute nach Hause?«
Xavier überlegte, ob er seinem Vater (wieder einmal) erzählen sollte, dass er das Haus verkaufen wollte. Dass sie bei fast jedem seiner Besuche dasselbe Gespräch führten. Dass es Xaviers Fähigkeiten überstieg, sich um Sam richtig zu kümmern. Bei jeder Wiederholung des Gesprächs wich etwas mehr Freude aus dem Gesicht seines Vaters. Ein Teil von Sam konnte sich an das dahinterliegende Problem erinnern, nur wusste er nicht, dass er sich daran erinnerte.
»Um das Haus musst du dir keine Sorgen machen. Ich halte es in Schuss.«
Sam tätschelte Xaviers Wange. Seine Hand war warm. »Um das Haus mach ich mir keine Sorgen. Um dich schon. Dass du da ganz allein bist, gefällt mir nicht.«
Xavier lachte und spannte seinen Bizeps an. »Ich kann allein auf mich aufpassen.«
Sam fummelte am Kordelzug seiner Pyjamahose herum. »So tough ist keiner, dass er gegen das Alleinsein ankommt.«
Xavier ließ die Arme sinken. Obwohl er sich Mühe gegeben hatte, es zu verbergen, hatte seine Einsamkeit den Nebel im Kopf seines Vaters wie das Licht eines Leuchtturms durchdrungen. Um das Thema zu wechseln, schaute Xavier an Sam vorbei zu dem Hund mit dem blaugrauen Fell. »Weißt du was? Ich sehe mal zu, dass ich hier einen Freund finde, den ich mit nach Hause nehmen kann. Damit du dir weniger Sorgen machen musst.«
Sam blickte nicht hoch. Obwohl er immer noch im Rollstuhl saß, war er in Gedanken weit weg. Er fing wieder an, seine Hundefreundin hinter den Ohren zu kraulen.
Xavier ging zu der Frau mit dem Bullterrier. Der Hund hob den Kopf und blickte an Xavier hoch, während sein Körper sich asynchron zu seinem wedelnden Schwanz bewegte.
»Na, wen haben wir denn da?«
»Der sanftmütige Riese heißt Loki.«
»Und ist er so boshaft wie sein Namensvetter?«
»Definitiv nicht. Unser Großer hier ist ein Heiliger.«
»Und warum sitzt er dann nicht bei den Bewohnern?«
»Mit einem Kampfhund will keiner was zu tun haben. Die meisten haben zu viel Angst vor ihm. Er wird sein Stigma nicht los, egal wie oft wir versichern, was für ein freundlicher Kerl er ist. Im Tierheim ist es dasselbe. Keiner will ihn haben. Ich nehme ihn zu allen Veranstaltungen mit, damit er wenigstens ein bisschen rauskommt und unter Menschen ist.«
Die Frau ließ Lokis Leine etwas lockerer. Xavier hockte sich breitbeinig auf den Boden. Loki kam von den muskulösen Hinterbeinen hoch, machte ein paar Schritte auf Xavier zu und hielt ihm die Nase hin. Xavier legte die Hände dorthin, wo Lokis Ohren ansetzten, und fing an zu kraulen. Loki senkte den Kopf. Xavier fuhr mit den Händen an den dicken Wangen entlang und massierte sie mit den Handballen. Loki schwankte leicht und drückte mit seinem Kinnmuskel gegen Xaviers Hand. Xavier legte die Stirn an Lokis, und der Hund erwiderte den Druck, sodass es aussah, als würden sie sich gegenseitig stützen.
»Wow«, sagte die Frau. »Das gab's noch nie.«
Xavier streichelte Lokis Gesicht. Fingerkuppen fuhren über felllose Stellen, über die faltige Kinnpartie. Der Hund hob den Kopf. Sein Hals war ein Flickenteppich aus rosa-grau marmorierter Haut und Narben. Dort kraulte Xavier weiter. Vor Wonne klopfte Loki mit der Hinterpfote auf den Boden.
»Woher kommt das?«, fragte Xavier.
»Loki hat offenbar früher bei Hundekämpfen mitgemacht und war ein echter Champ. Bis er auf einen Gegner stieß, der 'ne ganze Ecke fieser war. Der andere wollte ihm wohl die Kehle zerfetzen. Deshalb kann der arme Kerl jetzt nicht mehr bellen. Nur noch beißen. Nach dem Kampf war etwas in ihm gestorben. Und Sie können sich sicher denken, was aus einem Kampfhund wird, der nicht mehr kämpfen kann.«
»Verdammt.« Xavier klopfte Loki auf die fassbreite Brust.
»Eben. Einer unserer Volunteers hat Loki gesehen, wie er in einem Schneesturm auf einem Hof angekettet war. Ohne Hütte. Ohne Futter. Keine Ahnung, ob die das Böse in ihm wieder wecken wollten oder ihn einfach nur nicht im Haus sterben lassen wollten. Jedenfalls konnte man seine Rippen zählen. Der Volunteer hat den örtlichen Tierschutzverein alarmiert, und nach der Rettung haben wir entschieden, ihn bei uns aufzunehmen. Zuerst sah es so aus, als würde er nicht durchkommen. Aber dieser Hund hat nicht aufgegeben.«
»So viel Kampfeswillen hattest du also doch noch, was, Junge?« Xavier massierte Lokis Wangen. Der Hund schloss die Augen und verzog die Lefzen wie zu einem Grinsen.
»Sie scheinen sich damit ein bisschen auszukennen«, sagte die Frau. Xavier sah zu ihr hoch, und sie zeigte erst auf ihr eigenes Ohr, dann auf seins. Er kniff sich in die knotigen Verdickungen seiner beiden Ohrmuscheln.
»Ja, kann man wohl sagen. Sind Sie Kampfsportfan?«
»Könnte man sagen. Jeden Fight schaue ich mir nicht an, aber wenn der Gatte für eine Übertragung bezahlt, setze ich mich zu ihm aufs Sofa und schaue zu, bis ich einschlafe. Dabei hab ich schon viele solche Ohren gesehen. Sind Sie richtiger Profi?«
»Eines Tages vielleicht«, erwiderte er, und sie legte den Kopf schief. Xavier kam vom Boden hoch. Loki auch. Der Hund legte eine Pfote auf Xaviers Knie, als wollte er ihn wieder nach unten drücken.
»Sie haben einen Fan fürs Leben.«
»Geht mir bei ihm genauso.« Er schüttelte Loki die Pfote. Als er sie wieder losließ, legte Loki sie erneut auf sein Knie. »Offenbar bin ich hier noch nicht fertig, was?« Xavier setzte sich wieder hin, und die Frau reichte ihm die Leine. Loki drehte sich zwischen Xaviers gespreizten Beinen einmal im Kreis, bevor er sich fallen ließ und auf den Rücken drehte. Xavier rieb ihm den Bauch. Loki zuckte mit den Hinterbeinen. Xavier schaute über seine Schulter zu seinem Vater hin. Sam tätschelte die Hündin, und die Augen des alten Mannes strahlten wie schon lange nicht mehr. Xavier dachte an das leere Haus. Die meisten Sachen seines Vaters waren jetzt in Kartons verpackt, und es stand kaum noch etwas herum, das in besonders stillen Nächten das Geräusch seiner Füße auf dem Laminatboden oder das Gerassel seiner eigenen Atemzüge schluckte.
»Wie wäre es, wenn ich Ihnen den Jungen abnehme?«
»Leider zieht sich der Adoptionsvorgang manchmal bis zu einem Monat hin. Sie müssen Formulare ausfüllen, und wir müssen uns erst mal bei Ihnen zu Hause umschauen, solche Sachen.«
Xavier sah zum Hund, der immer noch auf dem Rücken lag, sodass seine Lider und Wangen nach unten wegrutschten und es aussah, als würde er glücklich, wenn auch leicht verrückt grinsen. Obwohl er den Hund eben erst kennengelernt hatte, überfiel Xavier bei dem Gedanken, ohne ihn wegzufahren, eine Angst, die vertraut und unbekannt zugleich war.
»Das Haus ist perfekt für einen Hund. Wir wären nur zu zweit. Keine Kinder, die ihn an den Ohren und am Schwanz ziehen. Nur zwei harte Kerle.« Sein Lachen klang trauriger als beabsichtigt. »Sie haben selbst gesagt, dass ihn keiner haben will. Ich schon. Könnten Sie nicht den Chef bei der Hunderettung anrufen?«
»Ich bin die Chefin.« Sie verschränkte die Arme und beobachtete, wie Loki sich unter Xaviers Händen verzückt wand. »Warten Sie kurz, ich hole die Papiere«, sagte sie lächelnd.
»Danke.« Als hätte er jedes Wort verstanden, kam Loki auf die Hinterbeine hoch und legte die Pfoten auf Xaviers Schultern. Sein blaugrauer Schwanz peitschte rasend schnell durch die Luft. Xavier wickelte sich die Leine um die Hand. »Na komm, Loke. Ich möchte dir jemand vorstellen.« Xavier ging mit dem Hund zu seinem Vater und dem Labradormischling. Sam blickte hoch, sah sie näher kommen und hörte auf zu lächeln. Er winkte ab.
»Nein, danke. Sagen Sie Ihrer Chefin, dass ich mit einem Pitbull nichts zu tun haben will. Das sind Gangsterhunde.« Er zeigte mit einem knotigen Finger auf Loki. »Keine Ahnung, warum die das Biest überhaupt hergebracht hat.« Die Hündin auf Sams Schoß wimmerte und knurrte dann. »Sehen Sie, das Mistvieh macht sie nervös.« Loki verzog die Lefzen zu einem Gähnen und schüttelte sich, als würde ihn das Ganze nichts angehen. Der Labrador bellte. »Schaffen Sie den verdammten Köter endlich weg!«, schrie Sam.
Ein Pfeifen, das ihm inzwischen nur allzu vertraut war, schrillte in Xaviers Ohren. Hinter seinen Augen schwoll ein Druck an, in den Schläfen pochte es. Xavier legte eine Hand an seine Stirn und presste die Fingerkuppen in die Muskeln über den Augenbrauen. »Bitte, Pop. Ganz ruhig. Alles ist gut. Ich bin es doch nur.«
»Ich kenne Sie nicht. Und jetzt bringen Sie den Scheißbastard endlich hier weg!«
Die Chefin der Hunderettung tauchte mit den Adoptionspapieren wieder auf. Ein Pfleger lief herbei und stellte sich hinter Sams Rollstuhl.
»Alles okay bei Ihnen?«, fragte der junge Mann.
Xavier nahm der Frau die Papiere ab und trat einen Schritt zurück. »Yeah, alles gut.« Er schaute Sam in die Augen, hoffte auf ein Zeichen, dass sein Vater ihn erkannte, sah aber nur Wut. »Ich wollte gerade gehen.« Mit feuchten Augen sah er zu der Frau. »Kann ich mit Kreditkarte zahlen?«
Auf dem Weg zum Auto nahmen die Kopfschmerzen zu. Xavier hoffte, dass sich Loki am heißen Asphalt des Parkplatzes nicht die Pfoten verbrannte, aber der Hund trottete neben ihm her und schaute aufmerksam zu ihm hoch. Als er die Tür öffnete, hauchte ihm das Auto seinen glühenden Atem entgegen. Er beugte sich vor, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte das Gebläse voll auf, in der vergeblichen Hoffnung auf ein wenig Abkühlung. Weil die Reparatur der Klimaanlage längst überfällig war, wirbelte sie nur trockene, abgestandene Luft auf. Loki setzte sich neben Xaviers Füße.
Xavier drückte sich einen Handballen gegen die Stirn. Er hatte dem Pflegeteam nicht glauben wollen. Weil er nicht wahrhaben wollte, dass sich der Zustand seines Vaters so sehr verschlechtert hatte. Das Fiepen in seinen Ohren schwoll zu einem Dampfpfeifen an, der Druck in seiner Stirn schien die Augen aus dem Schädel sprengen zu wollen, und sein Herzschlag hatte sich offenbar direkt im Schädel eingenistet. Er zog eine Packung Migränetabletten aus der Tasche und schluckte zwei trocken herunter. Kälter würde es im Auto nicht mehr werden. Er trat zur Seite und hielt Loki die Tür auf, und der Hund schoss über die Mittelkonsole. Auf dem Beifahrersitz ließ er sich nieder und fing dann grinsend an zu hecheln.
Bis zum Haus war es nicht weit, trotzdem kam Xavier die Fahrt endlos vor. Die Tabletten richteten gegen die Kopfschmerzen nichts aus, sie machten Xavier nur schläfrig. Eigentlich nahm er die Tabletten nie vorm Autofahren, doch war seine Hoffnung gewesen, dass sie der Klaue, die sich in sein Gehirn gekrallt hatte, wenigstens etwas Schärfe nahmen. An jeder Ampel riss ihn sein herabsinkender Kopf in letzter Sekunde aus dem beginnenden Schlaf.
Wenige Minuten vor seinem Haus passierte es dann.
Die Ampel sprang auf Grün, am Rand von Xaviers rechtem Auge wurde alles schwarz, und Loki verschwand aus seinem Blickfeld. Er machte eine Vollbremsung, froh und dankbar, dass hinter ihm kein Auto kam, und bog auf den Parkplatz der nächsten Tankstelle ein. Als er den Kopf nach rechts drehte, tauchte Loki wieder auf. Der Hund hörte auf zu hecheln, legte den Kopf schief und schaute Xavier an, als spürte er, dass mit ihm etwas nicht stimmte. In dem erneuten Versuch, den Schmerz etwas einzudämmen, presste Xavier die Knöchel in die verhärteten Muskeln an seinem Schädelansatz. Loki leckte über seinen Unterarm und stupste seine Hand mit der feuchten Nase an.
»Mir fehlt nichts, Loke.« Minuten später öffnete Xavier die Augen. Er sah den gesamten Parkplatz und Loki am Rand seines Blickfelds. Der Schmerz und der Druck in seinem Kopf waren unverändert, da er aber nicht wusste, wie lange er noch würde sehen können, entschied er, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren. Er kraulte Loki den Kopf und fuhr vom Parkplatz weg.
Als er das Auto hinter dem Haus seines Vaters zum Stehen brachte, konnte er die Übelkeit nicht länger zurückdrängen. Die Nachmittagssonne brannte durch die Windschutzscheibe. Das grelle Licht stieß Dolche in sein Hirn. Ray saß auf seiner Veranda und beäugte Xavier misstrauisch.
»Fuck.« Xavier wollte nur noch die Autotür aufmachen, sich übergeben und den Hund ins Haus bringen, ohne sich Rays Scheißsprüche anzuhören. Dass Ray nach einem Vorwand suchte, um die Polizei rufen zu können, wusste er. Wenn er am helllichten Tag aus seinem Auto kotzte, würde Ray ihn sofort wegen Fahrens unter Alkohol- oder sonst einem Einfluss anzeigen. Xavier schloss die Augen und nahm die Kette mit dem Kreuz um seinen Hals zwischen Daumen und Zeigefinger. Als er die Augen wieder aufmachte, war Ray immer noch da. »Yeah, dass es so nicht funktioniert, hatte ich mir schon gedacht.« Wieder spürte er den stechenden Schmerz und musste würgen. Er fuhr Loki über den Kopf und öffnete die Tür. »Bin gleich wieder da. Muss kurz im Haus alles für dich vorbereiten.«
Er schlug die Tür hinter sich zu, hastete zur Veranda und nahm zwei Stufen auf einmal. Das Fliegengitter knallte gegen die Außenwand, und er streckte Ray im Geist einen Mittelfinger entgegen, während er ins Badezimmer neben der Küche rannte. Er schaffte es gerade noch, den Klodeckel hochzuklappen, bevor er sein Spinat-Eiweiß-Sandwich in die Schüssel kotzte. Kaltes Wasser spritzte ihm ins Gesicht. Weil sein Kopf nach unten hing, verstärkte sich das Druckgefühl, und er würgte heftiger und heftiger. Mit jedem Zusammenziehen seiner Muskeln höhlte sich sein Bauch weiter aus, und er krümmte den Rücken wie eine aufgebrachte Katze. Als nur noch Galle kam, setzte er sich hin und legte den Nacken auf den kalten Badewannenrand. Um die Anspannung zu lockern, drehte er den Kopf nach links und rechts, helfen tat es nicht.
Dann sah er auf dem rechten Auge wieder nur die Hälfte.
Er kam hoch, ging in die Küche und goss sich in der Spüle ein Glas Wasser ein, um noch zwei Tabletten zu nehmen. Weil er in der Hand aber plötzlich kein Gefühl mehr hatte, fiel das Glas und zersprang im Spülbecken. Der Kopfschmerz wollte seinen Schädel durchs Gesicht nach außen drücken.
Eine Hirnblutung. Das war's. Ich bin tot.
Auf allen vieren kroch er ins Schlafzimmer.
Nur zwei Minuten. Ich lege mich nur zwei Minuten hin.
Ohne die Füße vom Boden zu heben, fiel er rückwärts aufs Bett.
Und verlor einen ganzen Tag.
Und als er jetzt auf dem Boden lag, fiel ihm alles wieder ein. Er flehte den Hund an.
»Komm schon, Loki. Du musst trinken.«
Loki hechelte noch schneller. Xavier fuhr mit den Fingerkuppen über seine Wangen, über das weiche Fell zwischen den Augen und berührte die trockene, heiße Nase. Loki sah ihn an, aber als Xavier sich aufsetzte, blieb der Blick des Hundes auf einen Horizont gerichtet, den nur er sehen konnte.
»Nein, Loki. Komm schon. Sieh mich an.«
Eigentlich muss ich ihn zum Tierarzt bringen. Aber was soll ich dem erzählen? Dass ich ihn über Nacht im heißen Auto hab sitzen lassen? Der zeigt mich doch wegen Tierquälerei an. Wahrscheinlich würde Loki die Fahrt zum Arzt sowieso nicht überleben. Gott sei Dank war es nachts etwas kälter. Verdammt tougher Hurensohn. Ich verdiene den Hund nicht. Fuck, ich bringe ihn zum Arzt.
»Okay, wir holen dir Hilfe. Danach besorgen wir dir einen Platz, wo du hingehörst.«
Xavier wollte aufstehen, aber Loki legte ihm eine Pfote auf die Hand. Dann kam der Hund auf den Bauch hoch und robbte zur Wasserschüssel. Xavier hatte Tränen in den Augen und schob die Schüssel näher heran. Loki tauchte die Schnauze ein und schlappte etwas Wasser auf. Er schnaubte, und es spritzte über die Schüssel. Lokis Zunge bewegte sich schneller und schneller.
»Immer schön langsam, Loke. Sonst spuckst du es nur wieder aus.« Xavier streichelte ihm den Rücken. Als er die harten Wirbel an Lokis Rückgrat spürte, zog sich Xaviers Inneres zusammen. Lokis Schwanz wischte über den Laminatboden. »Alles gut, Loki. Alles gut.«
Wem willst du eigentlich was vormachen? Dir selbst, so sieht's doch aus.
Worum geht's hier? Vielleicht darum, dass du nie einen Hund wolltest? Du hast den Köter nur mit nach Hause genommen, weil du dich wegen deines Daddys scheiße gefühlt hast. Du bist verdammt noch mal erwachsen, aber seinetwegen führst du dich wegen irgendeines Mists immer noch wie ein Weichei auf. Entweder das, oder du wolltest einfach nur die weiße Tussi von der Hunderettung ficken. Als ob sie dich ranlassen würde, nur weil du den elendigen Hund mitnimmst.
»Hab vergessen, dass er im Auto war.« Einen Scheiß hast du vergessen. Dass der Hund im Auto saß, hast du ganz genau gewusst.
»Oh, mir tut der Kopf weh.«
»Oh, ich muss mich übergeben.«
»Oh, ich muss mich hinlegen, damit ich einschlafen und den Hund im Auto gar kochen lassen kann, damit ich ihm nicht ins Gesicht schauen muss, wenn ich ihn in ein Tierheim bringe, wo sie ihn dann einschläfern. Denn dann kann ich alles auf die Kopfschmerzen und das Vergessen schieben.«
Du bist eine richtige Bitch, weißt du das? Weil du einsam bist, nimmst du ein Tier mit, das du gar nicht haben willst. Und wenn du merkst, dass das eine blöde Idee war, tust du so, als hättest du den Hund vergessen. Immer zeigst du mit dem Finger auf andere, obwohl alle anderen auf dich zeigen.
»Ich hab keine verbotenen Substanzen genommen. Die Supplements waren verunreinigt.«
»Ich habe mich nicht für Pop entschieden. Sie hat uns im Stich gelassen.«
Immer ist ein anderer schuld, nie der arme, hirntote X. Heul doch.
Reiß dich mal zusammen und krieg deinen Arsch hoch.
Nein, ist mein Ernst. Du liegst hier rum und pennst.
Sicher, dass der Hund nicht tot ist? Glaubst du, die paar Schlucke Wasser haben gereicht?
Bist du eigentlich sicher, dass du ihn ins Haus geholt hast?
Woher weißt du, dass er nicht immer noch im Auto sitzt und langsam gegart wird?
Guck lieber mal nach.
Es sei denn, du willst nicht.
Ich könnt's verstehen.
Xavier öffnete die Augen, kam hoch und stöhnte wegen des Ziehens im Kreuz.
Wo ist er?
Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, am Fußende des Betts war ein Schatten. Der Schatten hob den Kopf und wedelte mit dem Schwanz. Erleichtert atmete Xavier aus und wischte sich Schweiß vom kahlen Kopf. Er legte sich wieder hin und schaute zu der Uhr auf seiner Kommode. Bis Sonnenaufgang waren es nur noch wenige Stunden. Er schloss die Augen, aber vor seinem inneren Auge tauchte ein Bild von Loki auf, wie er hinten im Auto in seiner kaputten Kehle nach dem Geist seiner Stimme suchte und stumm nach Hilfe schrie, bevor er sich hinter dem Beifahrersitz neben einem Haufen seines eigenen Kots zusammenrollte. Nicht länger auf Rettung wartend. Sondern auf den Tod.
An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Um aufstehen zu können, begann er seine Morgenroutine. Mithilfe seiner Hände drehte er die Beine so, dass die Füße auf den Boden aufkamen. Dann wartete er ab, bis sich der Schmerz in seinen Gelenken und der Schwindel in seinem Kopf gelegt hatten. Loki robbte auf der Matratze näher heran, legte den Kopf auf Xaviers Oberschenkel und blickte zu ihm hoch. Xavier massierte ihm den Nacken, und Lokis Schwanz trommelte auf dem Bett herum.
Füße und Pfoten stapften durch den Flur in die Küche. Xavier hievte einen Sack Trockenfutter aus der Vorratskammer und füllte eine Schüssel zur Hälfte, bevor er eine Dose Feuchtfutter öffnete und den Inhalt obendrauf kippte. Nachdem Loki gestern alles Wasser aufgeschlappt hatte, war Xavier eingefallen, dass er kein richtiges Hundefutter im Haus hatte, und er hatte Putenhackfleisch warm gemacht und mit etwas Reis verrührt. Noch nie hatte er ein Tier so schnell fressen sehen. Vermutlich hatte er es heute mit dem Futter übertrieben, aber nach dem Tag gestern – und allen Tagen davor – sollte Loki ab sofort nur noch wie ein König essen.
Noch vor Morgengrauen drehten sie ihre Runde, damit Ray ihn nicht belehren konnte, dass er hinter seinem gemeingefährlichen Hund sauber zu machen hatte, und den Vormittag über brachte Loki damit zu, die Spielzeuge, die Xavier ihm gekauft hatte, mit chirurgischer Sorgfalt zu zerlegen. Xavier, der sich alte DVDs mit Kämpfen der Pride FC und UFC ansah, schaute oft zu Loki hinüber, der dann gerade das nächste quietschende Opfer mit herausquellenden Baumwollinnereien zwischen den Zähnen hielt. Als Xavier sein Handy checkte, waren Stunden vergangen. Bald musste er los, um in Shots Gym beim Training der Boxer, Kickboxer und Mixed-Martial-Arts-Kämpfer zu helfen.
Obwohl er wusste, dass er für Shot eine überzeugende Erklärung würde parat haben müssen, konnte er Loki nicht einfach zu Hause lassen. Wenn es nach ihm ginge, würde der Hund nie wieder allein bleiben. Dass er kurz einkaufen fuhr oder andere Dinge erledigte, ließ sich natürlich nicht vermeiden – aber ein ganzer Tag im Gym? Er hatte das mit dem Hund nicht zu Ende gedacht.
Er packte seine Sporttasche, legte Loki die Leine um und marschierte mit ihm zur Hintertür. Vor dem Kalender, der am Kühlschrank hing, blieb er stehen. Vergangene Tage waren durchgeixt. Der letzte Tag des Monats war eingekreist. Jeden Tag konnte »der Anruf« jetzt kommen – und seine Sperre wäre vorbei.
Xavier zog die Kappe des mit einer Schnur am Kühlschrank befestigten Filzstifts ab und malte zwei sich kreuzende Striche durch das heutige Datum. Dann schaute er zu Loki runter.
»Bald ist es so weit.«
Kurz vor dem Auto trat Loki auf die Bremse, so wie gestern, als Xavier mit dem Hund zum Futterladen fahren wollte. Obwohl er im Auto gründlich sauber gemacht hatte, musste es für Loki immer noch nach Tod riechen und wie ein Grab wirken. Am Ende hatte Xavier ihn hochheben und auf den Beifahrersitz setzen müssen. Während der gesamten Fahrt hatte der Hund gezittert.
Jetzt ging Xavier vor Loki in die Hocke und nahm sein Gesicht in die Hände. »Nie wieder, Loke. Versprochen. Nie wieder.« Er kraulte ihn hinter den Ohren. Loki atmete ein und aus, zufrieden oder resigniert, das konnte Xavier nicht einschätzen. Trotzdem stand Loki auf und sprang auf den Beifahrersitz.
Auf dem Lincoln Drive war nicht viel Verkehr. Niemand rückte Xavier auf die Pelle und hielt ihn davon ab, die Aussicht auf den üppig grünen Wissahickon Valley Park zu genießen. Als Loki zur monolithischen Henry Avenue Bridge hochsah und beim Unterqueren automatisch den Kopf einzog, musste Xavier lachen. In den nächsten Tagen würde er mit dem Hund zum Forbidden Drive fahren und mit ihm zum Creek gehen, nahm er sich vor. Und er fragte sich, ob Loki überhaupt das Gefühl kannte, die Pfoten ins Wasser zu stecken. Im nächsten Moment sah er im Geist, wie Loki in einem Hof angekettet war und langsam verhungerte, wie er sich hinten in seinem Auto zusammenrollte. Xaviers Gedächtnis hatte ihn in letzter Zeit so oft im Stich gelassen, aber dieses Bild wollte es partout nicht löschen. Er strich Loki über den Kopf und bog in die Main Street ein.
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