Umweg zum Sommer - Stefan Kuhlmann - E-Book

Umweg zum Sommer E-Book

Stefan Kuhlmann

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Beschreibung

Einmal die Küste runter, immer am Meer entlang. Für Martin, 49, abgerockter Musiker, One-Hit-Wonder von vor 20 Jahren, steht die Route fest. Sein Ziel: ein Musikfestival in Portugal, seine große Chance aufs Comeback. Als seine Schwester ihn kurz vor Abreise bittet, während ihres Reha-Aufenthaltes auf ihren Sohn Karl aufzupassen, ist die Antwort klar: Nein. Einen 12-Jährigen kann Martin gerade überhaupt nicht gebrauchen. Er bringt den Jungen bei Oma unter und fährt los, in seinem alten Kombi, immer in Richtung Süden. Doch kaum ist er richtig on the Road, macht sich ein blinder Passagier auf der Rückbank bemerkbar: Karl hat überhaupt keine Lust auf Ferien bei Oma, er ist fest entschlossen, mit nach Portugal zu kommen. Die beiden ungleichen Reisegefährten – Martin, der Kindskopf, und Karl, der eigentlich viel zu erwachsen ist für sein Alter – brechen auf zu einer Reise voller Abenteuer. Sie werden Geflüchteten helfen, Ladendiebstahl begehen, als Straßenmusiker auftreten. Und Karl wird sich zum ersten Mal verlieben, im Licht eines leuchtenden Sommers, der alles verändert.

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Seitenzahl: 423

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Stefan Kuhlmann

Umweg zum Sommer

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein Buch wie Pommes am Meer.

Eine Geschichte, so groß wie der Sommer.

 

Einmal die Küste runter, immer am Meer entlang. Für Martin, ehemals Musiker, heute erfolgloser Lebenskünstler, steht die Route fest. Sein Ziel: ein Musikfestival in Portugal. Seine große Chance aufs Comeback.

Als seine Schwester ihn kurz vor Abreise bittet, zwei Wochen auf ihren Sohn Karl aufzupassen, ist die Antwort klar: Nein. Einen altklugen Zwölfjährigen kann Martin gerade nicht gebrauchen. Er liefert Karl also bei Oma ab und fährt los, in seinem alten Kombi in Richtung Süden. Doch kaum ist er richtig on the road, macht sich ein blinder Passagier im Kofferraum bemerkbar: Karl hat überhaupt keine Lust auf Ferien bei Oma und ist fest entschlossen, mit nach Portugal zu kommen.

Die beiden ungleichen Reisegefährten – Martin, der Freigeist, und Karl, die Nervensäge mit dem großen Herzen – stürzen sich in eine Reise voller Abenteuer. Sie werden Straßenmusik machen, vor der Polizei flüchten, einen Menschen retten. Und Karl wird sich zum ersten Mal verlieben, im Licht eines leuchtenden Sommers, der alles verändert.

 

«Stefan Kuhlmann weiß, wie man Geschichten schreibt: direkt aus dem Leben, voller Dialogwitz und herrlicher Überraschungen.» Alina Bronsky

Vita

Stefan Kuhlmann wuchs in Norddeutschland auf und lebt heute als freier Autor in Berlin, wo er vor allem für Film und Fernsehen schreibt. Aus seiner Feder stammen die Drehbücher zu mehr als 50 Spielfilmen und Serienepisoden, unter anderem zu der erfolgreichen ZDF-Reihe Familie Bundschuh. Umweg zum Sommer ist sein zweiter Roman.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Hanne Reinhardt

Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-02160-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

1

«Manchmal habe ich das Gefühl, du stellst dich mit Absicht so an.»

«Was soll das jetzt wieder?», fragte Martin mit leichter Empörung, während er sich den blutenden Finger in den Mund steckte. Beim Knoblauchschneiden hatte er sich verletzt, doch statt ihm ein Pflaster zu holen, kritisierte Sophie ihn.

«Weil du das immer so machst. Und am Ende koche ich wieder alleine.»

Martin riss ein Stück Küchenpapier von der Rolle und wickelte es sich um den Finger. «Genau, ich habe mich mit Absicht geschnitten.»

Er ahnte, dass der Abend nicht so harmonisch verlaufen würde, wie er gehofft hatte. Dabei hatte sie ihn diesmal gar nicht groß bitten müssen. Er hatte sogar richtig Lust gehabt, mit ihr gemeinsam zu kochen, vor allem Lasagne, die zu seinen absoluten Lieblingsgerichten gehörte. Wie immer kochten sie in Sophies Wohnung, weil in seiner winzigen Kochnische kaum Platz für eine Müslischale war. Die Größe seiner Wohnung war auch der Grund, warum mit der Zeit immer mehr seiner Habseligkeiten bei ihr gelandet waren. Was nicht bedeuten sollte, dass er schleichend bei ihr einzog. Für Martin funktionierten Beziehungen nur, wenn beide ihre Freiräume und Rückzugsmöglichkeiten hatten.

Darin sah er sich jetzt wieder bestätigt, als Sophie aufgebracht mit dem Kochlöffel vor seinem Gesicht herumwedelte und seiner Nase dabei gefährlich nah kam. «Weißt du, wie man das nennt? Strategische Inkompetenz.»

Martin atmete tief durch. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber ganz offensichtlich war seine Freundin auf Krawall gebürstet, was in letzter Zeit öfter vorkam. Was war bloß passiert? Eben noch waren sie verliebt und unzertrennlich gewesen. Jetzt steuerten sie auf einen Rosenkrieg zu.

«Wann hast du jemals eine Lasagne für mich gemacht?», fragte Sophie.

Martin starrte sie verblüfft an. Er hatte tatsächlich noch nie Lasagne für sie gemacht und sich in der Küche auch sonst tunlichst zurückgehalten. Dafür sollte sie ihm dankbar sein.

«Du weißt doch, dass ich nicht kochen kann.»

«Darum geht’s nicht.»

Martin runzelte die Stirn. «Es geht bei Lasagne nicht ums Kochen?»

«Es geht ums Prinzip.»

«Bitte, wenn du dir unbedingt den Magen verderben willst, mache ich die nächste.»

Martin empfand diese Gefahr als durchaus real. Sophie hatte mal behauptet, ihm sei zuzutrauen, dass er Wasser anbrennen ließ. Damals hatte sie es scherzhaft gemeint und dabei gelacht. Fröhlich war heute rein gar nichts an ihr. Er verstand nicht, wieso sie etwas von ihm verlangte, worin sie eindeutig talentierter war als er. Schon jetzt ließ ihm der Duft von dem mit Oregano gewürzten Hackfleisch, das in der Pfanne brutzelte, das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sophies Lasagne war eine Wucht und kam sogar an die heran, die seine Mutter früher zubereitet hatte. Wobei zubereitet es nicht wirklich traf. Seine Mutter war nicht die Art Frau, die ihre Zeit mit Kochen oder anderen Haushaltsaufgaben verschwendete. «Wofür hat der liebe Gott Restaurants erfunden?», hatte sie immer gesagt. Für Martin war das noch kein Grund gewesen, dem Knabenchor der Kirchengemeinde beizutreten, aber auch er war dem lieben Gott dankbar für die Pizzeria Napoli, die ganz in der Nähe seines Elternhauses eröffnet und bei der seine Mutter regelmäßig bestellt hatte. Er hatte so seine Probleme mit seiner Mutter. Aber in dem Punkt musste er ihr uneingeschränkt recht geben.

Auf dem Küchenpapier um Martins Finger breitete sich ein Blutfleck aus. Er drehte den Wasserhahn auf und hielt seine verletzte Hand in das kühlende Nass. «Hast du irgendwo Verbandszeug?»

Sophie schüttelte den Kopf. «Warum rufen wir nicht gleich den Notarzt?»

Martin hielt ihr verärgert seinen verletzten Zeigefinger hin. «Das ist mein linker!»

Er war Linkshänder und stolz darauf, denn man sagte Linkshändern nach, besonders kreativ und ideenreich zu sein. Jimi Hendrix, Paul McCartney, Kurt Cobain? Alles Linkshänder. Dass Martin diesem illustren Kreis angehörte, kam für ihn einer Auszeichnung gleich.

Sophie konnte er damit nicht beeindrucken.

«Hast du Angst um deinen großen Auftritt?»

Der leichte Spott in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Martin ärgerte sich: Warum weigerte sie sich zu verstehen, wie wichtig die Sache für ihn war?

Mike, sein Manager beim Musiklabel, hatte ihn um einen Gefallen gebeten. Eine Nachwuchsband würde in einigen Tagen einen Gig auf einem Rockfestival in Portugal spielen. Martin sollte für den Bassisten einspringen, der ein massives Drogenproblem hatte und auf unbestimmte Zeit ausfiel. Finanziell war dabei nicht viel drin – genau genommen würde er an einem Tag als Straßenmusiker mehr verdienen. Aber Mike hatte ihn mit einer Soloeinlage geködert. Martin würde seinen eigenen Hit und zwei neue Songs zum Besten geben können. Und darin lag eine Riesenchance.

«Immerhin ist das ein Auftritt auf einem der größten Festivals in Europa», stellte Martin klar.

«Es ist noch nicht mal deine Band.»

«Es geht ums Rampenlicht, die Publicity, Leute zu treffen, wieder in aller Munde zu sein. Aber von dem Business verstehst du einfach nichts.»

«Doch, doch, ich verstehe schon. Gage, Spesen, Unterkunft exklusive. Dafür Anreise auf eigene Kosten.»

«Warum musst du immer so übertreiben? Natürlich gibt’s eine Gage.»

«Zweihundert Euro.»

«Und die Unterkunft wird auch bezahlt.»

Sophie lachte hämisch auf. «Ja. Die Nacht beim Festival. Und wie kommst du dahin? Willst du dich nach Portugal beamen?»

Tatsächlich hatte Martin dieses Problem bisher ausgeklammert. Aber er würde wie immer eine Lösung finden. Zu gegebener Zeit. Jetzt hieß es erst mal, das große Ganze im Auge zu haben. «Es geht um den ideellen Wert, und der ist unbezahlbar.»

«Aber es gibt keine ideelle Miete», entgegnete Sophie entschieden.

Martin kam sich vor, als sei er der Luftballon, in den sie gerade eine Nadel gepiekt hatte. Tatsächlich hatte Sophie ihm erst letzten Monat zweihundert Euro leihen müssen, weil er nicht mehr genug Geld für die Miete auf dem Konto hatte. Wie sollte er jetzt dagegen argumentieren? Vielleicht hätte er in den Verhandlungen um seinen Gig wirklich etwas fordernder auftreten sollen. Allerdings wollte er sein Blatt nicht überreizen, er war wirklich froh, dass er überhaupt dabei sein durfte.

«Martin, ich will dir nicht zu nahe treten, aber dein letzter großer Hit ist sechsundzwanzig Jahre alt.»

Martin schwieg. Er fand es unnötig und verletzend, dass sie ihn an seine stagnierende Karriere erinnerte. Auch wenn Sophie recht hatte. Es war 1999 gewesen, also noch ein anderes Jahrtausend, als er mit You Don’t Know Me die Charts gestürmt hatte und bis auf Platz drei gekommen war. Seitdem war nicht mehr viel passiert. Oder besser gesagt: gar nichts. Dennoch würde er kein One-Hit-Wonder bleiben. Er glaubte weiterhin fest daran, dass ihm früher oder später ein Comeback gelingen würde. Vielleicht in diesem Sommer. Ganz bestimmt sogar. Aber anstatt ihn bedingungslos zu unterstützen, warf Sophie ihm Knüppel zwischen die Beine. Kam ihm mit, wie sie es nannte, gesundem Menschenverstand.

«Mit Ende vierzig sollte langsam Schluss sein mit um die Häuser ziehen», sagte sie, und es war nicht schwer zu erahnen, dass dies wieder mal die Einleitung für eine Litanei über seinen Lebenswandel war. Dabei hatte er sein Leben doch bereits radikal verändert. Er ging höchstens noch zweimal die Woche aus. Und jedes zweite Wochenende verbrachte er mit ihr in der Wohnung, um gemeinsam vor dem Fernseher abzuhängen oder, das war mehr so Sophies Ding, einfach mal zu quatschen. Nur zu Sport ließ er sich partout nicht überreden. Es gab Grenzen. Er zog sich bestimmt keine Laufschuhe an, nur weil sie vor Kurzem das Joggen für sich entdeckt hatte. Nicht einmal die von ihr propagierte Aussicht auf ein längeres und fitteres Leben konnte ihn dazu bewegen. Er fühlte sich fit und ganz sicher noch nicht alt genug, um sich über seine Lebenserwartung Gedanken zu machen. Die Zeiten hatten sich geändert. Heute war neunundvierzig das neue neunundzwanzig. Vor allem in einer Stadt wie Berlin. Solange es in den angesagten Clubs noch Türsteher gab, die älter waren als er, musste er sich keine ernsthaften Sorgen machen.

Martin betrachtete seinen Finger. Die Blutung hatte aufgehört. Es war plötzlich still geworden. So als hätten beide ihr Pulver verschossen. Das einzige Geräusch verursachte das vor sich hin brutzelnde Fleisch in der Pfanne, das Sophie lustlos hin und her schob. Martin sah sie von der Seite an. Schon seit Tagen beschäftigte ihn ein Gedanke, den er sich nicht auszusprechen traute. Es war wie ein ganz feiner, kaum sichtbarer Splitter, den man sich in den Fußballen getreten hatte und den man nur mit einer feinen Pinzette wieder herausbekam. Dementsprechend vorsichtig tastete er sich heran. «Sag mal, kann es sein, dass du deinen Frust an mir auslässt?», fragte er, so beiläufig er konnte.

«Na klar, du Blitzmerker.»

Er hatte es gewusst. Er war sich nur nicht sicher gewesen, ob sie es wirklich zugeben würde. Doch so wie es aussah, wurde Sophie selber langsam klar, dass sie sich auf einem Irrweg befand. Martin verbot sich einen triumphierenden Ton. Was jetzt gefragt war, war ein Maximum an Einfühlungsvermögen. Er wollte ihr eine Brücke bauen, ihren Fehler einzugestehen. Nur so würden sie wieder zu ihrer alten Harmonie finden. «Du kannst es mir ruhig sagen.»

Sophie sah ihn fragend an. «Was?»

Er lächelte milde und streichelte sanft ihren Arm. «Es ist nicht schlimm, sich einen Fehler einzugestehen.»

«Wovon redest du?»

«Du und Lehrerin? Das war von Anfang an eine …» Er machte eine Pause und suchte nach den richtigen Worten. «Nennen wir es verwegene Idee.» Schon als sie zum ersten Mal davon erzählt hatte, den Job als Barkeeperin an den Nagel zu hängen und den Quereinstieg als Lehrerin zu versuchen, war es zu einem heftigen Streit gekommen. Martin hatte ihr vehement abgeraten.

Sophie funkelte ihn ungläubig an. «Du glaubst allen Ernstes, es liegt an mir?»

«Wer von uns beiden ist denn dauernd so unzufrieden?»

«Vielleicht will ich einfach mehr vom Leben.»

«Was soll das denn bedeuten?» Das konnte Martin so nicht gelten lassen. Es gab Durststrecken, ja, aber er war trotzdem ein glücklicher Mensch und zufrieden mit seinem Leben. «Wir schwimmen nicht in Geld, aber dafür haben wir etwas sehr viel Wichtigeres: Freiheit.» Er fand, dass das Pathos, das in seiner Stimme lag, durchaus angebracht war.

«Was ist, wenn ich ein Kind möchte?», fragte Sophie.

«Ein was?», entfuhr es Martin, der für einen kurzen Moment das Gefühl hatte, als hätte er an eine Starkstromleitung gefasst. Er versuchte, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. Nicht dass Sophie das auch noch gegen ihn auslegte. Kinder waren noch nie ein Thema zwischen ihnen gewesen. Aber klar, sie war ein paar Jährchen jünger als er. Elf, um es genau zu sagen. Irgendwann musste der Hormoncocktail in ihr ja hochkochen. Und eigentlich hatte Martin auch nichts gegen Kinder. Er fand nur irgendwie keinen Draht zu ihnen.

«Kann man drüber reden», meinte er beschwichtigend und hörte selber, wie halbherzig er klang.

Sophie lachte auf, aber amüsiert war sie nicht. «Du bist ja richtig begeistert.»

Sie schienen in ihrer Beziehung an den Punkt gekommen zu sein, an dem Frauen prüften, ob sie den richtigen Ernährer an ihrer Seite hatten. Das war ein gefährlicher Moment. Er musste ihr unter allen Umständen etwas anbieten, das sie beschwichtigte.

«Nein, wirklich. Sobald die Zeit reif ist …»

Sie schaute ihn an wie eine strenge Bundespolizistin am Flughafen, die in ihm einen verdächtigen Passagier vermutete. Vor seinem inneren Auge sah Martin, wie sie ihre Hand langsam an das Halfter ihrer Waffe führte, es öffnete und die Pistole zog.

«Martin, du bist überreif!»

2

Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Diesen Spruch konnte nur jemand in die Welt gesetzt haben, der unmittelbar mit dem Aussprechen der letzten Silbe das Zeitliche gesegnet hatte. Nur deshalb konnte er seine Meinung nicht mehr ändern. Denn eins stand unumstößlich fest: Solange man lebte, konnte es immer noch schlimmer kommen.

Schlimm, schlimmer und noch schlimmer, dachte Martin, während er gegen sein Auto gelehnt eine Zigarette rauchte und den Blick über den Schulhof gleiten ließ. Die letzten Tage waren Herausforderung genug gewesen, um nicht zu sagen eine echte Katastrophe. Am Ende war ihre Diskussion über den Unterschied zwischen biografischem und biologischem Alter eskaliert. An den genauen Wortlaut konnte Martin sich nicht erinnern, aber als er später allein in seiner Wohnung hockte und lustlos Chips in seinen Mund stopfte statt genussvoll Lasagne, wurde ihm klar, dass er Sophie nicht hätte fragen sollen, warum sie überhaupt noch mit ihm zusammen war. Eine bessere Steilvorlage hätte er ihr nicht bieten können.

Er versuchte, einen Ring aus Zigarettenrauch aufsteigen zu lassen. Eigentlich hatte er gerade mal wieder mit dem Rauchen aufgehört. Aber seine Laune war an einem absoluten Tiefpunkt, da konnte er sich nicht auch noch mit Kopfschmerzen aufgrund von Nikotinentzug herumschlagen.

Nach fast fünf Jahren Beziehung hatte seine Freundin ihm den Laufpass gegeben; beim Versuch, Geld am Bankautomaten abzuheben, war seine Karte eingezogen worden; und ganz so, als würde das Schicksal ihm den Mittelfinger zeigen wollen, begannen heute auch noch die Sommerferien. Seit das Kind seiner Schwester das schulpflichtige Alter erreicht hatte, löste jeder Ferienbeginn einen Schauder in ihm aus. Da Nicole berufstätig und alleinerziehend war, war sie auf Martins Hilfe angewiesen. Und was sollte er tun? Blut war nun mal dicker als Wasser. Nicole war für ihn immer schon mehr als nur eine große Schwester gewesen, und er war der festen Überzeugung, dass er ihr jede Form von Hilfe schuldig war. Sie war sein Fels in der Brandung, sein Zufluchtsort in dunklen Zeiten, sie war seine Familie. Und, was auch nicht ganz unerheblich war, sie war seine Kreditgeberin, wenn er mal wieder knietief im Dispo steckte. Womit sich ein Kreis schloss, denn das war gerade der Fall. Ohne die finanzielle Unterstützung seiner Schwester würde er nicht nach Portugal kommen. Aber diesmal müsste er sie nicht um ein Darlehen mit unbekannter Laufzeit bitten, sondern um eine Investition in zukünftige Spotify-Erlöse. Der Auftritt würde alles ändern. Martin sah endlich wieder Licht am Ende des Tunnels. Und das gab ihm trotz des ganzen Schlamassels Hoffnung.

Er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem Nicole ihm die «freudige» Botschaft ihrer Schwangerschaft überbracht hatte, weil es der Tag gewesen war, an dem er zum ersten Mal Level 56 bei World of Warcraft erreicht hatte. Seine Entscheidung, den Weg über die Insel der Verbannten zu riskieren, hatte sich als goldrichtig entpuppt. Es war magisch gewesen. Eigentlich hatte er vorgehabt, mit ein paar Freunden ordentlich darauf anzustoßen, doch dann hatte Nicole angerufen und ihn spontan in ein superstylisches Sternelokal eingeladen. Als sie ihm zum Aperitif wortlos ein Röntgenbild vorgelegt hatte, war seine gute Laune mit einem Schlag einem mulmigen Gefühl gewichen. Und als seine Schwester dann angefangen hatte zu weinen, hatte ihn endgültig nackte Angst gepackt. Bis er verstanden hatte, dass da kein Röntgenbild vor ihm lag, sondern eine Ultraschallaufnahme, und das merkwürdige Gebilde darauf kein aggressiver Tumor war, sondern ein Embryo. Ganz sicher war Martin bis heute nicht, ob ihre Schwangerschaft tatsächlich ein «Unfall» gewesen war, wie seine Schwester steif und fest behauptete. Oder ob sie in ihrem Urlaub in Südfrankreich nicht von vornherein etwas ganz anderes gesucht hatte als Sonne, Strand und Erholung. Nämlich einen Erzeuger.

Nicole plante ihr Leben stets bis ins letzte Detail. Bei ihr geschah nie etwas zufällig. Eine Schwangerschaft schon gar nicht. Dafür hatte auch die Vehemenz gesprochen, mit der sie die Alternative ablehnte, die Martin ihr nahegelegt hatte. Er hatte das nicht leichtfertig getan, aber Nicole hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Fehlgeburt erlitten, und er machte sich ernsthaft Sorgen. Doch sie ließ sich nicht umstimmen. Mit achtunddreißig Jahren hatte sie genug gescheiterte Beziehungen hinter sich, um zu wissen, dass sie keinen Mann wollte. Sie wollte ein Kind. Und jetzt hatte er den Salat. Beziehungsweise Karl.

Die Schulglocke klingelte, und Martin zündete sich eine weitere Zigarette an, während er den Eingang des Pete-Seeger-Gymnasiums im Blick behielt, aus dem jetzt mehr und mehr Schulkinder strömten. Mit aufrechtem Gang, befreit und ausgelassen, nicht so wie morgens, wenn sie ihren Fluchtreflex unterdrückten und mit gesenktem Haupt und eingezogen Schultern die Lehranstalt betraten.

Martin sah seinen Neffen auf sich zukommen. In den Händen eine riesige Bastelarbeit, die er vor sich herbalancierte. Ein unförmiger Holzkasten mit schwarzen Plättchen, die wie Solarmodule aussahen, und einem Wust aus bunten Kabeln im Inneren. Auf dem Rücken trug Karl seinen Rucksack, aus dem ein großes Stofftier herauslugte. Martin hatte ihm den Orca zum Geburtstag geschenkt, nachdem Nicole ihm den Tipp gegeben hatte, dass der Junge ganz versessen war auf alles, was mit dem Meer zu tun hatte. Allerdings war das mindestens fünf Jahre her – für Martins Geschmack war Karl längst zu alt für Stofftiere.

Zu jung hingegen war er für diese seltsamen Pullunder mit Rautenmuster, die er so gerne trug und die ihn wie einen zu klein geratenen Physikprofessor erscheinen ließen. Martin konnte nur schwer darüber hinwegsehen, auch wenn ihn Nicole schon oft gebeten hatte, Karl in Ruhe zu lassen mit seinen Modetipps. Aber was sollte er machen? Er wusste, wie wichtig der äußere Eindruck war, um bei anderen gut anzukommen. Und deshalb war ihm sein eigenes Äußeres extrem wichtig. Er war stolz auf seinen Style. Er wusste, was angesagt war, welche Marken man trug, und bewahrte sich dennoch einen Tick Individualität. Für seinen Neffen hingegen sah er schwarz. Karl hatte einfach keine Linie. Er ging noch nicht mal als cooler Nerd durch.

Karl war am Auto angekommen, aber anstatt Martin zu begrüßen, schaute er abschätzig auf die Zigarette in seiner Hand.

«Raucher haben ein 14,8 Prozent höheres Risiko, an Lungenkrebs zu sterben.»

«So was lernt ihr heute in der Schule?»

«Das habe ich in der Apotheken Umschau gelesen.»

Martin wollte weder wissen, warum Karl die Apotheken Umschau las, noch hatte er Lust, das Thema weiter zu vertiefen. «Weißt du, was ich gelesen habe? Kleine Jungs, die alles besser wissen, haben eine 50 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, aus einem fahrenden Auto zu fliegen.»

«So eine Statistik gibt es gar nicht», erwiderte Karl unbeeindruckt.

Martin schnippte seine Kippe zu Boden und trat sie mit dem Schuh aus.

«Das ist Umweltverschmutzung. Dafür kann ich dich anzeigen», meckerte Karl.

«Ich fahre dich gerne zur Polizei. Die haben sicher gerade nichts Besseres zu tun.»

«Ihr habt diesen Planeten nur von uns geborgt.»

Martin rollte mit den Augen. Mit seiner Besserwisserei trieb Karl ihn immer wieder zur Weißglut. Und wahrscheinlich nicht nur ihn.

«In dem Punkt kann ich dich beruhigen. Der ist sowieso verloren.»

Das war tatsächlich seine Meinung. Anstatt sich auf einer Straßenkreuzung festzukleben oder das Brandenburger Tor anzusprühen, genoss er lieber das schöne Wetter beim Sonnenbaden am Landwehrkanal. Die Menschheit war ohnehin beratungsresistent und lief sehenden Auges in ihr Verderben.

Martin hob die Kippe auf und entsorgte sie in einem Mülleimer. Dann deutete er auf das Ungetüm in Karls Händen. «Was ist das für ein Ding?»

«Eine solarbetriebene Ladestation.»

«Aha? Und was kann man damit laden?»

«Smartphones.»

«Wie praktisch. Und so schön handlich. Das wird garantiert ein Verkaufsschlager.»

«Das ist nur ein Prototyp.»

«Sag Bescheid, wenn’s in Serie geht. Vielleicht kaufe ich mir eins.»

«Frau Lüdenscheid wollte mir nur eine Zwei geben. Aber das habe ich abgelehnt.»

Martin konnte sich das Drama, das sich im Klassenraum abgespielt haben musste, nur zu gut vorstellen.

«Und jetzt sechs Wochen ohne dich? Wie hält deine Frau Lüdenscheid das nur aus?»

«Ich denke, gut. Sie hat gesagt, dass sie ihren Urlaub kaum erwarten kann.»

«Das glaube ich ihr aufs Wort», kommentierte Martin trocken.

«Sie und ihr Mann fahren zum Camping in die Toskana», führte Karl weiter aus.

«Ein guter Ort, um noch mal darüber nachzudenken, warum sie ausgerechnet Lehrerin werden musste.»

Karl runzelte die Stirn. «Warum sollte sie das tun?»

Halb Physiker, halb Kind, dachte Martin. Mit Zahlen und Statistiken konnte Karl souverän jonglieren, aber seine Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, war immer noch komplett unterentwickelt. Wenigstens in diesem Punkt hatte Martin ihm etwas voraus.

«Sie hat mir dann jedenfalls eine Eins minus gegeben», fuhr Karl nüchtern fort.

«Du bist so richtig beliebt bei deinen Lehrern, was?»

«Bei denen muss ich nicht beliebt sein.»

«Bei mir schon. Rein damit», sagte Martin, deutete auf Karls Bastelarbeit und öffnete den Kofferraum. «Und dann einsteigen.»

Auf Karls Gesicht machte sich Entsetzen breit. «Da drin sieht’s aus wie im Müllcontainer bei uns im Hof!»

Martin schaute in den Kofferraum. Tatsächlich herrschte dort ein einziges Chaos aus gebrauchten CDs, Blu-ray-Discs und PC-Games, die Martin zu Geld machen wollte. Aber es war sein Chaos, und solange er damit leben konnte, musste Karl es auch. Er hatte ihm zuliebe schon darauf verzichtet, im Auto zu rauchen. Weil sein Neffe sich bei Nicole beschwert hatte. Irgendwann war seine Großzügigkeit auch mal ausgereizt.

«Und wenn die Ladestation da drin kaputtgeht?», fragte Karl besorgt.

«Und wennschon? Du hast doch deine Eins minus.»

Karl schenkte ihm einen vernichtenden Blick und ließ ihn stehen. Umständlich öffnete er mit einer Hand die Tür auf der Beifahrerseite, zwängte sich auf den Sitz und nahm seine Ladestation auf den Schoß.

Martin rollte genervt mit den Augen und warf die Kofferraumklappe zu. Er spürte das dringende Verlangen nach einer weiteren Zigarette. Weniger erpicht hingegen war er auf eine ausufernde Diskussion über die Gefahren der Nikotinsucht.

Er seufzte. Die Zigarette musste warten.

 

«Wie war dein letzter Schultag so?», fragte Martin, während er den Wagen durch den Verkehr lenkte. Obwohl es kaum etwas gab, das ihn weniger interessierte als der Schultag eines Zwölfjährigen, fühlte er sich irgendwie verpflichtet, ein wenig Small Talk zu betreiben. Nicht nur, weil man das in der Familie so machte, sondern auch, weil dieses Schweigen ein Unwohlsein in ihm auslöste. Er war nun mal ein geselliger Typ, er konnte mit Menschen, sie konnten mit ihm, und obwohl er für Karls Zukunft schwarzsah – zumindest in zwischenmenschlicher Hinsicht –, bewahrte Martin sich ein Fünkchen Hoffnung, etwas davon auf Karl zu übertragen. Vielleicht konnte er seinem Neffen ein Vorbild sein. Karl musste nichts weiter tun, als seine Augen zu öffnen und Martin zuzuschauen. Dann würde er lernen, sich locker zu machen, open minded zu sein und sich für coole Sachen zu interessieren, statt möglichst viele Nachkommastellen der Zahl Pi auswendig zu lernen.

«Deutsch: Vorstadtkrokodile analysiert. Englisch: einen Film fürs Hörverstehen geschaut. Physik: Arbeiten besprochen», ratterte Karl herunter wie ein menschlicher Lehrplan.

«Und?», fragte Martin, der eigentlich auf etwas anderes hinauswollte.

«Das war alles.»

«Ich wollte wissen, wie es dir geht. War es ein schöner Tag für dich?»

Karl schaute ihn fragend an. «Normal?»

«Und? Wie fühlst du dich so? Freust du dich auf die Ferien? Den Urlaub mit deiner Mutter?»

«Klar.»

Martin seufzte kopfschüttelnd und schenkte Karl einen Seitenblick. Jeder Versuch eines halbwegs normalen Gesprächs mit ihm führte in eine Sackgasse. Er hatte keine Lust mehr. Es war zu mühsam, Karl jedes Wort aus der Nase zu ziehen. Er schaltete das Radio ein, konzentrierte sich auf den Verkehr und steuerte den Parkplatz ihres favorisierten Schnellrestaurants an.

Kurz darauf saßen Martin und Karl einträchtig nebeneinander und aßen schweigend Burger mit Pommes. Zumindest in dem Punkt gab es keinerlei Unstimmigkeiten zwischen ihnen. Eigentlich hatte Nicole ihm aufgetragen, auf Karls Konsum von Fast Food zu achten. Aber nachdem Martin ihn einmal in eines dieser angesagten veganen Vietnam-Restaurants geschleppt und Karl eine Riesenszene gemacht hatte, weil er mit der Konsistenz des Fake-Chicken und des No-Beefs nicht zurechtkam, hatten die beiden einen stillen Pakt geschlossen. Der Junge durfte essen, was er wollte, solange seine Mutter nichts davon erfuhr. Karl hielt sich daran. Für ihn stand schließlich am meisten auf dem Spiel. Und da sein Gewicht sich auf magische Weise nicht veränderte, egal was er aß, musste niemand etwas von ihrem Geheimnis erfahren.

«Hey», rief Karl protestierend, als Martin sich eine Pommes von seinem Tablett stibitzen wollte. Martin war bereits fertig mit Essen. Es war eine Angewohnheit von Karl, sämtliche Pommes aus der Tüte zu schütten und links und rechts neben das Häufchen jeweils einen Klecks Ketchup und einen Klecks Mayonnaise zu geben. Immer in sicherem Abstand zueinander. Sein Neffe hasste es, wenn die beiden Soßen sich vermischten.

«Wenn du Pommes willst, bestell dir selber welche», riet Karl ihm und zog sein Tablett näher an sich heran.

«Ich wollte nur helfen. Schließlich wollen wir nicht den halben Tag hier verbringen.»

«Mama hat gesagt, dass man jeden Bissen fünfzehn bis dreißig Mal kauen soll.»

Martin deutete auf das Tablett. «Würde deine Mama das da sehen, würde sie dir noch was ganz anderes erzählen.»

Karl steckte sich unbeeindruckt die nächste Pommes in den Mund. Martin war versucht, mitzuzählen, wie oft er kaute, fand es dann aber doch zu albern.

«Wenn das Essen im Mund mechanisch zerkleinert wird, beginnen die Enzyme im Speichel bereits, die Nahrung zu verdauen», erklärte Karl kauend.

Martin fand die Vorstellung irgendwie unangenehm und verzog das Gesicht. «Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, dass man mit vollem Mund nicht spricht?»

Karl kaute schweigend weiter, während Martin ungeduldig auf die Uhr schaute. Den Begriff Schnellrestaurant führte sein Neffe ad absurdum. Als er endlich fertig war, stand Martin auf und griff sein Tablett, um den Abfall zu entsorgen und es in den Trolley zu stellen. Karl tat es ihm gleich, wobei Martin aus den Augenwinkeln sah, wie er auf die Spielzeuge schaute, die an der Wand auf dem Happy-Meal-Plakat abgebildet waren, das Thema war offenbar die Tiefsee.

«Du weißt, dass die hierbleiben müssen.»

Karl nickte. «Ich weiß, keine Beweise», sagte er, zuckte die Schultern und warf seinen Becher in die Tonne. «Der Maßstab passt sowieso nicht, der Oktopus hat zu kurze Arme, und der Blauwal ist im Verhältnis viel zu klein.» Er warf noch einen verächtlichen Blick auf das Plakat und verließ das Restaurant. Martin folgte ihm ins Freie.

 

Da Karl sich schon immer standhaft weigerte, auch nur einen Zeh in Martins Wohnung zu setzen, fuhren sie nach dem Essen direkt zu ihm und Nicole nach Hause. Tatsächlich hatte die Wohnung seiner Schwester deutlich mehr zu bieten als die an Lichtknappheit leidende Erdgeschosswohnung im Hinterhof, die Martin seit Studienzeiten bewohnte und in der jede Grünpflanze innerhalb kürzester Zeit zugrunde ging. Nicoles Penthouse war hell, stets aufgeräumt und bot einen fantastischen Panoramablick über die Dächer der Stadt bis zum Fernsehturm am Alexanderplatz. Bei ihr sah es aus wie in einer dieser Hochglanz-Design-Architekturzeitschriften. Jedes Möbelstück schien perfekt platziert. Und während sich Martin seit Jahren mit seinem Vermieter stritt, weil der behauptete, der muffige Geruch in seiner Wohnung entstehe durch falsches Lüften, duftete es bei Nicole immer nach frischen Blumen.

Als Martin die Tür zur Wohnung seiner Schwester aufschob, stutzte er. Sofort erkannte er, dass etwas nicht stimmte. Kleidungsstücke lagen auf dem Sofa verteilt, Schuhe wie hingeworfen davor auf dem Boden, Schränke und Schubladen standen offen. Martin war alarmiert. Er wusste aus eigener leidvoller Erfahrung, dass Beschaffungskriminalität hauptsächlich tagsüber stattfand, weil die Einbrecher davon ausgehen konnten, dass ihre Opfer bei der Arbeit waren.

«Hallo», rief Martin zaghaft und legte Karl eine Hand auf die Schulter, um ihn davon abzuhalten, die Wohnung zu betreten. Nur einen Sekundenbruchteil später fiel ihm siedend heiß ein, dass es eine ziemlich dumme Idee war, auf sich aufmerksam zu machen. Da die Dachterrasse keine Fluchtmöglichkeit bot, mussten die Einbrecher zwangsläufig durchs Treppenhaus – direkt an ihm und Karl vorbei. Und was Einbrecher ganz sicher nicht gebrauchen konnten, waren Zeugen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er stand kurz davor, sich Karl zu schnappen und mit ihm in den Aufzug zu hechten, als sich in dem Moment die Tür schloss und der Aufzug nach unten rauschte. Die Treppe zu nehmen, war keine Option. Martin erwartete jeden Moment einen Zusammenstoß mit Typen, die nervös mit einer Waffe vor seiner Nase herumfuchtelten. Da hörte er die erlösende Stimme seiner Schwester.

«Warum kommt ihr nicht rein?», fragte sie verwundert und trat aus der Küche in den Flur.

«Mama», rief Karl und fiel seiner Mutter überschwänglich in die Arme, während sie ihm zärtlich den Kopf streichelte. Nicole war der einzige Mensch, in dessen Gegenwart der Junge sich wie ein ganz normales Kind benahm, dachte Martin.

«In der Urania gibt es einen Vortrag über Benthosökologie. Gehen wir dahin?», fragte Karl so aufgeregt, dass sich seine Stimme überschlug, und Martin revidierte seinen letzten Gedanken sofort wieder. Er hatte keine Ahnung, was Benthosökologie sein sollte, aber er war sicher, dass sich kein normal denkendes Kind mit so etwas beschäftigte.

«Schau doch mal, was du so im Internet dazu findest. Dein Onkel will sicher ganz genau wissen, was das ist», sagte Nicole.

«Mach ich», sagte Karl und verschwand voller Tatendrang in sein Zimmer.

Martin konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Nicole ihn mit Absicht weggeschickt hatte. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Sie wirkte fahrig. Sie lächelte zwar, aber ihr Blick flackerte unruhig. Dazu kam die Unordnung. Und wieso war sie überhaupt zu Hause? Normalerweise kämpfte sie um diese Zeit in irgendeinem Gerichtssaal für Recht und Ordnung oder steckte in wahnsinnig wichtigen Meetings mit ihren Chefs in der Kanzlei.

«Was machst du hier?», fragte Martin.

«Packen.»

«Ich dachte, ihr fliegt erst nächste Woche?»

Nicole schwieg und suchte nach Worten. Und als sie sich mit der Hand durchs Haar strich, war Martin endgültig alarmiert. Denn das tat sie nur, wenn sie extrem angespannt war und ihm etwas Elementares mitzuteilen hatte.

Und so, wie sie ihn anschaute, konnte das nichts Gutes bedeuten.

3

«War ja klar, dass das irgendwann passieren musste, aber auf mich hörst du ja nicht.» Rechthaberei war nicht Martins Sache, aber diesmal musste er Stellung beziehen.

Nicole stöhnte angestrengt auf. «Danke, Bruderherz. Genau das brauche ich jetzt.»

«Ich mache mir Sorgen um dich. Verstehst du das nicht?»

«Und kommst mir als Erstes mit Vorwürfen?»

Martin holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. Nicole hatte recht. Nach dem, was ihr passiert war, war sein Ton absolut fehl am Platz. Aber er war auch nur ein Mensch und immer noch völlig schockiert von der Nachricht, dass sie mitten in einem Meeting mit einem wichtigen Mandanten einen Zusammenbruch erlitten hatte. Er vermutete schon lange, dass Nicole an einem Burn-out litt und dringend etwas unternehmen musste. Aber immer, wenn Martin ihr ins Gewissen geredet hatte, hatte sie abgewiegelt. «Ich liebe meinen Job, ich steh auf Karriere, ich bin eine Frau und muss mich doppelt beweisen …»

Wie oft hatte Martin sich ihre Argumente angehört. Keines davon hielt er für stichhaltig. Auch er brannte für seinen Job, aber deswegen ließ er sich noch lange nicht seine Work-Life-Balance zerschießen.

Nicole war als Kind schon extrem ehrgeizig gewesen, und jetzt war sie ein lupenreiner Workaholic. Der Ehrgeiz und die Verbissenheit, mit der sie ihre Karriere seit jeher vorantrieb, waren ihm immer suspekt gewesen. Und seitdem man ihr in Aussicht gestellt hatte, Partnerin in der Kanzlei zu werden, hatte sich alles noch verstärkt. Dass sie sich vor Kurzem dazu durchgerungen hatte, einen Urlaub für sich und Karl zu buchen, hatte er als erstes Zeichen von Einsicht gewertet. Nach Korsika sollte es gehen, worauf vor allem Karl sich wahnsinnig freute. Er war völlig aus dem Häuschen gewesen, als Nicole ihn mit der Nachricht überrascht und ihm dazu noch eine Tauchmaske samt Schnorchel geschenkt hatte.

Und jetzt das. Zusammenbruch, Überarbeitung, nichts ging mehr.

Der Druck in Martins Kopf ließ ein wenig nach, als Nicole ihm erklärte, dass sie sich in eine auf Burn-out-Patienten spezialisierte Rehaklinik begeben würde. Gleichzeitig war er sicher, dass sie diesen Weg nicht freiwillig beschritt. Dafür kannte er seine Schwester zu gut.

«Das war nicht deine Idee, oder?»

Nicoles Blick nahm ihre Antwort vorweg. «Meine Chefs verlangen, dass ich das Problem grundsätzlich angehe. Sie lassen mir keine Wahl. Die Auszeit ist Bedingung für meine Weiterbeschäftigung.»

Auch wenn man ihr offensichtlich indirekt mit Kündigung gedroht hatte, hielt Martin dieses Ultimatum für das einzig Richtige. «Wo sind deine Chefs? Ich möchte ihnen die Hände schütteln.»

Sie sah ihn an. «Sechs Wochen sind eine lange Zeit, Martin.»

«Ja. Und genau das brauchst du jetzt.»

«Du weißt schon, was das bedeutet? Korsika fällt damit ins Wasser.»

Martin winkte ab. «Karl wird nicht begeistert sein. Aber er wird es verstehen. Schließlich geht es um seine Mutter.»

«Ich rede nicht nur von Karl.»

Martin spürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend. Irgendetwas Ungutes war im Anmarsch, er wusste nur noch nicht, was.

«Er kann nicht sechs Wochen alleine bleiben», sagte Nicole schließlich. Und mit einem Schlag wurde Martin die ganze Tragweite klar. Sie würde ihn darum bitten, sich in ihrer Abwesenheit um Karl zu kümmern. Nein, nicht bitten – sie würde es von ihm verlangen. In Martin arbeitete es. Portugal, sein Auftritt auf dem Festival, sein Comeback … All das würde er vergessen können.

Unter keinen Umständen durfte das passieren. Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg. Allerdings ahnte er bereits, dass Nicole seiner ersten Idee gegenüber nicht aufgeschlossen sein würde.

«Auf keinen Fall», sagte sie entschieden, noch bevor Martin die erste Silbe über die Lippen gebracht hatte.

«Immerhin ist sie seine Großmutter.» Er hörte selbst, wie halbherzig das klang.

«Sechs Wochen bei unserer Mutter? Danach kann ich Karl direkt für eine Therapie anmelden», sagte Nicole.

Martin räusperte sich. «Darüber wollte ich sowieso mal mit dir sprechen.»

Nicole sah ihn eindringlich an. «Martin, ich brauche deine Hilfe.»

Er seufzte und beschloss, seinen zweiten Vorschlag für sich zu behalten. Er hatte kurz überlegt, Nicole eine Mutter-Kind-Kur ans Herz zu legen. Dabei wusste er selber, dass sein Neffe in einer Rehaklinik nur Schaden anrichten würde. Karl in der Nähe von dringend ruhebedürftigen Patienten? Genauso gut könnte man ein Fass Benzin in einen brennenden Wald rollen.

Er schaute zur Tür, hinter der sein Neffe vermutlich gerade an einem Vortrag über Benthosblabla bastelte. Um was auch immer es sich dabei handelte: Es musste etwas mit Wasser zu tun haben. Karl war besessen von der Unterwasserwelt und seinen meeresbiologischen Studien, in denen er stundenlang versinken konnte. Die Wände seines Zimmers waren tapeziert mit Postern von Walen, Delfinen, Haien, Schildkröten, Korallen und vielem anderen, was sich in den Weltmeeren tummelte. Martin erinnerte sich dunkel daran, wie er einmal als Probezuhörer für ein Referat herhalten musste, das Karl für die Schule vorbereitet hatte. Es war dabei um «Marine Snow» gegangen. Ein Begriff, der sich Martin nur deswegen eingeprägt hatte, weil er kurz darüber nachdachte, ihn als Namen für eine neue Band zu verwenden. Als er im Verlauf von Karls Vortrag begriffen hatte, dass es sich dabei um eine Mischung aus abgestorbenen Pflanzen- und Tierpartikeln, Schleim und Kot handelte, die als Nahrungsquelle für Tiefseebewohner diente, hatte er die Idee zügig wieder fallen gelassen. Ohnehin war Martin kein ausgeprägter Wasserfreund. Um Schwimmbäder machte er schon aus Prinzip einen großen Bogen. Genauso hielt er es mit dem offenen Meer. Strände waren okay, sofern sie über ein vernünftiges Restaurant verfügten. Oder wenigstens eine Bar. Für seine Abneigung gab es Gründe. Er konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie er als kleiner Junge beim Baden mal von ein paar Jugendlichen aus Spaß unter Wasser gedrückt worden war. Er hatte wild um sich geschlagen, doch der eine hielt ihn an den Haaren fest, der andere hatte seine Schultern im Griff. Mit jedem Schrei war mehr Luft aus seinen Lungen geströmt, der verzweifelte Versuch zu atmen hatte ihm fast die Brust zerrissen. Die Angst zu ertrinken hatte jeden seiner Gedanken erstickt. Erst als es um ihn dunkel wurde, hatten sie von ihm abgelassen. Seit dieser Erfahrung geriet er sofort in Panik, wenn er im Wasser keinen Boden mehr unter den Füßen spürte. Dass Nicole sich die Jugendlichen zur Brust genommen hatte und sie ordentlich Wasser schlucken ließ, hatte auch nichts mehr genutzt. Das Kind war in den Brunnen gefallen. Im wahrsten Sinne.

Karl war im Gegensatz zu ihm ein verdammt guter und unerschrockener Schwimmer, und Martin war sicher, dass die berufliche Zukunft seines Neffen irgendwo im Wasser lag. Aber bis dahin war es noch lange hin. Was zählte, war heute. Und sosehr ihn die Aussicht auf die nächsten sechs Wochen auch beunruhigte, war Martin doch mitfühlend genug, um sich in die Lage seines Neffen zu versetzen, der gleich von seiner Mutter furchtbar enttäuscht werden würde. Kein Korsika, dafür Zeit mit seinem Onkel. Karl tat ihm aufrichtig leid.

«Ich bin alt genug, ich brauche Onkel Martin nicht», sagte Karl mit bebender Stimme.

«Wo er recht hat, hat er recht», pflichtete Martin scherzend bei, handelte sich damit aber nur einen bösen Blick von Nicole ein. Es war noch früh am Morgen. Sie standen vor dem Taxi, das Nicole zum Bahnhof bringen sollte. Die Sonne strahlte von einem makellos blauen Himmel. Aber was er sonst ohne Frage genossen hätte, war an diesem Tag die falsche Kulisse, sie passte nicht zu dem, was vor sich ging. Graue, tief hängende Wolken wären angemessener gewesen. Trübsal war angesagt. Abschiedsschmerz. Und ein wenig auch Angst vor dem, was kommen sollte: sechs lange Wochen Zweisamkeit, Martin und Karl, allein.

Martin wusste, dass Nicole ihre Meinung nicht ändern würde. Das konnte sie gar nicht, denn natürlich war Karl nicht alt genug, um allein zu bleiben, und sie war eine verantwortungsvolle Mutter. Es gab Eltern, die das deutlich lockerer sahen, aber zu denen gehörte Nicole eindeutig nicht.

«Karl, wie oft muss ich dir das noch erklären?»

«Dann nimm mich wenigstens mit.»

Martin schaute zwischen den beiden hin und her. Das ging nun schon seit gestern Abend so. Karl wollte einfach nicht akzeptieren, dass er seine Mutter nicht umstimmen konnte, dass sie gar keine andere Wahl hatte. Er rannte immer wieder gegen dieselbe Wand. Ein Junge, der so viel über Physik wusste, sollte doch erkennen, dass die Wand nicht nachgeben würde.

Der Taxifahrer warf die Kofferraumklappe zu und hielt Nicole die Beifahrertür auf. Es wurde Zeit.

Nicole tätschelte Karl den Kopf. «Jetzt gib mir einen Abschiedskuss, und sobald ich da bin, rufe ich dich an.»

Karl umarmte sie halbherzig, dann wandte er sich wütend ab und stürmte ohne ein weiteres Wort ins Haus.

Nicole sah ihm traurig hinterher. Auch für sie war es ein schwerer Tag. Und eine Premiere dazu. Sie und Karl waren noch niemals so lange voneinander getrennt gewesen. Bestenfalls für ein paar Tage, wenn Karl auf Klassenfahrt war. Aber sechs Wochen? Das war eine andere Liga.

«Pass ja gut auf ihn auf», mahnte Nicole.

Martin stieß einen Seufzer aus. «Was soll dem schon passieren? Ein Unfall mit seinem Chemiebaukasten?»

«Er soll nicht immer im Zimmer rumhängen. Unternimm was mit ihm.»

«An mir liegt’s sicher nicht.»

«Ich rede nicht von Bars und Nachtclubs.»

Er schnaubte. «Mit Karl? Bist du verrückt? Ich habe einen Ruf zu verlieren.»

Nicole bemühte sich um ein Lächeln, aber es gelang ihr nicht.

«Jetzt hör auf, dir Sorgen zu machen, und werd einfach gesund.» Martin versuchte, sie aufzumuntern. Dabei rutschte auch ihm langsam das Herz in die Hose. Bis gestern war ihm die Vorstellung, sechs Wochen mit Karl verbringen zu müssen, noch schlicht und ergreifend unmöglich erschienen. Aber mit einem Mal wurde es real. Ebenso wie die Krankheit seiner Schwester, diese große Aufgabe, die oben in der Dachgeschosswohnung auf ihn wartete, und seine noch größere Chance, die gerade zerplatzte. Und als musste er mit alledem nicht schon genug verkraften, hatte er auch noch Sophie verloren. Nur so konnte Martin es sich erklären, dass ihm plötzlich Tränen in die Augen stiegen.

«Weinst du etwa?», fragte Nicole lachend.

«Bild dir bloß nichts ein. Das ist kein Abschiedsschmerz, das ist die pure Verzweiflung», entgegnete er und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.

Nicole drückte ihn ein letztes Mal ganz fest. Dann stieg sie ins Taxi, winkte ihm durch die Scheibe zu und fuhr davon. Martin schaute hinterher, bis der Wagen hinter der nächsten Ecke verschwand. Er hatte das Gefühl, als schnüre ihm jemand die Kehle zu. Dann ging er zurück zum Haus.

Als Martin wieder in die Wohnung kam, sah er nur noch, wie Karl in sein Zimmer verschwand und demonstrativ die Tür hinter sich zuknallte, an der er ein kleines, selbst gebasteltes Schild befestigt hatte: «Betreten strengstens verboten». Ein hingekritzelter Totenkopf sollte die Warnung unterstreichen.

Martin holte tief Luft und bereitete sich einen zweiten Kaffee zu. Wenngleich das mit deutlich mehr Aufwand verbunden war als die Zubereitung mit der mickrigen Kapselmaschine in seiner Wohnung. Nicole hatte die komplette Ausrüstung: Profi-Espressomaschine mit Wasserdruck- und Temperaturanzeige, Kaffeemühle, Tamper, Milchthermometer und selbstverständlich nur ganze Bohnen aus den besten Anbaugebieten der Welt. Wenn man es endlich geschafft hatte und reichlich schwarzer, beinahe dickflüssiger Espresso in die Tasse getropft war, den man mit aufgeschäumter Milch krönen konnte, musste man das Gerät erst einmal komplett reinigen. Darauf bestand Nicole. Eigentlich war Martin nie so pingelig gewesen wie seine Schwester, aber auch er hatte sich angewöhnt, jedem Fingerabdruck auf dem chromglänzenden Gehäuse unverzüglich mit einem Mikrofasertuch zu Leibe zu rücken.

Martin ging mit seinem Kaffee auf die Terrasse und schob die große Glasschiebetür hinter sich zu. Nicole hatte ihm erlaubt, draußen zu rauchen, aber er wollte vermeiden, dass Qualm in die Wohnräume zog. Schon allein, weil er wusste, was er sich dann von Karl anhören durfte.

Die Blumen, die seine Schwester gepflanzt hatte, standen in voller Blüte und verströmten einen süßlichen Duft. Er spürte das warme, weiche Holz unter seinen Füßen und die wärmenden Sonnenstrahlen in seinem Gesicht. Die Terrasse war nach Süden hin ausgerichtet. Später am Tag würde er die Markise ausfahren müssen. Nicoles Wohnung hatte noch eine zweite, kleinere Terrasse mit einem sehr bequemen Loungesofa, aber Martin bevorzugte diese, weil man von hier aus den Fernsehturm sehen konnte.

Er schaute zum Zimmer von Karl. Kein Mucks war zu hören, und Martin fragte sich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Er entschied sich für gut und zündete sich eine Zigarette an. Während er den Rauch ausblies, schaute er auf die Uhr. Seit Nicoles Abschied waren gerade einmal zwanzig Minuten vergangen. Die nächsten Wochen würden eine zähe Angelegenheit werden. Wenn er nicht vor Langeweile sterben wollte, musste er sich eine Beschäftigung suchen.

Martin checkte sein Telefon und spürte einen kleinen Stich in der Magengegend. Sophie hatte sich immer noch nicht gemeldet. Nachdem tags zuvor festgestanden hatte, dass er die nächsten Wochen in Nicoles Wohnung verbringen würde, war er zu sich nach Hause gefahren, um ein paar Klamotten und andere Dinge zu holen, die er brauchen würde. Ein paar davon standen in Sophies Wohnung, also hatte er sie angerufen und gebeten, vorbeikommen zu dürfen. Allerdings hatte er nur ihre Mailbox erreicht, und als er bei ihr klingelte, hatte sie ihm zwar die Haustür geöffnet, nicht jedoch die Wohnungstür, vor der ein Karton mit seinen Sachen auf ihn wartete. Wenn Martin ehrlich war, brauchte er nichts davon wirklich. Aber dieser Vorwand hatte eine Chance geboten, mit ihr ins Gespräch zu kommen und ihr zu beweisen, dass ihre Vorwürfe haltlos waren. Von wegen nicht erwachsen. Immerhin vertraute sogar seine zur Helikoptermutter neigende Schwester ihm Karl an. Für einen Moment dachte er darüber nach, Sophie genau das auf ihre Mailbox zu sprechen. Doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Sophie würde von alleine darauf kommen, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Und er würde ihr die Zeit geben, die sie dafür brauchte.

 

«Ich mag keinen Brokkoli», schrie Karl.

Martin wollte sich nicht provozieren lassen und blieb die Ruhe selbst.

«Spinat mag ich auch nicht, und komm mir ja nicht mit Sellerie», führte Karl in der gleichen Lautstärke weiter aus.

«Eins sag ich dir gleich. Sechs Wochen lang Burger und Pizza kannst du vergessen», entgegnete Martin nüchtern und scrollte sich weiter durch die Liste der Restaurants mit Lieferservice.

«Und warum?»

«Geh an deinen Computer und google nach Skorbut.»

«Ich weiß, was Skorbut ist», schoss Karl zurück.

«Du willst also riskieren, dass dir sämtliche Haare und Zähne ausfallen?»

«Kann dir doch egal sein.»

Martin hatte geahnt, dass er Karl damit nicht würde beeindrucken können. Aber Karls Ton ging ihm langsam gegen den Strich. Es war Zeit, die Verhältnisse klarzustellen und sich Respekt zu verschaffen. «Du glaubst nicht, wie egal mir das ist. Aber deiner Mutter nicht, und auf die hast du zu hören.»

«Mama ist nicht da, du Blitzmerker.»

Es reichte. Wenn das hier nicht völlig aus dem Ruder laufen sollte, musste Martin ein Exempel statuieren. Reden half bei Karl nicht weiter. Martin musste Taten folgen lassen. Er nahm demonstrativ sein Smartphone in die Hand. «Ein Anruf, und du bist geliefert.»

Karl funkelte ihn an. «Mach doch.»

Martin zögerte. Nicole saß immer noch im Zug. Was sollte sie denken, wenn, noch bevor sie die Klinik in Bayern erreicht hatte, der erste Notruf aus Berlin bei ihr einging? Martin spürte ein leichtes Pochen in seiner Schläfe. Er war nicht der Typ für Kopfschmerzen, und die Ursache dafür stand eindeutig vor ihm. Es musste ein Kompromiss her, den Karl nicht als Schwäche deuten konnte.

«Okay, Pizza Funghi. Aber du nimmst einen Salat dazu.»

«Aber ohne Rucola!»

Martin seufzte auf und ließ Milde walten. Immerhin hatte er Karl dazu gebracht, ein Stück auf ihn zuzugehen. Zudem konnte er Karls Abneigung gegen Rucola nachvollziehen. Auch wenn er seine eigene schon vor Jahren überwunden hatte. Als Kind hatte er es gehasst, wenn seine Mutter ihn gezwungen hatte, Rucola zu essen, der damals noch Rauke genannt wurde und für die meisten Menschen eher ein Unkraut war. Doch die Bio-Bewegung kam damals so richtig in Fahrt, und seine Mutter hatte die Wildkräuterküche für sich entdeckt. Statt das Gemüse weiterhin im Supermarkt zu kaufen, quälte sie ihn mit angeblich essbaren Blättern und Wurzeln, die sie auf Wiesen, im Wald oder am Wegesrand sammelte. Martin erinnerte sich noch heute mit Schaudern daran zurück.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es jeden Tag Lasagne gegeben. Er wusste, dass auch Karl Lasagne mochte. Erst vor wenigen Stunden, in einem Moment besonders großer Langeweile, hatte Martin sogar überlegt, selber eine zu machen. Nicht weil er plötzlich den inneren Koch in sich entdeckt hatte. Oder aus Fürsorge einem Kind gegenüber. Es war vielmehr Sophies Vorwurf, der immer noch an ihm nagte. Doch nachdem er sich im Internet ein Rezept heruntergeladen hatte, hatte ihn schon allein die Zutatenliste überfordert. Und am Ende war die Küche kalt geblieben.

Mit einem wohligen Seufzer ließ Martin sich am nächsten Morgen in einen der bequemen Stühle fallen, sein Kaffee dampfte vor ihm, die Sonne stand bereits hoch am Himmel und wärmte den Holzfußboden. Wenn er ehrlich war, war es wohl eher Mittag als Morgen, aber sein Rhythmus war eben ein anderer – und da schien er sich immerhin mit Karl einig zu sein. Während sie den ersten Tag unbeschadet, aber doch reich gespickt mit kleineren Wortgefechten überstanden hatten, verlief der zweite bislang ohne Zwischenfälle. Martin hatte am Abend bereits sämtliche Vorzüge genutzt, die Nicoles Wohnung zu bieten hatte: 100-Zoll-Fernseher mit 8K und Soundbar, superbequemes Sofa, Badewanne mit Whirlpoolfunktion. Karl war nach der Pizza ins Bett gegangen und kam nur aus seinem Zimmer, wenn er ins Bad musste. Oder sich etwas zu essen oder zu trinken holen wollte, wofür er zwangsläufig an Martin vorbeimusste, den er jedoch keines Blickes würdigte.

Martin konnte dieser Burgfrieden nur recht sein. Er hatte seine Sachen im hellen Sonnenlicht auf dem Esszimmertisch ausgebreitet, einem riesigen, antiken Refektoriumstisch, der in starkem Kontrast zur restlichen Einrichtung stand. Nicole war stolz auf diesen Flohmarktfund. Sie hatte ihm mal erklärt, dass man das moderne Ambiente brechen musste, um Spannung zu erzeugen und Eintönigkeit zu vermeiden. Auch Martin liebte den Tisch aus Teakholz mit seinen vielen Schrammen, Flecken und Holzaugen. Den Narben eines gelebten Lebens.

Mithilfe seines Musikprogramms arbeitete Martin auf dem Laptop an neuen Songs, die aus Nicoles Soundsystem durchs Wohnzimmer dröhnten, als plötzlich ungewöhnliche Laute an sein Ohr drangen: Walgesänge, deren Quelle ganz eindeutig Karls Zimmer war. In einer Lautstärke, die Martin jegliche Arbeit an seiner Musik unmöglich machte.

«Kannst du diesen Krach leiser machen?», rief er, ging hin und hämmerte mit der Faust gegen die Tür. Er drückte die Klinke, aber Karl hatte abgeschlossen.

«Das ist kein Krach», schallte es durch die geschlossene Tür zurück.

Was genau das war, musste man Martin nicht groß erklären. Walgesänge waren ihm bekannt. Wenngleich er bisher davon ausgegangen war, dass bestenfalls noch irgendwelche stehen gebliebenen Alt-Hippies aus den Achtzigern sich so etwas anhörten. Und seine Kurzzeitaffäre Caro aus dem Vertrieb von Universal Music. Kurzzeit deshalb, weil sie eine total missionarische Ader gehabt hatte und ihm ständig dabei helfen wollte, sein Bewusstsein zu erweitern und eine innere spirituelle Erfahrung zu machen. Martin hatte nichts dagegen gehabt, mit Caro in neue Erfahrungswelten vorzudringen. Allerdings hatte er dabei nicht auf Meditationen und Tarotkarten gesetzt.

Er polterte erneut gegen die Tür. «Deine Musik nervt.»

«Du nervst», schallte es zurück.

Langsam reichte es ihm. Er würde sich ganz bestimmt nicht auf das Niveau eines Zwölfjährigen begeben. Wenn er etwas erreichen wollte, musste ein Strategiewechsel her. Schließlich verfügte er über eine Fähigkeit, die bei Karl noch nicht sonderlich ausgeprägt war: Vernunft.

«Ich mach leiser, du machst leiser, okay?», rief Martin, und keine drei Sekunden später verstummten die Buckelwale.