Herr Winter taut auf - Stefan Kuhlmann - E-Book
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Herr Winter taut auf E-Book

Stefan Kuhlmann

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Beschreibung

Robert Winter hat keine Lust auf Geschwätz und keine Zeit für Unsinn. Ihm ist egal, was andere Menschen über ihn denken. Sie sollen ihn einfach nur in Ruhe lassen. Und so versteht er auch überhaupt nicht, was seine Frau Sophia an ihrem Beruf als AVON-Beraterin so liebt. Für ihn sind Beauty-Produkte so ziemlich das Letzte, womit er seine Zeit verbringen möchte. Erst als ein Unfall Sophia aus seinem Leben reißt, ändert sich alles schlagartig. Um nicht in Trauer zu ertrinken, beschließt Robert, in ihre Fußstapfen zu treten und für Sophia den Titel «AVON-Beraterin des Jahres» zu gewinnen. Nur ist das schwerer als gedacht. Deutlich schwerer …  

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Stefan Kuhlmann

Herr Winter taut auf

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«Ignorieren ist keine Option.»

Robert Winter hat keine Lust auf Geschwätz und keine Zeit für Unsinn. Ihm ist egal, was andere Menschen über ihn denken. Sie sollen ihn einfach nur in Ruhe lassen. Und so versteht er auch überhaupt nicht, was seine Frau Sophia an ihrem Beruf als AVON-Beraterin so liebt. Für ihn sind Beauty-Produkte so ziemlich das Letzte, womit er seine Zeit verbringen möchte. Erst als ein Unfall Sophia aus seinem Leben reißt, ändert sich alles schlagartig. Um nicht in Trauer zu ertrinken, beschließt Robert, in ihre Fußstapfen zu treten und für Sophia den Titel «AVON-Beraterin des Jahres» zu gewinnen. Nur ist das schwerer als gedacht. Deutlich schwerer …

Vita

Stefan Kuhlmann wuchs in Norddeutschland auf und lebt heute als freier Autor in Berlin, wo er vor allem für Film und Fernsehen schreibt. Aus seiner Feder stammen die Drehbücher zu mehr als 50 Spielfilmen und Serienepisoden, unter anderem zu der erfolgreichen ZDF-Reihe «Familie Bundschuh». «Herr Winter taut auf» ist sein Romandebüt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Hanne Reinhardt

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Kai Pannen

ISBN 978-3-644-01699-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug.

Hilde Domin

Ich wollte Champagner

«Mein Mann konnte die ersten Wochen im Ruhestand rein gar nichts mit sich anfangen. Ein unerträgliches Ekelpaket war er», sagte Frau Kramer, während Sophia ihr die Kosmetikartikel einpackte, die sie soeben bei ihr erstanden hatte.

«Malen Sie den Teufel nicht an die Wand», entgegnete Sophia mit einem Stoßseufzer. Sie dachte an Robert. Die Vorstellung, dass er ab dem folgenden Tag, dem ersten seines Daseins als Rentner, rund um die Uhr zu Hause sein würde, löste nicht ausschließlich Begeisterung in ihr aus.

«Irgendwann geht die schlechte Laune vorüber», tröstete Frau Kramer, die ihren skeptischen Blick bemerkt haben musste. «Jetzt singt mein Mann im Chor. Und einmal die Woche geht er als Vorleser in den Kindergarten. Die suchen immer wieder Ehrenamtliche, vielleicht wäre das auch was für Ihren.»

«Vielleicht», sagte Sophia und lächelte verlegen, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Sie blickte auf die Uhr. Warum kam er so früh nach Hause?

«Robert, bist du’s?»

«Ja. Enttäuscht?», rief er zurück, und während Frau Kramer lächeln musste, löste seine Anwesenheit bei Sophia schlagartig Unruhe aus: Es war ihre stille Vereinbarung gewesen, dass sie ihre Kunden nicht zu Hause empfing. Aber was hätte sie tun sollen, als Frau Kramer unangemeldet vor der Tür stand? Sie war nicht irgendeine Kundin, sie war eine ihrer besten. Ihr Mann allerdings war kein Typ für Small Talk und nettes Geplänkel. Er hatte aus seinem Herzen noch nie eine Mördergrube gemacht und sprach die Dinge genauso aus, wie sie ihm in den Sinn kamen. Sophia war immer sicher gewesen, dass keine Absicht dahintersteckte. Die Sätze fielen ihm einfach so aus dem Mund. Er meinte es nicht böse. Meistens jedenfalls … Was passieren würde, wenn Frau Kramer sich mit ihren Ideen für den Ruhestand ihres Mannes direkt an ihn wandte, konnte Sophia nur schwer abschätzen. Es war eindeutig besser, ihre Kundin zügig aus der Gefahrenzone zu bringen.

«Wir rechnen einfach beim nächsten Mal ab», sagte sie, hielt Frau Kramer die Tüte hin und dirigierte sie sanft in Richtung Tür.

Doch Frau Kramer ließ sich nicht beirren und zückte ihr Portemonnaie. «Ach was, ich hab’s sicher passend.»

Und gerade als Sophia dem Rausschmiss ein wenig Nachdruck verleihen wollte, trat Robert auch schon ins Wohnzimmer, seine Aktentasche in der einen und die Flasche Champagner, die sie sich für den Abend gewünscht hatte, in der anderen Hand.

«Tag», sagte er und schaute fragend zwischen Sophia und Frau Kramer hin und her.

«Da bist du ja schon», flötete Sophia und überlegte verzweifelt, wie sie Robert aus dem Zimmer bugsieren konnte. «Du könntest den Champagner kalt stellen, bis ich hier fertig bin.»

Robert schien jetzt erst zu bemerken, dass er die Flasche noch in der Hand hielt. Als ob sie ihn bei etwas ertappt hätte, versteckte er sie hinter seinem Rücken. Trotzdem rührte er sich nicht vom Fleck. «Der ist kalt.»

Er bewegte sich auch nicht, als sie ihm direkt in die Augen sah und ihm mit einem Kopfnicken bedeutete, dass er sie bitte mit ihrer Kundin alleine lassen solle. Er tat vielmehr so, als ob er nicht verstand, was sie von ihm wollte.

«Sei ein Schatz und tu’s einfach», sagte sie, und tatsächlich war Robert im Begriff, ihrem Wunsch ohne Murren nachzukommen, als ausgerechnet Frau Kramer ihr einen Strich durch die Rechnung machte.

«Seien Sie nicht so streng mit Ihrem Mann, jetzt, wo er im Ruhestand ist», mischte sich ihre Kundin plötzlich ein, indem sie Robert freundlich anlächelte. «Ein Leben ohne Wecker. Ist das eine herrliche Aussicht?»

Sophia hakte sich bei ihr unter und zog sie mit sich zur Tür. «Eine gute Reise wünsche ich. Sie müssen sicher noch eine Menge vorbereiten», sagte sie und hoffte, dass sie die Einzige war, der die leise Verzweiflung in ihrer Stimme auffiel.

Frau Kramer bekam tatsächlich nichts von Sophias wachsender Unruhe mit und ließ sich nicht drängen. Sie war neugierig auf Robert. Kein Wunder: Die stille Vereinbarung zwischen Sophia und Robert hatte dafür gesorgt, dass ihn nie jemand aus ihrem Kundenstamm zu Gesicht bekam – was bei einigen der Damen zu einer gewissen Legendenbildung geführt hatte.

Frau Kramer ergriff die einmalige Chance, baute sich vor Robert auf und musterte ihn wie das letzte Exemplar einer aussterbenden Tierrasse. Und obwohl Robert sie mit komplettem Desinteresse strafte, holte sie tief Luft und erklärte ebenso stolz wie ungefragt: «Wir fliegen auf die Seychellen. Unsere Tochter hat dort eine Tauchschule. Wir haben noch mit fünfundsechzig den Tauchschein gemacht.»

Robert musterte sie skeptisch. «In Ihrem Alter sollte man sich bestenfalls noch eine Sauerstoffflasche anlegen lassen, wenn man im Koma liegt.»

Sophia schloss die Augen. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken, aber zu ihrer Überraschung begann Frau Kramer, herzhaft zu lachen. «Mein Mann hat auch so einen trockenen Humor. Sie würden sich gut verstehen.»

«Das bezweifle ich», stellte Robert klar und brachte Frau Kramer damit erneut zum Lachen – was ihn deutlich irritierte.

«Im nächsten Frühjahr machen Martin und ich eine Kreuzfahrt», sagte Frau Kramer fröhlich und stieß Robert verschwörerisch in die Seite. «Ihre Frau hat mir erzählt, dass Sie beide auch bald eine machen werden.»

Sophia spürte Roberts bohrenden Blick. «Wir diskutieren das noch», warf sie eilig ein, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.

«Warum fahren wir nicht zusammen? Ich könnte das Reisebüro anrufen und fragen, ob noch Kabinen frei sind», fuhr Frau Kramer fort.

«Bevor ich mich auf so einem Dampfer einsperren lasse, beschmiere ich mich lieber mit Leberwurst und gehe freiwillig in einen Löwenkäfig», brummte Robert.

Doch Frau Kramer ließ sich nicht beirren, sondern prustete vor Vergnügen los. Sie konnte sich kaum noch halten. Zweimal war es gut gegangen, dachte Sophia, doch spätestens beim nächsten Mal würde selbst eine Frohnatur wie Frau Kramer es begreifen: Robert war keineswegs ein Meister der Ironie, sondern meinte jedes einzelne Wort genau so, wie er es sagte.

Frau Kramer erkannte die Gefahr nicht und redete munter weiter. Sophia musste handeln. «Denken Sie daran, Sie haben mir Fotos versprochen», sagte sie, während sie ihre Kundin energisch zur Tür schob und sich dabei fast ein wenig übergriffig vorkam.

«Herr Winter, schön, dass wir uns endlich kennengelernt haben», rief Frau Kramer Robert aus dem Flur zu. «Warum kommen Sie beide nicht mal zu uns zum Essen?»

Sophia lächelte verlegen. «Mein Mann geht nicht gerne aus, er ist mehr so der häusliche Typ.»

Frau Kramer nahm ihre Erklärung mit wissendem Blick an. «Ach, verstehe. Mein Mann war am Anfang auch so. Aber das wird sich schneller ändern, als Sie denken. Manche Menschen entwickeln im Ruhestand mehr Aktivität als im Berufsleben.»

Sophia seufzte. Nun befürchtete sie endgültig, dass die Situation aus dem Ruder laufen könnte. Ohne es zu ahnen, hatte Frau Kramer einen Finger in eine tiefe Wunde gelegt. Und da kam Robert auch schon in den Flur. «Was wollen Sie damit sagen?»

«Ganz sicher nichts gegen deinen Beruf, Robert», flötete Sophia in dem Versuch, die Eskalation zu vermeiden. Obwohl ihn die Meinung anderer Leute normalerweise nicht sonderlich interessierte, sah das völlig anders aus, wenn er sich mit dem Klischee des faulen Beamten konfrontiert sah.

«Wir alle wissen, dass ohne euch Finanzbeamte die Welt im Chaos versinken würde, nicht wahr, Frau Kramer?»

Frau Kramer schien kein Wort zu verstehen. Aber sie lenkte ein – wahrscheinlich hatte sie intuitiv doch begriffen, dass es Zeit war zu gehen. «Ja, wahrscheinlich …», stammelte sie und ließ sich bereitwillig von Sophia zur Tür hinausschieben.

 

Als ihre Kundin endlich gegangen war, baute sich Sophia vor Robert auf. Sie war verärgert. Mehr als das. «Dir ist schon klar, dass du auf diese Weise mein Geschäft ruinierst, oder?» Sie seufzte und versuchte, sich zu beruhigen. «Was hast du überhaupt für eine Laune? Ist irgendwas passiert?»

«Nein», raunte Robert leise.

Sie sah ihn auffordernd an.

«Es ist nichts», beteuerte er.

Sie sah die leise Spur eines schlechten Gewissens in seinem Gesicht. Immerhin. Dann fiel ihr Blick auf seine Hand, und sie sah sich die Flasche, die er mitgebracht hatte, genauer an.

«Schaumwein? Heute? Ich dachte, wir trinken Champagner?!»

«Den gab’s nicht im Tank-Shop», antwortete er kleinlaut und bemüht, der Sache nicht zu viel Bedeutung beizumessen.

«Im Tank-Shop?!»

«Im Supermarkt werden sie in Zukunft auf uns verzichten müssen.»

«Hast du dich wieder mit dem Filialleiter angelegt?»

Ertappt blickte Robert zu Boden.

«Das ist nicht dein Ernst.» Sophia nahm ihm die Flasche aus der Hand, stellte sie recht unsanft auf den Tisch und wandte sich zum Gehen.

Robert sah sie irritiert an. «Wo willst du hin?»

«Räum schon mal die Küche auf und sieh nach dem Braten.»

«Jetzt lass gut sein. Ich meine … Hauptsache, es sprudelt, oder?»

Sophia verschwand ohne ein weiteres Wort.

 

Robert hörte das Geklimper des Schlüssels, den sie vom Schlüsselbrett zog, und dann die Tür, die geöffnet wurde und wieder ins Schloss fiel. Er blickte ihr nach und ärgerte sich über sich selbst. Er hätte wissen müssen, dass genau das passierte. Er war ein sturer Hund, aber wenn’s drauf ankam, war Sophia sturer. Wenn sie Champagner wollte, wollte sie Champagner. Basta.

Aus der Ferne drang ein Donnern an sein Ohr. Er drehte sich zum Fenster. Draußen wurde es dunkler, Wolken schoben sich vor die Sonne. Hoffentlich war sie zurück, bevor das Gewitter losging.

Acht Wochen später

Kapitel 1

Robert wusste nicht, wie lange er schon wach war oder ob er überhaupt geschlafen hatte. Von draußen drang Sonnenlicht durch die Vorhänge, und die Vögel veranstalteten jede Menge Krach. Er starrte auf die chromglänzende Lampe, die wie ein Satellit über dem Bett hing und die er die ganze Nacht hatte brennen lassen. Ein Designteil aus den Siebzigern, das Sophia vor ein paar Jahren auf dem Flohmarkt zu einem Spottpreis ergattert hatte. Da er jedoch keinen Sinn für Design besaß, hatte für ihn immer im Vordergrund gestanden, dass dieses angebliche Schnäppchen mit seinen unzähligen Glühbirnen sich als wahrer Energiefresser entpuppte, der für mindestens die Hälfte ihrer Stromrechnung verantwortlich war. Aber Sophia liebte es nun einmal, stundenlang im Bett zu lesen, und dafür musste es richtig schön hell sein.

Für einen Moment war er überzeugt davon, dass Sophia tatsächlich neben ihm im Bett lag und sich weigerte, das Licht zu löschen. Er war kurz davor, aus dem Bett zu springen, sich Kissen und Decke zu schnappen und stinksauer aufs Sofa im Wohnzimmer umzuziehen. So wie er das immer tat, wenn sie einfach nicht nachgab. Doch dann fiel ihm wieder ein, was passiert war. Dass nichts mehr einen Sinn ergab. Sophia war nicht mehr da, und er würde von nun an jeden verdammten Morgen bis ans Ende seiner Tage vergeblich darauf warten, dass sie mit einem Kaffeebecher in der Hand vor dem Wohnzimmersofa stand, ihn mit einem Versöhnungskuss weckte und ohne große Worte wieder Harmonie zwischen ihnen herrschte.

Er schloss die Augen und drehte seinen Kopf auf die andere Seite. Mit jeder Faser seines Wesens hoffte er, dass das alles nur ein nicht enden wollender Albtraum war und er sich nur genug anstrengen musste, um endlich daraus zu erwachen. Er stellte sich vor, dass er die Augen öffnete und den Abdruck von Sophias Kopf in ihrem Kissen sah. Dass er, wenn er mit der Hand darüberfuhr, noch ihre Wärme spüren würde. Dass vielleicht sogar noch ein, zwei ihrer Haare darauf lagen. Und dass von unten aus der Küche Geschirrgeklapper und leise Musik an sein Ohr drangen. Tränen drängten sich unter seinen Lidern hervor.

 

Als er sich etwas später im Badezimmer wiederfand, konnte er sich nicht erinnern, wie er den Weg dorthin bewältigt hatte. Geschweige denn, wie er in den Bademantel und die Pantoffeln gekommen war. Er drehte den Hahn auf und erfrischte sich mit kaltem Wasser. Sein Blick blieb an seinem Spiegelbild hängen. Seine Haut war grau und fahl wie die eines Seemanns mit Skorbut. Sein Kinn hatte hier und da ein paar Kratzer, auf denen noch Blutschorf klebte, weil er in den letzten Wochen darauf verzichtet hatte, Rasierschaum zu benutzen. Er gurgelte mit dem letzten Rest Mundwasser und spuckte aus. Dann nahm er das Frotteehandtuch und trocknete sich ab. Ein muffiger Geruch erinnerte ihn daran, dass er das Handtuch schon lange hatte austauschen wollen, und als er es in den Korb für die Schmutzwäsche werfen wollte, bemerkte er einen weiteren intensiven Duft. Er hob den Arm und kontrollierte, wie es um seinen Achselgeruch stand. Er hatte ganz eindeutig die Quelle ausgemacht. Aber wen interessierte das schon? Ihn jedenfalls nicht.

 

In der Küche stellte er die Kaffeemaschine an, die er am Abend zuvor vorbereitet hatte, und spürte die unwillkürliche Entspannung, als die ersten Tropfen durch den Filter in die Glaskanne fielen. Nachdem er durch die Zeitung geblättert und seine zwei Tassen Kaffee getrunken hatte, begann er damit, Ordnung zu schaffen. Sein Morgenritual. Er legte die Zeitung in den Eimer für Altpapier und Pappe, entsorgte den Filter mit dem Kaffeesatz im Restmüll, stellte die Kaffeetasse in den Geschirrspüler und wischte mit dem Lappen ein paar Tropfen von der Arbeitsplatte. Aus dem Flur hörte er das Klingeln des Telefons, das er nur seiner Tochter zuliebe nicht längst aus der Buchse gezogen hatte. Zwar wollte er mit niemandem sprechen, aber wenn Miriam anrief, musste er rangehen, weil sie damit gedroht hatte, ihm andernfalls die Polizei nach Hause zu schicken. Robert war nicht sicher, ob sie das wirklich ernst meinte. Andererseits wollte er kein Risiko eingehen. Das fehlte ihm gerade noch, dass irgendwelche Gesetzeshüter vor seiner Tür auftauchten und sich nach seinem Befinden erkundigten.

«Sophia, was ist los?», hörte er eine weibliche Stimme, die eindeutig nicht die seiner Tochter war, auf den Anrufbeantworter sprechen. Robert kannte diese Frau nicht persönlich, aber sie verfolgte ihn schon seit Wochen mit ihren Anrufen. Heute übertrieb sie es endgültig, dachte er mit einem Blick auf die Uhr. Es war gerade einmal kurz nach acht.

«Wir sitzen auf dem Trockenen. Seit Wochen. Warum rufst du nicht …?» Weiter kam sie nicht. Robert nahm den Hörer ab und legte innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder auf. Diese Sprache würde sie verstehen.

Anschließend ging er nach oben ins Schlafzimmer, zog die Vorhänge zurück, schüttelte sein Kopfkissen auf und strich seine Bettdecke glatt. Das Gleiche machte er mit dem Bettzeug von Sophia. Der Anblick des gemachten Bettes hatte etwas Beruhigendes. Sophia hatte sich abends am liebsten in das noch von der vergangenen Nacht zerwühlte Bett gelegt. Ungemachte Betten seien besser gegen Milben, hatte sie immer behauptet, weil die Tierchen kein trockenes Klima mögen. Er hatte es für eine billige Ausrede gehalten, bis er recherchiert und herausgefunden hatte, dass da tatsächlich was dran war.

Als Nächstes befüllte er die Waschmaschine mit der Wäsche aus dem Wäschekorb. Da nicht wirklich viel zusammenkam, entschied er, dass es sich noch nicht lohnen würde, die Maschine laufen zu lassen. Auch ansonsten gab es im Badezimmer nicht viel zu tun, wie er feststellen musste. Genau wie der Rest des Hauses war auch das kleine Bad in die Jahre gekommen. Eigentlich hatte er sich fest vorgenommen, sich in seinem Ruhestand darum zu kümmern. Vor allem diese großen bunt gemusterten Fliesen konnte er nicht mehr sehen und hatte sie schon lange gegen schlichte weiße austauschen wollen. Am liebsten hätte er auch die Wanne zugunsten einer Dusche herausgerissen. Aus Platzgründen. Und weil er ein überzeugter Duscher war. Aber Sophia war strikt dagegen gewesen. Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, auf ihre kleinen Wellness-Einheiten zu verzichten, wie sie ihre geliebten Vollbäder nannte. Aus diesem Grund stand immer ein ganzes Sortiment von Schaumbädern mit verschiedenen Duftnoten auf dem Wannenrand.

Sein Blick fiel auf das Fläschchen mit einer Lavendelblüte drauf, das Sophia ihm vor Jahren geschenkt hatte, weil das Aroma den Badenden entspannen sollte. Er hatte es nie angerührt. Vollbäder waren für ihn immer schon eine Verschwendung von Wasser, Energie und Zeit gewesen.

Mit dem Ärmel seines Bademantels wischte er ein paar Wasserflecken vom Spiegel und war schon fast aus dem Zimmer, als sein Blick auf den bunten Seidenkimono fiel, der am Haken an der Tür hing. Er zuckte unwillkürlich zusammen. So war sein Leben jetzt. Der Schmerz kam ohne Vorwarnung. Als würde eine höhere Macht einen Spaß mit ihm treiben und nach Lust und Laune einen Schalter umlegen. Er nahm den Kimono vom Haken, strich sanft über den seidig glänzenden Stoff, presste ihn an sein Gesicht und spürte, wie die Trauer in ihm aufstieg. Seine Beine wurden weich wie Gelee. Er suchte nach Halt, ließ sich kraftlos auf dem Rand der Badewanne nieder und roch noch einmal. Panik ergriff ihn: Sophias Duft schien sich langsam zu verflüchtigen.

 

Robert hatte sich vom oberen Stockwerk räumend und wischend bis in die Küche vorgearbeitet und mühte sich jetzt an den Kalkflecken im Spülbecken ab. Mit mäßigem Erfolg. Egal mit wie viel Kraft er auch scheuerte, die Flecken wollten nicht verschwinden. Er gab eine weitere Dosis Putzmittel auf den Schwamm, als ihm ein unerwarteter Duft in die Nase stieg. Ein Blick auf das Etikett der Flasche enthüllte, dass er statt Scheuermilch Möbelpolitur benutzt hatte.

 

Als er schließlich am Schreibtisch vor dem Computer saß, um eine Lebensmittelbestellung im Online-Supermarkt aufzugeben, hatte ihn das Bild von Sophias Kimono noch immer nicht losgelassen. Robert versuchte, das Gefühl, das es bei ihm auslöste, zu unterdrücken, und starrte angestrengt auf den Monitor. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis der Computer hochgefahren war und endlich das Startbild erschien, das Sophia installiert hatte. Ein gemeinsames Urlaubsfoto von ihnen beiden auf Sizilien, das vor vielen Jahren entstanden war. Er hatte sich einen höllischen Sonnenbrand geholt, war am ganzen Körper rot wie ein Krebs gewesen, und seine Haut hatte bei der kleinsten Berührung gebrannt wie Feuer. Robert konnte seinen Blick nicht von dem Foto abwenden, plötzlich kam es ihm vor, als höre er die Wellen des Mittelmeeres rauschen. Als wärme die Sonne sein Gesicht, als spüre er Sophias Hand in seiner. Wenn er sich jetzt umdrehte, dann würde sie durch die Tür kommen und ihm einen Kuss geben. Sie würde ihm sagen, dass er den Computer ausstellen sollte, weil sie stattdessen zusammen einkaufen gingen. Robert hörte sie die Treppe hochkommen. Ganz deutlich nahm er das Geräusch wahr, das ihre Füße auf den Stufen verursachten. Doch als er sich umdrehte und zur offenen Tür sah, klaffte da nur ein riesiges schwarzes Loch, das alles in sich aufzusaugen schien. Und in diesem Moment wusste er: Es reichte. So konnte es nicht weitergehen.

 

Während die Wanne sich füllte, dachte Robert darüber nach, wie gut es war, dass er noch nicht zum Renovieren gekommen war. Aus der hintersten Ecke des Unterschranks kramte er Sophias Föhn hervor, und als er das Kabel abwickelte, sah er gleich, dass es viel zu kurz war. Es würde nie und nimmer bis zur Badewanne reichen, er würde improvisieren müssen.

Wenige Minuten später koppelte er den Föhn mit einem Verlängerungskabel, das er aus dem Keller geholt hatte, und steckte das andere Ende in die Steckdose am Spiegelschrank über dem Waschbecken. Dann machte er einen Testlauf und schaltete den Föhn ein. Anschließend legte er ihn griffbereit auf die flauschige Badematte direkt vor der Wanne und streifte seinen Bademantel ab. Als er sich auch seiner Unterwäsche entledigen wollte, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Nackt hatte er sich noch nie wohlgefühlt. Wollte er tatsächlich so gefunden werden? Andererseits barg Kleidung ein gewisses Risiko. Weder war er Elektriker, noch kannte er sich mit Suizid aus. Aber eine innere Stimme sagte ihm, dass Strom besser durch einen unbekleideten Körper leitete, und Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Er musste Prioritäten setzen, Restwürde hin oder her. Also streifte er auch sein Unterhemd ab, zog die Socken aus und entschied sich nach kurzem Zögern, zumindest die Unterhose anzubehalten. Mit einem Mal durchströmte ihn ein Gefühl der Befreiung. Nichts und niemand hielt ihn mehr davon ab, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Keinen einzigen verfluchten Tag länger würde er der Tennisball auf einer Monsterwelle im Atlantik sein. Er setzte einen Fuß ins Wasser, das sich angenehm warm anfühlte. Es gab schlimmere Arten zu sterben.

Gerade als er den zweiten Fuß nachziehen wollte, klingelte es an der Haustür. Ungläubig stöhnte er auf und beschloss, so zu tun, als hätte er nichts gehört. Doch als er endlich mit beiden Beinen im Wasser stand und sich setzen wollte, klingelte es wieder. Erneut versuchte er, die Störung zu ignorieren. Gleichzeitig kamen ihm Zweifel. Was, wenn er nicht sofort tot war? Wenn es zu einem Kurzschluss kam, die Sicherung mit Getöse herausknallte und er bewusstlos im Wasser lag, ihm jedoch nicht genügend Zeit blieb, langsam zu ertrinken, weil jemand, aufgeschreckt von dem ungewöhnlichen Lärm, die Polizei oder die Feuerwehr alarmierte? Im schlimmsten Fall fand man ihn zu früh, und er schaffte es womöglich nur ins Koma statt in die ewigen Jagdgründe.

 

«Behalten Sie Ihren Wachtturm für sich», rief Robert, als er bloß Augenblicke später die Haustür aufriss. Er schaute auf eine Frau hinab, deren Alter man auf den ersten Blick schwer schätzen konnte. Wirklich jung war sie nicht mehr, richtig alt aber auch noch nicht. Ihre Kleidung, ihre Frisur und die großen, geometrischen Plastik-Ohrringe erinnerten ihn irgendwie an die Kindheit seiner Tochter.

«Ich bin keine Zeugin Jehovas. Außerdem kommen die immer zu zweit», entgegnete die Frau so energisch, dass er unwillkürlich schwieg. Außerdem fiel Robert plötzlich ein, wie lächerlich er aussehen musste. Unter dem Bademantel war er bis auf die Unterhose nackt. Nicht mal in seine Pantoffeln war er auf die Schnelle geschlüpft.

«Es tut mir leid, dass ich störe», sagte sie, während sie ihn von oben bis unten musterte. «Aber es ist dringend. Ich bin Lilli. Lilli Fischer.»

Robert verzog das Gesicht. Er kannte den Namen. Und der löste keine Begeisterung in ihm aus. «Sie sind diese Frau, die hier ständig anruft?»

«Genau die.» Lilli lachte laut und lugte neugierig an ihm vorbei ins Haus. «Ist Sophia da?»

«Nein. Und jetzt verschwinden Sie.»

«Ich denke nicht dran», sagte Lilli Fischer unbeeindruckt. Sie kam noch einen Schritt näher und baute sich vor ihm auf wie ein Chihuahua vor einem Rottweiler. «Seit vier Wochen rufe ich jeden Tag an. Auf dem Handy, dem Festnetz, ich schicke Mails. Die anderen Frauen aus der Gruppe sitzen auch auf dem Trockenen. Und bevor mir Sophia nicht persönlich erklärt, warum sie uns im Stich …» Sie brach unvermittelt ab. Sie hatte sich so in Rage geredet, dass ihre Worte ihre Gedanken überholt hatten. «Ich brauche meine Mascara», presste sie schließlich heraus.

Er sah sie an, als hätte er eine Wahnsinnige vor sich, und wollte die Tür ins Schloss werfen. Aber sie stellte reflexartig ihren Fuß in den Rahmen. «Au», schrie sie, als sie die volle Wucht der Tür zu spüren bekam.

«Sind Sie verrückt geworden? Nehmen Sie gefälligst Ihren Fuß da weg!»

«Sagen Sie mir erst, wo Sophia ist. Oder muss ich die Polizei rufen?» Lilli sah ihn durchdringend an, und Robert war nicht sicher, ob das ein Scherz war oder ob sie es ernst meinte. Dafür war ihm etwas anderes umso klarer, nämlich dass sich diese Frau nicht ohne Weiteres abschütteln ließ. Er musste härtere Geschütze auffahren.

«Meine Frau ist tot.»

Lilli sah ihn verständnislos an. Seine Worte brauchten einen Moment, bis sie in die entscheidenden Windungen ihres Gehirns vorgedrungen waren. Dann schlug sie die Hände vor den Mund.

«Wie …?»

Robert wartete nicht, bis sie ihre Frage zu Ende gestellt hatte. «Ein Unfall. Würden Sie mich jetzt bitte zufriedenlassen?»

Lilli kramte ein Papiertaschentuch aus ihrer großen Umhängetasche und schnäuzte sich die Nase. Ungläubig starrte sie ihn an, während die Tränen ihr unaufhaltsam die Wangen hinunterliefen.

«Ich wäre jetzt gerne wieder allein», bekräftigte Robert, denn ihr Fuß stand immer noch in der Tür.

Lilli nickte. «Natürlich», sagte sie und schob sich an ihm vorbei ins Haus.

«Dürfte ich nur kurz Ihr Bad benutzen?»

 

Robert stand im Keller vor den Regalen, in denen noch immer Unmengen von den Kosmetikprodukten lagerten, die Sophia als AVON-Beraterin vertrieben hatte. Als Lilli Fischer im Bad verschwunden war, hatte er den Entschluss gefasst, sie mit dem zu versorgen, wofür sie gekommen war. Das schien ihm die sicherste Art, sie loszuwerden.

Es war einige Wochen her, seit er das letzte Mal in diesem Teil des Kellers gewesen war. Damals hatte Sophia mal wieder eine Großlieferung bekommen, und er hatte ihr die Sachen in diesen Raum getragen, den sie als Lager nutzte. Er sah Sophia vor sich. Ihr Strahlen, wenn sie sich vollbepackt mit neuer Ware auf den Weg machte. Und wie aufgekratzt und fröhlich sie wenige Stunden später nach Hause kam. Vor allem, wenn sie ein gutes Geschäft gemacht hatte. Das war nicht selten der Fall gewesen, denn zu Roberts großer Überraschung hatte sie sich als echtes Verkaufstalent entpuppt.

«Mir geht’s nicht ums Geld. Im Gegensatz zu dir bin ich gerne unter Menschen», hatte sie immer gesagt. «Aber wenn ich nebenbei noch was verdienen kann, umso besser.» Insgeheim war ihm immer klar gewesen, wie sehr sie darunter gelitten hatte, dass sich ihr gemeinsamer Freundes- und Bekanntenkreis im Laufe der Jahre allmählich aufgelöst hatte – was natürlich allein seine Schuld gewesen war. Er wusste genau, dass diese Verkaufstreffen mehr für sie waren als nur ein Job. Sie waren auch eine Flucht aus der ständigen Zweisamkeit mit ihm. Weil er nicht kompatibel mit anderen Menschen war, hatte sie sich einen Bekanntenkreis ohne ihn aufgebaut. Er seufzte. Gerade als er den Ordner mit Kundenadressen aufschlug und nach dem Namen seines ungebetenen Gastes suchte, hörte er Lilli Fischer von oben rufen.

«Im Keller», rief er zurück, als sie auch schon die Treppe herunterkam. Man sah ihr an, dass sie die Nachricht von Sophias Tod noch nicht verdaut hatte. Aber gleichzeitig strahlte sie eine Entschlossenheit aus, die Robert nicht einordnen konnte.

«Wow», sagte Lilli, als sie unten angekommen war.

Er folgte ihrem Blick zu dem Regal im hinteren Teil des Kellerraums, der seine Sammlung alter Vinyl-Single-Schallplatten beherbergte, deren Cover ziemlich abgestoßen waren.

«Ich habe alle meine Platten verkauft, als die ersten CDs rauskamen. Ich könnte mir heute noch in den Arsch beißen.» Staunend trat sie näher an das Regal heran und entdeckte den alten Kofferplattenspieler aus den Sechzigern. «Funktioniert der noch?»

«Selbstverständlich.»

«So was Schönes lassen Sie hier unten vergammeln?»

«Hier vergammelt nichts.»

Robert hatte inzwischen im Ordner gefunden, was er gesucht hatte, und wandte sich den Kosmetikprodukten zu. Nicht lange, und er zog triumphierend einen Karton aus dem Regal und reichte ihn Lilli.

«Volumen Mascara mit schwarzem Diamantstaub. Korrekt? Brauchen Sie eine Tüte?» Er öffnete eine Schublade, in der sich eine Menge kleiner, beschrifteter Tüten befanden. Zum Glück kannte er sich hier unten so gut aus. Schließlich war er es gewesen, der immer für Sophia aufräumen musste. So gut sie auch das Menschliche beherrscht hatte – Ordnung halten hatte nicht zu ihren Stärken gehört.

«Nein, keine Tüte, aber …» Sie deutete auf den Karton und wirkte verlegen. «So viel Geld habe ich jetzt gar nicht dabei.»

Robert schüttelte ungläubig den Kopf. «Ich denke, Sie sind hier, um endlich Ihre Kosmetik zu kaufen?»

«Ich bin vor allem hier, weil ich Sophia sehen wollte.»

Für einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen. Keiner wusste, was er sagen sollte. Robert wollte diese Stille so schnell wie möglich durchbrechen und hielt ihr den ganzen Karton hin.

«Ist ein Geschenk.»

Sie sah ihn überrascht an. «Danke.»

«Aber für die Zukunft suchen Sie sich jemand anderen», sagte Robert, während er den Ordner an seinen Platz zurückstellte.

Lilli musterte erst ihn, dann das Regal. «Was machen Sie nun mit den ganzen Sachen?»

Er drehte sich zu ihr um und schaute sie baff an. «Hören Sie, ich denke, das war großzügig genug.»

«Nein, nein, so war das nicht gemeint», sagte sie eilig, das Missverständnis schien ihr peinlich zu sein. «Ich meine – ich könnte den anderen Bescheid geben. Die könnten ihre Kosmetik genauso gut bei Ihnen …»

«Wagen Sie es ja nicht, ich will hier niemanden sehen», fiel Robert ihr eilig ins Wort.

«Wollen Sie das alles wegschmeißen?»

«Das lassen Sie mal meine Sorge sein.»

«Ich meine ja nur … Warum verkaufen Sie das nicht?»

«Sehe ich aus wie ein Verkäufer?»

«Nein. Eher wie ein Exhibitionist, der mal dringend duschen sollte.»

Plötzlich war sich Robert wieder seines merkwürdigen Aufzugs bewusst, den er kurz vergessen hatte. «Ich habe Sie nicht eingeladen, und außerdem wollte ich gerade ein Bad nehmen», sagte er halbherzig und zog verlegen den Gürtel des Bademantels enger. Doch Lilli Fischer interessierte sich schon gar nicht mehr für die Kosmetikprodukte im Regal oder seine nicht vorhandene Kleidung, sie wollte etwas ganz anderes wissen.

Sie sah ihm in die Augen, zögerte kurz und fragte dann mit einfühlsamer Stimme: «Wo ist Sophia beerdigt? Ich würde sie gerne besuchen.»

Darauf war Robert nicht vorbereitet. Wieder hatte sie ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Was wollte diese Frau noch alles von ihm?

«Hören Sie. Sie war nicht nur unsere AVON-Beraterin. In all den Jahren ist sie so etwas wie eine Freundin geworden.»

«Lassen Sie uns das hier jetzt einfach beenden», sagte Robert, aber sie ließ sich nicht beirren.

«Warum fahren wir nicht zusammen zu ihr?»

Er schüttelte den Kopf. «Vergessen Sie das gleich wieder.»

«Jedenfalls lasse ich Sie hier nicht allein.»

Lilli Fischers Ton hatte sich verändert, und das ließ Robert aufmerken. Und da sah er, wie sie einen Föhn aus ihrer Handtasche kramte: seinen Föhn.

«Entweder kommen Sie mit, oder ich rufe den psychologischen Dienst», sagte sie sehr bestimmt.

Ungläubig schüttelte Robert den Kopf. Mit gutem Zureden allein bekam er diese Frau jedenfalls nicht dazu, seine Privatsphäre zu respektieren. Genauso gut hätte er auf einen Hund ohne Beißhemmung einreden können, der sich in der Wade eines Joggers verbissen hatte.

«Sie kennen mich doch gar nicht. Haben Sie überhaupt keine Angst? So ganz allein im Keller eines fremden Mannes, der nichts mehr zu verlieren hat?»

Lilli lachte herzhaft auf. «Sie kommen mir nicht vor wie ein Mörder.»

«Wenn Ihre Menschenkenntnis Sie mal da nicht täuscht», grummelte Robert, dem längst klar war, wie wenig glaubwürdig er rüberkam.

«Es standen schon genug vor mir», konterte sie.

Robert zog seine Stirn in Falten und überlegte, was sie damit jetzt schon wieder meinte.

Lilli strahlte ihn an. «Fahren wir?»

Kapitel 2

Die Sonne schien ihm ins Gesicht, als er mit Lilli aus dem Haus trat. In der absurden Hoffnung, dass sie es sich noch einmal anders überlegte, hatte er sich vehement geweigert, sich etwas Vernünftiges anzuziehen. Doch da sie sich davon nicht hatte beeindrucken lassen und um nicht vollends wie ein Penner auszusehen, trug er zumindest wieder sein Unterhemd unter dem Bademantel und feste Schuhe.

Er richtete den Funkschlüssel auf sein Auto und wollte gerade einsteigen, als Lilli ihn kurzerhand unterhakte.

«Nichts für ungut. Aber ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, in das Auto eines Mannes zu steigen, der eben noch darüber nachgedacht hat, aus dem Leben zu scheiden.»

Robert überlegte kurz, ob er protestieren sollte, gab sich dann aber geschlagen, als Lilli ihn entschlossen zu ihrem Auto zog. Sie kamen vor dem schwarzen Mini zum Stehen. Oder war er dunkelgrau? Es war schwer zu erkennen, da eine klebrige Dreckschicht die gesamte Karosserie überzog.

«Ich wohne in der Lindenstraße. Schöne Bäume, machen aber viel Dreck», sagte Lilli entschuldigend, als sie seinen Blick bemerkte. Robert deutete auf den eingetrockneten Vogeldreck auf dem Dach des Mini. «Scheißen können Ihre Linden auch?»

Lilli lachte laut, während sie die Autotür öffnete und schwungvoll ihre Handtasche auf die Rückbank warf.

«Eigentlich wollte ich in die Waschanlage, aber es soll heute sowieso noch regnen.»

Robert warf einen skeptischen Blick in den strahlend blauen Himmel und entschloss sich, ohne einen weiteren Kommentar einzusteigen.

«Moment, ich mach schnell Platz», sagte Lilli. Sie schob ihn kurzerhand zur Seite und schaufelte das Chaos aus Fast-Food-Verpackungen, alten Parkscheinen, Pappbechern und CDs, das den Beifahrersitz bedeckte, nach hinten auf die Rückbank. Dann wischte sie ein paarmal mit der Hand über die Sitzfläche und bedeutete ihm schließlich lächelnd einzusteigen. Robert quetschte sich auf die Beifahrerseite, und obwohl er den Sitz komplett nach hinten schob, stießen seine Knie gegen das Handschuhfach. Unter seinen Pantoffeln knirschten zwei CDs im Fußraum. Er bückte sich ächzend und warf sie nach hinten zu dem anderen Müll, während Lilli den Motor startete, die Automatik einrasten ließ und das Gaspedal durchdrückte. Mit einem mächtigen Satz schoss der Wagen los und drückte seine beiden Insassen in ihre Sitze. Robert griff reflexartig zum Haltegriff und sah Lilli prüfend an. Das mit der Badewanne hatte zwar nicht funktioniert, aber womöglich würde es auf diese Weise klappen.

 

Lilli lenkte den Wagen über eine dicht befahrene Straße, während sie ohne Unterlass redete und gleichzeitig am Autoradio hantierte.

«Ihre Frau und ich kennen uns jetzt schon fünf Jahre. Oder sind es sechs? Eigentlich bin ich an dem Abend nur aus Langeweile mit einer Freundin mitgekommen. Ich kannte AVON von früher. Meine Mutter hat das benutzt, ich wäre von selbst nie auf die Idee gekommen. Aber Ihre Frau hatte recht: Die Sachen sind richtig gut.»

Robert wunderte sich über sich selbst. Für jemanden, der eben noch mit dem Leben abgeschlossen hatte, machte ihn Lilli Fischers Fahrstil überraschend nervös. Sämtliche Kurven nahm sie einhändig, weil die andere Hand ständig am Autoradio klebte, um einen passenden Sender zu finden. Er sah den Wagen vor ihnen bedrohlich nahe kommen und bereitete sich schon darauf vor, dass die beiden Stoßstangen sich gleich unsanft berühren würden.

Lilli drückte mehrmals entschieden die Hupe. «Fahr endlich, du Lahmarsch.»

Robert sah auf den Tacho, dessen Nadel sich bei sechzig eingependelt hatte. «Geschlossene Ortschaft», raunte er. Aber davon ließ sie sich nicht aus der Ruhe bringen.

Lilli lächelte ihn unschuldig an. «Bei den Blitzern gibt’s immer eine Toleranz.»

«Bei Rot nicht», sagte Robert und deutete auf die Ampel vor ihnen, die gerade auf Gelb sprang.

«Schaffen wir noch.» Lilli trat das Gaspedal durch. In dem Moment, in dem die Ampel auf Rot schaltete, brauste der Mini über die Kreuzung. Sie lächelte ihn triumphierend an, um sich gleich darauf wieder dem Radio zu widmen und einen weiteren Senderdurchlauf zu starten.

«Könnten Sie sich bitte auf den Verkehr konzentrieren?», rief Robert nervös.

«Verstehe. Sie sind einer von denen, die auch vom Beifahrersitz aus immer bremsen müssen, was?»

«Einer von uns beiden sollte das tun, wenn wir das hier überleben wollen.»

Robert bemerkte das zufriedene kleine Lächeln, das sie ihm schenkte, und konnte sich denken, was ihr durch den Kopf ging. Wenn sie glaubte, dass er so einfach von seinem Vorhaben abzubringen wäre, dann täuschte sie sich jedoch. Ja, er hatte zugestimmt, mit ihr zum Friedhof zu fahren, aber nur, um sie loszuwerden. Anschließend würde er sich seinen Föhn schnappen und da weitermachen, wo er aufgehört hatte.

«Da vorne rechts. Sie können schon mal rüber», sagte er im Ton eines Fahrlehrers.

«Aye, aye, Sir.»

Lilli setzte den Blinker und zog den Mini auf die rechte Fahrspur, ohne auf den Wagen neben ihnen Rücksicht zu nehmen. Der Fahrer hupte aufgebracht.

«Vorsicht», mahnte Robert.

Lilli zog den Mini zurück nach links. Als der Wagen sie passierte, sah Robert, wie der Fahrer eindeutige Gesten in seine Richtung machte. Ihm reichte es endgültig. «Halten Sie an!»

«Jetzt? Hier?»

«Sofort!»

Lilli bremste den Mini mitten auf der Straße und provozierte damit ein Hupkonzert, dessen Lautstärke nur von Roberts sich überschlagender Stimme übertroffen wurde. Er fühlte, wie sein ganzer Körper bebte.

«Wissen Sie was? Mir ist völlig egal, ob ich das hier überlebe. Wenn ich großes Glück habe, eher nicht. Aber was die anderen betrifft …» Er spürte, wie seine Verzweiflung und Hilflosigkeit in Wut umschlagen wollten. Nicht auf Lilli persönlich. Sondern auf alle Idioten, die sich auf den Straßen tummelten. Die nur das eigene Ziel im Blick hatten, ohne Rücksicht auf Verluste. Wie dieser Lastwagenfahrer, der nicht aufpassen konnte und ihm die Liebe seines Lebens genommen hatte.

 

Robert hatte das nervtötende Hupen und das wütende Gebell der anderen Autofahrer noch immer im Ohr, als sie wenige Minuten später durch eine ruhige Siedlung am Stadtrand fuhren. Während Robert durchs Seitenfenster eine Gruppe betagter Nordic Walker beobachtete, die ohne Mühe an ihnen vorbeizogen, lenkte Lilli Fischer den Wagen in halber Schrittgeschwindigkeit durch das Wohnviertel. Anscheinend kannte diese Frau nur Extreme.

Schon von Weitem sah man die Mauern, die den Friedhof umgaben, und die mächtigen Bäume dahinter. Je näher sie kamen, desto deutlicher spürte Robert sein Herz schlagen. Es fühlte sich an, als wolle es in seiner Brust zerspringen. Seit Sophias Beerdigung war er nicht mehr hier gewesen. Er konnte nicht verstehen, dass andere Menschen an Gräbern standen und Zwiesprache hielten. Der Friedhof war nicht der Ort, an dem er sich Sophia besonders nah fühlte. Er spürte ihre Anwesenheit jeden Tag, ab dem Augenblick, in dem er alleine in ihrem gemeinsamen Zimmer erwachte. Für ihn war sie immer noch sein Zuhause.

Der Mini näherte sich dem Eingang mit dem großen schmiedeeisernen Tor, neben dem sich ein Blumenladen befand. Trotz des schönen Wetters schien nicht viel los zu sein. Es standen kaum Autos auf dem Parkplatz. Lilli Fischer steuerte auf eine Parklücke zu, in die sie ihren Mini würde quer einparken können. Doch anstatt das Tempo zu drosseln und hineinzufahren, fuhr sie vorbei, bremste plötzlich scharf ab und legte den Rückwärtsgang ein. «Ich kann nur rückwärts einparken», erklärte sie beflissen, während sie den Wagen schwungvoll zurücksetzte und den Motor ausschaltete.

Robert blickte sie ungläubig an. Trotz der riesigen Lücke hatte sie es geschafft, ihren winzigen Wagen so zu parken, dass weder rechts noch links ein weiteres Auto Platz finden würde. Aber noch bevor er sie darauf hinweisen konnte, schnappte sie sich ihre Handtasche von der Rückbank und riss die Fahrertür auf. «Ich besorg schnell ein paar Blumen.»

Während sie federnd aus dem Auto sprang, bereitete es ihm deutlich mehr Mühe, sich aus dem Beifahrersitz zu stemmen. Der Mini war einfach eine Nummer zu klein für ihn.

«Wollen Sie nicht abschließen?», rief er ihr noch hinterher, als er es endlich geschafft hatte. Aber Lilli war bereits im Blumenladen verschwunden. Er warf die Autotür zu und wischte seine klebrigen Finger am Bademantel ab. Als er ihr folgte und auf das Eingangstor des Friedhofes zulief, bemerkte er, dass seine Hände zu zittern begonnen hatten.

 

Sie standen vor einem Grabstein aus rot leuchtendem Granit, auf dem in goldenen Lettern Sophias Name sowie das Jahr ihrer Geburt und das ihres Todes geschrieben waren. Es war bestimmt nicht das, was Robert für sich selbst ausgesucht hätte, aber für Sophia war es das Richtige, da war er sicher.

Während er sich im Hintergrund hielt, beobachtete er Lilli, die fassungslos am Grab stand und den Stein sanft mit der Hand berührte.

«Sophia, was machst du denn für Sachen?»

Lilli platzierte den Strauß, den sie gekauft hatte, in der Grabvase. Die Sonne ließ die Blumen in allen nur erdenklichen Farben erstrahlen. Der Anblick bewegte Robert. Er wusste, dass Sophia diesen Strauß geliebt hätte. Blumen mussten für sie vor allem eins sein: bunt. Während er Wert auf möglichst pflegeleichte Grünpflanzen legte, hatte sie Mohn, Pfingstrosen, Zinnien und Löwenmäulchen im Garten angepflanzt und alles, was die Farbpalette sonst noch so hergab. Hortensien hatte Sophia besonders gemocht, weil deren Blüten sogar noch im Spätherbst, im trockenen Zustand, schön anzusehen waren. Sie hatte auch die Angewohnheit gehabt, überall im Haus frische Schnittblumen aufzustellen. Sogar im Schlafzimmer, wogegen Robert regelmäßig protestiert hatte. Vor allem, wenn Sophia Lilien besorgt hatte, die ebenfalls zu ihren Lieblingsblumen gehörten, deren durchdringender Geruch Robert jedoch beim Schlafen störte. Aber das ließ Sophia nicht gelten.

Der Anblick ihres Namens auf dem Grabstein löste ein Gefühl der Beklemmung in ihm aus. Er konnte nichts dagegen tun. Sein Atem verkrampfte sich. Es war, als würde jemand Felsbrocken auf seiner Brust ablegen, und er fürchtete, dass seine Beine unter der Last zusammenbrechen würden. Er kam ins Straucheln, hielt panisch Ausschau nach einem Halt, als Lilli sich zu ihm umdrehte und sofort den Ernst der Lage erkannte. Robert streckte ihr seine zitternde Hand entgegen, und sie ergriff sie. Er bebte am ganzen Leib. Und als sie ihn fest in die Arme schloss, ließ er es zu.

 

Sie saßen auf einer Parkbank in der Nähe der Grabstelle. Robert schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch und ließ es in der Tasche seines Bademantels verschwinden, die vor lauter benutzter Taschentücher schon ganz ausgebeult war.

«Brauchen Sie noch eins?», fragt Lilli.

«Wie viele haben Sie noch in Ihrer Tasche?»

«Davon kann man nie genug haben.»

«Wieso? Trösten Sie öfter so altersmüde Säcke wie mich?»

«In meinem Beruf wird viel geweint. Selbst die härtesten Brocken verlieren vor mir die Fassung», sagte sie mit einem Lächeln.

Robert schaute sie an und fragte sich, welcher Beruf das wohl sein konnte. War sie Pflegerin auf einer Krebsstation? Oder Pfarrerin? Oder eine alternde Hostess? Er wurde nicht schlau aus dieser Frau. Aber irgendwie brachte er es nicht über sich, sie einfach zu fragen. Es war ja letztlich auch egal. Sie würden sich sowieso nach diesem Ausflug nicht wiedersehen.

Stumm blickten sie über das Friedhofsgelände und beobachteten die Spatzen, die aufgeregt krakeelend zwischen den hohen Kastanienbäumen hin und her flogen oder sich vor ihnen auf dem Boden einen Kampf um ein paar Brötchenkrümel lieferten. Vereinzelt sah man Menschen, die sich um die Gräber ihrer Liebsten kümmerten, Unkraut zupften oder am Wassertrog die großen Plastikgießkannen befüllten. Eine betagte Dame polierte einen Grabstein mit einem Tuch. Friedhofsangestellte hoben ein neues Grab aus. Auch eine Art von Alltag.

«Sie haben eine Tochter und einen Enkel, oder?», nahm Lilli Fischer das Gespräch irgendwann wieder auf.

Er nickte schweigend.

«Und dann kommen Sie auf eine so verrückte Idee?»

«Was ist daran so verrückt, wenn man sein Leben nicht mehr erträgt?» Er merkte, dass sie widersprechen wollte, und kam ihr eilig zuvor. «Kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit diesem Spruch. Die Zeit heilt alle Wunden und so.»

Lilli sah ihn an. «Tut sie nicht. Zumindest nie ganz. Irgendwas bleibt immer zurück.»

Ein trauriger Unterton in ihrer Stimme ließ Robert hellhörig werden. Lilli starrte ins Leere und wirkte für einen kurzen Moment abwesend. Robert war mit einem Mal klar, dass auch sie ihr Päckchen zu tragen hatte. Andererseits, wer hatte das nicht?

Doch schon war ihr Lächeln zurück. «Was machen wir jetzt? Trinken wir noch irgendwo einen Kaffee zusammen?»

Er deutete an sich herunter. «Sicher. Und wenn man mich nicht gleich im Café verhaftet, gehen wir noch auf den Spielplatz und verteilen Schokolade an die Kinder.»

«Vielleicht ein Spaziergang», insistierte Lilli.

«Ich will nur eins. Nach Hause», sagte Robert kraftlos.

Sie musterte ihn prüfend. «Erst müssen Sie mir etwas versprechen.»

Er wusste genau, was sie meinte. Er erwiderte ihren Blick, schwieg und seufzte resigniert. Das musste reichen.

 

Als Robert aus Lillis Auto stieg, war es bereits Nachmittag. Die ersten Nachbarn hatten Feierabend und werkelten in ihren Gärten oder hielten ein Schwätzchen über den Zaun.

«War mir ein Vergnügen, vielleicht wiederholen wir das bald mal», rief Lilli für alle hörbar, noch bevor er die Beifahrertür zumachen konnte. Und als sie mit Vollgas davonfuhr, drückte sie zum Abschied noch zweimal kurz die Hupe. Während Robert durch seinen Vorgarten schritt, spürte er die interessierten Blicke der Nachbarn. Eilig zog er sich in seine vier Wände zurück und warf krachend die Tür ins Schloss.

Robert hängte den Schlüssel ans Schlüsselbrettchen, zog die Straßenschuhe aus und schlüpfte in seine Pantoffeln. Obwohl er sich völlig erschöpft fühlte, schlug sein Herz schnell und heftig in seiner Brust. Er atmete tief durch und versuchte, seinen Körper zur Ruhe zu zwingen. Da hörte er ein leises Plätschern, und dann sah er auch schon das Rinnsal, das sich die Treppen herunterschlängelte. Am Treppenabsatz hatte sich bereits eine Pfütze gebildet, und seine Pantoffeln verursachten auf dem nassen Teppichboden ein schmatzendes Geräusch. Robert schüttelte fassungslos den Kopf. «Den Föhn hat sie ausgesteckt, aber das Wasser lässt sie laufen.»

Kapitel 3

Die Uhr zeigte 03:26 Uhr, und Robert bekam immer noch kein Auge zu. Schuld daran war auch Lilli Fischer. Geschlagene zwei Stunden hatte er damit verbracht, die Überschwemmung zu beseitigen, die sie verursacht hatte. Das Wasser war bis ins Wohnzimmer vorgedrungen, der Teppich hatte sich vollgesogen wie ein Schwamm. Mühsam hatte er die Feuchtigkeit mit Frotteehandtüchern aufgenommen, die er über einem Eimer auswrang. Am Ende hatte er es geschafft, den größten Schaden zu beseitigen, aber der Teppich würde Tage brauchen, bis er wieder vollkommen trocken war. Im schlimmsten Fall würde er müffeln und müsste komplett ausgetauscht werden. Robert kam ins Grübeln. Im Grunde waren sie beide für das Desaster verantwortlich. Also müsste Lilli sich auch an den Kosten beteiligen. Fifty-fifty wäre nur fair. Was musste sie auch unbedingt anderer Menschen Leben retten?

 

Robert hatte gegen die Decke gestarrt und war so wach gewesen, dass er schließlich aufgestanden war und sich an den Computer gesetzt hatte. Eigentlich hatte er nur endlich seine Lebensmittel-Bestellung beim Online-Lieferdienst abschließen wollen. Aber dann war ihm aufgefallen, dass das Icon von Sophias Mail-Programm eine unheimlich