Unbarmherziges Land - Chris Offutt - E-Book
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Unbarmherziges Land E-Book

Chris Offutt

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  • Herausgeber: Tropen
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

»Brillant« New York Times Book Review Eine tote Frau in den Bergen. Alle wissen etwas, doch der Justiz vertraut keiner. Willkommen in Kentucky. Mick Hardin, Ermittler für das CID der US-Army, ist auf Heimaturlaub. Seine Frau ist hochschwanger, doch sie reden nicht miteinander. Seine Schwester Linda, erst kürzlich zum ersten weiblichen Sheriff von Rowan County aufgestiegen, steht vor ihrem ersten Mordfall, den ihr die lokalen Politiker am liebsten wegnehmen würden. Der übliche Chauvinismus oder geht es um mehr? Mit ihrem Bruder Mick macht sich Linda an die Lösung des Falls, denn sie weiß, dass unter der schönen und rauen Hügellandschaft Kentuckys die Gewalt brodelt und die offizielle Justiz keinen guten Stand hat. Bleibt nur die Frage, was tödlicher ist: die Menschen oder die Unbarmherzigkeit der Natur.

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Seitenzahl: 250

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Chris Offutt

Unbarmherziges Land

Ein Kentucky-Krimi

Aus dem amerikanischen Englisch von Anke Caroline Burger

Tropen

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Killing Hills« im Verlag Grove Atlantic, New York

© 2021 by Chris Offutt

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung mehrerer Abbildungen von © Stocksy/Robert Downie, © Stocksy/Unite Images und © FinePic®, München

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50512-2

E-Book ISBN 978-3-608-11714-1

Für Jane Offutt Burns

Kein Mondschein so sanft wie über KentuckyKein Sommer so lang wie hier in KentuckyFreundschaft nie festerLiebe nie treuerUnrecht nie größer als in Kentucky

James Hilary Mulligan

Kapitel 1

Der alte Mann war auf der Suche nach Ginseng; mit seinem langen Stock schob er Maiapfel und Lattich beiseite. Ginseng wuchs dicht am Boden und war im Unterholz schwer zu erkennen. Letztes Jahr hatte er hier in der Nähe mehrere Pflanzen gefunden – die Hänge gingen nach Osten und waren geschützt vor der heißen Nachmittagssonne, ein idealer Standort. In der Nähe lag der verrottete Stamm einer Ulme, ebenfalls ein gutes Zeichen. Der Alte blieb stehen, bis er wieder bei Atem war. Einundachtzig war er, der älteste Mann in den Kentucky Hills; der einzige alte Mann, den er kannte.

Der Boden war feucht vom Tau, in den oberen Zweigen hing letzter Nebel. Das Morgengezwitscher der Vögel erfüllte die Luft. In dieser Ecke des Waldes standen fast nur große Laubbäume, die eine Menge Bucheckern, Eicheln und Nüsse abwarfen. Zwei Bäume reichten, dass eine Familie den ganzen Winter über genug Holz zum Heizen hatte.

Er stieg aus einem schmalen, mit Farn zugewucherten Taleinschnitt hangaufwärts. Den Beutel mit den Ginsengpflanzen trug er am Gürtel. Der gegabelte Wurzelstock der einen Pflanze war schön groß, jede seiner drei kräftigen Knollen würde einen hübschen Batzen Geld bringen. Die kleineren Pflanzen, die er gefunden hatte, ließ er unangetastet. Die sollten ruhig noch ein, zwei Jahre wachsen – Hauptsache, ihm kam kein Rivale zuvor und grub sie aus. Er hatte einen .38er Revolver mit Stummellauf bei sich. Die Zielgenauigkeit ließ zwar bereits auf ein paar Schritt Entfernung drastisch nach, aber die Waffe machte ordentlich Krach, und er trug sie offen sichtbar am Gürtel. Der Anblick allein reichte meist schon aus, um jeden dahergelaufenen Ginsengdieb zu verscheuchen.

Oben auf einem schmalen Grat angelangt, schob er ein dickes Büschel Lattich beiseite, und schon leuchtete ihm eine rote Beerendolde entgegen. Dasselbe Finderglück durchfuhr ihn wie als Kind, wenn er mit seinen Brüdern auf Ginsengsuche gegangen war. Er hockte sich hin und lockerte vorsichtig den Boden neben der Pflanze, um die zarte Wurzel nicht zu beschädigen, falls sich herausstellen sollte, dass sie noch zu klein war. Und so war es. Er prägte sich die Stelle fürs nächste Jahr ein: eine hundertjährige Eiche, ein glatter, mit samtigem, grün und rostrot leuchtendem Moos überzogener Felsen. Irgendetwas sah er dabei aus dem Augenwinkel, eine Form oder eine Farbe, die nicht in den Wald gehörte. Er verharrte reglos und schnupperte. Keine Bewegung, eine Schlange war es also nicht. Vielleicht ein Lichtreflex auf einer alten Patronenhülse oder einer Bierdose. Beides wäre ein schlechtes Zeichen, denn beides würde bedeuten, dass jemand außer ihm in diesem einsamen Tal gewesen war.

Neugierig, ohne Angst, bewegte er sich geduckt voran und ließ den Blick dabei hin und her schweifen, als halte er Ausschau nach Spuren von Wild. Die Natur wirkte unberührt. Als er sich zwischendurch aufrichtete, um sich zu strecken, erblickte er eine Frau. In undamenhafter Haltung lag sie an einem Baum, ihr Kopf hing hangabwärts, das Gesicht konnte er nicht sehen. Sie trug ein schickes Kleid. Es war hochgerutscht, er sah nackte Beine, und es fehlte ein Schuh. Auch ihre Unterwäsche fehlte. Insofern handelte es sich wohl kaum um einen Unfall. Er ging näher; das Gesicht kam ihm bekannt vor, er wusste, in welche Familie sie gehörte.

Er kehrte zurück zu der Ginsengpflanze, kniete sich in den Lehm, stach sein altes Armeemesser in den Boden und hebelte die Klinge hin und her, bis er die junge Pflanze unbeschadet herausheben konnte. Umpflanzen war zwar ein Risiko, aber immer noch besser, als den Ginseng von den vielen Leuten zertrampeln zu lassen, die später die Leiche holen würden. Es war ein schöner Ort zum Sterben.

Kapitel 2

Als Mick Hardin wach wurde, spürte er jeden Knochen einzeln. Er fühlte sich, als sei er einmal gründlich durchgekaut und wieder ausgespuckt worden. Der Arm, auf dem er mit seinem ganzen Gewicht gelegen hatte, war eingeschlafen und kribbelte. Versuchsweise bewegte er die Beine, dann schlief er auf dem harten Boden wieder ein. Im Morgengrauen sangen die ersten Vögel. Wenigstens hatte ihn kein Alptraum geweckt. Nur Vögel, die noch nichts Besseres zu tun hatten.

Als er das nächste Mal aufwachte, hatte er schrecklichen Durst. Die Sonne stand bereits über dem Waldsaum und schien ihm direkt in die Augen. Sich wegzudrehen hätte zu viel Kraft gekostet. Er war draußen. Er hatte im Wald geschlafen, hoffentlich nicht allzu weit weg von der Blockhütte seines Großvaters. Mühsam setzte er sich auf; die stechenden Schmerzen in seinem Schädel ließen ihn aufstöhnen. Seine Gesichtshaut spannte, als hätte sie jemand straffgezogen. Neben ihm schützten drei Felsbrocken eine kleine Feuerstelle, daneben lagen zwei leere Whiskeyflaschen. Lieber Wald als Stadt, sagte er sich. Lieber Hügel als Wüste. Lieber Lehm als Sand.

Er humpelte zur Regentonne an der Ecke der alten Blockhütte und schob mit der Hand die toten Insekten an der Oberfläche beiseite. Mit beiden Händen schöpfte er Wasser und trank; es war so kalt, dass sein Mund taub wurde. Er hatte einmal von einem Wissenschaftler gelesen, der mit Wasser sprach, es dann einfror und die Eiskristalle untersuchte, die jedes Mal anders aussahen, je nachdem, was er gesagt hatte. Nette, im freundlichen Tonfall gesprochene Worte ergaben hübschere Kristalle. Es war eine abstruse Idee, aber vielleicht stimmte sie ja doch. Menschen bestanden zu mindestens sechzig Prozent aus Wasser, und Mick dachte sich, ein Versuch schadete nicht. Schlimmer konnte sein Brummschädel nicht werden. Er steckte den Kopf ins Wasser und redete.

Wenn ihm der Atem ausging, hob er den Kopf gerade so weit an, dass er nach Luft schnappen konnte, dann steckte er ihn zurück ins Regenfass und redete. Er hatte den Abend damit verbracht, sich schreckliche Geschichten zu erzählen – von seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart, seiner Zukunft – ein Teufelskreis, der die beschissene Meinung bestätigte, die er von sich selbst hatte, von der nur Alkohol ablenken konnte, was noch mehr Grübeleien nach sich zog. Jetzt suchte er mühsam nach etwas Positivem, was er über sich sagen könnte. Luftblasen stiegen beim Sprechen nach oben, und er schmeckte Erde.

Als Mick zum dritten Mal Luft holen musste, sah er aus dem Augenwinkel ein Fahrzeug. Zuerst hielt er es für Einbildung; er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, doch der große Wagen war immer noch da, und jetzt kam auch noch jemand auf ihn zu. Obendrein entpuppte sich die Person als seine Schwester, und zwar in ihrer Sheriffuniform. Außerdem lachte sie aus vollem Hals.

»Was willst du?«, sagte er.

»Ach, nur gucken, ob du auch sauber bleibst«, antwortete Linda. »Scheinst ja regelmäßig zu baden. Ein Fliegenbad, so hat Papaw doch immer gesagt. Und, wie geht’s?«

»Als ob jemand auf mich gezielt, aber vorbeigeschossen, auf mich geschissen und getroffen hätte.«

»Wenigstens ist dein Kopf wieder sauber.«

Mick nickte, eine Bewegung, die Schmerzen durch seinen Körper zucken ließ. Seine Kopfhaut fühlte sich an wie ein Trommelfell, das jemand Schraube für Schraube immer straffer gespannt hatte, bis es kurz vor dem Zerreißen stand. Er hatte offensichtlich ein wenig übertrieben.

»Kaffee«, sagte er. »Auch einen?«

Er ging ins Haus; dabei lief das Wasser an seinem Oberkörper herunter und hinterließ feuchte Streifen an seinem hellblauen Jeanshemd. Drinnen löffelte er Kaffeepulver in einen rußgeschwärzten Espressokocher für vier Tassen und stellte ihn auf den Campingkocher – eine Gaskartusche mit simplem Aufsatz – und entzündete die Flamme. Linda inspizierte die Blechkanne auf Insekten.

»Wo kommt das Wasser her?«, fragte sie.

»Aus Papaws Brunnen.«

»Und wie lang bleibst du hier draußen?«

»Irgendwann brauche ich frische Klamotten.«

Linda nickte, eine einzige, kurze Kopfbewegung. Seit ihrer Kindheit antwortete sie den meisten Männern so. Jeder hatte seine Angewohnheiten, seine kleinen Eigenheiten. Die von Mick waren eher ungewöhnlich, weil er als Kind hier beim Großvater im Wald aufgewachsen war, gefolgt von vierzehn Jahren bei der Armee. Angefangen hatte er als Fallschirmjäger, mittlerweile leitete er strafrechtliche Ermittlungen beim Militär, wo er auf Mordfälle spezialisiert war.

Linda bewegte sich träge durch das große Zimmer, als gebe es in diesem Raum keine Zeit, als laufe jede Bewegung in Zeitlupe ab. Auf einem selbstgebauten Regal an der Wand lagen die Schätze aus Micks Kindheit – ein Trilobit, die gebänderte Feder eines Streifenkauzes, ein mumifizierter Ochsenfrosch, den er unter einem Felsüberhang gefunden hatte. Ein Stein mit drei waagerechten Schichten, der wie ein halber Hamburger aussah. Nachdem ihr Großvater sie ins warme Bett gesteckt hatte, hatte er so getan, als würde er hineinbeißen – Mitternachtsimbiss hatte er es genannt. Die Erinnerung brachte Linda zum Lächeln.

Sie ging nach draußen und folgte dem Pfad zu der hölzernen Fußbrücke, die über den Bach und zur benachbarten Bergflanke führte. Als Kinder hatten Mick und sie weitläufige Konstruktionen aus Stöcken und Blättern am Bach gebaut und so getan, als wäre es eine Stadt am Fluss mit einer Wassermühle, reichen Familien, breiten Straßen, einem Hotel und einem Kino. Dann hatten sie sich auf die Brücke gesetzt und von dort oben Steine geworfen, bis alles unter ihnen zerstört war. Jeder Volltreffer wurde bejubelt. Dieses Spiel gehörte zu ihren schönsten Kindheitserinnerungen, aber als sie jetzt auf der Brücke saß, wurde ihr klar, dass es auch damals schon einen Unterschied zwischen Mick und ihr gegeben hatte. Sie hatte der Aufbau der Stadt fasziniert, während ihr Bruder an der Zerstörung den größten Spaß hatte.

Er gesellte sich mit den Kaffeebechern zu ihr, und sie saßen nebeneinander und ließen die Beine baumeln. Wie üblich wartete er ab, dass sie als Erste sprach. Er wusste, dass es nicht lange dauern würde.

»Als wir klein waren, kam es mir irgendwie vor, als wäre der Bach weiter weg«, sagte sie.

»Bei den vielen Steinen, die wir reingeschmissen haben, liegt das Bachbett jetzt auch garantiert höher.«

»Daran habe ich auch gerade gedacht.«

»Ich weiß.«

»Dann kannst du also Gedanken lesen?«, fragte sie.

»Hier gibt’s ja sonst nichts zu tun. Man sitzt da und erinnert sich.«

»So gern denkst du an die Vergangenheit?«

»In letzter Zeit nicht«, erwiderte er.

»Was ist los? PTBS oder was?«

»Momentan lediglich ein fürchterlicher Kater.«

»Aber glaubst du, dass du traumatisiert bist?«, fragte sie.

»Wahrscheinlich. Dad war traumatisiert. Papaw auch.« Er blies in seinen Kaffee und nahm einen Schluck. »Keine Sorge. Ich zeige keinerlei Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, dass ich sie leugne.«

Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu, unauffällig aus dem Augenwinkel, wollte sich nicht aufdrängen, wusste aber, dass ihm nichts entging, nie, selbst, wenn er verkatert war. Seine fast übernatürliche Auffassungsgabe machte allen Menschen um ihn herum das Leben schwer, ihm selbst am allermeisten. Sie beschloss, seine Frau und ihre Schwangerschaft nicht zu erwähnen.

»Denkst du gerade an Peggy?«, fragte er.

»Woher zum Teufel weißt du das?«

»Weil’s logisch ist, daher. Aber du bist wegen was anderem hier, stimmt’s?«

»Stimmt. Aber wo du doch alles so gut weißt, dann verrat mir doch mal, warum ich dich besuchen komme.«

»Das ist einfach, Schwesterchen. Du bist hier uniformiert mit dem offiziellen Wagen eingeritten, und dann hast du erstmal abgewartet. Du willst was von mir.«

»Verdammt.«

Mick nickte belustigt. Er liebte seine Schwester, besonders dann, wenn sie fluchte. Sie war das erste Mädchen im ganzen Landkreis, das Little-League-Baseball gespielt hatte, dann wurde sie der erste weibliche Deputy, und jetzt war sie Sheriff.

»Ich habe eine Leiche.«

»Begrab sie.«

»Sie wollen mich rausdrängen.«

»Wer will dich wo rausdrängen?«

»Die da oben«, antwortete sie. »Der Bürgermeister will, dass die Polizei von Rocksalt den Fall übernimmt, damit er bei der nächsten Wahl die Lorbeeren dafür einheimsen kann. Der County Judge hat was gegen unsere Familie, und das seit fünfzig Jahren, hat er selbst gesagt. Er will die Landespolizei einschalten. Von wegen Zuständigkeit, dass ich nicht lache. Es macht mich schrecklich sauer. In Wirklichkeit können sie es bloß nicht verknusen, dass hier eine Frau Sheriff ist.«

»Vergiss sie. Sie haben dir nichts zu sagen.«

»Das nicht, aber sie sind alle abhängig von Murvil Knox. Das ist hier einer von den ganz Großen im Kohlegeschäft. Dem Typen kann man nicht über den Weg trauen. Bei jeder Wahl spendet er fein säuberlich beiden Parteien, damit er die Stadt in der Tasche hat, egal, wer gewinnt. Heute Morgen musste ich mich in aller Herrgottsfrühe mit den drei Gockeln treffen. Es war wirklich zum Kotzen. Nicht zum Aushalten, wie die Männer sich voreinander aufblasen.«

»Zur Hölle mit denen.«

Sie blickten ins Bachwasser. Eine Brise brachte die Pappel zum Rauschen, die großen Blätter drehten ihre Handteller in den Wind.

»So einen Mord«, sagte sie, »so einen hat es hier noch nie gegeben.«

»Wie meinst du das, Schwesterchen?«

»In Eldridge County hat’s noch nie eine Leiche gegeben, wo die Leute nicht sofort wussten, wer’s war. Meistens der Nachbar oder die Verwandten, oder es war eine Drogensache. Oder es sind zwei Säufer wegen einem Hund aneinandergeraten. Diese Sache ist anders. Alle haben sie gemocht. Sie hatte keine Laster, keine Probleme, keine Feinde und hat sich vom Pack ferngehalten.«

»Vermutlich war’s ein Mann.«

»Da stimme ich dir zu. Du bist doch Mordermittler. Du kennst dich hier im Wald besser aus als ich. Mit dir reden die Leute.«

»Du bittest mich um Hilfe?«

»Nicht im Traum«, sagte sie.

Er grinste.

»Und, was hast du?«, fragte er.

»Eine Witwe, dreiundvierzig Jahre. Oben auf dem Choctaw Ridge. Unterhalb der Brandschneise am Clack Mountain vorbei. Veronica Johnson, genannt Nonnie. Ursprünglich war sie eine Turner. Dann ist ihr Mann gestorben. Nonnie und ihr Sohn sind bei ihrer Schwägerin eingezogen. Haben beide Johnsons geheiratet, die jung ins Gras gebissen haben.«

»Red mit ihnen. Finde raus, was der Sohn weiß.«

»Längst passiert. Der ist fertig mit den Nerven. Jemand ist mit seiner Mom in den Wald hoch und hat sie den Hang runtergeschmissen, als wäre sie Müll.«

»Wann war das?«

»Vor drei Tagen.«

»Gestern hat’s geregnet, den ganzen Tag und die halbe Nacht. Am Tatort ist nichts zu sehen. Der Regen hat alle Spuren weggewaschen. Deswegen war ich ja zum Schlafen draußen.«

»Das gefällt dir? Bei Regen draußen Whiskey trinken und dich im Nassen schlafen legen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil das im Irak, in Afghanistan und in Syrien nicht ging. Es gab keinen Whiskey. Und keinen Regen.«

Linda holte eine Hausposttasche aus dem Wagen, darauf das Amtssiegel des Bezirks. Mick nickte, eine Angewohnheit, in der sie ihren Großvater erkannte. Wenn die beiden – Papaw und Mick – früher zusammen in einem Zimmer saßen, war es ein ständiges Genicke wie bei einem Wackelhund. Viele Leute hatten sowas hinten auf der Hutablage. Linda konnte es nicht aushalten, wenn sie an der Ampel hinter so einem Auto festsaß.

Sie gab ihm den Umschlag.

»Die Fotos vom Tatort«, sagte sie.

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Mr. Tucker. Kennst du.«

»Der Hausmeister von der Grundschule? Ich dachte, der wäre längst tot.«

»Lang dauert’s nicht mehr. Seine Frau ist schwerkrank. Sie zu versorgen hält ihn am Leben.«

Mick betrachtete die Fotos eingehend. Nachdem er sie einmal sorgfältig durchgearbeitet hatte, legte er die Fotos von dem Leichnam beiseite und konzentrierte sich auf die Bilder von der unbefestigten Straße. Er legte sie auf der moosbewachsenen Brücke aus und schob sie hin und her, als suche er nach einer Reihenfolge. Linda mochte das an ihm, die Konzentration, die Intensität, mit der er sich einer Sache widmete. Sie kannte diese Konzentration von Billardspielern, Bogenschützen und Programmierern.

»Kannst du was erkennen?«, fragte sie.

Als er antwortete, hatte seine Stimme einen anderen Ton angenommen, er sprach langsamer, wie von fern, als trenne sie eine Glasscheibe.

»Es sind sieben verschiedene Reifenspuren zu erkennen. Seine zuerst. Die anderen sind dann darübergefahren. Wer war alles oben am Grat?«

»Ich. Der Deputy. Der Krankenwagen. Der Gerichtsmediziner. Einer von der Forstverwaltung. Ein Anwohner, der sehen wollte, was da los war.«

»Wer?«

»Fuckin’ Barney.«

»Hast du mit ihm geredet?«

»Nein, ich habe die ganze Woche im Gerichtssaal gehockt. Schlimme Sache. Ein paar Meth-Junkies haben ihre Oma in den Schuppen gesteckt, um ihr Haus derweil als Methküche zu benutzen. Hatte noch keine Zeit, Fuckin’ Barney aufzuspüren. Angeblich wohnt er bei seiner Mutter. Ich habe da angerufen, aber sie ist nicht drangegangen.«

»Dann statte ich ihr mal einen Besuch ab.«

»Das ist nett«, sagte sie.

»Ich mach’s nicht für dich.«

»Für wen dann? Für Nonnie?«

»Nein, für den Mann, der sie umgebracht hat.«

»Erklär«, sagte sie.

»Du weißt genau, was Nonnies Verwandte machen werden. Irgendein Kerl schießt den Mörder über den Haufen und kommt in den Knast.«

»Du willst einen Fremden vorm Gefängnis retten?«

Er schaute in das Bachbett hinunter. Eine Heuschrecke nagte an einem Grashalm. Seine Stimme klang wieder wie von fern, wie eine Kirchenglocke am Ende eines langen, engen Tals.

»Ich will nicht, dass noch jemand stirbt«, sagte er. »Davon habe ich im Einsatz in der Wüste genug gehabt. Wenn ich was dagegen unternehmen kann, dann tue ich das.«

Linda kannte ihren Bruder gut, aber was er in der Wüste durchgemacht hatte, wusste sie nicht. Genau wie alle anderen Männer in ihrer Familie sprach er nicht über seine Kriegserlebnisse.

Mick stand auf und streckte ihr die Hand hin. Sie ließ sich nicht aufhelfen. Zusammen gingen sie zurück zur Hütte. Die gesamte Westseite war von wildem Wein zugewuchert, die Ranken so dick wie ein Gewehrlauf.

»Das kann nicht gut sein fürs Holz«, sagte sie.

»Nach hinten raus sieht es noch schlimmer aus.«

»Tu mir einen Gefallen«, sagte sie. »Nimm endlich mal dein blödes Handy mit. Ich habe dich viermal angerufen.«

Er nickte. Sie sah zu, wie er die rohen Planken zur Veranda hochstieg, und verkniff sich die Frage nach seiner Frau. Brachte ja nichts, ihn zu ärgern, wenn er ihr gerade Hilfe versprochen hatte.

Kapitel 3

Mick zerkaute vier Ibuprofen, trank einen Liter Wasser, ging wieder nach draußen und schob die verzogene Fliegentür zu, bis sie einrastete. Dank jahrelanger Flickerei mit Drahtenden, Strippe und einer Jeansgesäßtasche sah sie inzwischen aus wie eine alte Patchworkdecke. Micks Urgroßvater hatte die Blockhütte von Hand errichtet, eine ungemein solide Konstruktion mit vier Zimmern, deren Ecken noch immer im Neunziggradwinkel standen, die Wände lotrecht, der Boden in der Waage. Er hatte diese Stelle ausdrücklich wegen des rauen Terrains gewählt. Die Berge waren zu steil und die Täler zu schmal, um das Holz abzuernten. Als Mick neun war, starb sein Vater, und Mick zog in die Hütte zu seinem Großvater, der damals seinen alten Vater pflegte. Linda blieb in der Stadt bei ihrer Mutter. Die beiden alten Männer brachten Mick alles bei, was man über das Leben im Wald wissen musste, eine Weisheit, die zurückreichte bis zur Weltwirtschaftskrise.

Er fand sein Handy im Pick-up. Vier verpasste Anrufe von seiner Schwester. Nichts von seiner Frau. Drei verpasste Anrufe von einer deutschen Nummer, die er als die eines Army-Stützpunkts in Deutschland erkannte. Die bohrenden Kopfschmerzen waren einem dumpfen Pochen gewichen, und er wollte nur noch ins Bett. Stattdessen machte er sich in dem uralten Pick-up seines Großvaters – einem 1963er Chevrolet mit Trittbrett – auf den Weg zum Choctaw Ridge. Wenn es ihm später gut genug ging, würde er seiner Frau einen Besuch abstatten.

Mick fuhr zur nächstgelegenen Tankstelle, einem Familienbetrieb, zwölf Meilen entfernt. Mick kannte die Haneys, so lange er denken konnte. Inzwischen führte ein Enkel den Laden, vielleicht auch ein Urenkel – jede Generation sah aus wie die vorige: bulliger Rumpf mit Schultern wie ein Türsturz, muskulöse Arme, stämmige Beine, kugelrunder Kopf. Dazu ein ständig gerötetes Gesicht und ein struppiger roter Haarschopf, der früh ergraute. Als Kind hatte Mick den Patriarchen der Familie noch erlebt, einen Mann mit schlohweißem Haar, den alle Red nannten. Mick stellte den Wagen auf dem zementierten Parkplatz unter dem handgemalten Schild ab: »Haney’s Bible and Tire«.

Die jüngste Ausgabe der Haneys kam auf seinen Wagen zu.

»Hey, den Pick-up kenne ich«, sagte er. »Hardin, stimmt’s?«

»So ist es. Ich bin Mick. Welcher bist du?«

»Joe.«

»Big Joe oder Little Joe?«

»Keiner von beiden. Das sind meine Cousins. Ich werde Little Big Joe genannt. Und, was darf’s sein, Reifen, Benzin oder doch eine Bibel? Mit allen dreien fährst du gut.«

»Einmal vollmachen bitte. Ich muss einen schlammigen Berg hoch. Hast du irgendwelches Altmetall rumliegen, mit dem ich das Heck ein bisschen beschweren kann?«

»Ich hab da einen Motorblock von einem Ford, der wiegt gut und gern seine Vierteltonne.«

»Und was willst du dafür?«

»Was gibst du?«

Ein listiges Grinsen huschte Little Big Joe über das Gesicht, während er den Tankdeckel aufschraubte und die Zapfpistole einschob. Mick nickte. Wie hatte ihm das gefehlt, diese Vorliebe der Einheimischen fürs Handeln und Tauschen. Beim ausgedehnten Feilschen konnte ein Mann seine Kenntnisse zur Schau stellen, ohne als Angeber dazustehen. Sein Großvater war in der Lage gewesen, mit einem billigen Taschenmesser zu einer Tauschbörse zu gehen und mit einem Rind nach Hause zu kommen.

»Sagen wir dreißig Dollar«, sagte Mick.

Little Big Joe kniff die Augen zusammen, als tue ihm etwas mächtig weh und schwieg hartnäckig. Mick sollte nachlegen. Mick klaubte derweil seelenruhig trockenes Laub und Zweigstücke aus der Vertiefung für die Scheibenwischer, dann polierte er mit dem Hemdzipfel den Außenspiegel.

»Der Motorblock bringt genug Gewicht«, sagte Little Big Joe. »Der rutscht dir auch nicht auf der Ladefläche rum.«

»Müsste gehen.«

»Würd ich dir hundertfünfundzwanzig für berechnen.«

»Unmöglich«, sagte Mick.

»Für nen Fuffi hab ich ne Achse und nen kaputten Bollerofen. Gußeisen. Aber hochhieven musst du sie selbst.«

»Sagen wir fünfundsiebzig, und du packst mit an.«

Little Big Joe hängte die Zapfpistole weg.

»Hundert.«

»Neunzig.«

»Von mir aus. Weil du’s bist. Aber erzähl bloß nicht überall herum, wie du mir die Hosen ausgezogen hast.«

»Keine Bange.«

Little Big Joe hatte offenbar einen echten Reibach gemacht, sonst hätte er nie im Leben so schnell eingewilligt. Das war Mick im selben Moment klar, als er gebeten wurde, den Deal für sich zu behalten. Little Big Joe wollte ihm die öffentliche Schmach ersparen, nachdem er ihn über den Tisch gezogen hatte. So machte man das in den Kentucky Hills. Man trat für den anderen ein, selbst wenn man auf der gegnerischen Seite stand.

Als Mick sich eine halbe Stunde später auf den Weg machte, hing die Ladefläche fast auf der Achse. Beim Hochwuchten des Motorblocks hatte er seine Klamotten durchgeschwitzt; jetzt fühlte er sich schon ein bisschen besser. Der Chevy zog nicht besonders gut, aber die schlammige Piste durch die Brandschneise würde er es raufschaffen. Um nach Choctaw zu kommen, musste er fast bis in den Ort und dann im Bogen zurück am Lick Fork Creek entlang. Beim Fahren dachte er über seine Schwester nach. Sie war eine echte Hardin, dickköpfig und hart im Nehmen, und Mick wusste, dass die indirekte Bitte um Hilfe sie einigen Stolz gekostet haben musste. Er würde ihr helfen, so gut er konnte. Linda hatte ihre Laufbahn im Gesetzesvollzug als Dispatcher bei der Polizei von Rocksalt begonnen. Fünf Jahre später wurde der Deputy des Sheriffs der sexuellen Belästigung beschuldigt. Er trat zurück, und die Stelle wurde Linda angeboten, weil die Politiker sich so damit brüsten konnten, dass sie was getan hatten. Vor vier Monaten war der Sheriff dann beim Angeln am Licking River an einem Herzinfarkt gestorben, und Linda bekam seinen Posten.

Mick verließ die Asphaltstraße und fuhr auf eine einspurige Lehmpiste, die dem Auf und Ab der hügeligen Landschaft folgte. Farnwedel nickten am Rand von Schlammlöchern in den Niederungen, weiter oben wuchsen Hornkraut und Blasenkirsche. Die Brandschneise war leicht zu übersehen, daher verlangsamte er das Tempo und hielt Ausschau – aber nicht nach dem Anfang einer Straße, sondern nach einer Lücke zwischen den Baumwipfeln. Diesen Trick hatte er von seinem Großvater gelernt. Wenn man zu angespannt suchte, fand man nichts. Such nicht die Pilze, sondern die Stellen, an denen sie wachsen. Such im Dunkeln nicht nach einer Fährte, sondern geh da lang, wo keine Bäume wachsen. Schau nach Umrissen und Farben, nicht nach dem Ding selbst.

Diese Herangehensweise half Mick sehr bei seiner Arbeit als Ermittler des CID, der Strafverfolgungsabteilung innerhalb der US Army. Seine Ermittlungen führte er nach demselben Prinzip, wie sein Großvater sich einst im Wald orientiert hatte – alles offen wahrnehmen, mit sämtlichen Sinnen, und dann diese Informationen nutzen, um die Situation von allen Seiten zu beleuchten. Nüsse und Eicheln lockten Eichhörnchen an, denen wiederum Schlangen im Unterholz auflauerten. Bevor sein Großvater Walnüsse sammelte, fuhr er mit einem langen Stock durch das Gebüsch, um die Schlangen zu vertreiben. Am häufigsten wurde man in die Hand oder den Fuß gebissen. Bei Menschen war das nicht anders, hatte Papaw ihm beigebracht. Das hatte Mick erst begriffen, als er im Irak Innenräume sichern musste und drei seiner Kameraden dabei vom Feind in die Hand geschossen wurden.

An der Einfahrt zur Brandschneise inspizierte er die tief ausgewaschenen Rinnen, in denen der Regen reichlich Schlamm abgesetzt hatte. Wenn er aufpasste, konnte er die Räder aus den Rinnen halten und so den steilen Hang erklimmen. Lenken war etwas Glückssache, die Vorderräder rutschten, aber die Hinterräder hatten dank des Motorblocks genügend Biss. Oben angekommen, trat er ein gutes Stück vor dem Spurenchaos auf die Bremse. Der Regen hatte alle Reifenspuren inzwischen in Schlammpfützen verwandelt.

Schmatzenden Schrittes stapfte er zu der Kante, von der es steil nach unten ging. Er arbeitete sich die Hügelflanke hinab bis zu einem schmalen Kamm. Dort zog er die Tatortfotos aus der Tasche und positionierte sich mit demselben Blickwinkel wie der Fotograf. Die Leiche hatte schräg, etwa dreißig Grad zum Berg, hangab gelegen, aufgehalten von einer hohen Ulme, eine der wenigen, die es im Wald noch gab. Das alte Laub lag mit der dunklen Seite nach oben, Sanitäter und Polizei hatten alles zertrampelt.

Mick ging in die Hocke und musterte den Boden; hier und dort schob er mit einem Stock den Bewuchs beiseite. Er entdeckte zwei Truthahnfedern und einen Vorrat Hickorynüsse, den ein Eichhörnchen vergessen hatte. Er kehrte zurück zu der Stelle, an der die Leiche gelegen hatte, richtete seinen Blick bergauf, merkte sich einen Honigdorn neben einem Hartriegel und kraxelte den Hang zu den beiden Bäumen hoch. Sollte jemand die Tote über die Kante geworfen haben, dann war die Frau in etwa dort gestorben, wo er jetzt stand. Der Schönheit der Natur tat dieser Tod keinen Abbruch; die Natur war Sterben gewohnt.

Mick fuhr zurück Richtung Stadt; unterwegs machte er bei einem Minimarkt Halt, wo er Toastbrot, Dosenschinken und ein paar Büchsen Suppe kaufte. In der winzigen Heimwerkerabteilung gab es Plastikbehälter mit Nägeln, die nicht einen Hammerschlag aushielten, diverse Schrauben und Muttern, die beim ersten Festziehen durchknacken würden, und dermaßen dünnen Draht, dass man ihn hätte entzweibeißen können. Die Preise waren gepfeffert, und Mick fragte sich, wer solchen Mist wohl kaufte – reiche Leute, die nicht imstande waren, auch nur die kleinste Reparatur selbst auszuführen? Dass er solche Überlegungen anstellte, war ein klares Zeichen dafür, dass es ihm allmählich besserging. Die Kopfschmerzen waren verschwunden. Er fuhr zurück zur Blockhütte und legte sich aufs Ohr.

Kapitel 4

Nach Einbruch der Dunkelheit fuhr Mick in die Stadt, folgte der Second Street nach Westen und bog ab auf die Bays Avenue. In diesem älteren Teil von Rocksalt gab es größtenteils Einfamilienhäuser, ein paar waren an Studenten vermietet. Hier und dort leuchtete Licht über einer Eingangstür. Hinter mehreren Fenstern war das blaue Flackern von Fernsehgeräten zu erkennen. Kinderfahrräder lagen auf dem Rasen.

Mick parkte hinter den sanft wogenden Zweigen einer Trauerweide, Lieblingsbaum seiner Frau und damals ein wichtiger Faktor bei der Kaufentscheidung. Vom Haus aus konnten Peggy und er zusehen, wie die langen Zweige auf das leiseste Lüftchen reagierten. Jetzt hockte er hinter diesem Vorhang und beobachtete das Haus mit den zwei erleuchteten Fenstern, wo sich hin und wieder ein Schatten bewegte – seine Frau war zu Hause.

In den Anfangsjahren seiner militärischen Laufbahn hatten sie gemeinsam Europa erkundet, waren per Bahn in kleine Küstenstädtchen gereist, hatten dort die typischen Spezialitäten probiert und in Straßenlokalen Wein getrunken. Sie war damals neunzehn, er zweiundzwanzig. Ihr Leben hatte etwas Abenteuerliches an sich gehabt, aber die ständigen Versetzungen in der Armee machten es schwierig für Peggy, einen vernünftigen Job zu finden. Ihr zurückhaltendes Wesen – typisch für jemanden, der in einer Kleinstadt aufgewachsen war – machte es ihr unmöglich, schnell engeren Kontakt zu den anderen Frauen zu knüpfen. So aber war das Leben als Soldatenfrau unerträglich. Mick bat um dauerhafte Stationierung und wurde nach Deutschland in die Garnison Baumholder versetzt. Die Wartezeit für eine eigene Wohnung betrug drei Wochen. So lange waren sie im Lagerhof Inn untergebracht, einem Militärhotel. Nachdem sie sich fünf Tage lang nonstop gestritten hatten, beschlossen sie, ein Haus in Kentucky zu kaufen, wo Peggy das ganze Jahr über wohnen konnte.

In Rocksalt ging es ihr viel besser, und Mick war erleichtert. Sie fehlte ihm in Deutschland, aber sobald er Heimaturlaub hatte, verstanden sie sich bestens, waren entspannt und fröhlich. Seine Urlaube in Kentucky waren fast so romantisch wie damals, als sie sich kennenlernten. Sie planten schöne Ausflüge nach Lexington und ausgedehnte Spazierfahrten mit Picknick, Sechserpack und Klappstühlen. Sie saßen am Cave Run Lake und schauten zu, wie die Sonne unterging.

Mithilfe von SMS und Anrufen funktionierte diese Art der Beziehung ausgezeichnet. Videoanrufe dagegen waren für beide unbefriedigend. Wegen der Zeitverschiebung war einer von beiden immer müde und hockte im Dunkeln. Im vergangenen Winter hatte sie einen Job bei Lowe’s gefunden, dem großen Heimwerkermarkt in Mount Sterling, eine Dreiviertelstunde mit dem Auto entfernt. Bei ihren Telefongesprächen fiel Mick Peggys neues Selbstbewusstsein auf, und sie war leichter zum Lachen zu bringen. Beides machte ihn froh.