Unberechenbar - Dana Spiotta - E-Book

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Dana Spiotta

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Beschreibung

Sam Raymond, 53, tut das, was viele Frauen in ihrem Alter sich wünschen: Sie ändert ihr Leben. Als sie sich in ein heruntergekommenes Haus im Problemviertel von Syracuse verliebt, kauft sie es kurzerhand. Und bemerkt erst zwei Atemzüge später, dass sie somit wohl ihre Familie verlassen wird. Fortan werden ihre Nächte von Selbstzweifeln und Polizeisirenen zerschnitten. Ihre Tochter antwortet nicht mehr auf ihre Nachrichten. Und in den Augen ihrer Mutter ist Sam ohnehin auf dem Ego-Trip. Als Sam in ihrer neuen Nachbarschaft schließlich Zeugin eines Gewaltverbrechens wird, scheint ihr Traum von einem selbstbestimmten Leben jäh vorbei. Schonungslos aufrichtig erzählt Dana Spiotta vom Älterwerden, von Liebe, Zerrissenheit und dem Mut, den wir aufbringen müssen, um miteinander in echte Verbindung zu treten.

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Seitenzahl: 376

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Dana Spiotta
Unberechenbar
Roman
Aus dem Amerikanischen vonAndrea O’Brien
Für Agnes und Emy
»In Deinen Adern fließt eine Art wildes Waldblut.«
Mary Ruefle, »Pause«

2017

EinsSam

1

Ein möglicher Anhaltspunkt zu verstehen, was mit ihr geschehen war (was sie herbeigeführt, ja regelrecht forciert hatte): Angefangen hatte alles mit dem Haus. Mit diesem einen, besonderen Haus, aber auch damit, wo es stand, und wo sie, wie sie feststellte, ebenfalls sein wollte. Es handelte sich um einen verwahrlosten und verlassenen Craftsman-Bungalow in einem heruntergekommenen, früher sehr lebendigen Viertel von Syracuse, New York.

2

Das Haus stand oben auf einem winzigen Grundstück an der Highland Street, die auf einer Anhöhe verlief und an einer Seite von einer Grünanlage mit weitläufigen Rasenflächen und Bäumen gesäumt wurde. Was aussah wie ein kleiner Park, war in Wahrheit ein Friedhof mit alten, über dem Hügel verstreuten Gräbern. Die Anlage war eigentlich ganz idyllisch, sofern man sich nicht vor Gräbern gruselte, was Sam nicht tat. Von der Highland Street aus blickte man weit über die Innenstadt. Man sah die Kirchtürme und auch, dass die kleine Stadt Syracuse in einem Tal lag, von Bergen umringt. Wenn der Onondaga See nicht gerade von tiefhängenden Wolken verdeckt war, konnte man sogar erkennen, dass er die Form einer Niere hatte. Blickte man aus den Seitenfenstern des Hauses, war auf einem anderen Hügel die Universität auszumachen. Als Orientierungshilfe diente der weiße Wattebausch des Carrier Dome (benannt nach der fast abgewickelten Carrier Corporation – von der nur noch vereinzelte Fabrikjobs, der Dome und ein fieser Kreisverkehr namens Carrier Circle übriggeblieben waren, den Sam hasste). War der Carrier Dome erst gefunden, erspähte man gleich danach die Spitzdächer und Türmchen der Universitätsgebäude.
Sams Entscheidung, ihren Mann zu verlassen – oder vielmehr das Verlassen selbst –, wurde in jenem Moment angestoßen, als sie ein Angebot für das Haus abgab. Es war ein Sonntag, Sam hatte bereits seit fünf Uhr wachgelegen und nicht mehr einschlafen können. Sie schrieb dieses unnötig frühe Erwachen den herannahenden Wechseljahren zu. Ihre Periode kam zwar noch jeden Monat, aber in ihrem Körper und sogar in ihrem Gehirn spielten sich seltsame Veränderungen ab. Dazu gehörte, dass sie sonntags morgens immer um Punkt fünf Uhr aufwachte und ihr Verstand den Schlaf mit einer Unerbittlichkeit abschüttelte, als hätte sie bereits eine Tasse Kaffee intus. Und genau wie nach einem solchen Kaffee war sie gleichzeitig hellwach, im Adrenalinhoch, und völlig erschöpft, allem überdrüssig. An jenem Sonntagmorgen spürte sie das kalte Parkett unter den Füßen und konnte ihre Pantoffeln nicht finden. Es war noch dunkel. Vorsichtig, um ihren Mann nicht zu wecken, aktivierte sie die Taschenlampenfunktion ihres Handys und tappte ins Bad. Sie pinkelte, wusch sich das Gesicht und putzte sich, ohne in den Spiegel zu schauen, die Zähne. Dann schob sie die Jalousien hoch und sah hinaus. Mit der Dämmerung hellte der Himmel langsam auf, über Nacht waren ein paar Zentimeter Schnee gefallen. Typisch für Syracuse, so ein Wintereinbruch im März. Alle jammerten, es sei »doch schon Frühling«, aber wieso eigentlich, wo doch jeder wusste, dass der Frühling in Syracuse erst viel später kam? Außerdem sah der Schnee im Märzlicht geradezu spektakulär aus. Der allmähliche Sonnenaufgang tauchte alles in schimmerndes Rosa und Gold, und die dünne Eisschicht auf dem Schnee glitzerte, beleuchtet vom Himmel und den Straßenlaternen. Die Bäume, die Dächer, sogar die frostverkrusteten Autos sahen wunderschön aus. Wie so oft, wenn etwas so spektakulär schön aussah, wirkte es überfrachtet, zu dramatisch, fast schon penetrant. Aber Sam genoss das Drama des Märzschnees. März hieß, dass der Himmel blendend grell strahlte, da war keine wolkenschwere Düsternis wie im Januar, keine schmuddelgraue Monotonie wie im Februar, der schlimmste Monat im Jahr. Wenn März war, fielen im Tageslauf scharfe Schatten auf den verkrusteten Schnee, vor lauter Grelle musste man die Augen zukneifen, und wenn kein Wind ging, konnte man vielleicht sogar den Mantel aufmachen. In solchen Momenten hätte Syracuse auch eine Skipiste in Colorado sein können. März war anders, weil das Licht Frühling verhieß und der Schnee alles hübsch machte, frisch und adrett.
Das Wichtigste aber: Sam hielt sich für die einzige Person auf der Welt, die sich Ende März an plötzlichem Schneefall erfreuen konnte, und darauf war sie ein bisschen stolz. Sie gefiel sich darin, ein klein wenig anders zu sein als die anderen, sie genoss die geheimnisvolle Spannung, wenn sich hinter einer gewöhnlichen Fassade ein originelles, radikales Innenleben verbarg. Damals zum Beispiel, als sie sich beim Schlussverkauf von Talbots in DeWitt zusammen mit zig gleichaltrigen, ebenso wohlsituierten Kundinnen aus den Vororten einfand, hatte sie sich bewusst von den anderen abgesondert. Klar hatte Sam ebenfalls für sich entdeckt, dass die klassische A-Linie oder Etuikleider aus Romanit-Jersey in starken Farben Problemzonen kaschierten und der grotesken Unförmigkeit des mittleren Alters schmeichelten (»schmeicheln« – so ein tragisches Wort) – ein Verwischen von Konturen, quadratisch, praktisch, alt. Doch obwohl sie sich ebenfalls dort eingefunden hatte, der Einladung aus der Massen-E-Mail zum Super Sale gefolgt war, die natürlich nur »Insider« bekamen, war Sam überzeugt, nicht so zu sein wie die anderen Frauen. Innerlich verspottete sie die offensichtliche Manipulation, verspottete sich selbst, und wusste, dass diese Marken und der gepflegte, adrette Look einen bestimmten Lebensstil signalisierten. Klassischer Faltenrock, geknöpfte Ärmel, flache Ballerinas – schlichte, praktische Eleganz. Es kam ihr sogar in den Sinn, dass die anderen Frauen dieselben Gedanken hegen könnten und niemand bewusst nach Gleichförmigkeit strebte – zumindest nicht im modernen Amerika. Niemand, der kein Teenager war, dachte: Ich will das, weil alle anderen es auch haben. Nein, Sam wusste, dass sie einem weismachten, man wäre ein Individuum und ein Freigeist, selbst wenn man das kaufte, was alle anderen kauften. Sie ließen einen in dem eitlen, hehren Glauben, man könnte selbst bestimmen. Das wahre Geheimnis des Konsums in einer aufgeklärten, selbstbewussten Gesellschaft. Ihr Gefühl, Widerstand zu leisten, war ebenso fabriziert wie ihr Bedürfnis, schmeichelnde Kleidung zu kaufen. Trotzdem (!) glaubte Sam, sich durch ihre reflektierten und selbstkritischen Gedanken beim Shopping von den anderen Frauen zu unterscheiden. Ganz sicher. Insgeheim hielt sie sich für eine exzentrische Person, die sich jenseits normativer Denkmuster und Befindlichkeiten bewegte.
In letzter Zeit war dieses Bedürfnis, sich Konventionen zu widersetzen, noch dringlicher geworden, und es ging weit über Kleidung und Geschmacksfragen hinaus. Sie war aufsässig, getrieben von einer geradezu mutwilligen Widerspenstigkeit, die ein Ziel suchte, an dem sie sich abarbeiten konnte. Inzwischen (vorher nicht) drängte sie dieser seltsame Gemütszustand in eine höchst destabilisierende Wildheit (und Rücksichtslosigkeit), der sie nicht mehr länger widerstehen konnte.
Sie zog an jenem Sonntagmorgen dasselbe an wie am Tag zuvor: ausgeleierte Jeans und einen schwarzen Pulli mit Wasserfallkragen. Sie hatte keine Lust mehr, ihren vollgestopften Kleiderschrank zu öffnen. Wozu brauchte sie so viel Zeug? Sie hatte in den letzten Monaten immer wieder festgestellt, wie kalt sie viele Dinge ließen, für die sie sich früher hatte begeistern können.
Sam schlich nach unten, um sich einen Kaffee zu machen.
Es gehörte zu ihren Gewohnheiten, im Internet Immobilienanzeigen zu lesen. Sie besuchte gern öffentliche Besichtigungen, ein beliebter Zeitvertreib unter gelangweilten Hausfrauen. Sie wusste, auch die meisten anderen Besucher dort hatten keinesfalls die Absicht, eine Immobilie zu erwerben, sie wollten lediglich ein bisschen im Leben anderer Leute herumschnüffeln oder Grundstückspreise vergleichen oder sich in einem frischen architektonischen Rahmen ein anderes Leben vorstellen. Vor allem diesen letzten Beweggrund konnte sie sehr gut nachvollziehen. Früher hatte sie mal mit dem Gedanken gespielt, Architektur zu studieren (und Geschichte und Women’s Studies und Literatur), sich das aber schnell wieder ausgeredet und – voll retro, wie sie ihren Freundinnen erklärte – stattdessen für Ehe und Kinder entschieden. Seither hatte sie sich mit einem Dasein als Laiin abgefunden. Und als Hausfrau (was für eine abwertende Bezeichnung, als wäre sie mit dem Haus verwachsen und würde ebenfalls dem Besitzer gehören).
Ungewöhnliche, historische Gebäude begeisterten sie (und Syracuse hatte viele davon): Sie waren ein geheimer, wenn auch entschlüsselbarer Code, eine Vergangenheit zum Anfassen, festgehalten in Form und Material. Da war zum Beispiel die verlassene AME Zion Church an der East Fayette Street. Ihr kleiner, perfekter Korpus ruhte auf einem soliden, unzerstörten Kalksteinfundament. Neben dem großen Buntglasfenster in gotischem Spitzbogen ragte ein bescheidener Glockenturm auf, mit bröckelndem weißen Mauerwerk, von dem die Farbe weitgehend abgeblättert war. Das Bauwerk stand verloren in der Betonwüste an der I-81, mit jungem Eschenahorn überwachsen und Graffiti besprüht, die Fenster längst mit Brettern vernagelt. Die Kirche gehörte der ältesten Schwarzen Gemeinde von Syracuse und war vor hundert Jahren erbaut worden, um ein Gebäude von 1840 zu ersetzen, das damals eine wichtige Station der Underground Railroad gewesen war. Sam hatte auf alten Fotos gesehen, wie die Kirche im blühenden Zentrum des 15th Ward gestanden hatte, bevor das Viertel im Namen der innerstädtischen Erneuerung zerstört worden war. Gestrandet und vergessen hatte sie doch überdauert. Es gab so viele historische Bauwerke in Syracuse, da konnte man es sich leisten, einige von ihnen verfallen zu lassen. Wenn Sam ein Gebäude entdeckte, das sonst niemand mehr zu bemerken schien, hielt sie an, betrachtete es von allen Seiten und legte oft sogar die Hand ans Mauerwerk, eine Respektsbekundung, eine Art Kommunion. Faszinierende alte Gebäude und Häuser, leerstehend oder noch in Gebrauch, buhlten überall in der Stadt um ihre Aufmerksamkeit. Manchmal fuhr sie Umwege, nur um einen Blick auf ihre Lieblinge zu werfen.
Aber öffentliche Besichtigungen waren ein viel intimeres Erlebnis, denn sie boten Sam die seltene Gelegenheit, ins Innere zu blicken. Kaum war sie über die Schwelle ins Haus gelangt und dem Alltag entflohen, spürte sie förmlich, wie es sie veränderte, wie es auf die Person einwirkte, die sie war oder sein könnte. Wie würde es sich anfühlen, hier zu leben, in diesen Räumen aufzuwachen, an diesem Ort mit ihrem Mann zu streiten?
Dieses eine besondere Haus nun, in der Zeitung zur öffentlichen Besichtigung gelistet, erregte ihre Aufmerksamkeit, weil sie es zuvor schon auf Instagram gesehen hatte, gepostet von einem Account für Architekturliebhaber:
Einzigartiger Craftsman-Bungalow, 1913 von Ward Wellington Ward entworfen. Zum Verkauf für 38.000 USD! Nur für Unerschrockene, muss umfassend saniert werden. Fast alle Originaldetails erhalten. 110 Highland St., Syracuse, Besichtigung Sonntag, 26. März, 11 bis 14 Uhr. Für weitere Informationen Link in Bio. #altehäuserzumschnäppchenpreis #altesbewahren #bungalow #restaurieren #flügelfensterfuror
Außer ihr waren an diesem Sonntagmorgen bei der Besichtigung in der Highland Street Nummer 110 keine anderen Eskapisten angetreten.
Das Haus war halb verfallen. Das Haus war wunderschön.
Es hatte Bleiglasfenster, eingebaute Regale und Sitzbänke mit verstecktem Stauraum. Zwei dieser Sitzbänke waren von Holzbalkenabschlüssen eingefasst (echte Inglenooks), sie befanden sich rechts und links vom (ach, heißersehnten!) Kamin, der mit kunstvollen Kacheln dekoriert war (»Mährische Mercer-Kacheln«). Sam stellte sich vor, wie sie in dieser Nische säße, gelegentlich aufs Feuer blickte, ein Buch las. Die Kacheln waren schmutzig, von einer Staubschicht überzogen, aber unbeschädigt. In den Reliefs erkannte sie eine Bildergeschichte (»Der heilige Georg mit Drachen«, sagte der Makler). Sie waren rosafarben, grün und weiß, hatten rustikale Unebenheiten und eine ungleichmäßige Glasur. Als Sam mit den Fingerspitzen darüberstrich, spürte sie eine eindeutige Verbindung. In einem Podcast hatte das mal jemand »Erdung« genannt. Also barfuß draußen rumlaufen und darauf warten, dass die Erde sich mit dem Körper verbindet. Angeblich brachte einen das wieder ins Gleichgewicht, also den circadianen Rhythmus oder so was. Half bei Jetlag. Oder gegen diese endokrinen Disruptoren, die in den Umweltgiften steckten, denen man ständig ausgesetzt war. Oder es schützte vor EMF, den elektromagnetischen Feldern in der Umgebung von Wifi-Netzen und Funkmasten. Vielleicht half es sogar gegen alles, Erdung, vermarktet als eine Art Universalheilmittel. Sam machte sich darüber lustig, so ein Eso-Quatsch, aber als sie die Kacheln berührte, fühlte sie sich tatsächlich geerdet. Es gab kein anderes Wort dafür, eine ausgleichende Strömung floss durch die staubige Fliese direkt in ihre Hand und von dort aus in ihren ganzen Körper.
Eingefasst wurden die Kacheln von strukturierten, dunkelroten Backsteinen, darüber thronte ein Sims aus dunklem Eichenholz, ebenfalls staubig, ebenfalls unbeschädigt. Gustav Stickley oder William Morris, einer von beiden, hatte einst die Ideale der Arts-und-Crafts-Bewegung beschrieben, der Kamin, hatte es geheißen, solle ein Stück Alltagskunst sein. Von Hand gefertigt, schlicht, zweckmäßig, schön: Sam fröstelte, sie brauchte Feuer. Der Kamin zog sie an, lud sie zum Verweilen ein. Für sie war er eine Art säkulare Andachtsstätte. Hier, so glaubte sie, würde sie die Verbindung zu etwas Ursprünglichem spüren. (»Selbstverständlich müsste man sich den Schornstein genauer ansehen.«) Um im langen Winter in Syracuse nicht den Verstand zu verlieren, brauchte sie diesen herrlichen, alten, verschwenderischen offenen Kamin. In ihrem Haus in der Vorstadt hatten sie auch einen, aber der war hinter Glas, gab seine Wärme in kontrollierten Einheiten ab, und dazu brummte sonor der Abluftventilator. In der Mitte leuchtete die Gasflamme in kühlem Blau.
»Dieses Haus ist im Verzeichnis von Historischen Stätten als The Garrett House gelistet und hat sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Es wurde 1913 von Ward Wellington Ward entworfen.«
»Ja, das habe ich in der Anzeige gelesen«, sagte Sam. »Ward ist mir ein Begriff.« Bei der Onondaga Historical Association hatte sie einige von Wards Bauplänen gesehen. Akkurat mit Farbstiften und Tinte gezeichnet. Die drei Ws seines Namens, Ward am Anfang und Ward am Ende, die morsecodeartige Anmutung, alles trug die Handschrift der Arts-und-Crafts-Bewegung. Alles war Kunst, sogar sein Name.
»Aha, gut. Dann wissen Sie ja, dass seine Häuser was Besonderes sind. Garrett hat dieses hier wie gesagt im Jahre 1913 erbauen lassen, aber dann ist er im Ersten Weltkrieg gefallen. Seine Witwe hat dann anschließend noch mehrere Jahrzehnte darin gelebt. Die nächsten Besitzer haben es leider verfallen lassen, aber die Original-Stilelemente sind noch erhalten. Offensichtlich braucht es ein wenig Liebe und Zuwendung: Heizung, Elektrik, Dach, Schimmelsanierung. Vielleicht einen neuen Schornstein. Bessere Kellerentwässerung. Das Fundament müsste verstärkt werden. Aber es ist trotzdem ein wunderbares Haus, finden Sie nicht?«
»Ja«, sagte Sam.
Später fuhr sie zu einer großen Wegmans-Vorortfiliale und kaufte wilden Heilbutt, Süßkartoffelwürfel und dreifach gewaschenen Bio-Babyspinat fürs Abendessen ein. Sie besorgte eine Mango, Allys Lieblingsobst, getreidefreies Vanille-Knuspermüsli für ihren Mann und mehrere Flaschen von dem deutschen Mineralwasser, das sie selbst gern trank. Sie fuhr mit den Lebensmitteln nach Hause. Außer ihr war noch niemand da. Und dann, anstatt zu kochen, fuhr sie einfach wieder zurück in die Stadt. Es war fast sechs, und die Sonne ging schon wieder unter. Der Himmel wurde von hinten beleuchtet, schillernd, frühlingshell, und während der Fahrt beobachtete sie die glühenden Wolken am Horizont, in Rosa und Orange. Sie war extra in die Stadt gefahren, weil sie das Haus noch einmal kurz vor Sonnenuntergang sehen wollte, in diesem irrwitzigen, fast schon kitschigen Licht. Oben auf dem Hügel bog sie in die schmale Einfahrt. Das Dach war steil, die garstigen Asphaltschindeln lösten sich bereits. Aber. Durch die Fenster vorn und auf der Seite sah man die Sonne untergehen. Die Stadt leuchtete, egal wohin man blickte, und in der Ferne, hinter den Wolken, meinte man einen Ozean zu erkennen, einen riesigen See oder ein fernes Ufer. Dieser Architekt, Ward Wellington Ward, muss das gewusst haben. Als er das Haus entwarf, hatte er sicher an den Himmel gedacht, an die Bäume. Dem Mann war klar gewesen, wie sehr jeder in Syracuse am Ende eines Frühjahrstages dieses Licht brauchte, selbst wenn es auf einer dicken Schneedecke glitzerte.
Sam zog die Visitenkarte aus der Manteltasche und rief den Makler an. »Ich will es«, die Worte kamen aus dem reptilischen Teil ihres Hirns (vermutlich dem paläomammalischen, limbischen oder sublimbischen), irgendeine Niederung, von der sie bisher nichts geahnt hatte. »Also … ich will ein Angebot abgeben. Geht das heute noch?« Einfach so. Sie unterschrieb den Vertrag und stellte einen Scheck für die Anzahlung aus. Innen war übergeschäumt und zu Außen geworden. Mit einem Häkchen erklärte sie ihren Verzicht auf eine professionelle Begutachtung. Gekauft wie besehen.
Das Haus mit seiner paradoxen Persönlichkeit, rustikal und doch elegant, hatte ihr Herz erobert. Es war erschaffen worden, um einem Zweck zu dienen, einem sinnlichen Zweck. Denn wer brauchte schon eine eingebaute Sitzbank am Kamin? Eine so große Feuerstelle war eine offensichtliche Verschwendung. Schönheit war ein Wert an sich, genau wie das Wohnerlebnis. Das Interieur wirkte handgefertigt, persönlich. Und doch strotzte es vor Künstlichkeit, dieses Konzept des Arts-and-Crafts, das seine Heimeligkeit und Nostalgie aus dem Gemütlichkeitsfundus englischer Cottages bezog und sich dabei einer kuriosen Dorfkirchenidyllik bediente. Dann der Zustand des Hauses. Schmutzig, baufällig, viel zu lange unbewohnt.
Es war kaputt. Es gehörte ihr.
Sie stieg ins Auto und warf einen letzten Blick darauf, vielleicht, um dieses Bild in ihr Herz aufzunehmen, so wie man es bei einem geliebten Menschen macht, bevor er abreist. Da erst fiel Sam das weiße Papier auf, das zwischen Haustür und Rahmen klemmte. Sie stieg wieder aus dem Auto, um nachzusehen, und als sie daran zog, stellte sie fest, dass es dicker war als erwartet. Fast wie eine Karteikarte, handtellergroß. Sie drehte es um. Es war bedruckt, blaue Lettern auf cremefarbenem Hintergrund.
ACHTUNG: NTE KOMMT BALD
Sam zuckte die Achseln. Was sollte das sein, NTE? Werbung? Eine religiöse Botschaft? Die Hochwertigkeit der Karte verlieh ihr eine gewisse Bedeutung. Sam steckte sie in die Hosentasche.
Sie machte sich auf den Rückweg in die Vorstadt, und erst da, während der Fahrt, ging ihr auf, dass sie ihren Mann verlassen würde. Matt. Sie würde in das baufällige Haus in der Innenstadt ziehen, das ungeliebte, vergessene Haus mit Blick auf die ungeliebte, vergessene Stadt. Warum? Weil nur sie seine Schönheit erkannte. Es war für sie geschaffen. Sie konnte – durfte – nicht widerstehen. Ein Ja zu dieser Version ihres Lebens bedeutete ein Nein zu der anderen.

3

Sam hatte die rechte Hand am Steuer und tappte das Handy mit der Linken aus seinem Schlaf, gab ihre PIN ein und schaffte es, ohne den Blick von der Fahrbahn abzuwenden, unter den Favoriten den Eintrag »Ma« auszuwählen. Nachdem sie auch noch den Lautsprecher aktiviert hatte, konzentrierte sie sich endlich ganz auf die Straße, allerdings nicht ohne Gewissensbisse, weil sie während der Fahrt am Handy herumgefummelt hatte. Ihr Gewissen schlug regelmäßig an, änderte aber rein gar nichts an ihrem Verhalten.
»Hallo?«, sagte ihre Mutter, als wüsste sie nicht ganz genau, dass Sam dran war, als könnte sie Sams Namen nicht auf ihrem Display sehen, als würde Sam nicht jeden Tag anrufen.
»Hi, Ma.«
»Hi, Schätzchen.«
»Wie geht es dir? Hast du Schm–«
»Gut geht’s mir«, wurde Sam von ihrer Mutter unterbrochen. Es klang wie eine Warnung. Lily war krank, aber Sam sollte es ja nicht erwähnen. »Lass uns nicht darauf herumreiten«, hieß es immer.
Also sattelte Sam um und schlug eine andere Gangart an. »Das freut mich.«
»Aber wie geht es dir? Du klingst so seltsam.«
Sam lachte. »Mir geht’s ganz hervorragend!«
»Was ist los?«
Sie erzählte ihrer Mutter in allen Einzelheiten von ihrem Hauskauf, die Worte sprudelten mit schockverliebter Atemlosigkeit aus ihr hervor.
»Du hast allen Ernstes ein Angebot gemacht? Hast du einen Vertrag unterschrieben?«
»Ja.«
»Weiß Matt Bescheid?«
»Noch nicht.«
»Sam, du musst es ihm sagen. Vielleicht kannst du es ja noch rückgängig machen. Ich glaube, man hat drei Tage Widerrufsrecht.«
»Ich will es nicht rückgängig machen.«
»Du kannst doch nicht einfach ein Haus kaufen und Matt nichts davon erzählen …«
»Du verstehst das nicht. Es ist nicht nur ein Haus.«
»… und wenn es noch so günstig war. Es mag ja ein Schnäppchen gewesen sein, aber ein Haus kauft man nicht einfach so wie ein Paar Schuhe. Mal ernsthaft, Sam. Willst du ihn damit provozieren?«
»Nein! Mach dich nicht lächerlich. Ich erzähl’s ihm schon.«
»Ich bin lächerlich? Du denkst einfach nicht nach. Das ist doch Blödsinn, vollkommen irrational.«
»Das weiß ich. Darum geht es ja.«
»Ruf ihn gleich an. Sprich mit ihm. Soll ich ihn anrufen?«
»Nein! Ich mach das schon selbst.«

4

Sam sagte ihrem Mann kein Wort, weder an diesem Abend noch am folgenden. Sie ignorierte die Nachrichten ihrer Mutter auf der Mailbox. Statt sie zurückzurufen, teilte sie ihr per Mail mit, es gehe ihr gut, sie werde sich melden, wenn es was Neues gebe. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit ihrer engsten Freundin Emily zu sprechen, aber die ging ihr in letzter Zeit ziemlich auf den Keks. Außerdem war Sam nach der Reaktion ihrer Mutter vorsichtiger geworden. Nicht, weil sie sich ihrer Entscheidung nicht sicher wäre, sondern weil sie keine Diskussion darüber wollte. Ihr Leben war schließlich kein beschissenes Crowdsourcing-Projekt.
Am Morgen des dritten Tags war Sam zunächst wie immer von ihrem frühen Aufwachen genervt, aber beim Gedanken an das Haus wurde sie auf einmal ganz hibbelig. Am späten Nachmittag – ihre Tochter Ally war nicht da, sie hatte mit ihrer Fußballmannschaft ein Auswärtsspiel –, gestand sie Matt, was sie getan hatte. Allerdings nicht so, wie sie es im Auto geprobt hatte, mit sachlicher Logik und sanften Überleitungen, sondern wie eine Irre, impulsiv und unverständlich. Ein innerer Monolog, auf Lautsprecher gestellt. Inklusive einer detailreichen Schilderung der Vorzüge von Highland Street 110. Und dann:
»Ich muss raus aus diesem Haus. Tut mir leid.« Als würde sie sich nicht von ihm, sondern von ihrem gemeinsamen Heim trennen. Sie hatte sich damals in dieses moderne Vorortdomizil verliebt, in diese geräumige, offene Bauweise mit viel Zedernholz und Glas. Hohe Decken und neues, weißes Kieferparkett. Betonierte Terrasse mit Feuerstelle. Umgeben von einem dichten Wald, der für viel Privatsphäre sorgte, kein anderes Gebäude verschandelte ihnen die Aussicht. Sie hatten sich beide darin verliebt. Aber die hohlen Türen und die billigen Einzelheiten in dem schnell hochgezogenen Bau verursachten ihr körperliches Unbehagen. Das Leben in diesen vier Wänden ließ sie kalt. (Eiskalt, um genau zu sein, vor allem in der Früh. Sockelheizung für ein so großes Haus, die »pfiffige« Idee des Bauunternehmers.) Nur das große Bad hatte Fußbodenheizung, und dort überwinterte sie, hockte Abend für Abend in der warmen Wanne und wollte gar nicht mehr raus.
»Was redest du da?«, fragte Matt, schaute aber nicht sie, sondern sein Handy an; für solche Scherereien hatte er keine Zeit. Das erleichterte Sam die Sache ungemein. Die Worte purzelten nur so heraus.
»Ich halte es hier nicht aus, in diesem Haus.« Sams Stimme zitterte, die Wucht ihrer Gefühle überraschte sie. Sie berührte die Tür des kleinen Badezimmers. »Wer installiert denn bitte ein Bad direkt neben der Küche? Und diese Tür …« Sie hämmerte gegen das Holz, der hohle, gehaltlose Klang widerte sie an. Dann drehte sie am Knauf. »Ich könnte diese Tür kaputtschlagen. Die ist einfach nur billig und hässlich. Ich ertrag das nicht.«
»Du willst eine neue Tür?«
»Ja. Ich meine, nein.« Warum sollte sie sich erklären? Sie fing an zu weinen. »Ich hasse dieses grässliche Haus. Uns. Dich. Ich muss gehen, ich kann nicht länger mit dir zusammenbleiben«, sagte sie. Jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit.
»Was ist denn passiert? Was ist los?«
»Unsere Ehe ist vorbei, glaube ich. Weiß ich.«
Matt lachte drauflos. Sie funkelte ihn an.
»Sam, was erzählst du denn da?«
»Ich verlasse dich.«
Matt hob die Brauen und zog das Kinn zur Brust, um seine Skepsis auszudrücken. Und seinen Ärger. Ärger lag auch in seiner Stimme, in diesem vertrauten Ton: genervt, ungeduldig, leidenschaftslos. »Worum geht es hier eigentlich?« Er stand an der Küchentheke, um sich nach dem Workout eine Art Smoothie zu kredenzen. Während er mit Sam sprach, hantierte er weiter.
Normalerweise erzählte sie ihm, wenn er abends nach Hause kam, wie ihr Tag verlaufen war. Sie sprach über das Clara Loomis House, wo sie arbeitete (praktisch ehrenamtlich) und über die Fragen der Besucherinnen. (»Eine Frau wollte allen Ernstes von mir wissen, ob Clara Loomis wirklich die Abtreibung erfunden hat! Ich so, ja klar, hundert pro. Weil vor 1895 hat ja keine Frau je über einen Schwangerschaftsabbruch nachgedacht.«) Bei solchen Gelegenheiten übertrieb Sam gern ein wenig, um Matt zu belustigen – oder es zumindest zu versuchen. Gelegentlich lachte er sogar, flüchtig, während er mit seinem Handy beschäftigt war oder damit, sich nach dem Sport verzweigtkettige Aminosäuren in den Stevia-Schokoladen-Molke-Proteinshake zu rühren. Diese Ergänzungsmittel waren ihre Idee gewesen, sie hatte irgendwo was darüber gehört oder gelesen und sie Matt gekauft. Er benutzte sie, hatte ihren Vorschlag endlich mal nicht abgetan und als lächerlich bezeichnet. Tatsächlich kam sie sich selbst oft genau so vor, lächerlich, besonders, wenn sie ihn mal wieder mit aufregenden Neuigkeiten bestürmte. Seit der Wahl und vor allem seit der Amtseinführung empfing sie ihn schon an der Haustür mit dem Präsidenten und seinen neuesten Skandalen. Das tat sie mal mehr, mal weniger eindringlich, je nachdem, wie er reagierte, aber eines war klar: Sie führte sich auf wie eine Person, die den ganzen Tag im Internet, vor den Fernsehnachrichten oder mit irgendwelchen Podcasts verbrachte. Statt selbst aktiv zu sein, berichtete sie wie eine Zuschauerin von einem ungelebten Leben. Meist nickte Matt dann höflich, erwiderte irgendwas, war aber nicht ernsthaft interessiert. Er behandelte sie wie ein redseliges Kind oder einen zuwendungsbedürftigen Hund: Gab ihr gerade genug Aufmerksamkeit, damit sie sich nicht beklagte, animierte sie aber nicht, weiter zu reden. Er duldete sie. Bevormundete sie. Was sie zwar rasend machte, doch sie konnte es ihm auch nicht verdenken. Er hatte ja recht, sie war tatsächlich erbärmlich, gerade jetzt spürte sie es wieder, mitten in ihrem ungefilterten Redefluss. Aber diesmal ereilte sie eine neue Erkenntnis. Alles, also nicht nur sein Sportwahn, der ausweichende Blick und die ständige Handystreichelei, sondern auch seine duldsame Miene, diente einem einzigen Zweck: Es ging nur um ihn, um seine Bedürfnisse. Mit ihr hatte das rein gar nichts zu tun. Sie war die Luft, durch die er hindurchgehen musste.
»Gaslighting, so heißt das, was du hier die ganze Zeit abziehst«, sagte sie leise.
»Gaslighting? Was soll das denn sein?«
»Was das sein soll? Das stammt aus Gaslight, einem Film mit Ingrid Bergman, in dem ihr Mann ihr einreden will, dass sie verrückt wird.«
»Ich weiß, wie der verdammte Film heißt.«
»Der Mann dreht ständig das Gaslicht herunter, und jedes Mal, wenn sie ihn darauf anspricht, lügt er. Erzählt ihr, dass sie sich alles nur einbildet, dass sie diejenige mit dem Problem ist.«
Wie sehr sie diesen verdammten Smoothie hasste, in diesem Moment! Den vollgesauten geriffelten Glasbehälter und die molkeverkrusteten Schneideblätter, die sich so schlecht reinigen ließen. Und dieses Wort, »Smoothie«, meine Güte, wer benutzt denn so ein Wort? Der Mixer war voll, aber Matt hatte den Knopf noch nicht gedrückt. Selbst er, der gnadenlos effiziente Multitasker, wusste, dass es taktlos wäre, das laute Ding anzuwerfen, während seine Frau ihm erklärte, dass sie ihn verlassen wollte.
»Ich bin dir scheißegal. Du hast keinerlei Interesse an mir, meinen Gefühlen oder an dem, was ich sage. Und dabei tust du, als wäre das in einer Ehe ganz normal.«
Matt sah sie schweigend an. Sah sie tatsächlich an. Verstörend, dieser Blick.
»Du liebst mich nicht«, sagte sie. »Nur aus Loyalität und Gewohnheit erträgst du mich noch.« Ihre Stimme brach.
»Du weißt genau, dass das nicht stimmt«, sagte er, »das kann doch gar nicht stimmen, Sam.« Er sprach mit gesenkter Stimme.
»Und vielleicht habe ich nicht mehr verdient. Kann sein. Aber es gefällt mir nicht«, sagte sie. Matt betrachtete sie aufmerksam. Sie nahm sich ein Taschentuch und hielt es sich an die Augen. Heiße, dicke Tränen liefen ihr übers Gesicht, brannten ihr auf den Wangen. Die Gefühle schienen sich hochzuschaukeln, während sie sie aussprach, die Wut (Wut, ja genau, das war es!) überwältigte sie. Plötzlich stand sie kurz vor der Ohnmacht. Sie holte tief Luft und atmete mit einem Seufzen aus. »Ich mag dich nicht.« Ihre Worte schufen Tatsachen. »Nicht mehr.«
»Was ist passiert? Ich weiß ja, dass du nicht glücklich bist, aber das hier ist echt übertrieben.«
»Wir sind beide nicht glücklich.«
»Ist es wegen der Wahl?«
»Nein!«
»Es ist wegen der Wahl, oder? Meine Güte, Sam, du bist nicht die Einzige, die sich deswegen aufregt.«
»Glaubst du, ich will mich wegen der Wahl scheiden lassen?«
»Na ja, das alles wirkt schon etwas überspannt. Du hast das sehr persönlich genommen. Aber ehrlich gesagt belastet mich das auch. Ich denke jeden Tag darüber nach.«

5

Tatsächlich waren sie beide am Wahlabend entsetzt gewesen, aber irgendwann im Verlauf der sich abzeichnenden Katastrophe hatte er resigniert das Handtuch geworfen. Sie hatte die Nacht auf dem Sofa verbracht, sich allen Ernstes unter der Decke verkrochen und darunter hervor auf den Bildschirm gespäht. Er wechselte von Bier zu Scotch. Im Versuch, sich zu verstecken, kniff sie die Augen zu, linste dann aber doch gerade so weit unter der Decke hervor, dass sie John King auf CNN dabei zusehen konnte, wie er auf seiner magischen Landkarte einen Bundesstaat nach dem anderen antappte, auf der Suche nach noch nicht gezählten Stimmen für die Demokraten. Michigan, zu knapp, um das Endergebnis zu verkünden. Pennsylvania, zu knapp. Irgendwann driftete sie bei laufender Sendung in einen waidwunden, zerrissenen Schlaf, aus dem sie erst Stunden später wieder erwachte. Matt saß immer noch da, guckte immer noch CNN, aber er hatte aufgehört zu trinken.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Es ist vorbei. Sie warten darauf, dass sie die Niederlage einräumt. Er spricht gleich.«
Sie starrte auf den Fernseher, die jubelnde Menge, darunter liefen im Ticker seine Wahlergebnisse über den Schirm. Dann stand sie auf und ging ins Bett.
Sie waren einander kein Trost. Morgen für Morgen wachte sie früh auf, bereit, den Tag normal zu beginnen, und dann erinnerte sie sich wieder daran, was geschehen war, und spürte, wie die Welt sich zu einer fremden, seltsamen Masse zusammenzog. Sie fühlte sich fast wie damals, unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters, als ihr der Schlaf eine kurze irreführende Pause von der Trauer beschert hatte. Im Laufe der folgenden Wochen, während sich das Bild etwas aufklarte, erwachte sie stets mit derselben Erkenntnis: Die Welt hatte sich auf üblere Weise gegen sie verschworen als gegen Matt. Für ihn war das, was geschehen war, in etwa gleichbedeutend mit einer Niederlage der Mets im Finale der World Series. Für sie bedeutete es viel mehr. Nur was, das wusste sie noch nicht.
Auf Facebook entdeckte sie, kurz nachdem sie Dampf abgelassen hatte, dass sich erste Widerstandsgruppen bildeten, und zwar nicht nur online, sondern auch in echt. Eine davon wurde ihr in die Timeline gespült, sie sah sich die Seite genauer an.
Nicht aufgeben! Macht eurem Ärger nicht nur auf Facebook Luft! Werdet aktiv: Raus! Ran! Organisiert euch! (RRO) Weiblichen Widerstand wagen (WWW)!
Sie fand heraus, dass es in Syracuse eine lokale Untergruppe gab. Die Mutter eines Mädchens, das in die gleiche Schule wie Sams Tochter ging, hatte die Veranstaltung gepostet. Die Beschreibung:
WWW Syracuse
Strategietreffen mit Gleichgesinnten. Erster Schritt: Wir schreiben Briefe an unsere Kongressabgeordneten. Das lassen wir uns nicht gefallen. Wir leisten Widerstand! Während der Veranstaltung werden Wein und kleine Erfrischungen gereicht.
Die Versammlung fand in einem ansprechend restaurierten Farmhaus in einer der wald- und geldreichen Enklaven zwischen Syracuse und Ithaca statt. Die Gastgeberin war Professorin an der Cornell University, ihr Mann unterrichtete an der Universität von Syracuse. Sie hatten sich für ein Leben unter Farmern entschieden, weil beide von hier aus gut pendeln konnten.
Ihr Steinhaus thronte auf einer Anhöhe mit Panoramablick in beide Richtungen. Eine geräumige, architektonisch harmonierende Scheune stand daneben, und unten, am Fuß des Hügels, entdeckte Sam sogar ein breites, steiniges Flussbett. Sie blieb auf der Veranda stehen und lauschte einen Moment. An der Tür hing ein Schild:
WWW VERSAMMLUNG
KLOPFEN UNNÖTIG
BITTE EINFACH EINTRETEN
Im großen Wohnzimmer drängten sich ein Dutzend Frauen, zumeist in ihrem Alter. Schon jetzt wurde ein mittelteurer Sauvignon Blanc aus Neuseeland herumgereicht, was Sam ehrlich zu schätzen wusste (endlich hatte man auch in Syracuse verstanden, dass Chardonnay und Pinot Grigio declassé waren, und ein echtes Klischee). Canapés, Käse und Kräcker, wie angekündigt. Es herrschte eine angeregte, fröhliche Stimmung, die Frauen schwirrten umher, plauderten und drückten ihr Entsetzen aus, sie schilderten einander in allen Einzelheiten, wie sie die Wahlnacht erlebt hatten, und zwar mit derselben langweiligen Detailverliebtheit, mit der Mütter nach der Entbindung ihre Geburtsgeschichte ausweideten (»Ich saß auf der Couchgarnitur und hab ständig zwischen MSNBC und CNN hin und her geschaltet, als könnte das etwas am Ergebnis ändern. Um elf bin ich ins Bett, da hatten sie gerade Florida ausgerufen. Michigan, Wisconsin und Pennsylvania waren noch zu knapp, um den Ausgang vorherzusagen, aber da stand die Katastrophe schon fest, und ich konnte es nicht mehr ertragen. Am Morgen danach ist meine Tochter zu mir ans Bett gekommen und hat gesagt: ›Es tut mir so leid, Mommy.‹ In dem Moment bin ich in Tränen ausgebrochen. Wir hätten eine Präsidentin haben sollen. Das hatte ich ihr praktisch versprochen. Und dann hat sie mich getröstet, könnt ihr euch das vorstellen?«).
Nachdem sich alle ein wenig getummelt hatten, bat die Gastgeberin um Ruhe und lud die Frauen ein, sich in einem Stuhlkreis zusammenzufinden. Die Professorin war rank und schlank in einem blauen Etuikleid aus Wolle, ärmellos, um ihre alterungsresistent definierten Schultern und Oberarme zur Schau zu stellen. Ein akkurat graduierter, spitz nach vorn zulaufender Bob umrahmte ihr Gesicht. Als sie unter dem Kronleuchter stand (dezentes, antik geprägtes Messing mit nackten Glühbirnen), war die professionelle Balayage zu erkennen, Grauhaar kaschierende Strähnen in Aschblond, wie bei den meisten Frauen im Raum. Im Wohnzimmer war es dank der vielen Menschen und dem Feuer im schmiedeeisernen Kaminofen mit Fenster sehr warm. Sam streifte ihren schwarzen gerippten Rollkragenpullover ab. In Jeans kam sie sich schon schlampig genug vor, aber jetzt war auch noch ihr ärmelloses Top zu sehen, auf dem in lilafarbenen Lettern die Botschaft No Sleep Till … zu lesen war. Sie hatte es für Ally in Brooklyn gekauft, die es nie getragen hatte, kein einziges Mal.
Als sie sich reihum vorstellten, bemerkte Sam weiter hinten im Raum zwei junge Frauen. Anfang zwanzig und schön, auf exotische Weise. Eine hatte eine leuchtend kobaltblaue Strähne im schulterlangen, dichten Haar. Die andere trug einen platinblonden Buzzcut, der ihren wohlgeformten Kopf besonders gut zur Geltung brachte. Beide waren üppig tätowiert und gepierct, sie waren eindeutig ein Paar.
Nacheinander ergriffen die Frauen das Wort, bekundeten erneut ihren Unglauben und gelobten Widerstand. Irgendwann war eine stämmige Frau um die sechzig an der Reihe, das graue Haar zu Zöpfen geflochten. Sie saß vor den jungen Frauen. Warum trug man als erwachsene Frau noch geflochtene Zöpfe? Eine fast schon demonstrativ zur Schau gestellte Achtlosigkeit dem eigenen Aussehen gegenüber. Sollte das bei Sam nicht Bewunderung auslösen? Tat es aber nicht, im Gegenteil, sie fand das stumpfgraue, spröde, schüttere Haar abstoßend und kam sich deswegen wie eine Verräterin vor. Verrat am Altern. Die Graubezopfte wandte sich zu den jüngeren Frauen um und lächelte, um ihnen den Vortritt zu lassen. Der ganze Raum wartete nur darauf, dass sie sich vorstellten. Die beiden tauschten Blicke, sahen zu Boden. Dann hob Buzzcut das Kinn und starrte mit gerunzelter Stirn in die Runde. Mit bebender Stimme ergriff sie das Wort (Sam erkannte die Wut darin, obwohl Buzzcut am Ende eines Satzes immer einen höheren Ton anschlug, wie bei einer Frage. Wie nennt man das noch? Uptalk?).
»Also, ich bin Larisa, und das da ist Emma (?). Wir sind aus Ithaca (?). Und ehrlich gesagt bin ich ziemlich wütend (?). Über die ganzen weißen Frauen, die ihn gewählt haben (?).« Das Mädel war natürlich selbst weiß, mit ihrem platinblonden Haar wirkte ihre Haut fast bläulich, nahezu durchscheinend. Dann sprach Emma (schwarzes Haar mit kobaltblauer Strähne), sie senkte die Stimme, fast schon ein Zischen. »Wir hatten keine Ahnung, dass sich hier nur weiße, privilegierte, straighte cis-Frauen versammeln würden. Ihr habt uns diesen Mist eingebrockt.« Sam fand es lustig, dass die beiden bei ihrer Aufzählung auf »alt« oder »mittleren Alters« verzichtet hatten, obwohl doch jeder wusste, dass genau das, also ihr Alter, der Knackpunkt war.
Pikiertes, ungläubiges Schnauben. Die Gastgeberin schüttelte das balayagierte Haupt und hob die Hand, als wollte sie die anderen um Ruhe bitten. »Ihr wisst doch sicher, dass niemand von uns ihn gewählt hat. Aus diesem Grund sind wir alle hier. Wir sind genauso entsetzt wie ihr.« Damit erntete sie bei den jungen Frauen nur Kopfschütteln. Larisa zeigte demonstrativ auf die Gastgeberin.
»Weiße Frauen über vierzig (?) haben ihn gewählt, die haben ihm die Mehrheit verschafft (?).« Na also. Über vierzig!
»Ja, das ist schrecklich, beschämend. Aber was ist mit der viel größeren Mehrheit der Männer, die ihn gewählt haben? Tragen die etwa keine Schuld?«
»Eins ist jedenfalls klar, Personen unseres Alters, queere Menschen, POC – wir haben ihn nicht gewählt (?).« Die beiden verständigten sich mit einem knappen, stirnrunzelnden Nicken und erhoben sich zum Gehen. Sam sah ihnen nach, diese jungen Frauen mit ihren biegsamen Körpern, den veganen, fahrradtrainierten Muskeln, die mit derart selbstgerechter Empörung davonrauschten, dass man ihre versteckten Piercings förmlich klirren hörte. Die restlichen Frauen tauschten schockierte, erboste Blicke.
»Unverschämtheit!«, sagte die Gastgeberin. Eine Person, deren Gesicht Sam nicht erkennen konnte, meinte, die beiden hätten wahrscheinlich Jill Stein gewählt und ihnen die Suppe damit erst eingebrockt. Sam sagte nichts, denn ihr war etwas Überraschendes aufgegangen: Sie stimmte den beiden zu. Zumindest teilweise. Natürlich waren alle hier für den Wahlausgang mitverantwortlich. Aber Sam fand vor allem das, was Larisa und Emma über Frauen mittleren Alters gesagt hatten, zutreffend. Obwohl Sam selbst zu dieser Gruppe gehörte, verabscheute sie die wohlstandssaturierte Selbstzufriedenheit, die sich in ihren silbergrauen Frisuren ausdrückte, den Leinenhosen, den teuren, ergonomischen Schuhen. Diese Frauen verkörperten den Status quo, an dem sie niemals rütteln würden, weil sie ihre Schäfchen im Trockenen hatten. Aber schlimmer noch: Sam verachtete sie wegen ihrer dicklichen Taillen und faltigen Hälse, was natürlich schrecklich unfair war. Immer wieder hatte sie solche Anflüge von Midlife-Misogynie. Nur weil sie alle Frauen waren, fühlte Sam sich noch lange nicht mit ihnen solidarisch, im Gegenteil, sie fühlte sich von ihnen entfremdet. So ging es ihr, wenn sie sie im Fitnessstudio sah, die verbissenen Fünfzigjährigen mit ihren Yogamatten unter den durchtrainierten Magerarmen, ihren faltigen, ungeschminkten Gesichtern, hart und humorlos. Yogazicken, dachte sie dann. Auch dieser dämliche Hosenanzug der gescheiterten Präsidentschaftskandidatin, die omnipräsenten Strähnchen, ihr diskreter Lidstrich und die oberlehrerinnenhafte Art, die postsexuelle, gutmütige Ausstrahlung und ihre ganze Haltung. Nee, echt nicht. Sam verstand, warum alle einen Brass hatten auf satte, alte weiße Frauen. Ihr Alter, das war der springende Punkt: Selbst, wenn sie nicht für ihn gestimmt hatten, waren sie doch lange genug auf der Welt gewesen, um zumindest eine Mitschuld zu tragen an der ganzen Misere. Mit diesen Frauen wollte Sam nichts zu tun haben, wollte weder mit ihnen gärtnern noch mit ihnen Weißwein trinken. Es war so reizvoll, sich der Verachtung hinzugeben, dem Hass, und irgendwie auch zulässig, schließlich gehörte Sam selbst dazu. Aber sie wusste, dass es nicht ganz angemessen war, ein echtes Problem, eine fiese Verallgemeinerung. Für wen gab es denn überhaupt so was wie Sicherheit? Dennoch, da war dieses Gefühl der Entfremdung, sowohl von den gutsituierten älteren Frauen als auch von den rotzigen jüngeren. Und natürlich von Männern aller Altersklassen, haha.
Sie besuchte keine weiteren WWW-Versammlungen. Aber Facebook schlug ihr freundlicherweise noch andere Gruppen vor. Eine davon, Alte Schachteln CNY, war allerdings geschlossen. Als sie um Aufnahme bat – wer wollte nicht zu einer geschlossenen, exklusiven Gruppe gehören? –, bekam sie von »Admin« eine Liste mit Fragen zugeschickt.
1. Wie widersetzt du dich dem Diktat der Jugendkultur? Nenne 2 Beispiele.
2. Das war langweilig und wahrscheinlich gelogen. Zwei echte Beispiele bitte – und gib dir gefälligst Mühe.
3. Was regt dich auf?
4. Und was regt andere an dir auf?
5. Hast du oft Wutausbrüche?
Sie antwortete:
1. Geht dich nichts an.
2. Leck mich doch.
3. Alles. Nichts.
4. Siehe 1–3.
5. Willst du mich verarschen?
Sie wurde aufgenommen, vermutlich war das Prozedere sowieso reine Formsache. Die Gruppe kam ihr ein bisschen albern vor, in den Posts ging es zumeist darum, dass man seine Falten mögen oder zumindest akzeptieren sollte (»Falten am Hals sind gut, aber Schals sind besser, haha!«) und Schönheits-OPs prinzipiell ablehnen, doch im Endeffekt beschäftigten sich die Mitglieder trotz ihrer gegenteiligen Bekundungen zwanghaft mit ihrem Äußeren. Ein Thread brachte Sams Fass dann endgültig zum Überlaufen:
Delia West
Für diesen Post werdet ihr mich sicher gleich häuten, aber ich schreibe ihn trotzdem. Ich bin 55, frisch geschieden und habe in letzter Zeit stark abgenommen (Boot Camp Training, Barre, Fasten). Seit der Geburt meines Kindes (ist 20 Jahre her, hihi) habe ich einen schlaffen Bauch, der mir echt zu schaffen macht, vor allem, wenn ich nackt vor dem Spiegel stehe. Er sieht aus wie ein Kängurubeutel. Sport oder Diäten bringen gar nichts. Ich finde ihn widerlich, abstoßend, ich komm einfach nicht damit klar. Mittlerweile denke ich ernsthaft über eine Bauchstraffung nach – nicht, um den Männern zu gefallen, sondern mir selbst. Hier ist meine Frage: Darf eine Alte Schachtel für ihre Schönheit Geld ausgeben? Ich finde schon. Ist es nicht eine Form von Selbstermächtigung, wenn frau ihr Aussehen bestimmt?
Susan Healey
Nein. Wenn deine Vorstellungen über dein Aussehen sich mit dem decken, was die Gesellschaft dir vorgibt, solltest du deinen Wunsch ernsthaft hinterfragen.
Jill Blanchard
Das sehe ich anders. Du entscheidest, das ist doch der Punkt.
Liza Winters
Tu, was du nicht lassen kannst, Delia.
Dieser Spruch ging Sam so richtig auf die Nerven. Sie verspürte den Wunsch, Liza Winters einen fiesen Kommentar zu hinterlassen. Wer auch immer sie sein mochte. Aber sie tat es nicht. Stattdessen las sie weiter, warum auch immer. (Eigentlich waren die Gründe klar, Sam wusste genau, dass sie sich an der Eskalation ergötzen wollte. Es brodelte in der Druko-Küche, ein verwerfliches, unwiderstehliches Vergnügen für Mitleserinnen wie sie.)
Antonia Luciano
Was Alte Schachtel sein für dich bedeutet, entscheidest du immer noch selbst. Ich werde dich nicht verurteilen.
Michelle Delcort
Du inspirierst mich, Delia. Vielleicht lass ich mir das auch machen.
Liza Winters
Wie wär’s mit Cool Sculpting? Weniger invasiv und technisch betrachtet keine OP.
Susan Healey
Ernsthaft? Seid ihr alle damit einverstanden? Was ist mit den Kosten? Sollte man sein Geld nicht für wichtigere Dinge ausgeben?
Michelle Delcort
Meldung wegen Moneyshaming!
*Admin
»Moneyshaming« gibt es nicht.
Laci Cortez
Diese Abtrünnige sollte man auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Ich bin raus.
Sam hinterließ zwar keinen Kommentar, aber ein »Like«, denn Laci war für sie die einzige echte Alte Schachtel in der ganzen Gruppe. Sie schickte ihr eine Freundschaftsanfrage, und als sie sich danach auf Lacis Profil tummelte, ihre Likes und Gruppen durchforstete, erhielt Sam auf einmal (wie genau konnte sie im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren, der Weg zum Ziel war undurchsichtig und endlos) lauter Einladungen zu obskuren Gruppen. Die meisten nur für Frauen, aber es waren auch einige Nischengruppen dabei: Überleben im Anthropozän, eine linke Prepper-Vereinigung, die sich auf die Klimakatastrophe vorbereitete. Einkochen, Fermentieren und so weiter schienen eine Schnittmenge zwischen der Rechten und der Linken zu bilden, denn Lebensmittel haltbar zu machen wurde von Teilen beider Lager als überlebenswichtig angesehen, egal, ob man sich auf einen Rassenkrieg, Putsch oder eine Naturkatastrophe mit anschließendem Zusammenbruch der Gesellschaft vorbereitete. Sam, die weder einkochte noch auf anderweitigem Weg Lebensmittel konservierte, bat trotzdem darum, der Gruppe beitreten zu dürfen. Kaum hatte man sie aufgenommen, stieß sie auf Dutzende »Homesteader«-Gruppen für waschechte Selbstversorger: Manche konzentrierten sich auf Anbau und Nutzierhaltung in der Stadt (»Darf man in der Stadt Hühner halten?«, »Wie pflanzt man vertikale Gärten auf der Feuerschutzleiter«), andere auf autonomes Leben (für Männer und Frauen) und tauschten sich über allerlei praktische Fertigkeiten aus, die von Kommunikation mittels Morsecode und Brunnengraben bis zu Zeitmessung mit der Sonnenuhr, Wasserreinigung durch Osmose-Umkehr und Erste Hilfe reichten. Darunter gab es dann die explizit technikfernen Homesteader (reine Frauengruppen), die ein Leben wie zu anno dazumal anstrebten, und zwar mit spezifischen Jahresabgrenzungen wie beispielsweise 1912 oder 1860 (interessante Wahl). Soweit Sam es beurteilen konnte, ging es bei den Technikverweigerern um das Nähen von Jeanskleidung, Waschmaschinen mit Handkurbel und die Herausforderungen des Butterstampfens und -schöpfens. Viele Mitglieder ließen sich in ihren Kommentaren darüber aus, wie befriedigend »authentische Hausarbeit« (AHA) sei und wie sehr diese zur Selbstermächtigung beitrage. Dennoch war es offenbar so, dass Frauen, die ein Leben wie anno 1912 oder 1860 anstrebten, wahnsinnig viel Zeit auf Facebook verbringen mussten. Sam hätte am liebsten ein vernichtendes Zitat von Elizabeth Cady Stanton über die geisttötende Wirkung der Hausarbeit gepostet, etwas aus Der Weiblichkeitswahn oder einfach: »Freiwillige Plackerei ist der laue Lenz der Feministin« oder »Raus aus der Bude, rauf auf die Barrikaden!«, aber wozu sich mit diesen Leuten anlegen? Frauen traten Gruppen bei, um unter Gleichgesinnten zu sein, Tipps auszutauschen, Fotos zu posten und einander in den gewählten Lebensformen zu unterstützen. Aber irgendwie weckte Facebook in Sam kindische Impulse, die sie regelrecht unterdrücken musste.
Es wurde noch schlimmer. Die altertümelnden Hausfrauen brachten Sam unweigerlich zur Quiverfull-Bewegung, explizit antifeministisch und pro Großfamilie, weil offenbar irgendwo im Alten Testament stand, dass Kinder wie Pfeile in einem Köcher waren. Die Gruppe gab sich offen und sehr aufnahmefreudig, schließlich waren die meisten Mitglieder vom Missionierungseifer getrieben (wir brauchen unbedingt mehr Köcher voll christlicher Babys). Sam trat nicht bei, vertrödelte aber viel Zeit in den Kommentarspalten. Sie erfuhr, dass die meisten von ihnen von einem Buch mit dem selbsterklärenden Titel Glückliche Mamastatt einsame Geschäftsfrau – Gottes Plan für Karrierefrauen inspiriert wurden. Sam überlegte kurz, es sich zum »Hasslesen« zu bestellen, entschied sich dann aber dagegen. Es wäre schäbig, sich selbstgefällig über diese armen Menschen lustig zu machen. Es gab eine Menge Selfies von rosazeageplagten, langhaarigen Frauen in altmodischen Präriekleidern und viel Crowdsourcing zum Thema Schwangerschaft, Progesteron und Yamswurzel. Sollten sie doch glauben, was sie wollten. Sich über sie zu amüsieren war unwürdig, und doch … war nicht genau das der Reiz von Facebook, ja des gesamten Internets? Es machte doch gerade deshalb so süchtig, weil man dort seine Obsessionen ausleben und die der anderen verspotten, verhöhnen, niedermachen konnte, im Schutz des heimischen Monitors.