...und das Heimweh ging mit - Leni Behrendt - E-Book

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Leni Behrendt

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Beschreibung

Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. Kaum hatte Melanie die Küche betreten, begehrte der Mann auch schon Einlaß. Er lebte mit seiner Frau von einer Rente, mit der sie gerade so schlecht und recht auskamen, doch er verdiente sich durch Gelegenheitsarbeiten etwas dazu. Er blieb aber nur da, wo es ihm gefiel, und hier gefiel es ihm nicht. Daß er überhaupt noch herkam, geschah um des Mädchens willen, das ihm leid tat. »Das ist vielleicht ein Wetter!« schimpfte er an der Küchentür, die zum Hof führte, den triefenden Regenmantel kräftig schüttelnd. »Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben, aber dann hätten Sie armes Wurm auch noch die Heizung versorgen müssen.« Brummend verschwand er im Keller, und als er in die Küche zurückkehrte, stand auf dem Tisch sein Frühstück, ein Topf Kaffee, zwei dickbelegte Schnitten und ein Schnaps. Wohl stand ihm nach Vereinbarung ein Frühstück zu, wäre aber nicht so üppig ausgefallen, wenn die Hausfrau es ihm zugeteilt hätte. Das wußte der Mann, der die Verhältnisse hier kannte. »Na, Fräuleinchen, das ist wieder mal recht reichlich«, zwinkerte er Melanie zu. »Man gut, daß es die Geizig nicht sieht!« »Die Dame heißt Geisig«, verbesserte das Mädchen, und er lachte. »In unserer Ecke hier ist sie Geizig, weil sie geizig ist und ihr Sohn nicht weniger. Allerdings nicht in der eigenen Familie, da schlemmen sie.« Damit machte er sich über sein Frühstück her, während Melanie die Morgenschokolade kochte. Die Küche, sonst immer blank, war heute unaufgeräumt. Im Spülstein stapelten sich gebrauchte Töpfe und Geschirr, auf das Melanie verlegen zeigte.

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Leni Behrendt Bestseller – 1 –

...und das Heimweh ging mit

Leni Behrendt

Kaum hatte Melanie die Küche betreten, begehrte der Mann auch schon Einlaß. Er lebte mit seiner Frau von einer Rente, mit der sie gerade so schlecht und recht auskamen, doch er verdiente sich durch Gelegenheitsarbeiten etwas dazu. Er blieb aber nur da, wo es ihm gefiel, und hier gefiel es ihm nicht. Daß er überhaupt noch herkam, geschah um des Mädchens willen, das ihm leid tat.

»Das ist vielleicht ein Wetter!« schimpfte er an der Küchentür, die zum Hof führte, den triefenden Regenmantel kräftig schüttelnd. »Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben, aber dann hätten Sie armes Wurm auch noch die Heizung versorgen müssen.«

Brummend verschwand er im Keller, und als er in die Küche zurückkehrte, stand auf dem Tisch sein Frühstück, ein Topf Kaffee, zwei dickbelegte Schnitten und ein Schnaps. Wohl stand ihm nach Vereinbarung ein Frühstück zu, wäre aber nicht so üppig ausgefallen, wenn die Hausfrau es ihm zugeteilt hätte. Das wußte der Mann, der die Verhältnisse hier kannte.

»Na, Fräuleinchen, das ist wieder mal recht reichlich«, zwinkerte er Melanie zu. »Man gut, daß es die Geizig nicht sieht!«

»Die Dame heißt Geisig«, verbesserte das Mädchen, und er lachte.

»In unserer Ecke hier ist sie Geizig, weil sie geizig ist und ihr Sohn nicht weniger. Allerdings nicht in der eigenen Familie, da schlemmen sie.«

Damit machte er sich über sein Frühstück her, während Melanie die Morgenschokolade kochte.

Die Küche, sonst immer blank, war heute unaufgeräumt. Im Spülstein stapelten sich gebrauchte Töpfe und Geschirr, auf das Melanie verlegen zeigte.

»Ich konnte es gestern abend wirklich nicht mehr abwaschen, ich war zu müde. Herr Geisig kam erst nach neun Uhr und verlangte ein warmes Essen.«

»Das Sie Schäfchen ihm auch geduldig machten«, fiel der Mann grimmig ein. »Schuften Sie man immer weiter so, dann werden Sie bald ganz auf der Nase liegen, halb tun Sie es nämlich schon. Aber vielleicht wäre das ganz gut, dann würden Sie endlich aus der Fron herauskommen. Denn um es auf reguläre Art zu tun, dazu fehlt es Ihnen an Mumm…«

»Melanie!« schrillte eine Stimme von oben. »Was trödeln Sie denn da unten so lang herum? Hören Sie denn nicht die Kinder schreien!«

»Ich komme ja schon!« rief Melanie durch die geöffnete Tür. »Nur noch ein wenig Geduld!«

Hastig stellte sie das Frühstück aufs Tablett, nickte dem Mann freundlich zu und ging nach oben, wo die Kinder sich in mieserabler Laune befanden und auch dementsprechend betrugen, zumal der fünfjährige Knabe seit gestern Schnupfen hatte, der das ohnehin schon ungezogene Kind einfach unausstehlich werden ließ. Wütend schlug er Melanie die Tasse aus der Hand, so daß sich flüssige Schokolade über das Bett ergoß.

Seine um drei Jahre ältere Schwester, die von der spinalen Kinderlähmung ein steifes Rückgrat zurückbehalten hatte, kreischte in den höchsten Tönen nach Torte mit Schlagsahne, und die Großmutter der herzigen Kleinen preßte die Fingerspitzen gegen die Schläfen und jammerte:

»Kinder, so gebt doch Ruhe, ihr sollt ja alles haben, was ihr wollt. Aber Melanie muß ja erst die Torte besorgen und bringt dann gleich für unser Bübchen die Schokoladenstangen mit, die er so gern mag.«

Es waren aber noch viele schmeichelnde Versprechungen nötig, bis die kleinen Teufel endlich geruhten, ihr Frühstück zu essen. Melanie, die nach dem schwierigen Amt mit dem Geschirr abziehen wollte, wurde von Frau Geisig zurückgehalten.

»Lassen Sie das jetzt, machen Sie sich zum Einkaufen fertig. Ist die Stundenfrau auch heute nicht gekommen?«

»Nein, wahrscheinlich wird sie ganz wegbleiben, wie ihre Vorgängerinnen auch. Ich habe also alle Hände voll zu tun.«

»Das glaube ich Ihnen ja. Aber am wichtigsten ist, daß die Kinder die Süßigkeiten bekommen.«

»Und das Frühstück für Herrn Geisig?«

»Können Sie nach Ihrer Rückkehr besorgen. Machen Sie sich fertig, inzwischen schreibe ich auf, was fehlt.«

Und das gewiß nicht wenig. Leckereien für die Kinder, Delikatessen für den Vater – und die Großmutter hatte auch sich nicht vergessen. Also mußte Melanie in fünf Geschäfte gehen, ohne daß die anspruchsvolle Dame ihr das Geld zum Einkaufen gab. Daran schien sie nicht zu denken, was heute übrigens nicht zum erstenmal geschah. Melanie hatte dann stets die Summe ausgelegt, davon jedoch keine Mark zurückerhalten.

Obwohl sie sich warm angezogen hatte, schauderte sie draußen zusammen. Und bald hatte sie das Gefühl, keinen Schritt mehr gehen zu können, und setzte dennoch Fuß vor Fuß. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Krankenhaus, an dem ihr Weg sie vorüberführte. Wie schön wäre es, da hineinzugehen, sich ins Bett zu legen und sich auch einmal betreuen zu lassen, wie sie es bisher immer bei anderen hatte tun müssen. Zuerst bei der gelähmten Dame und jetzt bei Familie Geisig.

Auch vorher hatte sie ein freudloses Leben geführt. Hatte bei der Geburt die Mutter verloren und war von einer mürrischen Tante großgezogen worden. Den Vater bekam sie nur selten zu sehen, da er als Mitglied eines Orchesters fast ständig auf Reisen war. Wenn er für kurze Zeit nach Hause kam, war er für die Tochter ein fremder Mann, und auch er wußte nichts mit ihr anzufangen.

Aber er sorgte gut für sie. Die Verwandte bekam jeden Monat eine Summe überwiesen, von der sie und das Kind gut leben konnten. Als Melanie mit zehn Jahren, fast am gleichen Tag, die Tante und den Vater verlor, der sich im fernen Land eine bösartige Krankheit zugezogen hatte, an der er dann auch starb, kam das nun vollkommen verwaiste Mädchen in ein Internat. So hatte es der Vater in einem hinterlassenen Schreiben bestimmt, das seinem Vetter, dem Rechtsanwalt und Notar Dr. Ewald Breyse, zugestellt wurde. Er bat darin auch den Verwandten, die Vormundschaft für die Waise zu übernehmen, was er selbstverständlich tat. Kosten erwuchsen ihm daraus nicht, da der Verstorbene so viel Geld hinterlassen hatte, daß es ausreichte, die Internatskosten und eine Berufsausbildung zu bestreiten.

So gab denn Breyse sein Mündel in ein gutes Internat und stand mit der Vorsteherin des Instituts in Verbindung, die über den Zögling Melanie Santen nie eine Klage zu führen hatte. Sie war fleißig, gewissenhaft und gehorsam. Das Lernen fiel ihr leicht, und für Musik war sie außerordentlich begabt.

Das wurde öfter betont und bewog den Vormund, seinem Mündel, als es mit sechzehn Jahren dem Internat entwachsen war, den Vorschlag zu machen, ein Konservatorium zu besuchen.

Doch damit stieß er bei dem sonst so fügsamen Mädchen auf Widerstand. Sie erklärte, was sie in den Musikstunden des Internats gelernt hätte, genüge ihr vollkommen. Die Freude, die sie jetzt an der Musik hatte, wollte sie sich durch etwaige Übungen nicht vergällen lassen. Außerdem würde für die langwierige Ausbildung das Geld, das der Vater hinterließ, nicht ausreichen, wohl aber zu der einer Krankenpflegerin.

Wohl versuchte der Vormund, ihr das auszureden, doch sie ging nicht darauf ein. Alles, was er ihr auch vorbringen mochte, wies sie zwar artig, aber beharrlich zurück.

Vielleicht hatte er auch nicht die richtige Art für dieses Mädchen, mit dem er nicht in Kontakt kommen konnte, obwohl er es von klein auf kannte. Wenn sein Vetter zu Hause war, hatte er ihn jedesmal besucht und auch seine Tochter begrüßt. Ein scheues und verschlossenes Kind, aus dem er nicht klug werden konnte und es auch als ihr Vormund nicht wurde.

Nun, wenn sie durchaus Pflegerin werden wollte, mußte er sie wohl gewähren lassen. So kam sie denn auf eine der besten Schulen, wo sie nach drei Jahren die Prüfung mit Auszeichnung bestand.

Auf seinen Vorschlag hin nahm sie die Stelle bei einer alten, gelähmten Dame an, die zu seinen Klienten zählte. Kein leichtes Amt für eine Pflegerin und auch gewiß nicht der rechte Platz für ein so blutjunges Menschenkind. Das mußte ja trübsinnig werden bei zwei so alten mürrischen Menschen, wie Frau Hacher und ihre langjährige Wirtschafterin es waren. Die einzige Abwechslung für die junge Melanie waren die täglichen Besorgungsgänge und an ihren Ausgehtagen ein Kino- oder Kaffeehausbesuch.

Aber Freude hatte sie daran nicht. Die hatte sie nur beim Musizieren, was sie täglich tat, weil ihr Pflegling es verlangte.

Die alte Dame verlangte überhaupt viel von ihrer Pflegerin, die manches einstecken mußte, was andere nicht taten und die unwirsche Kranke daher mieden.

Nur zwei Verwandte, Mutter und Sohn Geisig, erschienen oft, weil sie sich doch so sehr um das liebe Tantchen sorgten und ihr die schroffe Art nicht übelnahmen. Sie waren zu der Pflegerin von bestrickender Liebenswürdigkeit, was das menschenunkundige Mädchen für bare Münze nahm. Und als nach dem Tod der alten Dame Frau Geisig nun Melanie den Vorschlag machte, zu ihr zu kommen, sagte diese zu.

Der Vorschlag wurde ihr aber erst gemacht, als sich nach der Testamentseröffnung herausstellte, daß die Pflegerin mit einem Legat von fünftausend Mark bedacht worden war. Die Wohnungseinrichtung nebst einer Rente erbte die Wirtschafterin, und damit war die Hinterlassenschaft der Verstorbenen, die Geisigs für reich gehalten hatten, erschöpft. Sie selbst, die sich doch so um das liebe Tantchen bemüht hatten, gingen leer aus. Als Melanie deswegen Frau Geisig gegenüber ihr Befremden äußerte, entgegnete diese erstaunt:

»Aber mein liebes Kind, wie sollten wir wohl dazu kommen? Auf das Wenige, das unser Tantchen hinterließ, haben Sie als treue Pflegerin und die gleichfalls treue Wirtschafterin ein Anrecht. Was werden Sie nun beginnen?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«

»Bitte, gnädige Frau.«

»Aber doch nicht so formell, mein liebes Kind«, flötete sie süß. »Nennen Sie mich ruhig bei meinem Namen – vorläufig –, denn ich hoffe, daß wir uns noch recht nahe kommen werden. Das heißt, wenn Sie unsere liebe Hausgenossin werden wollen und später noch mehr – mein Sohn hat nämlich viel für Sie übrig. Leider kann er jetzt noch nicht so, wie er gern möchte. Er muß das Trauerjahr um seine verstorbene Frau abwarten, das jedoch bald zu Ende ist. Aber dann…«

In der Art ging es weiter. Sicher wäre die süßsäuselnde Frau, die alles in den Mantel der Güte kleidete, von einem lebenserfahrenen Menschen durchschaut worden, allein das junge gutgläubige Menschenkind ging auf das »gütige« Angebot mit Freuden ein, ohne vorher mit dem Anwalt Breyse gesprochen zu haben, dessen Vormundschaft sie seit kurzem entwachsen war.

Heute, nach drei Monaten, war sie durch Erfahrung klug geworden. Und alle Reue, den früheren Vormund, der sich nicht mehr um sie kümmerte, übergangen zu haben, kam zu spät.

*

Ich muß es schaffen, ich muß, dachte Melanie verzweifelt, als sie sich von Laden zu Laden schleppte. Das war nicht so arg, als wenn sie, ohne alles eingekauft zu haben, zurückkehrte und dem Gebrüll der Kinder und dem Gezeter von deren Großmutter standhalten mußte.

Als sie den Rückweg antrat, hatte sie das Gefühl, auf Gummi zu treten. Es flimmerte vor ihren Augen, im Kopf bohrte und stach es. Das Atmen schmerzte sie, schwer wie Blei hing die vollgepackte Tasche an ihrem Arm, nur mühsam konnte sie die Füße setzen.

Als sie dann unter Aufbietung aller Kraft endlich das Haus erreicht hatte, hielt davor ein teurer Wagen, aus dem eine Dame und ein Herr stiegen und das nur mühsam dahinschleichende Mädchen scharf musterten, hauptsächlich der Herr.

»Wollen Sie zu Geisig?« fragte Melanie mit schleppender Stimme, als sie vor den beiden stand.

»Ja.«

»Geschäftlich?«

»Nein, Verwandtschaftsbesuch.«

»Dann kommen Sie bitte. Ich habe den Schlüssel.«

Ein hohler Husten erstickte ihre weiteren Worte, die freie Hand preßte sich auf die Brust, und ihr Atem ging mühsam und schwer.

»Nun geben Sie mal die Tasche her«, sagte der Mann kurz. »Ganz nettes Gewicht, mit dem Sie sich da abschleppen müssen, dazu noch bei der körperlichen Verfassung. Sie gehören ins Bett, mein Fräulein.«

»Schön wär’s«, seufzte sie, schloß die Haustür auf und betrat mit den beiden die Diele. Eine Tür stand offen, und dahinter hörte man laute Stimmen, die den Schritt der Eintretenden verhalten ließ. Denn da schien ein Streit im Gange zu sein, in den man nicht geraten wollte.

»Ich kann dir kein Geld geben«, sagte eine Männerstimme ungehalten. »Morgen vielleicht!«

»Aber wovon sollen wir denn leben?« fragte eine weibliche Stimme aufgeregt. »Aus der Tasche der Santen geht es nicht länger…«

»Mach doch nicht so ein Theater um die paar Groschen. Die soll sie wiederhaben, sobald ich aus der Klemme bin.«

»Wie sollte das wohl möglich sein?«

»Ich gedenke, mich in allernächster Zeit mit einer reichen Frau zu verloben, und somit dürfte die Misere hier bald ein Ende haben.«

»Geldlich vielleicht, aber sonst wohl kaum. Denn ich glaube nicht, daß diese den Haushalt und die Kinder so versorgen wird, wie die Santen es tut. Heirate sie, dann hast du einen Dienstboten, der dir nicht davonlaufen kann.«

»Du bist wohl nicht recht gescheit!« brauste er auf. »Diese Ziege mit den lumpigen paar Mark…«

»Schrei nicht so! Wie mir scheint, ist jemand in der Diele.«

Sie eilte zur Tür, wo sie wie erstarrt stehenblieb, und ebenso ihr Sohn, der ihr gefolgt war. Denn Melanie, die sich nicht mehr auf dne Beinen halten konnte, brach mit dem Aufschrei: »Wie können Menschen nur so gemein sein!« zusammen und wäre zu Boden geschlagen, wenn der neben ihr stehende Mann sie nicht aufgefangen hätte.

»Hanna! Knut! Wo kommt ihr denn so plötzlich her!«, rang es sich von Frau Geisigs Lippen, doch der Mann winkte schroff ab.

»Das erkläre ich dir später. jetzt muß ich mich erst um das bedauernswerte Menschenkind kümmern, den ihr mit euren brutalen Worten gewissermaßen den Todesstoß versetzt habt. Wo kann ich es niederlegen?«

»Im Zimmer, auf dem Diwan.«

Gleich darauf legte der Mann die leichte Last nieder, griff nach dem Puls und sah gespannt in das rote heiße Gesicht. Die Glieder bebten, der Atem flog, der Puls raste – und nun sprach der Mann in die lähmende Stille hinein:

»Das Mädchen ist krank, sehr krank sogar. Es muß ins Krankenhaus! Ich werde mich sofort damit in Verbindung setzen.«

»Was erlaubst du dir eigentlich!« zeterte Frau Geisig.

»Was ich mir erlauben muß, und zwar als Arzt. Wo ist das Telefon?«

»In der Diele. Aber warum denn gleich Krankenhaus, ich werde unseren Arzt herbitten.«

Doch er ließ sich nicht beirren und eilte zum Apparat. Als er zurückkam, erklärte er kurz und bündig:

»Da die Krankenwagen alle unterwegs sind, werde ich das Mädchen in mein Auto packen und dahin bringen, wohin es gehört. Ich hole dich nachher ab, Mutter. Sorge inzwischen dafür, daß ein Köfferchen mit dem Nötigsten gepackt wird.«

Er nahm die Decke, die auf dem Diwan lag, hüllte Melanie ein, nahm sie auf die Arme und ging hinaus. Frau Geisig rang die Hände, oben brüllten die Kinder, und Herr Benno Geisig war so gelassen, als ginge ihn das alles gar nichts an.

»Mein Gott, mein Gott, das ist ja zum Wahnsinnigwerden!« jammerte seine Mutter in den höchsten Tönen, und die Besucherin, die sich indes unaufgefordert gesetzt hatte, bemerkte trocken:

»In diesem Narrenhaus schon möglich.«

»Hanna, ich verbitte mir…«

»Ich auch«, winkte die andere ab. »Bring endlich die Schreihälse zur Räson. Warum brüllen sie eigentlich so?«

»Sie wollen die Leckereien haben, die unsere Angestellte besorgen sollte. Hoffentlich hat sie es getan. Wenn ich bloß wüßte, wo die Einkaufstasche ist.«

»Die hat mein Sohn in der Diele abgestellt.«

»Wie kam er denn dazu?«

»Er nahm sie draußen dem Mädchen ab, das uns ins Haus ließ.«

»Dann will ich mal nachsehen.«

Weg war sie, und als sie zurückkehrte, waren die Schreihälse ruhig.

»Was soll jetzt bloß werden«, ließ sie sich erregt in einen Sessel fallen. »Im Haus ist alles unaufgeräumt, die Kinder sind nicht versorgt, die Stundenfrau ist ausgeblieben, und die Angestellte ist im Krankenhaus. Wer soll nun die ganze Arbeit machen?«

»Wahrscheinlich du«, entgegnete Frau Hanna Hasford, eine Base der Jammernden, ungerührt. »Pack mal gleich ein Köfferchen für das Mädchen, das sich bei euch krankgeschuftet hat. Und du erhebst dich, Benno! Gedenkst du etwa, dich zu verkrümeln?«

»Ja. Ich habe nämlich keine Lust, mir weiter deine Spitzfindigkeiten anzuhören.«

»Du wirst noch ganz was anderes zu hören bekommen. Wir sind nämlich hier, um die Schulden zu kassieren, die du bei uns hast. Wenn ihr unser Kommen bemerkt hättet, hättest du uns bestimmt nicht reingelassen. Euer ›Kuli‹ jedoch tat es, den wir vor dem Haus trafen. Glück muß der Mensch haben: Und nun werde ich dir den Schuldschein präsentieren.«

»Den kann ich jetzt nicht einlösen. Du weißt doch, wozu ich das Geld verwendet habe.«

»Angeblich verwenden wolltest«, unterbrach sie ihn. »Du logst uns vor, daß du das Geld brauchtest, um deine Tochter in ein orthopädisches Institut zu bringen. Das hast du aber nicht getan, sondern es mit zweifelhaften Weibern vergeudet.«

»Das ist eine Beleidigung!« brauste er auf. »Ich werde dich dafür…«

»Nun, was wirst du?« fragte sie gelassen, als er plötzlich schwieg. »Mich verklagen? Das pflegt man bei Tatsachen nicht zu tun. Und Tatsache ist, daß du dein krankes Kind nicht behandeln ließest. Das hat der Leiter meinem Sohn bestätigt, als er den Herrn traf und sich bei ihm nach dem Ergehen deiner Tochter erkundigte. So kam der Schwindel heraus, dem mein Sohn nachging und sogar in einem Lokal Zeuge deiner Orgien wurde. Den Rest erfuhr er von einem deiner Liebchen, das für einen Geldschein recht redselig wurde.

Kurzum: Für dein krankes Kind hätten wir die dreitausend Mark geopfert, die du dir als bekümmerter Vater erbettelt hast, aber für deine Ausschweifungen tun wir es nicht. Und wenn wir das Geld, sagen wir mal, in zwei Monaten nicht auf dem Tisch des Hauses haben, schicken wir dir den Gerichtsvollzieher.«

Da rannte der Mann wutentbrannt hinaus. Die Haustür knallte hinter ihm zu, und seine Mutter winselte:

»Hanna, das könnt ihr uns doch nicht antun. Was machen euch die paar Tausend Mark schon aua! Für uns jedoch würden sie den Ruin bedeuten. Habt doch Erbarmen!«

»Mit euch nicht«, wurde sie schroff abgewiesen. »Ihr seid an eurem Ruin selbst schuld. Habt herrlich und in Freuden gelebt und dabei nicht nur die gutgehende Baufirma ruiniert, die dein Mann hinterließ, sondern auch noch die Mitgift deiner Schwiegertochter vergeudet.

Ich weiß, ihr habt auf das reiche Erbe Frau Hachers spekuliert, das aber leider nur in eurer Einbildung bestand. Doch am gemeinsten finde ich, daß ihr zeitweise aus der Tasche eurer Angestellten gelebt und sie dafür wie einen Kuli behandelt habt. Es klingelt, das wird sicher mein Sohn sein.«

Als sie durch die Diele ging, fiel ihr Blick auf die Einkaufstasche, neben der eine Handtasche lag, die wahrscheinlich dem kranken Mädchen gehörte. Rasch nahm sie die Tasche an sich, denn in diesem Haus konnte man nie wissen.

Dann erst ließ sie den Sohn ein.

»Da bist du ja, mein Junge. Hast du die Kranke abgeliefert?«

»Ja.«

»Komm mit ins Zimmer, da hört man weniger das Geschrei der Rangen.«

»Was fehlt dem Fräulein denn?« fragte sie, als man Platz genommen hatte.

»Wahrscheinlich eine Lungenentzündung. Genaues wird erst die gründliche Untersuchung ergeben.«

»Die Ärmste! Hat man sie im Krankenhaus so ohne weiteres aufgenommen?«

»Hat man. Aber auch nur, weil ich dort bekannt bin. Denn sie hatte ja nichts bei sich, mit dem sie sich ausweisen konnte. Das muß natürlich nachgereicht werden, auch der Krankenschein. Bei welcher Kasse ist sie versichert?«

»Wie soll ich das wissen«, murrte Frau Geisig, und er sah sie erstaunt an.

»Nanu, sie ist doch eure Angestellte, der ihr Gehalt und einen Teil der Versicherung zahlt. Oder solltest ihr das vergessen haben?

Also doch«, setzte er hinzu, als sie verstockt schwieg. »Schämt ihr euch denn gar nicht, einem Menschen eine Überlast an Arbeit aufzubürden, ihm dafür kein Gehalt zu zahlen und teilweise gar aus seiner Tasche zu leben? So was kann man nur als gemein bezeichnen. Ist sie überhaupt schon volljährig?«

»Ich glaube, ja.«

»Ach, das glaubst du. Weißt du wenigstens, wer ihr Vormund ist oder war?«

»Rechtsanwalt Dr. Breyse.«

»Gut, dann werde ich mich mit ihm in Verbindung setzen, denn einer muß sich ja um das arme Mädchen kümmern. Wo mag sie ihren Ausweis haben?«

»Wahrscheinlich hier«, hielt die Mutter ihm die Handtasche hin.

»Wo hast du denn die her?«

»Sie lag in der Diele neben der Einkaufstasche. Ich nahm sie an m ich – für alle Fälle.«

Er fand den Ausweis, las die Eintragungen und sagte:

»Melanie Santen ist seit einigen Monaten mündig und untersteht somit der Vormundschaft des Anwalts nicht mehr. Trotzdem werde ich ihn aufsuchen, das gebietet schon meine Menschenpflicht.

Und nun pack ein Köfferchen mit dem Notwendigsten, meine Mutter wird dir dabei behilflich sein«, er warf dieser einen vielsagenden Blick zu, den sie sogleich verstand. Frau Geisig aber zeterte:

»Ich laß mich in meinem Haus nicht herumkommandieren! Ich werde euch verklagen wegen Hausfriedensbruch.«

»Und ich werde euch wegen Menschenschinderei verklagen«, gab der Arzt so scharf zurück, daß sie es nun doch mit der Angst bekam und abzog, gefolgt von Frau Hasford. Das Zimmer, das sie bald darauf betraten, konnte man als ärmlich bezeichnen. Wohl hatte die Frau des Hauses die resolute Verwandte hineingeführt, rührte jedoch keinen Finger, sondern setzte sich auf einen Stuhl und war böse, sie sah aus wie ein beleidigter Mops.

Früher war Rosa Geisig hübsch gewesen, hatte sich aber nicht gut gehalten, wie man so sagt. Das runde Gesicht war erschlafft und hatte Hängebacken, die Stupsnase dazu, der verkniffene Mund und die gedrungene Gestalt, nein, hübsch war Rosa nicht mehr, zumal sie einen schlampigen Morgenrock und Lockenwickler im Haar trug.

Die Kinder nebenan brüllten immer noch, was die Großmutter nicht rührte, weil sie daran gewöhnt war.

»Nun geh schon hin und beruhige sie«, sagte Frau Hasford nervös.

»Tu du es doch«, wurde höhnisch erwidert. »Mich stört es nicht.«

Da wandte Frau Hanna sich schweigend ab und begann allein zu packen. Ein Köfferchen fand sie auf dem Schrank, in dem Wäsche, unter der etwas lag, das sie mitraffte.

Der Bademantel hing an der Tür, die Toilettensachen lagen auf einem Bord, die Pantoffeln standen unter dem Bett, also alles griffbereit und schnell verstaut. Mit dem Koffer in der Hand verließ sie schweigend das Zimmer und machte erst ihrem Herzen Luft, als sie neben dem Sohn im Wagen saß.

»So ein schofles Pack!« erregte sie sich erbost. »Daß sie nicht viel taugen, weiß ich längst, aber daß sie so sind, habe ich nun doch nicht vermutet. Was soll nun aus dem Mädchen werden, dessen du dich so hilfreich annimmst?«

»Um das wird man sich im Krankenhaus bemühen. Hast du allein den Koffer gepackt?«

»Jawohl, und dabei geklaut.«

»Nanu, Muttchen, du wirst doch nicht«, betrachtete er die Mutter schmunzelnd von der Seite. Sie saß neben ihm, rund und rosig, lieb und gut, aber auch energisch, wo es angebracht war. Obwohl sie die Fünfzig überschritten hatte, war ihr volles Gesicht noch fast faltenlos. Das blonde Haar zeigte noch keinen grauen Faden, war noch immer voll und gepflegt, die Augen hatten noch nichts von ihrer intensiven Bläue eingebüßt. Sie hatte sich im Gegensatz zu Rosa Geisig gut gehalten. Das kam wohl daher, weil sie von frohem Naturell und immer zufrieden war, während die andere habgierig, scheinheilig und zänkisch war. Das hatte hauptsächlich Melanie Santen zu spüren bekommen.

»Nun sag mal, Muttchen, was hast du klammheimlich mitgehen heißen?« fragte Knut Hasford augenzwinkernd, und vergnügt blinzelte sie zurück.

»Die Mappe hier, die unter der Wäsche lag. Da sie mit einem Schloß versehen ist, wird sie wohl Wichtiges bergen. Und da gewisse Leute selbst vor Schlössern nicht haltzumachen pflegen…«, dehnte sie, und er nickte.

»Hast richtig gehandelt, Muttchen. Da ich sowieso den früheren Vormund des Mädchens aufsuchen will, werde ich ihm die Mappe übergeben.«

*

Der Notar hörte sich den Bericht des Arztes an, ohne ihn zu unterbrechen, dann sagte er gelassen:

»Das habe ich kommen sehen. Aber Fräulein Santen hat mich übergangen, als sie die Stelle bei Geisigs annahm. Ich hätte es ohnehin nicht verhindern können, da sie meiner Vormundschaft nicht mehr unterstand. So mußte denn das weltfremde Mädchen durch Schaden klug werden.«

Er schilderte kurz ihren Lebenslauf und fügte hinzu:

»Leider hatte sie kein Vertrauen zu mir, war scheu und zurückhaltend. Ich verstand es eben nicht so gut, ihr Vertrauen zu gewinnen wie Frau Geisig.«

»Was wird die nicht alles versprochen haben«, bemerkte Frau Hasford, die bei der Unterredung zugegen war. »Sie schmiert ihren Opfern Honig um den Mund und läßt sie dann von den Bienen stechen.«

Da mußte selbst der Anwalt lachen, ein mittelgroßer, hagerer Herr mit Brille und einem klugen Gesicht.

»Anschaulicher hätten Sie es gar nicht formulieren können, gnädige Frau. Denn ich bin über diese Dame und ihren Sohn genau im Bilde.

Nun werde ich erst die Mappe wegschließen, die Sie mir zu treuen Händen übergeben haben, Herr Doktor, und Sie dann ins Krankenhaus begleiten. Ich nehme doch an, daß Sie dort noch einmal vorsprechen werden?«

»Allerdings. Ich muß dort ein Köfferchen für die Kranke abliefern. Außerdem interessiert es mich, was aus meinem Findling wird, den ich buchstäblich auf der Straße auflas. Ich vermute nämlich, daß Fräulein Santen in keiner Krankenkasse ist. Geisigs jedenfalls haben keinen Beitrag gezahlt, auch kein Gehalt.«