Und jetzt aufs Land - Freerk Baumann - E-Book

Und jetzt aufs Land E-Book

Freerk Baumann

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Beschreibung

Auf dem Land lebt es sich einfach gesünder, denn das Bewegen in der Natur, der Aufenthalt im Wald, das Essen aus dem eigenen Gemüsegarten und das soziale Miteinander haben gesundheitliche Effekte, die inzwischen auch wissenschaftlich belegbar sind. Der Anblick eines Gartens bzw. der von frischem Grün vor dem Haus fördert die gute Laune und kann die Selbstheilungskräfte aktivieren. Professor Freerk Baumann kennt all diese Vorteile und zeigt uns, wie heilend das Leben mit und in der Natur sein kann.

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Einleitung

Kapitel 1:

Kindheit auf dem Lande

Kapitel 2:

Gesundes Landleben

Kapitel 3:

Waldmedizin

Kapitel 4:

Entschleunigung auf dem Lande

Kapitel 5:

Das Geheimnis einer guten Dorfgemeinschaft

Kapitel 6:

Politische Feldwege

Kapitel 7:

Stadtflucht

Schlussbetrachtung

Fußnoten

Über das Buch

Auf dem Land lebt es sich einfach gesünder, denn das Bewegen in der Natur, der Aufenthalt im Wald, das Essen aus dem eigenen Gemüsegarten und das soziale Miteinander haben gesundheitliche Effekte, die inzwischen auch wissenschaftlich belegbar sind. Der Anblick eines Gartens bzw. der von frischem Grün vor dem Haus fördert die gute Laune und kann die Selbstheilungskräfte aktivieren. Professor Freerk Baumann kennt all diese Vorteile und zeigt uns, wie heilend das Leben mit und in der Natur sein kann.

Über den Autor

PD Dr. Freerk T. Baumann ist Sportmediziner und bekennendes Landei. Er verließ mit 21 Jahren sein Elternhaus und zog für 11 Jahre nach Köln. Erste Burnout-Symptome und das rastlose Lebensgefühl in der Stadt, entschlossen ihn zur Rückkehr in das 100-Seelen-Dorf. Das Dorfleben ist nach seinen mitunter extrem stressigen Arbeitstagen eine Oase der Erholung, Entspannung und Entschleunigung. So fährt er morgens von Lückert nach Köln in das Universitätsklinikum Köln, wo er die Abteilung Onkologische Bewegungsmedizin leitet.

Baumanns Forschungsschwerpunkt ist das Thema »Körperliche Aktivitäten und Krebs«. Er gehört zu den international bekanntesten und führenden Experten auf diesem Gebiet. 2015 gründete Baumann die »Nationale Expertengruppe zu Bewegungstherapie und Körperliche Aktivität in der Onkologie«, angegliedert an die Deutsche Krebsgesellschaft, mit 140 Experten, deren Sprecher er ist. Im Jahre 2017 wurde Baumann vom Wissenschaftsverlag Elsevier unter den TOP 10 der internationalen Wissenschaftlern zum Themengebiet »Exercise and Cancer« aufgeführt. Ausgezeichnet u.a. mit dem Wissenschaftspreis der Deutschen Sporthochschule Köln 2005, dem Helmut-Wölte-Preis für Psychoonkologie 2009 und dem Preis für Komplementärmedizin 2016.

Dr Baumann ist für seine ungewöhnlichen Projekte inzwischen bekannt und ein vielgesuchter Redner bei Kongressen im Bereich der Bewegungstherapie und Onkologie: Für seine Forschungsprojekte wanderte er mit einer Gruppe von Männern mit Prostata-Karzinom vom Münchner Fischbrunnen auf den Markusplatz nach Venedig – um die positive Wirkung von Bewegung auf das Immunsystem nachzuweisen.

Freerk Baumann lebt mit seiner Familie in einem kleinen Fachwerkhaus im »Gold-Dorf« Lückert, einem Dorf im südlichen Rhein-Sieg-Kreis mit 100 Einwohnern, in dem er auch aufgewachsen ist. Er kommt aus einer alten, hochangesehenen Knochenbrecherfamilie. Großmutter, Großvater und Vater haben den Dörflern und ihren Tieren früher die Knochen eingerenkt. Und auch Dr. Baumm renkt heute noch die Knochen verspannter Dörfler ein.

PROF. DR.FREERK BAUMANN

Unter Mitarbeit von Elisa Zavatta, Jane Kersten,Siam Schoofs

Und jetzt aufsLAND

Wie die Natur unsere Gesundheit fördert

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.

Originalausgabe

Vermittelt durch die Agentur Stefan Linde

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Burkard Miltenberger, Berlin

Umschlaggestaltung: ·Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Einband-/Umschlagmotiv: © rclassenlayouts/iStock/Getty Images Plus

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-1504-1

luebbe-life.de

lesejury.de

Einleitung

Über die ewige Frage: Was ist eigentlich besser? Das Leben auf dem Lande oder das Leben in der Stadt? Und, ist die Frage überhaupt berechtigt?

Schon seit vielen Jahren messen sich Autoren, Blogger, Wissenschaftler und Kreative der schreibenden Zunft im Wettstreit, was denn nun eigentlich besser sei: das Leben in der Stadt oder das Leben auf dem Lande. Als bekennendes Landei bin ich natürlich nicht ganz unparteiisch, aber ich durfte in meinem Leben beides kennenlernen. Eine allgemeingültige Antwort auf die Frage, was denn nun vorteilhafter ist, werden Sie in diesem Buch trotzdem nicht finden. Zu verschieden sind unsere Vorstellungen eines idealen Lebensplanes. Zu verschieden unsere Herkunft, unsere Prägung und unsere Interessen und Vorlieben. Vielleicht sollte die Frage vielmehr lauten, wie wir uns alle ein Stück Landleben sichern und es verinnerlichen können. Auch ein Stadtmensch, der sein geliebtes Viertel nicht verlassen möchte, hat die Möglichkeit, für sich ein wenig Landleben zu schaffen.

Wenn ich an die Vorteile der Stadt denke, dann an den Kultur- und Versorgungsreichtum, die beruflichen Möglichkeiten, aber auch an Autoabgase, Wohnungsnot und Parkplatzsuche. Oft argumentiert der Städter mit dem barrierearmen Zugang zu kulturellen und kulinarischen Angeboten wie Restaurants, Theatern, Kinos, Kneipen und vielem mehr. Der Landmensch punktet dagegen mit Natur und Garten, Freiraum und Freiheit sowie großem und günstigem Wohnraum. Dem stehen argumentativ wiederum schlechtere berufliche Perspektiven, der Landarztmangel sowie die Überalterung, die digitale Wüste und Mobilitätsprobleme gegenüber.

Im Jahr 2021 stellt sich die Frage, ob die genannten Argumente weiterhin zutreffen oder ob sich diese womöglich im Angesicht der Corona-Krise wandeln. Doch nicht nur COVID-19 sorgt für ein wachsendes Umdenken, sondern auch eine andere Krise, der vor dem Hintergrund der Pandemie derzeit nicht die Beachtung geschenkt wird, die sie verdient hätte: der Klimawandel. Nicht wenige Soziologen und Psychologen sehen eine Zeit des Umbruchs heraufziehen, die unsere Gesellschaft fundamental verändern wird. Krisen bedeuten in der Regel auch Chancen, unsere Lebensweise zu hinterfragen, unser Handeln anders auszurichten und insgesamt neue Prioritäten zu setzen. Die derzeit zu beobachtenden Dynamiken lassen den Rückschluss zu, dass das Landleben an Attraktivität gewinnt.

Ein Freund von mir arbeitet in einem Baumarkt und berichtete, dass der Lockdown bei ihm zu einem wahren Massenansturm geführt habe. Der Handelsverband Heimwerken, Bau und Garten (BHB) berichtet für 2020 von einer Umsatzsteigerung von etwa fünfzehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Es gab nicht nur Engpässe in der Klopapierlieferung, sondern auch bei Bauholz, Farben und Werkzeugen. Sicherlich trugen die fehlenden Reisemöglichkeiten zu dem Heimwerkerboom bei, aber insbesondere die steigende Wertschätzung für das eigene Zuhause. Es scheint, dass die in den letzten Jahrzehnten erwachsene, durch Landleben-Hochglanzliteratur und Rosamunde-Pilcher-Film-Infiltration befeuerte romantische Sehnsucht nun zumindest teilweise in eine Fakten schaffende, und hoffentlich nachhaltige gesellschaftliche Bewegung übergeht. Es reicht scheinbar nicht mehr, nur vom Landleben zu träumen, jetzt wird angepackt!

Fragt man das bekennende Landei, dann gibt es zahlreiche positive Aspekte des Landlebens: Die Bewegung in der Natur, der Aufenthalt im Wald, das Essen aus dem eigenen Gemüsegarten, das soziale Miteinander haben gesundheitliche Effekte, die inzwischen wissenschaftlich nachweisbar sind. Zudem bedeutet das Leben auf dem Lande weniger Lärm, bessere Luft und weniger Stress. Die Natur hilft uns zu entspannen, zu entschleunigen. Aktuelle Studien zeigen beispielsweise, dass der Wald positive Effekte auf unser Immunsystem hat. Die medizinische Rehabilitation wird von jeher in ländlichen Regionen umgesetzt, dort, wo ein besonderes Reizklima vorherrscht. Studien zeigen darüber hinaus, dass Kinder, die auf dem Land aufwachsen, aufmerksamer und kreativer sind. Wissenschaftliche Publikationen beschreiben sogar positive Effekte bei Patienten, die nach der Operation ins Grüne blickten und dadurch schneller regenerierten.

Dass funktionierende Sozialstrukturen von großer Bedeutung für die Lebensqualität sind, ist bekannt. Aber dass auch unmittelbare Effekte auf die Gesundheit beobachtet werden können, sind neuere Erkenntnisse: Nicht nur Schnupfen ist ansteckend, sondern auch das Wohlbefinden. Soziale Strukturen können helfen, gesund zu bleiben – und glücklich: die heilsame Kraft der sozialen Beziehung. Mediziner, Hirnforscher und Statistiker finden immer neue Belege dafür, wie Menschen vom Zusammenleben mit anderen profitieren. Bei Menschen in einer engen Beziehung heilen Wunden schneller, sie werden seltener krank, sind weniger anfällig für Depressionen und Ängste und haben sogar eine längere Lebenserwartung. Demografische Untersuchungen zeigen schon lange, dass Verheiratete im Schnitt gesünder sind und länger leben als Singles. Das Fehlen sozialer Beziehungen ist ein ebenso hohes Gesundheitsrisiko wie Zigarettenkonsum, hoher Blutdruck, Übergewicht und Bewegungsmangel. Abnehmen, regelmäßige körperliche Aktivität, das Rauchen aufgeben – das alles dient der Gesundheit. Ebenso nützlich für das Wohlbefinden ist es zudem, einem Verein beizutreten oder sich einer intakten Dorfgemeinschaft anzuschließen.

Aber zahlreiche Häuser in deutschen Dörfern sind verwaist, es gibt Leerstandsquoten zwischen fünf und vierzig Prozent. Die Jugend zieht in die strukturstarken Gegenden, Dörfer überaltern und drohen auszusterben. Dabei sehen sich Städte gezwungen, Mietpreisbremsen einzuführen, und können nur tatenlos zusehen, wie die Immobilienpreise mit jährlichen Wachstumsraten durch die Decke gehen, während gleichzeitig auf dem Lande die Häuser leer stehen. Deshalb ist es mehr als verwunderlich, dass Landflucht, überalterte Gesellschaften und ungenutzter Wohnraum viele ländliche Regionen prägen. Aber dies scheint sich derzeit zu ändern, die Pandemie führt zu einer steigenden Nachfrage nach Immobilien auf dem Lande.

Neben politischen Neuausrichtungen und damit verbundenen mutigen neuen Schritten, die unternommen werden müssen, trägt die Gesellschaft selbst dafür ebenso Verantwortung. Unbestritten ist, dass das Leben auf dem Lande nicht nur das Einpflanzen von irgendwelchen Ziersträuchern bedeutet oder das Nachkochen überlieferter Marmeladenrezepte. Denn eines ist klar: Ohne Eigeninitiative und Eigenantrieb funktioniert gesundes Landglück nicht. Es bedeutet stetiges und ständiges Daran -Arbeiten. Dass es auf das Engagement des Einzelnen ankommt, zeigt das Beispiel von ländlichen Regionen, in denen junge Dorfgemeinschaften hervorragend zusammenleben und florieren, während nur wenige Kilometer entfernt veraltete Dörfer mit leer stehenden Häusern das Bild prägen.

Es mag vermessen klingen: Ein Beitrag zur Lösung gesellschaftlich bedeutsamer Themen wie der Klimakrise könnte aus der Corona-Epidemie erwachsen, und zwar in Form einer Stärkung des Landlebens. Dabei spielt die Landwirtschaft eine bedeutende Rolle, die vor ganz neuen Herausforderungen steht. Die Probleme Klimawandel, Ernährung und Gesundheit oder die Weiterentwicklung ländlicher Räume werden ohne die Landwirtschaft nicht zu lösen sein. Die Wissenschaft ist sich weitgehend einig, dass die Klimakrise für die Menschheit weit bedeutender und gefährlicher ist als die Corona-Pandemie. Was wäre wohl, wenn man dort ein ähnlich einschneidendes Engagement aus der Politik erfahren würde? Die Stärkung der ländlichen Region durch den Ausbau von Internet-Autobahnen, kreativer Nutzungskonzepte für leer stehende Häuser, durch die Stärkung regenerativer Mobilitätsmöglichkeiten sowie die Weiterentwicklung der gesundheitlichen Versorgungsstrukturen sind notwendige Schritte, um die Gesellschaft in dem jetzigen Prozess der Neuorientierung zu unterstützen. Noch nie war die Bereitschaft für Veränderung so groß wie heute. Wissenschaft und Politik können uns dafür zwar die Basis schaffen, das Problem als Ganzes jedoch können nur wir als Gesellschaft gemeinsam lösen.

Dieses Buch ist keine systematische, wissenschaftliche Abhandlung und hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Ich habe mir als Autor des Buches immer die Freiheit genommen, Themengebiete auszuwählen, die uns Landeier stark beschäftigen, die Dörfer umtreiben und mit denen wir konfrontiert sind. Das Buch soll keinesfalls mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommen, und schon gar nicht das Stadt- und Landleben gegeneinander ausspielen. Es möchte vielmehr für Land und Dorf sensibilisieren, es will informieren und den Bogen über wissenschaftliche Erkenntnisse zum realen Dorfleben schlagen.

Kapitel 1: Kindheit auf dem Lande

Dinge, die kein Stadtkind kennt

Ach, die unbeschwerte Kindheit auf dem Lande verursacht in unserer Vorstellung und Fantasie Gänsehaut: Abenteuer, Natur entdecken, Spielen ohne Kontrolle, Freiheit ohne Grenzen, unendliche Weiten, Wild- und Haustiere, Entdeckungstouren und so weiter. Der Gedanke daran erzeugt romantisierende, sehnsüchtige Bilder, die Klassiker wie »Michel aus Lönneberga«, »Wir Kinder aus Bullerbü«, »Heidi« oder »Fünf Freunde« bedienen und nicht selten bis in das Erwachsenenalter für das Landleben schlechthin stehen. Stadtkinder – so das Klischee – sind die weltgewandten Coolen, Dorfkinder die von der Außenwelt abgehängten Landeier.

Jenseits allen Schwarz-Weiß-Denkens und abgesehen von den zahlreichen Klischees gibt es einige Dinge, die man als Kind nur machen kann oder nur kennt, wenn man auf dem Land aufgewachsen ist, so zum Beispiel:

- durch das wenige Streulicht viel mehr Sterne als in der Stadt sehen

- als Mutprobe an den Stromzaun fassen

- endlose Weiten und Wege erkunden und jede Abkürzung kennen

- mit dem Zelt im Garten übernachten

- Lagerfeuer machen

- Baumhäuser und Waldhütten bauen

- eine Astschaukel bauen

- auf Bäume klettern (und auch mal runterfallen)

- vom Bauern gejagt werden, weil man versucht hat, eine Kuh umzuschubsen (was gar nicht funktioniert)

- durch das Mais- oder Kornfeld rennen oder dort Verstecken spielen

- auf einen Strohballen klettern

- im Bach oder Teich schwimmen gehen

- Milch und Eier frisch und direkt vom Bauernhof abholen

- Glühwürmchen fangen (oder sie überhaupt sehen)

- draußen spielen, bis man zum Essen gerufen wird

- Dorffeste, die Highlights des Jahres, feiern

- beim Kindergeburtstag Schnitzeljagden oder Schatzsuchen im Freien erleben

- fast jeden, der einem über den Weg läuft, kennen und ihn grüßen

- im Dorfladen des Bauernhofs das Obst und Gemüse erst testen dürfen, bevor es gekauft wird

- Früchte direkt vom Baum und Beeren direkt vom Strauch essen

Sicherlich hat sich die Art und Weise, auf dem Land aufzuwachsen im Vergleich zu vor einigen Jahrzehnten verändert. So machen die Landkinder von heute vermutlich nicht mehr die gleichen Dinge wie ich als Kind. Eine Entwicklung, an der neue Medien, Handys, Computer und das Internet ihren Anteil haben.

Wie bin ich auf dem Land aufgewachsen? Auf jeden Fall in dem meiner Meinung nach schönsten Dorfe der Welt: Lückert. Dieses Dorf mit heute 104 Einwohnern liegt im schönen Rheinland, umgeben von riesigen Wäldern, unzähligen Bächen und einer unberührten Natur.

Ob bei schönstem Sonnenschein oder bei starkem Regen – ich musste immer mit Freunden, Bruder und Schwester vor die Tür. Als wir erwachsen wurden, verstanden wir, dass Natur und menschliches Leben eins sind, und das bereits seit Jahrtausenden. Beide Bereiche sind voneinander abhängig, und stehen sie im Einklang, erzeugen sie Zufriedenheit, Glück und Ruhe. Trennung von der Natur bedeutet Entfremdung – und damit Stress! Der Jahreszeitenwechsel mitten in der Stadt kann nur schwer mit den eigenen Augen beobachtet werden, und lässt sich allein am Temperaturwechsel und dem Auf- und Abbau des Weihnachtsmarktes ausmachen. Meine Lieblingsjahreszeit ist der Winter, weil der Schnee die Landschaft verzaubert, der Klang sich ändert und alles so rein aussieht. Haben Sie jemals bemerkt, dass ein gesprochenes Wort in einem Schneegestöber ganz anders klingt als im Sommer, wenn die Sonne scheint?

In Lückert unternahmen wir Kinder regelmäßig Ausflüge in den Wald, die sich mal nur über den Nachmittag nach der Schule und manchmal über mehrere Tage erstreckten. Abenteuer schlechthin waren unsere Nachtwanderungen, Schatzsuchen oder Schnitzeljagden auf mehreren Hektar Land. Jeden Sommer campten wir viele Tage im Wald, wanderten und schwammen in den Seen. Und selbst wenn dies eine dumme Mutprobe war, haben wir natürlich auch Kuh- und Hühnermist probiert. Man hat grundsätzlich das Gefühl, dass die Uhr auf dem Lande langsamer läuft. Ich erinnere mich noch daran, wie erschöpft wir als Kinder waren, als wir die ganze Zeit in der freien Natur verbrachten, wie wir bequem und warm im Bett einschliefen. Fernsehen und Computer spielten bei uns keine Rolle. Ja, wir lebten nicht in der Hightech-Ära, aber wir waren reich, reich an Leben, reich an Erfahrung und reich an Kindheit.

Spielen im Dreck – wie Landkinder ihr Immunsystem schulen und dadurch weniger unter Allergien leiden

Kinder, die auf dem Land aufwachsen, insbesondere auf einem Bauernhof, gelten im Allgemeinen als gesünder, ausgestattet mit einem besseren Abwehrsystem und weniger anfällig für Allergien als vergleichbare Kinder, die in der Stadt groß werden. Neue Untersuchungen führen dies auf den Kontakt mit sogenannten Mikroben zurück, die das Immunsystem ankurbeln. Mikroben sind mikroskopisch kleine Organismen, die aus einzelnen Zellen oder Zellaggregaten bestehen. Sie kommen in der Erde, im Wasser, in der Luft und in oder auf anderen Organismen vor und sind demnach besonders in der Natur weit verbreitet. Millionen dieser Mikroorgansimen besiedeln unseren Körper, von denen einige krank machend und wiederum andere durchaus wichtig für die Gesundheit sind. Wir kennen sie vielleicht besser als Viren, Bakterien und Pilze. Es wird davon ausgegangen, dass eine übertrieben hygienische Lebensweise dem Immunsystem schadet und auf diese Weise Allergien leichter entstehen können und Städter häufiger davon betroffen sind als Landbewohner. Wie ist das zu erklären?

Neuere Studien lassen vermuten, dass bei der Entstehung von Allergien die Belastung mit Mikroorganismen eine Rolle spielt. Früher konnten sich Krankheitserreger leichter verbreiten, da man sich den Wohnraum mit Tieren teilte und folglich auch in unmittelbaren Kontakt mit deren Keimen und Bakterien kam. Hygiene und Sauberkeit standen zu damaligen Zeiten noch nicht in dem Maße im Vordergrund wie heute, und in Verbindung mit mangelnden sanitären Anlagen kamen nicht nur Land-, sondern auch Stadtbewohner anhaltend mit einer Fülle von Krankheitserregern in Kontakt. Heute tragen die hygienischen Verhältnisse dazu bei, dass der Gesundheitszustand der Bevölkerung im Vergleich zu damals bedeutend besser ist. Dennoch kann der Kontakt mit Mikroorganismen in einem gewissen Maß für das Immunsystem von Vorteil sein, insbesondere für Kinder. Denn im Normalfall ist das Immunsystem in der Lage, Bakterien, Viren oder Pilze gut abzuwehren und sich gegen Krankheiten zu verteidigen. Zwar spielen beim Immunsystem genetische Faktoren eine Rolle, es lässt sich aber dennoch trainieren. Denn jede neue Infektion führt zur Bekämpfung des neuen Erregers. Heute werden Kinder in allen Lebensbereichen tendenziell vor Schmutz und potenziellen Erregern abgeschirmt (Hygiene-Hypothese), sodass dem jungen Immunsystem das Training fehlt, neue Erreger zu bekämpfen. Je weniger Kinder mit verschiedenen Mikroben in Berührung kommen, desto schwächer ist das Immunsystem, da es nicht gelernt hat, diese erfolgreich abzuwehren. So kann es bei zunächst harmlos erscheinenden Einwirkungen aus der Umwelt, wie Pollen oder Tierhaaren, zu einer Überreaktion kommen, und das Abwehrsystem reagiert mit einer Allergie. Kinder, die auf traditionellen Bauernhöfen aufwachsen, sind in ständigem Kontakt mit Erregern, sei es über Tierkot, Heu oder Staub, wodurch das Immunsystem andauernd angeregt und stimuliert wird und besser vor Asthma, Heuschnupfen und allergischer Sensibilisierung geschützt ist. Infolge des steten Kontakts mit den Mikroorgansimen lernt das Immunsystem, diese zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren.1

Die wichtigsten Orte, an denen sich heutzutage das Immunsystem vor allem schult, das sind der Kindergarten oder die Kindertagesstätte sowie die Grundschule. Wenn meine Kinder aus dem Kindergarten nach Hause gekommen sind, dann hatte ich immer den Eindruck, dass mich jede Woche eine neue Tropenkrankheit heimsucht. Wenn viele Kinder zusammenkommen, begünstigt das den freien Austausch von Keimen, der für das Immunsystem von großer Bedeutung ist. Mit jeder Infektion lernt das Immunsystem fürs Leben. Ein Immunsystem, das nicht (mehr) lernt, ist ein schwaches System. In Corona-Zeiten mache ich mir zunehmend Sorgen, wie sich die Quarantänesituation und die deutlich reduzierten Kontaktzeiten unter den Kindern auf die Qualität des Immunsystems auswirken werden. Es fehlen etwa eineinhalb Jahre Immun-Schulung. Die Hoffnung bleibt, dass die Immunisierung später aufgeholt werden kann, aber sicher ist dies nicht, da der Keim-Kontakt besonders in den frühen Lebensjahren entscheidend ist.

Eine Studie mit über tausend Kindern aus der Schweiz, aus Österreich und Süddeutschland hat gezeigt, wie Kleinkinder, die früh mit Mikroben in Kontakt kommen, ihr Allergierisiko im Vergleich mit Kindern, die in relativ sterilen Umgebungen aufgewachsen sind, minimieren. Der frühzeitige Kontakt mit Tieren und deren Futter sowie der Konsum von unverarbeiteter Kuhmilch wurden als wirksame Schutzexpositionen identifiziert. Bei Kindern mit einer Allergie, wie Asthma oder allergische Rhinitis, war der Kontakt mit Endotoxinen (Zellmembranbaustein von Bakterien) in der Wohnung deutlich geringer als bei Kindern ohne Allergie. In dieser Studie wird ebenfalls der Aspekt aufgegriffen, dass jegliche Infektionen im frühen Kindesalter vor allergischen Erkrankungen schützen könnten: Das Risiko von Kindern, die in ihrem ersten Lebensjahr in einer Krippe waren, wiesen ein geringeres Risiko für Allergien auf als Kinder, die gar nicht oder erst nach ihrem ersten Lebensjahr in die Krippe gingen.2 Bereits in früheren Studien wurde gezeigt, dass bei Kindern, die auf Bauernhöfen heranwachsen, das Allergierisiko durch einen häufigeren Endotoxin-Kontakt geringer ist. Eine Studie mit 2283 österreichischen Kindern zeigte, dass die Anfälligkeit für zum Beispiel Heuschnupfen bei Stadtkindern dreimal höher ist als bei Kindern, die auf dem Bauernhof aufwachsen (10,3 Prozent gegenüber 1,3 Prozent). Die Anfälligkeit für Asthma lag bei 1,1 Prozent unter den einbezogenen Landkindern gegenüber 3,9 Prozent der Stadtkinder. Interessanterweise blieben die Unterschiede zwischen Stadt- und Landkindern auch unter Einbezug weiterer Faktoren, wie etwa Veranlagung, signifikant.3

Forscher haben in zwei Querschnittstudien, Kinder, die auf Bauernhöfen leben, mit denen einer Referenzgruppe derselben Region im Hinblick auf das Auftreten von Asthma und einer Atopie (direkt einsetzende allergische Reaktion) sowie in Bezug auf die Diversität der mikrobiellen Exposition miteinander verglichen. In beiden Studien hatten die Bauernhokinder ein geringeres Auftreten von Asthma und Atopie. Darüber hinaus waren sie einer größeren Vielfalt von Mikroorganismen, also mehr Umweltpilzen und -bakterien ausgesetzt, sogar in Innenräumen. Die größere Vielfalt mikrobieller Umweltexpositionen stand umgekehrt mit den Asthmadiagnosen im Zusammenhang, aber nicht mit der Atopie. Mit diesen Ergebnissen wird die These unterstützt, dass der Kontakt mit einer Vielzahl von Mikroben in Verbindung mit dem Schutz vor der Entwicklung einer Asthmaerkrankung steht.4

Die niedrigere Häufung allergischer Erkrankungen in ländlichen Gebieten im Vergleich zur Stadtbevölkerung wurde in einer weiteren Studie als Hinweis auf einen Effekt durch die Luftverschmutzung interpretiert. Demnach sollte untersucht werden, inwiefern Kinder, die auf einem Bauernhof aufwachsen, für gewöhnliche Aeroallergene (Inhalationsallergene, die über die Atmung aufgenommen werden, wie beispielsweise Haselnussallergene) sensibilisiert wurden und an allergischen Krankheiten leiden, im Vergleich zu Kindern, die in denselben Dörfern, aber in nicht-landwirtschaftlichen Familien leben. Hierfür wurden drei Altersgruppen von Schulkindern (6–7 Jahre, 9–11 Jahre, 13–15 Jahre), die in drei ländlichen Gemeinden leben, in die Analysen miteinbezogen. Das Ergebnis: Bauernhofkinder hatten deutlich weniger Niesattacken während der Pollensaison. Das heißt, Faktoren, die direkt oder indirekt mit der Landwirtschaft zusammenhängen, verringern das Risiko, dass Kinder eine Allergie-Neigung und Symptome eines allergischen Schnupfens (allergische Rhinitis) entwickeln.5

Inzwischen wurde auch gezeigt, dass Stadtkinder nicht nur häufiger unter Asthma, Ekzemen und Heuschnupfen leiden als Landkinder, sondern auch öfter von Nahrungsmittelallergien betroffen sind. Dies ergab 2012 eine Studie in den USA, in der Gesundheitsauskünfte von ungefähr 40.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von bis zu 18 Jahren gesammelt und analysiert wurden. So reagierten 9,8 Prozent der Stadtkinder und 6,2 Prozent der Landkinder allergisch auf manche Lebensmittel. Von einer Erdnussallergie waren 2,8 Prozent der Stadt- und 1,3 Prozent der Landkinder betroffen. Bei Meeresfrüchten lagen die entsprechenden Unterschiede bei 2,4 gegenüber 0,8 Prozent. Hinsichtlich einer Milch- oder Sojaallergie zeigten sich keine Unterschiede zwischen Stadt und Land, ebenso wenig bei der Schwere der Allergieverläufe.6 Noch immer sind die zugrunde liegenden Ursachen für die Unterschiede nicht gänzlich geklärt. Neben der bereits erwähnten Hygiene-Hypothese vermuten Forscher, dass auch der verkehrsbedingte Feinstaub in Städten mitverantwortlich für eine höhere Allergenexposition sein könnte. Feinstaub, der generell eine negative Auswirkung auf die Gesundheit hat, wird in Verbindung mit Pollen zu einer noch gefährlicheren Belastung. Die schädlichen Feinstaubpartikel werden von den Pollen in der Luft »eingesammelt« und machen sie damit aggressiver. Folglich verstärkt sich auch die allergische Reaktion.

Dass Landkinder über ein besseres Immunsystem verfügen, zeigte eine Studie aus dem Jahr 2018, bei der nachgewiesen werden konnte, dass Landbewohner Stresssituationen durch die in unmittelbarer Nähe lebenden Nutztiere auf immunologischer Ebene deutlich besser kompensieren konnten. Dies war bei Männern der Fall, die in etwa bis zur Pubertät auf Höfen mit Nutztierhaltung aufgewachsen sind. Sie konnten im Vergleich zu Männern, die in Städten ab 100.000 Einwohnern aufwuchsen und in keinem direkten Kontakt zu Tieren lebten, Stress insgesamt besser verarbeiten. Um dies herauszufinden, wurden 40 gesunde männliche Probanden einem Test unterzogen, bei dem sowohl Stresshormone als auch immunologische Parameter erhoben wurden. Der Test in Form eines standardisierten Laborexperiments, genannt Trier-Social-Stress-Test, bestand aus einer fiktiven Bewerbungssituation, in der die Teilnehmer immer wieder aufs Neue unter Druck gesetzt wurden, indem sie dabei zusätzlich Kopfrechenaufgaben lösen mussten. Bei Fehlern mussten die Probanden von vorn beginnen. Zur Messung wurden zu Beginn und am Ende des Verfahrens Blut- und Speichelproben entnommen, damit bestimmte Immunzellen (zum Beispiel mononukleäre Zellen des peripheren Blutes) oder Stressparameter wie Cortisol erhoben werden konnten. Das Ergebnis war, dass die Landbewohner im Test zwar einerseits höhere Stresswerte (sowohl beim basalen Stresshormonlevel als auch beim abgefragten subjektiven Stressempfinden) zeigten als die Großstädter, dabei ließ sich aber das Immunsystem der Landbewohner nicht im gleichen Ausmaß zu einer Reaktion verleiten wie das der Großstädter. Bei den Probanden, die in der Großstadt ohne Kontakt zu Tieren lebten, war sowohl der stressinduzierte Anstieg der mononukleären Zellen des peripheren Blutes größer als auch die Werte des Entzündungsmarkers Interleukin 6, die länger erhöht blieben. Darüber hinaus konnte in der Studie gezeigt werden, dass die Landbewohner Stress besser verkraften. Dies wurde anhand der Ausschüttung von Interleukin 10 untersucht, das eine antientzündliche Wirkung hat. Es kam heraus, dass nach dem Stresstest die Abgabe dieser Substanz bei den Stadtbewohnern deutlich verringert war, nicht aber bei den Landbewohnern.7 Der Ulmer Psychoneuroimmunologe Stefan Reber erklärt dazu, dass überschießende Immunantworten für die Gesundheit ein Problem seien, weil diese häufig zu chronischen Entzündungsreaktionen führen würden. Diese Prozesse würden etwa bei der Entstehung von Asthma und allergischen Erkrankungen eine Rolle spielen und das Risiko für psychische Erkrankungen wie Depression und Posttraumatische Belastungsstörungen erhöhen. Es sei ohnehin länger bekannt, so Reber, dass die Anfälligkeit für Asthma und Allergien sowie für psychische Erkrankungen für Großstädter überdurchschnittlich hoch sei. Dabei spiele der fehlende Kontakt zu bestimmten Bakterien eine wesentliche Rolle.8

Es wurde auch untersucht, wie sich neben den Einflüssen durch die Landwirtschaft das Trinken von Rohmilch im Kindesalter speziell auf die Lungenfunktion auswirkt. Dazu wurden 3061 Erwachsene untersucht, die in landwirtschaftlich geprägten Regionen aufgewachsen sind. Das Ergebnis: Das Trinken von Rohmilch in der Kindheit konnte mit einer besseren Lungenfunktion in Verbindung gebracht werden. Dies ist zwar eine neue Erkenntnis, doch der Verzehr von Rohmilch wurde bereits in den 1970er-Jahren eingeschränkt, da sie eine Vielzahl an Krankheitserregern enthält und insbesondere bei einem schwachen Immunsystem gesundheitsgefährdend sein kann.9

Die Ergebnisse dieser Studien sind vor dem Hintergrund weltweit steigender Prävalenzzahlen allergischer Erkrankungen besonders interessant. An einer Allergie erkranken in Deutschland im Laufe ihres Lebens mehr als dreißig Prozent der Erwachsenen und mehr als zwanzig Prozent der Kinder. Bei Kindern sind Jungen häufiger betroffen als Mädchen, bei Erwachsenen sind Frauen (35 Prozent) häufiger betroffen als Männer (24 Prozent). Allergien sind, wie auch andere Erkrankungen, mit erheblichen Einbußen der Lebensqualität verbunden.10 Zudem können Lebensmittelallergien, insbesondere (Erd-)Nussallergien, tödlich enden. Indem Kinder also immer mehr in allzu reinlichen, teils in einem nahezu klinischen Umfeld aufwachsen, wird dem Immunsystem verwehrt, anhand von Erregern zu trainieren und stärker zu werden. Die Intention, durch allzu saubere Verhältnisse die Kinder zu schützen, kann langfristig genau das Gegenteil bewirken und sie eher anfällig für Umwelteinflüsse machen. Die Konsequenz sollte nicht sein, Kinder nicht mehr zu waschen oder sie unkontrolliert mit Dreck in Kontakt zu bringen als eine Art »Impfung durch Dreck«. Der förderliche Effekt mancher Mikroben auf das Immunsystem lässt sich nicht ohne weiteres auf Kinder, die nicht auf einem Bauernhof aufwachsen, übertragen. Denn sofern bereits eine Allergie besteht, kann ein Aufenthalt im Stall oder auf dem Bauernhof auch nachteilig sein. Völlig normal und unbedenklich ist aber, dass Kinder sich beim Spielen auch mal eine Portion Sand genehmigen.

Naturerfahrung in der Kindheit –kreative und kognitive Schulung

»Während die moderne Lebenswelt nicht genügend Freiräume für eine gesunde Entwicklung von Körper und Geist bietet, ist die Natur für Kinder ein idealer Entwicklungsraum«, so der Hirnforscher Gerald Hüther, der sich dafür ausspricht, »Kinder möglichst viel Zeit draußen verbringen zu lassen und so das spielerische Erkunden in der Natur zu fördern.«11

Und deshalb klage ich an: dass sich die Lebensumwelt der Kinder so verändert hat, dass sie sich immer mehr von der Natur entfremden und man ihnen damit etwas Bedeutendes wegnimmt oder verwehrt. Gezeigt hat dies auch der Jugendreport Natur von 2016 (1253 befragte Schüler der Klassenstufen sechs bis neun). Das Wissen über die Natur nimmt stark ab, und immer mehr Jugendliche (hier 57 Prozent der Befragten) nutzen mindestens drei Stunden am Tag Handy, Tablet, PC, Konsole oder Fernseher. Auch hier zeigten sich Unterschiede zwischen Stadt und Land: Jugendliche, die häufig in der Natur unterwegs sind oder auf dem Land leben, haben eine engere Beziehung zur Natur und verfügen über ein größeres Naturwissen. Dass die Aufenthalte in der Natur und die dabei erworbenen Kenntnisse immer mehr abnehmen, liegt nicht ausschließlich an den neuen Medien; auch die Eltern tragen zu dieser Entwicklung bei. Während jedes zweite Landkind sich unbeaufsichtigt in der Natur aufhalten darf, kann die Mehrzahl der Stadtkinder nur nach draußen, sofern sie ein Mobiltelefon, einen Erwachsenen oder Freunde mit im Gepäck haben.12

Noch vor einigen Jahrzehnten war das Entdeckungsland Natur für Kinder ein wichtiger und vollkommen selbstverständlicher Bestandteil ihres Alltags. Abseits von Zäunen, Begrenzungen, abgetrennten Spielplätzen und Straßen waren Mädchen und Jungen nahezu bei jedem Wetter draußen. Nicht ohne Grund bedeutet Kindheit für Erwachsene in der sehnsuchtsvollen Rückschau eine Zeit ohne Stress, Druck und Aneinanderreihungen von Terminen, eine Zeit des sorglosen Spiels im Freien. Das soll keinesfalls bedeuten, dass früher alles besser gewesen sei, allerdings ist es so, dass das kindliche Alltagsleben heute oftmals genauso durchgetaktet ist wie das eines Erwachsenen. Neben Zeit- und Termindruck wachsen, wie bereits erwähnt, der Medienkonsum und die Ängste der Eltern vor den Gefahren in der Natur. Mit einem gestiegenen Verkehrsaufkommen (sowohl in Städten als auch Dörfern) und einer veränderten Raumnutzung (mehr Wohn- und Arbeitsflächen) werden der Bewegungsspielraum sowie der Platz freier Spielflächen für Kinder zunehmend eingeschränkt. In einem bewegungsarmen Umfeld mit vorgegebenen Terminen bleibt wenig Zeit übrig, um eigenständig und frei spielen zu können, was wesentlich zur zunehmenden Entfremdung von der Natur mit beiträgt. Die Kindheit verlagert sich nach drinnen.13

Im Folgenden möchte ich darauf eingehen, warum Naturerfahrungen in der Kindheit beziehungsweise für die kindliche Entwicklung so bedeutsam sind und welche Auswirkungen sie auf die motorischen, kognitiven und kreativen Fähigkeiten haben. Dies zu verdeutlichen erscheint umso wichtiger, da es, so der Physiker und Natursoziologe Rainer Brämer, hierzulande nur ein geringes Bewusstsein für die Naturentfremdung der Kinder gebe. Die Literatur zur Kleinkindentwicklung liefert Hinweise darauf, dass die Natur eine wichtige Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern spielt und insofern psychisch wirksam ist. Der Erziehungswissenschaftler Ulrich Gebhard:

”Der psychische Wert von »Natur« besteht u. a. in ihrem ambivalenten Doppelcharakter: Sie vermittelt die Erfahrung von Kontinuität und damit Sicherheit, und zugleich ist sie immer wieder neu.14

Das traditionelle zweidimensionale Persönlichkeitsmodell, in dem sich die Persönlichkeitsstruktur durch die Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen ausbildet – etwa das sogenannte Urvertrauen von Kindern in den ersten Lebensjahren –, wäre daher, wie Gebhard vorschlägt, um die psychodynamische Bedeutung nichtmenschlicher Natur (Dinge, natürliche Umwelt) als dritte Beziehungskomponente zu erweitern. Naturbeziehungen führen zu Naturerfahrungen, die zugleich immer auch Kulturerfahrungen sind, da es sich bei der Natur in der Regel um vom Menschen geformte Natur handelt. Eine möglichst facettenreiche Reizumgebung wirkt sich positiv auf die Gehirnentwicklung und die psychische Entwicklung von Kindern aus. Eine Reizumwelt, die sich durch eine relative Kontinuität und durch Wandel auszeichnet, in der Neues auf Vertrautes trifft, ist die naturnahe Umgebung. »Eine solche ›reizvolle‹ Umgebung«, so Gebhard, »lädt ein zur Exploration, zur Erkundung, weil sie neu und interessant ist und eben zugleich vertraut.« Ebenso kann sie Abenteuer- und Freiheitssehnsüchte befriedigen, wirkt dem Übermaß an Medienkonsum, »Verhäuslichung« und der organisierten Kindheit zumindest ein Stück weit entgegen und fördert ein komplexes, kreatives und selbstbestimmtes Kinderspiel. Gebhard zufolge kann zwar nicht davon gesprochen werden, dass es ein dem Kind innewohnendes »Naturbedürfnis« als anthropologische Konstante gibt, dass aber die Natur beziehungsweise Naturerfahrung »den eigentlich widersprüchlichen Forderungen nach sicherer Vertrautheit einerseits und ständiger Neuigkeit andererseits sehr gut entspricht« und viele »kindliche Anliegen nebenbei und ohne pädagogisches Arrangement ausgelebt werden können«. Der Erfahrungsraum Natur erhält in der spielerischen Auseinandersetzung eine persönliche, subjektivierende Bedeutung und wird hierdurch zu einer erlebnisbezogenen Sinninstanz, mit der Wohlbefinden und Glücksmomente verbunden sind. Zugleich werden die Objekte in der Natur mit symbolischen Deutungen und Bedeutungen aufgeladen, wodurch äußere Objekte zu inneren werden. Dieses Symbolsystem beeinflusst auch das eigene Selbst und wirkt daher identitätsbildend. In diesem Sinne wird die Erfahrung des »Naturschönen« zu einer wichtigen Bedingung für das Gelingen eines »guten Lebens«.15

Wie eingangs erwähnt, plädiert der Hirnforscher Gerald Hüther dafür, dass Kinder so viel Zeit wie möglich draußen verbringen. In einem Interview spricht er über den idealen Entwicklungsraum Natur:

Weil sie lebendig ist, wie die Kinder selbst, sich ständig verändert und mit allen Sinnen wahrgenommen werden kann. Dort haben Mädchen und Jungen ausreichend Platz, um neue Bewegungen auszuprobieren – rückwärtslaufen, klettern, hüpfen, schwimmen. Sie treffen auf Widerstände, an denen sie wachsen können. Etwa, wenn sie über einen Baumstamm balancieren, in Wipfel klettern, so hoch wie sie sich trauen, oder über einen Bach springen. So werden sie von Mal zu Mal geschickter, bewegen sich immer sicherer, lernen sich selbst und ihre Möglichkeiten immer besser kennen. Gerade kleine Kinder beziehen allein aus solchen motorischen Erfolgserlebnissen viel Selbstbewusstsein. Sie brauchen das Abenteuer – und sie suchen es. Es ist Ausdruck ihrer angeborenen Entdeckungs- und Gestaltungslust.16

Er plädiert nicht dafür, Kinder den von der Natur ausgehenden Gefahren auszusetzen, die das Sicherheitsbedürfnis der Eltern triggern und sie dazu veranlassen, ihre Kinder nicht nach draußen zu lassen, um sie davor zu beschützen. Doch Kinder würden in der Natur auf die spätere Lebenswelt vorbereitet werden, indem sie in der Natur aus »wohldosierten Risiken« lernen und an ihnen üben können. So hilft es Kindern, nicht nur ihre Motorik zu schulen, sondern auch ihre Selbstsicherheit. Beim Klettern, Hüpfen, Springen und beim Rennen fallen die Kinder ohne weiteres auch mal hin oder schrammen sich das Knie auf. Oder beim Erkunden der Umwelt macht das Kind eine lehrreiche Erfahrung: Wenn es zum Beispiel an eine Brennnessel fasst und die Haut darauf reagiert, wird es dies wohl kaum noch einmal tun. Mit der eigenständigen Erkundung sammeln die Kinder Erfahrungen. Darüber hinaus werden Kognition und Kreativität angeregt. In der Natur, in der sich ständig alles verändert, sich bewegt und nichts gleich bleibt, können die Kinder viel entdecken und ausprobieren und ihrem natürlichen Drang nach Bewegung, Neugier und Fantasie gerecht werden. »Kleinkinder«, so Hüther, »geraten bis zu 50-mal am Tag in neugieriges Staunen.« Auf dem Spielplatz, bei Computerspielen oder Spielzeugen ist den Kindern meist vorgegeben, was sie machen können oder sollen. In der Natur dagegen werden sie selbst erfinderisch, und dabei werden alle Sinne aktiviert. Der Wald bietet eine besonders gute Atmosphäre, um den kindlichen Erfinder- und Entdeckergeist zu animieren. Jedes Spiel, von der Umleitung eines Bachlaufs über das Bauen einer Waldhütte bis hin zum Suchen nach Baum- und Buschfrüchten und unendlich vielem mehr, ist eine Form der Kreativität, die das Gehirn fordert und ein gutes Gefühl mit sich bringt. Mit jeder neuen Idee wird das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert, was zur Ausschüttung spezieller Botenstoffe führt und sich folglich positiv auf die Motivation auswirkt. Mit der gleichzeitigen Vernetzung der Nervenzellen läuft der Prozess des Lernens unter freudvollem Tun und Spaß mit und bestärkt den intrinsischen Antrieb, etwas zu bewirken und sich weiter auszuprobieren.

Dies lässt sich auch gut mit dem Flow-Erleben veranschaulichen. Die Möglichkeit, sich und die Welt im Spiel zu entdecken, kann zu einem Flow- und Kohärenzgefühl führen, also einem Moment im Hier und Jetzt, der höchsten Konzentration auf eine Beschäftigung und der Selbstvergessenheit. Ein Glücksmoment! Im Gehirn werden Botenstoffe ausgeschüttet und neuronale Netzwerke erweitert und gefestigt. Ein solcher Zustands bewirkt Freud- und Glücksgefühle und bestärkt Kinder in ihrem eigenen Erleben.17

Für die neuronale Entwicklung – so zeigen Studien – ist eine Umgebung, die vielfältige Reize hervorbringt, von großer Bedeutung. Solche Reize können der Kontakt zu Tieren sein, wechselnder Wind, Gerüche, Temperaturen, Lichteffekte oder verschiedene Umrisse, die die Fantasie anregen. Bei Kindern, die in einer reizarmen Umgebung aufwachsen, zeigt sich der präfrontale Kortex weniger komplex vernetzt. Dieses Hirnareal ist dafür verantwortlich, Handlungen zu planen, Konsequenzen abzuschätzen, Empathie zu bilden und Aggressionen besser zu kontrollieren.18

Nicht jedes Kind kann auf dem Land aufwachsen und hat die Natur quasi vor der Haustür. Da die Naturerfahrung aber einen elementaren Bestandteil für eine gesunde kindliche Entwicklung darstellt, sollte das Draußenspiel auch Stadtkindern ermöglicht werden, indem es in Kindergärten und Ganztagsschulen mitberücksichtigt und angeboten wird. Während Naturbegegnungen früher ganz nebenbei und alltäglich stattfanden, müssen sie heutzutage organisiert werden.

Empirische Belege sind zwar noch mau, dennoch bieten Natur- bzw. Waldkindergärten eine gute Alternative, wenn man nicht auf dem Land wohnt. Hier findet alles im Freien statt; egal zu welcher Jahreszeit wird die Natur bei jedem Wetter zum Erfahrungs- und Erlebnisraum. Die Kinder sollen in ihrem Tempo die Natur erkunden und über alle Sinne wahrnehmen, Naturmaterial kennenlernen, ihrem natürlichen Bewegungsbedürfnis nachkommen und sich im Umgang mit Pflanzen und Tieren üben. In Erfahrungsberichten und Befragungen von Eltern wurde benannt, dass sich das Wissen der Kinder über die Natur verbessere, unter ihnen weniger Konflikte bestünden, sie gleichzeitig konzentriert und emotional ausgeglichener seien, die Kinder seien weniger anfällig für Erkrankungen, die Motorik verbessere sich und sie seien kreativ gefordert. Kurzum gaben die Eltern jene Aspekte an, die Kinder durch die Naturerfahrung beim Aufwachsen auf dem Land automatisch auf ihren Lebensweg mitbekommen.

In einigen Studien mit kleinen Stichproben konnten Hinweise für positive Einflüsse auf Konzentrationsfähigkeit, Krankheitsresistenz, Sozialverhalten, Motorik und Kreativität nachgewiesen werden.

Verschiedene Studien zeigten, dass Kinder eines Naturkindergartens gegenüber Kindern eines konventionellen Kindergartens eine höhere Konzentrationsfähigkeit aufwiesen sowie mehr Ausdauer und Motivation später in der Schule zeigten. Sie ließen sich vergleichsweise weniger leicht ablenken, konnten besser zuhören und sich konzentrieren, befolgten problemloser Anweisungen und wirkten weniger rastlos und frustriert.

Hinsichtlich der Krankheitsresistenz wurde herausgefunden, dass es im Regelkindergarten mehr Krankheitsfälle als im naturnahen Kindergarten gibt. In Studien mit Kreativitätstests und -übungen zeigten die Kinder mehr Ideen, Ausdauer im Spielen ohne Hilfsmittel und kreativeres Basteln als ihre Mitstreiter. Dies ergaben nicht nur die Auswertungen der Tests, sondern auch die Bewertungen der Lehrpersonen und der Eltern. Ähnliche Beobachtungen konnten im Sozialverhalten gemacht werden.

In der Motorik zeigte sich in den verschiedenen Studien, dass es bezüglich der Feinmotorik (Stifthaltung, Hand- und Fingergeschicklichkeit etc.) zwischen dem Natur- und Regelkindergarten keine großen Unterschiede gab. Allerdings schnitten Naturkindergartenkinder in der grobmotorischen Entwicklung – etwa in Sachen Bewegungsgeschicklichkeit und Ausdauer – besser ab. Zudem machten Kinder in Waldkindergärten vor allem schnellere Fortschritte in ihrer motorischen Entwicklung, wenn sie fünf Tage die Woche die Einrichtung besuchten.19