Und jetzt bin ich hier - Jessica Andrews - E-Book
SONDERANGEBOT

Und jetzt bin ich hier E-Book

Jessica Andrews

0,0
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Rau, intim und authentisch.« -The Sunday Times  Lucy ist wie so viele junge Frauen, die ihren Schulabschluss frisch in der Tasche haben und in die Städte dieser Welt ausströmen: neugierig, was die Zukunft wohl bringt, voll Hunger nach Leben, beflügelt – und auch ein bisschen überfordert.  Zwischen Uni und Nebenjob gibt sie sich in London dem Rausch der Großstadt hin, trifft sich mit Männern, tanzt die Nächte durch. Doch die Vergangenheit lässt sie nicht los: Die Trennung ihrer Eltern und die Herkunft aus der Working Class haben aus ihr einen vorsichtigen Menschen gemacht. Der pralle Alltag und die alles überstrahlende Euphorie fordern zudem ihren Tribut. Als Lucys Großvater stirbt, nutzt sie die Chance und steigt aus: In seinem Cottage an der irischen Küste betrachtet sie das Mosaik ihres Lebens und versucht herauszufinden, wo ihr Platz im Leben sein könnte. Ein schillernder, sinnlicher und herzergreifend ehrlicher Roman über eine junge Frau in einer Welt voller Erwartungen und Begehrlichkeiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 349

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Jessica Andrews

Und jetzt bin ich hier

Roman

Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger

Hoffmann und Campe

Für meine Mam: eine Ahnung

Inhalt

Prolog

Erster Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

Zweiter Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

Dritter Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

Vierter Teil

1

2

3

4

5

6

7

Epilog

Danksagungen

Danksagungen der Übersetzerin

Biographien

Impressum

Prolog

Mit unseren Körpern fängt alles an. Haut an Haut. Mein Körper wird aus deinem geschleudert. Geschützt zusammen im violetten Dunkel gibt es gleich schon Raum zwischen uns. Ich bin nass und glänzend, wie Rote Bete, die in der Erde pulsiert. Schreie, schlucke, ringe nach Luft. Dein Bauch ist voller Wunden, deine geschwollenen dunkelroten Brustwarzen von Zahnabdrücken gezeichnet. Sie kommen von mir, und ich komme aus dir. Wir sind durch dunkle Ströme miteinander verbunden wie die Lava, die unter der Erdkruste fließt. In ständiger Bewegung. Unter der See eingeschlossenes Öl. Kostbare Flüssigkeit, die durch die Spalten sickert. Diese Liebe ist schwer, salzig, zäh, riecht nach Algen und Hefe. Der Schweiß hält uns am Leben, genau wie der herbe Geruch der Vagina, die nach Batteriesäure schmeckt, wie ich mir später von den Männern sagen lasse. Aber noch gibt es keine Männer. Noch haben wir unsere Geheimnisse für uns allein. Du drückst mich an deine Brust, und ich bin du und nicht du, und wir werden nicht immer zueinandergehören, aber in diesem Augenblick gibt es nur uns, und es herrscht Frieden. Ich steige nach oben und sinke nach unten, im Rhythmus deines Atems, in diesem Bett. Im Rosa sind wir sicher.

Erster Teil

1

Als mein Großvater starb, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Leiche. Bei seiner Totenwache saßen meine Mutter und ich zwei Tage lang im Bestattungsinstitut in Irland; es kamen Leute, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich setzte mich ganz nach hinten, weil ich das Gefühl hatte, das Blau seiner Augenlider würde sich in meine Haut bohren, wenn ich zu lange in seiner Nähe war.

 

Lebendig hatte ich ihn zuletzt im Krankenhaus gesehen. Beim Abschied hinterließ mein Kuss einen Abdruck auf seiner Wange. Ich trug leuchtendroten Lippenstift, der seine Haut grau aussehen ließ. Ich wollte den Abdruck mit dem Ärmel wegwischen, aber mein Großvater sagte:

»Ach, lass ruhig. Der Kuss bleibt da, bis du wiederkommst.« Ich griff nach seiner Hand, die auf dem glatten Laken zitterte.

2

Ich hatte in London gelebt, bevor ich nach Irland kam. Die nächtlichen Spiegelungen der bunten Lichter auf dem Fluss und die gut aussehenden Frauen in Plateausandalen hatten mich geködert, und ich hatte mir eine Zukunft mit Leinenbeuteln und Zimmerpflanzen ausgemalt. Ich glaubte, das sei das Leben, das ich mir wünschen sollte. Jede Nacht arbeitete ich in einer Bar und versuchte herauszufinden, wie ich es in diese Zukunft schaffen sollte.

3

Ich ging nicht noch mal ins Krankenhaus.

 

Bei der Totenwache suchte ich nach der Spur meines Kusses auf der Haut meines Großvaters.

 

Ich fand sie nicht.

4

London ist auf Geld und Ehrgeiz gebaut, und von beidem hatte ich nicht genug. Mir kam das Gewirr aus Telefon- und Oberleitungen, die die Stadt überspannten, wie ein Fischernetz vor, in dem Banker und nichtssagende »Kreative« gefangen saßen, an denen die Pfundnoten und holographischen Rucksäcke glänzten. Alles an mir war klein und schwach und unerwünscht. Ich rutschte durch die Löcher und hinunter in den tiefen Bauch des Ozeans. Ich stand hinter dem Tresen und beobachtete die Menschen. Ich nahm die Farbe ihrer Fingernägel wahr, den Duft ihres Parfüms und die Häufigkeit ihrer Toilettengänge. Sie bemerkten mich nicht.

5

Noch bin ich eine Möglichkeit. Farblos. Ohne Gestalt. Du kannst dir nichts so verbissen Kleines, verbissen Hungriges wie mich vorstellen. Die Trennung liegt in der Zukunft.

Da bist du, vor mir. Du bist eine Tochter, keine Mutter. Noch nicht. Und dennoch: Unsichtbare Dinge führen uns bereits zusammen, selbst hier. Lass dich in die zähflüssigen Nachmittage fallen, seine Hände überall auf dir. Lass dich zu mir hinfließen.

6

Mein Großvater stammte aus Glasgow. Als seine Geschwister und er klein waren, spielten sie schutzlos auf der Straße vor den Mietskasernen. Eines Tages ging ihr Vater in den Pub und kam nicht zurück. Kurz danach starb ihre Mutter, »an einem gebrochenen Herzen«, wie die Leute kopfschüttelnd zueinander sagten, über ihre Feierabendbiere gebeugt. Die Kinder wurden von Fremden und wohlmeinenden Verwandten hierhin und dorthin geschafft. Am Ende landeten sie im Waisenhaus, wo die Priester sie betatschten und küssten.

Es gab eine Tante, Auntie Kitty, die in einer kleinen Hafenstadt an der Westküste Irlands wohnte. Sie nahm die Kinder bei sich auf; sie schliefen bei ihren Tieren im Stroh, und der warme, süß riechende Mist klebte in ihren Kleidern und verfilzte ihnen die Haare. Sie liefen barfuß auf Feldwegen zur Schule und ritten die wilden Pferde ein, solange sie leicht genug waren und nicht abgeworfen wurden. Sie flitzten durchs hohe Gras und schwammen in der rauen See und lernten, wie man Feuer mit ölgetränkten Fidibussen aus Zeitungspapier machte und Kienspäne in der Sonne trocknete.

Bei Auntie Kitty war das warme Wasser streng rationiert. Jeder, der ihr Haus betrat, musste geweihten Sand über die linke Schulter werfen, um den Teufel fernzuhalten. Ihr Mann war Mitglied in der IRA, und auf dem Dachboden hielten sie radikale Sinn-Féin-Mitglieder versteckt. Im Frühling stapfte sie mit einer Schere durch den Garten und köpfte jede Blume, die es wagte, orangefarben zu blühen.

»Ich spring nur schnell aufs Pferd!«, rief sie, wenn sie ihr rostiges Fahrrad aus dem Flur ins Freie schob. Kitty hatte sich ihre Bildung selbst angeeignet, und sie brachte meinem Großvater Lesen und Schreiben bei und wie man die Sternenbilder am salzigen Nachthimmel erkannte.

Während seiner Jugend arbeitete mein Großvater als Gärtner, rückte den wild wuchernden Mammutblättern zuleibe, deckte Strohdächer und reparierte leckende Abwasserrohre. Als er alt genug war, setzte er genau wie alle anderen jungen Männer über nach England und suchte sich dort Arbeit. Er half beim Bau des Tyne-Tunnels und verbrachte seine Tage tief unter dem Meer, wo er Lichter installierte, damit die Fremden im Dunkeln sehen konnten.

Irgendwann verschlug es ihn nach Sunderland auf die klirrenden, rasselnden Werften. Er wohnte in einer Arbeiterpension, die von einer freundlichen Frau und ihrer klugen, hinreißenden Tochter geführt wurde. Er freundete sich mit Toni aus Italien an, der Kokain zum Frühstück aß und davon träumte, ein Café zu eröffnen, und teilte sich ein Zimmer mit Harry aus Londonderry, der Musik mit Löffeln machte und ein Kreuz auf die Brust tätowiert hatte.

Er mochte Johnny Cash, Pferderennen und Jameson’s Whiskey. Er trug immer einen Anzug, und in der Innentasche des Sakkos steckte eine Rolle Fruit Polos. An der See, bei Rost und Metall, fühlte er sich zu Hause.

7

Ich wohne in Burtonport, einem winzigen Fischerort im County Donegal an der irischen Nordwestküste. Der Weg dorthin führt durch die Blue Stack Mountains. Die Zeit verändert sich bei der Fahrt durch die Berge. Sie sind braun und beruhigend, wirken aber blau – je nach Licht fließen sie marine- oder indigoblau in die Täler.

 

Als ich ein Kind war, verbrachten meine Mutter, mein Bruder und ich sturmgepeitschte Augustferien in Donegal. Lagen die Berge hinter uns, waren wir sicher vor dem Tumult unseres Lebens zu Hause. Wenn wir in Burtonport ankamen, stellte meine Mutter ihr Nokia aus und legte es ins Handschuhfach. Sie stellte es erst wieder an, wenn der Sommer vorbei war und wir wieder auf die Autobahn fuhren.

 

Als Teenager flüchtete ich vor allem Behäbigen, Unbeweglichen und allen Brauntönen. Ich wollte glitzernde, zischende und sprudelnde Dinge. Jetzt wohne ich hier, unter dem Torfrauch und dem pennyfarbenen Himmel, und Braun bedeutet Sicherheit für mich. Ich kann hineinkriechen und Hände voller Erde schlucken.

8

Nachdem mein Großvater gestorben war, rief ich im Pub an, in dem ich arbeitete.

»Tut mir leid, Deborah, aber ich kann heute nicht kommen.«

»Was, Kleine?«

»Ich muss mal eine Zeit lang weg, glaube ich.«

»Noch mal? Die Verbindung ist so schlecht.«

»Ich muss zu einer Beerdigung nach Irland. Ich weiß nicht, wann ich wieder da bin.«

»Wer ist da?«

»Ich komme rein, wenn ich wieder in London bin.«

Das war meine Gelegenheit, und ich ergriff sie. Ich schrieb meinem Vermieter, er solle meine Kaution behalten. Ich stapelte meine Bücher in Kartons und verschenkte meine Kleidung. Ich nahm den Zug nach Norden zu meiner Mutter, wir stiegen ins Flugzeug und mieteten ein Auto, und jetzt bin ich hier.

9

Ich komme nur kriechend voran. Die Zukunft spult sich ganz allmählich ab. Langsam wachse ich in dir heran. Bin kaum mehr als eine Idee. Du kennst dich noch nicht, in so vieler Hinsicht, weißt noch nicht, dass dein Leben blauschwarz und schwer wie Knautschsamt-Ballen sein wird. All die kaputten Dinge in unserem Leben liegen noch vor uns, schön und unerkennbar.

10

Meine Mutter und ich haben das kleine Cottage aus Naturstein von meinem Großvater geerbt, am Meer liegt es, hinter den Blue Stack Mountains, inmitten von Mammutblatt und violetten Hortensien. Es wachsen wilde Kartoffeln und Klee, Katzen streunen herum. Wenn ich an der Küche aufs Dach klettere, kann ich über den zugewucherten Garten hinweg das Meer sehen.

Doch zunächst wurden wir von den Schimmelkolonien empfangen, die sich während der Abwesenheit meines Großvaters ausgebreitet hatten. Über Wände und Decken verteilt gab es überall feuchte Stellen, wie auf einem missratenen Pollock-Gemälde. Holzwürmer und Milben hatten Löcher in die Holzmöbel gefressen. Die Schubläden und Küchenschränke waren zugerostet, und im Kühlschrank stank es nach saurer Milch. In den Matratzen wimmelte es vor Ungeziefer.

In den Monaten vor dem Tod meines Großvaters war etwas zwischen mir und meiner Mutter zerbrochen. Sie war immer verlässlich und solide in meinem Leben gewesen, und plötzlich war sie nicht mehr da. Ich merkte, wie sie sich mir entzog. Es tat mir am ganzen Körper weh, meine Eingeweide waren überdehnt und wund. Liebe verwirrte mich: Wie sie einen zugleich einsperrte und befreite. Wie sie Menschen einander so nah brachte und dann voneinander abstieß. Dass man von Menschen geliebt und zugleich in dem Augenblick verlassen wurde, in dem man sie am meisten brauchte.

Als sie mich in London anrief, redeten wir über praktische Dinge: Wann die Beerdigung war und wie ich dort hinkommen würde. Auf der Fahrt vom Flughafen hörten wir Radio, und bei der Totenwache unterhielten wir uns mit den Freunden und Nachbarn meines Großvaters. Erst, als er unter der Erde und alle heim zu ihrem Brandy gegangen waren, blieben wir allein in seinem stillen Cottage zurück. Gefährlich scharf glänzte der Abstand zwischen uns. Wir saßen auf einem Stück Zeitung am Boden und sahen uns um.

»Was sollen wir bloß machen?«, fragte ich sie.

»Verbrennen«, antwortete sie und blies in ihren Tee.

»Was?«

»Wir werden alles verbrennen müssen.«

»Und wo?«

Sie zögerte. »Im Garten.«

»Alles?«

»Anders geht es nicht.«

Sie sah mich vielsagend an. Sie wollte mir etwas beibringen, so viel war mir klar, aber ich wusste nicht, ob ich es lernen wollte. Sie wollte, dass ich Dinge losließ, die nicht mir gehörten, aber ich verstand nicht, was mir gehörte und was nicht. Ich wusste nicht, wie viel von meiner Geschichte mir zustand, und wie viel Vergangenheit ich hinter mir lassen durfte.

Wir entzündeten einen riesigen Scheiterhaufen, und das Feuer brannte drei Tage lang. Wir warfen alles darauf: die Matratzen, die Bettgestelle, die Stühle, die Vorleger, die Kommode, die Geschirrhandtücher, den Schrank. Zettel, auf die er etwas gekritzelt hatte, rosa Wettscheine, alte Fotos, Tablettenschachteln und dicke Hornbrillen, sein Ersatzgebiss. Ich las vergilbte Briefe, die ich ihm früher mal geschickt hatte, und fand alte Weihnachtskarten zwischen dem Heizkörper und der Wand.

Als das Federbett in Flammen aufging, erschauderten wir, dann gingen wir mit dem Hammer auf den Esstisch los. Wir leerten Müllsäcke voller Socken und Unterhosen in die Flammen. Das Sofa sah ich am liebsten brennen. Aus dem Polster schlugen schartige Flammen, und der Holzrahmen stand einen Augenblick lang seiner Auflage beraubt nackt und schüchtern da.

Plastikqualm hing in den Bäumen.

»Dürfen wir das überhaupt?«, fragte ich meine Mutter.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie. »Aber es fühlt sich gut an, oder?« Sie drückte mir die Hand. Unsere Gesichter waren heiß von den Flammen.

Während sich das Feuer durch den Garten fraß, machten wir das Haus sauber, räumten die Regale leer und schrubbten die Waschbecken. Wir sangen bei den Shangri-Las und den Ronettes mit und putzten die Arbeitsflächen mit Scheuerpulver, bis sie weiß glänzten. Ich band mir als Schutz gegen den schwarzen Rauch ein Halstuch vor den Mund. Ich wollte nicht, dass sich kleine Flöckchen der Kleider und Möbel meines Großvaters in meiner Lunge absetzten.

»Wollen wir ein paar Kartoffeln im Feuer rösten, Luce, wie wär’s?«, scherzte Mam und stocherte mit dem Gehstock meines Großvaters in der Glut herum. Ich sah sie an. Ihre Stirn war mit Schlamm verschmiert. Ich hatte das Gefühl, als wäre das Scharfe zwischen uns etwas abgeschliffen, die Kanten rund gerieben. Sie lachte.

»Sieh mich nicht so an. Ist doch olles Zeug, aber echt.«

11

Die Überreste des Lebens meines Großvaters landeten auf unserer Kleidung und in unserem Haar. Sie klebten auf unserer Haut. Ich lernte, dass die schwebenden Glutstückchen »Feuerengel« genannt werden. Nach einem Hausbrand gelten sie als besonders gefährlich, weil sie den Brand von neuem anfachen können. Sie sind hauchdünn, aber sie glühen noch.

12

Als ich ein Kleinkind war, verbrachten meine Mutter, mein Vater und ich einmal einen Urlaub auf Teneriffa. Wir wohnten in einem Hotel für ausländische Touristen mit dem Namen »Hotel Toter Esel«. Es gab eine Kakerlakenplage; die Tiere krochen mit ihren harten, im Mondlicht glitzernden Panzern an den Wänden hoch, während wir schliefen.

Die Tage waren ein einziger Hitzetaumel mit Zöpfchenmachen und Mini-Milk-Eis am Stiel, herrlich kalt an meinen sonnenverbrannten Lippen. Ich liebte den Gummigeruch meines aufblasbaren Krokodils und den bitteren Geschmack des Salzwassers auf meiner Haut. Einmal waren wir am Strand. Ich lief in meinem weißen T-Shirt zum Meer, während meine Mutter und mein Vater auf den sandigen Handtüchern lagen und mir zusahen. Gegen die Sonne blinzelnd watete ich bis zur Taille ins Wasser. Die Wellen spritzten Tropfen auf meine Arme und Beine, in den Tropfen glitzerte die Sonne, und ich quietschte begeistert. Plötzlich war ein zorniges Knattern zu hören, und ich drehte mich um: Ein kleines Motorboot voll starker brauner Männer mit Fischermützen hielt direkt auf mich zu. Ich erstarrte vor Schreck und blickte hilfesuchend zum Strand. Mein Vater rannte auf mich zu und hinterließ große weiße Kreise im Wasser. Er riss mich hoch.

»Hey, mein Kind!«, brüllte er die Männer an. Die lachten nur und machten abwehrende Bewegungen.

»No problem.« Sie lächelten. »No problem.« Ihre Zähne waren so weiß vor dem blauen Himmel. Den Rest des Tages lag ich ins Handtuch eingewickelt da und genoss mein Entkommen.

13

Nachdem alles in Rauch und Asche aufgegangen war, fuhr meine Mutter ab. Es war noch immer nicht alles gut zwischen uns. Mir war klar, dass sie mir eine wichtige Lektion erteilen wollte, aber ich war zu wütend, um sie zu verstehen.

 

Ich gehe nicht zurück nach London. Ich habe mich früher nach dem Tempo gesehnt und der Nähe zum Zentrum, nach dem ständigen Gefühl, dass gleich, kurz außerhalb meiner Reichweite, etwas passiert. Die Stadt war ein sich ständig verschiebendes, unstetes Etwas, das in keine Schublade passte; die Straßen waren paradiesisch verheißungsvoll und versprachen unendliche Möglichkeiten. Wenn ich jetzt an die Stadt denke, besteht sie aus Rechtecken und Quadraten: undurchdringliche Gestalten mit scharfen Ellbogen, die mich ausschließen wollen.

 

Ich habe von U-Bahntunneln geträumt, verraucht und stickig. Ich taste mich an den Wänden entlang. Verzweifelt halte ich Ausschau nach meinem Vater, der sich irgendwo dort in der Dunkelheit verlaufen hat, und kann ihn nicht finden. Ich rufe nach meiner Mutter, und meine Stimme hallt über die Gleise.

14

Etwas bricht auf, ist rot. Risse entstehen. Du fällst auf uns zu, warm und sirupweich. Wogendes Fleisch. Sich bewegende Knochen. Zungen auf Bäuchen und Finger an feuchten Stellen. Salz zieht in die Matratze ein und sickert in Stellen, die man mit der Hand nicht erreicht. Zerknüllte Taschentücher, Körperflüssigkeiten, Neues entsteht. Lass dich in unsere Fülle hineinsinken. In unseren glitschigen geöffneten Pfirsich.

15

Meine Mutter ist schön. Mit zwanzig hatte sie lange, dunkle Haare und etwas Unbändiges, Wildes an sich. Sie trug Blümchenjeans mit Ledergürteln und in der Taille geknotete Männerhemden. Ihre Marc-Bolan-Platte mit dem Leopardenlabel in der Mitte ließ sie immer wieder laufen, während sie ihre Dauerwelle mit Haarspray einnebelte. Wenn sie ausging, trank sie Bier mit Limettenscheibe und stützte die Ellbogen auf die Pubtische, lächelte die Jungs aus dem Ort an und schmuggelte mit ihren Augen und Grübchen Geheimnisse durch den Qualm.

16

Es gab Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass London mir gehört. Nach einer Party, oben auf dem Telegraph Hill im Tau liegend, über mir der rosarote Himmel. Auf dem Fahrrad, in einem dünnen Kleid, eine Hand am Lenker, die andere in der Luft, wie um nach unsichtbaren Fäden zu greifen. In einem dreckigen Lagerhaus tanzend, bis der Schweiß wie Sirup zwischen den Brüsten tropft und die Freunde als verwischte Gestalten herumwirbeln.

Wahrscheinlich besteht darin Londons Charme. Die Stadt schiebt dich an den Rand, immer weiter und weiter, und wenn du glaubst, dass du jetzt fällst, lässt sie dich wissen, dass du deinen Platz gefunden hast. Einen Augenblick lang weißt du, wo du hingehörst.

In dieser Stadt, die sich unaufhörlich erneuert, zwischen Pop-up-Stores und Abrissbirnen, wusste ich immer weniger, wer ich wirklich sein wollte. Ich lag im Bett und beobachtete die Sonne, wie sie mit den Straßenlampen verschmolz und wieder aufging, und zeichnete mit den Fingern die Schatten nach, die sie auf meiner Haut hinterließ.

17

Meine Großmutter fand mit sechzehn einen Job am Fischstand in der Jacky-Whites-Markthalle. Die nächsten dreißig Jahre lang nahm sie Makrelen aus, filetierte Lachse und schrubbte die Arbeitsflächen mit giftigen Chemikalien, bis sich ihr weißes Gesicht darin spiegelte. Gegenüber gab es einen Stand in der Markthalle, der Schallplatten verkaufte, und sie ließ die Hüften zur Musik wackeln, lachte und schlitterte auf dem glitschigen Linoleumboden herum.

»It’s tearin’ apart my blue, blue heart«, sang sie mit Neil Diamond, während sie den Stand aufbaute; ihre Goldringe klackerten gegen das Glas, eine Embassy Regal zwischen den Lippen. Abends lieferte sie frischen, in Zeitungspapier und rot-weiß-gestreifte Plastikbeutel gepackten Fisch in der Arbeiterpension ab.

Alles an ihr war silbern: ihre Stimme, wenn sie morgens zum Radio sang, die glänzenden Fischschuppen, die abends an ihrem Kittel klebten, das Loch, das sie in unserem Leben hinterließ, als sie starb – ein eckiges Loch wie ein Fifty-Pence-Stück.

18

Ich verbrachte belanglose Tage damit, Himmelssplitter zu beobachten, die sich in den Fenstern von Bürohochhäusern spiegelten. Ich ging an den Handy-Verkäufern vorbei, aus deren kleinen Ständen laute Musik dröhnte, fuhr mit den Fingern über sonnenwelkes Obst und Gemüse, auf dem eine Dreckschicht von den vorbeifahrenden Bussen lag. Hungrig trieb ich mich in den Märkten herum, in denen es nach rohem Fleisch und Essig stank, im Hopfengeruch, der aus den alten Pubs drang. Ich brauchte das rußige Licht auf meinen weißen Schultern und den beißenden Geruch des Hackney-Grillhähnchens in den Sommermonaten.

19

Meine Tante Marie ließ sich in einem Schönheitssalon in Yorkshire zur Visagistin ausbilden. Von Montag bis Freitag wachste sie Augenbrauen und zupfte Haare aus faltigen Damenschenkeln, damit diese Damen das Gefühl haben konnten, über irgendetwas Kontrolle zu haben.

Meine Mutter ging auf die Schwesternschule und wohnte zu Hause. Sie stellte die goldenen Riemchensandalen ihrer Schwester unter die Heizung auf den Flur, weil sie sich dann sicher fühlte: als wäre meine Tante gerade zur Tür hereingekommen und hätte sie von den Füßen gestreift.

 

An den Freitagnachmittagen schlenderte meine Großmutter in ihrer Mittagspause in der Markthalle herum. Es waren die Achtzigerjahre, und die Kleider auf dem Markt knisterten vor statischer Aufladung. Sie seufzte beim Anblick der Madonna-Blusen mit extragroßen Schulterpolstern und pastellfarbenen Beinwärmern in Plastikverpackungen. Viel Geld hatte sie nicht, aber alle kannten sie und gaben ihr Rabatt.

Wenn meine Großmutter mit den neuerworbenen Schätzen nach Hause kam, legte meine Mutter sie auf dem Bett ihrer Schwester zurecht. Sie ordnete Blusen und Kleider über Jeans und Strumpfhosen an, suchte farblich abgestimmte BHs und Unterhosen und dazu passenden Lippenstift heraus und stellte ein Paar hohe Schuhe aufs Kissen. Dann rief sie ihre Schwester an, aus der Telefonzelle am Ende der Straße.

»Wann kommst du heim?« Sie zwirbelte die Schnur um ihre Finger. Meine Tante musste den Lärm der Haartrockner überschreien.

»Ich nehm den Zug um sechs.«

Wenn sie das tote Haar zusammengefegt und die Sonnenliegen ausgestellt hatte, fuhr meine Tante so schnell wie möglich nach Hause, trank einen Wodka Tonic und zog die auf sie wartenden Klamotten an. Dann gingen die Schwestern zusammen aus, sahen sich Bandauftritte im Borough an und tanzten zu Orange Juice und Depeche Mode. Wenn sie morgens aufwachten, war ihre Bettwäsche mit Currysoße und Frittenfett verschmiert.

»Steht auf, ihr faules Pack!« Der Gestank der bratenden Heringe meines Großvaters zog die Treppe hinauf und bis unter ihre Bettdecken.

20

Hinter dem Haus, in dem ich aufwuchs, standen Blocks mit Sozialwohnungen; irgendwann wurden sie geräumt, abgerissen und durch ein Neubauvorhaben mit lauter identischen Wimpey-Fertighäusern ersetzt. Ein ganz anderer Schlag von Leuten zog ein. Die auseinandergeschraubten Autos und kaputten Fahrräder verschwanden und machten Baggern und Leichtbetonsteinen Platz. Ein Ehepaar weigerte sich auszuziehen, und ihr Haus blieb als einziges inmitten des Bauschutts stehen; die Fenster waren zugenagelt, aber vor ihrer Tür wehte trotzig die Englandflagge mit dem Georgskreuz darauf.

Ich durfte hinten bei meinem Dad auf dem Motorrad mitfahren, und wir bretterten über den Fußballplatz und drehten Runden um den verlassenen Wohnblock. Ich kletterte auf den Ledersitz und schlang die Arme um meinen Dad und atmete seinen mit Weingummis vermischten Geruch nach Rauch und Öl ein.

»Halt dich gut fest!«, schärfte er mir ein, wenn er den Motor anließ. »Egal, was passiert: Lass auf keinen Fall los.«

Ich fand es herrlich, wie mir der Fahrtwind beinahe die Haare vom Kopf wehte, die um mich herumflogen wie die Fallschirme der Pusteblumen. Wenn wir heimkamen, waren wir beide erhitzt vor Begeisterung, ich platzte fast vor Aufregung, weil ich die Erdhügel und Torpfosten immer noch an mir vorbeifliegen spürte. Meine Mutter schnaubte, wenn sie uns Smileys aus Kartoffelbrei und Bohnen zum Abendessen vorsetzte.

»Ich will nichts davon hören«, sagte sie und tauchte ihre rauen Hände ins Spülwasser.

21

Ich versuche zu verstehen, warum meine Mutter nicht bei mir in London blieb, als mir der Himmel auf den Kopf fiel. Warum sie in den Zug gestiegen ist und mich auf der Suche nach meinem Vater alleingelassen hat. Es war, als würde sie sich nehmen, was ihr zustand; sie wollte nicht mehr aus Rücksicht auf andere zurückstecken. Sie wollte loslassen.

22

In Burtonport bin ich in gewisser Weise nicht allein. Umgeben vom Schimmelgeruch des Hauses reise ich in die Vergangenheit, finde zu den Geheimnissen meiner Kindheit. Die jungen Farnwedel und die rauen, flechtenbewachsenen Steine führen mich zurück durch die Jahre – von meinem erwachsenen Ich hin zu einer kleineren Version meiner selbst.

Als Kind fand ich den ewigen Regen und die endlosen, gleichförmigen Strände manchmal furchtbar. Im Pub, wenn sich die Erwachsenen die Zeit mit Trinken vertrieben, saß ich in der Ecke, lutschte das Salz von pappigen Chips und schlürfte Cavern Cola, das Gewicht der Nachmittage schwer im Nacken.

 

Der Sommer geht zu Ende, und der Herbst kündigt sich an. Mein Verhältnis zu diesem Ort hat sich verändert. Etwas Braunes, Dreckiges bewegt sich unter der Erde. Es ist rußig und bedrohlich wie Whiskey und Lagerfeuer. Eine dunkle Gestalt, ein wenig außerhalb meiner Reichweite, fordert mich heraus.

23

Als meine Mutter einundzwanzig war, fuhr sie mit ihrem damaligen Freund nach Paris. Zwölf Stunden in einem Bus, um in Trenchcoats an der Seine entlanglaufen zu können. Es gibt ein Polaroid von Mam unterhalb des Eiffelturms. Auf einem anderen steht sie auf der obersten Stufe vor Sacré-Cœur, blickt über die Dächer hinweg und wünscht sich, ihre Schwester wäre bei ihr.

Am letzten Abend gingen sie in einem kleinen französischen Restaurant essen. Sie bestellten beide Pasta, weil sie nicht wussten, wie man die anderen Sachen auf der Karte aussprach. Die Crème brûlée danach gab es kostenlos dazu, und ihr Freund holte einen Ring aus der Tasche und schob ihn über den Tisch. Er sah sie lange an.

»Und, sagst du ja?«

»O Gott. Ja?« Sie schauderte, als sie den Teelöffel in die Hand nahm und die Karamellkruste durchstieß.

Sobald sie wieder zu Hause war, erzählte sie meiner Großmutter mit tränenverschmierten Wangen davon.

»Aber ich will ihn nicht heiraten, Mam.« Sie verschluckte sich vor lauter Schluchzen. »Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte.«

»Mein Gott, Susie. Am besten, wir rufen deine Auntie Doris an. Ihr fällt sicher was ein.« Doris galt als Expertin in allen Herzensangelegenheiten, weil sie schon drei Mal verheiratet und wieder geschieden war. Eine Duftwolke aus billigem Parfüm und Tabak begleitete ihren Besuch. Sie versenkte drei Zuckerwürfel in ihrem Tee und sah Susie mit einem Lippenstiftlächeln an.

»Tja, meine liebe Susie. Du wirst ihm einfach sagen müssen, dass du es dir anders überlegt hast. Warum hast du in Gottes Namen überhaupt ja gesagt?« Meine Mutter zuckte die Achseln und spielte an ihren Haaren herum. Doris’ große Goldkreolen glänzten im Zigarettenrauch.

»Schon ’ne Schande.« Sie nahm den Ring und versuchte, ihn auf ihren dicken Finger zu zwängen. »Edles Stück. Der hat richtig Schotter gekostet.«

Als meine Mutter ihrem Freund sagte, dass sie ihn nicht heiraten wollte, warf er den Ring vor lauter Wut über eine Friedhofsmauer.

24

Ein paar Jahre später wurde direkt hinter dem Friedhof ein Asda-Superstore gebaut. Meine Mutter stellte sich immer vor, dass der Ring mit in den Zement gemixt wurde und die kleinen französischen Saphire unter Stapeln von Kellog’s Cornflakes und Riesenflaschen Spülmittel begraben lagen.

25

Meine Großeltern gingen tanzen, in den Pub und ins Kino. Er trieb sich auf dem Markt herum, wenn sie bei der Arbeit war, und tat so, als würden sie sich nicht kennen.

»Ich nehme zehn Krevetten, sechs Miesmuscheln, vier Krebsscheren und dazu einen Kuss.« Er zwinkerte ihr zu, addierte und subtrahierte Wellhornschnecken, während sie die Augen verdrehte; hinter ihm bildete sich eine lange Schlange, an den Gläsern mit Erdbeerbonbons und den Stapeln seidiger Unterwäsche vorbei.

»Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, junge Frau«, rief jemand von hinten.

Eines Tages tat er so, als wollte er für ein Stück Kabeljau bezahlen, und drückte ihr zusammen mit den Münzen schüchtern einen Diamantring in die Hand. Sie keuchte und ließ ihn fallen, wo er unter der Ladentheke im Eis versank. Erst am Ende des Arbeitstags, als sie den Fisch einpackten und das Schmelzwasser wegschütteten, konnte sie den Ring wieder herausholen. Sie kochte ihn aus, damit er nicht mehr nach Fisch roch.

Sie zogen in eine Sozialwohnung in Pennywell. Die dreckigen Teppiche wurden dampfgereinigt, an die Wände kam eine zarte Rosentapete. Ihre Mutter schenkte ihnen die Geschirrreste aus der Arbeiterpension, und mein Großvater erstand eine elektrische Heizdecke im Sonderangebot: »Da haben wir’s im Winter schön warm, mein Püppchen.«

Ihre Nachbarn fluchten und schrien und stöhnten hinter den dünnen Wänden, aber meine Großeltern stellten einfach das Radio lauter, kicherten und rauchten und kamen gut durch die dunklen Nächte.

 

Mittwochs machte meine Großmutter früher Feierabend und ging an den Hafen, um ihren Mann abzuholen. Ölverschmierte Männer in Overalls, in den schmutzigen Gesichtern Vorfreude auf zu Hause, und sie brüllten und sangen gegen den Wind an.

»Wie geht’s, Linnie?«, nickten sie ihr zu, wenn sie in ihrem langen Mantel klein unter den Ladekränen stand.

Sein Gesicht wurde jedes Mal sanft, wenn er sie sah. Manchmal schweißte er Metallstückchen zusammen und machte kleine Vögel und Blumen daraus.

»Ich hab was für dich.« Er küsste Linnie zärtlich und drückte ihr sein neuestes Meisterwerk in die Hand. Sie gingen an der Seepromenade spazieren und aßen Fish and Chips zu Abend. Er leckte ihr das Salz und den Essig von den Fingern.

»Gerroff!«, quietschte sie und tat so, als würde sie mit der Handtasche nach ihm schlagen.

 

Meine Großmutter gebar Zwillinge auf dem Badezimmerboden. Eins der Neugeborenen starb sofort, und mein Großvater wickelte es in ein Bettlaken, aus dem das Blut troff, als er durch die stillen Straßen zum Krankenhaus eilte.

Ein Jahr später bekam sie noch eine Tochter und brach sich ihr schmales Becken, weil sie so sehr presste. Das Baby lief blau an und musste vor dem Kamin wiederbelebt werden. Meine Großmutter legte sich ins Bett, zwei winzige Menschlein rechts und links von ihr unter der Decke.

»Hier ist dein Tee, Linnie.« Mein Großvater kam ins Zimmer geschlichen und küsste seine Töchter auf die weichen Köpfchen. Ihre Kopfhaut roch intensiv nach Milchschorf und nach etwas Gefährlichem, das er nicht zuordnen konnte.

26

Meine Eltern kauften einen Bungalow, der in einer Sackgasse in einem Vorort von Sunderland lag, im Wohnzimmerboden gab es ein riesiges Loch. Die Nachbarn waren alte Leute, die mit ihren frisch gelegten Haaren zur Bushaltestelle und wieder zurück humpelten – so lange, bis ihre Zeit gekommen war. Mein Dad lief von einem Zimmer ins nächste und klopfte gegen die Wände.

»Ich richte alles her, und dann verkaufen wir die Bude wieder. In ein paar Monaten besorgen wir uns was Besseres.«

Sie stürzten sich in die Arbeit, zogen die Tapeten ab, strichen, und demolierten die vergammelte Veranda mit einem rostigen Hammer. Sie entschieden sich für eine Küchentapete mit dicken braunen Hühnern; auf der Straße fanden sie ein gebrauchtes Sofa mit moosgrünem Veloursbezug. Meine Mutter nähte die Vorhänge aus Laura-Ashley-Stoff selbst; sie säumte die Vorhänge abends von Hand, eine Nähmaschine hatte sie nicht. Im Halbdunkel kniff sie die Augen zusammen, weil der Strom noch nicht angestellt worden war.

»Wenn ich mal tot bin, siehst du die Stiche an und denkst an mich.« Den Witz machte sie oft.

Sie hatten Bekannte zu Besuch und zeigten ihnen Vorher- und Nachher-Bilder des Riesenlochs.

»Das habt ihr wirklich toll gemacht.« Mit kritischem Blick liefen die Bekannten durchs Haus, fassten die Wände an und schnupperten am Potpourri.

»Ist ja nur für den Übergang. Wir richten das Haus her, und dann verkaufen wir es. Bald kaufen wir uns was Besseres. Stimmt’s, Tom?« Mein Vater stand mit seiner Zigarette an der Tür und lächelte abwesend in sich hinein.

27

Als meine Mutter Jahre später aus dem Fenster auf die kleinen Backsteinhäuser gegenüber sah, fragte sie sich, wo ihre Jugend geblieben war. Sie zupfte die handgenähten Vorhänge mit einem panischen Blick zurecht.

»Ich hab das Gefühl, ich komme hier nie mehr raus«, sagte sie zu mir. Ich nahm die Polster vom Sofa und benutzte sie als Eisschollen, auf denen meine Teddybären durchs Meer fahren konnten.

»Aber ich will hier gar nicht raus«, sagte ich. »Das ist doch unser Zuhause.«

28

In Donegal kennt man die Leute häufig auch unter dem Namen wichtiger Familienmitglieder. Auntie Kitty hatte meinen Großvater großgezogen, deswegen wurde er »Mickey-Kitty« genannt, meine Mutter hieß »Susie-Mickey-Kitty«. Als ich jünger war, fand ich das erdrückend, aber jetzt tröstet mich diese Klarheit. Haltlos, ohne Kanten und Konturen, treibe ich durch die Welt, bis ich irgendwann am nächsten scharfen Gegenstand hängen bleibe. Die Namen meiner Vorfahren sind wie Seile, die das Cottage im Boden verankern.

29

Als ich nach London zog, hatte ich noch kein Smartphone. Jeden Tag malte ich eine wacklige Karte der Fahrstrecke vom Laptop ab, riss die Seite aus dem Block, und fuhr damit auf dem Fahrrad los. Ich hatte die Jackentaschen voller Kulikritzeleien, auf denen Parks und Bibliotheken mit Markierungspunkten verbunden waren, aus denen niemand außer mir schlau werden konnte. Ich klebte die Zettel an die Wand, sodass die Linien aneinanderstießen. Die selbst gemalten Karten schlängelten sich an den Wänden meines Zimmers entlang wie die Kurven eines Herzmonitors: die Vermessung meiner Stadt.

30

An den ausgestorbenen Stränden hier in Irland kann ich laut schreien. Ich schwimme im Meer, ich breite mich im Wasser aus, und meine Lunge und meine Glieder dehnen sich so weit sie können. Nachts liege ich im Gras im Garten und schaue in die Sterne, lasse meine Gedanken wandern, schneide sie nicht ab, schreibe sie nicht auf, sperre sie nicht an zu kleinen Orten ein.

31

Letzte Spuren von meinem Großvater gibt es noch in diesem Haus. Eine Flasche Weihwasser. Ein Zierteller mit Papstmotiv. Eine chinesische Porzellanschale mit Tulpenmuster. Ich gehe von Zimmer zu Zimmer und fasse die Gegenstände an. Mir gefällt, wie fest sie sich in meinen Händen anfühlen. Es sind jetzt meine Sachen, doch sie kommen mir noch nicht so vor. Dieses Haus ist Teil meiner Geschichte, und doch gibt es keine Verbindung zu meinem Leben in London. Es ist meine Geschichte, aber es ist auch nicht meine Geschichte. Ich gieße meine Friedenslilie mit Weihwasser, nur um zu sehen, was passiert.

32

Als meine Mutter und ihre Schwester älter wurden, liefen sie Schlittschuh. Ihre Röhrenjeans waren so eng, dass sie den Reißverschluss auf dem Bett liegend mit dem Kleiderbügel zuziehen mussten. Unter dem wachsamen Blick meiner Großmutter packten sie sich warm in Schals und Mützen ein, die sie hinter der Bushaltestelle in einen Busch stopften und auf dem Rückweg wieder abholten.

Auf der Schlittschuhbahn fuhren sie vorwärts und rückwärts und drehten sich so schnell auf einem Fuß im Kreis, dass das Eis abgehobelt wurde und wie Schnee auf der Eisbahn liegen blieb. Sie tranken mit rot geringelten Strohhalmen aus gläsernen Colaflaschen und ließen die Füße unter den Klappsitzen baumeln, dass die Silberklingen blitzten.

33

Irgendwann ließ die Gemeinde die Eishalle abreißen. Das Spaßbad mit der Wasserrutsche und den Wellen musste ebenfalls weg, weil an der Stelle ein Kulturquartier entstehen sollte, das die Stadt wiederbeleben sollte. Als meine Mutter und ich über das Brachland liefen, fing sie an zu weinen.

»Die Eisbahn, die hat uns gerettet«, sagte sie.

»Wovor gerettet?«, fragte ich sie.

»Anderen Sachen.« Sie sah zu Boden, als wäre ihre Jugend eine verlorene Münze, die sie nur wiederfinden musste, um sie zurück in die Tasche zu stecken.

34

Unter dem riesigen Himmel am endlosen Meer sehne ich mich nach eckigen Großstadtblocks. Nach Abfall in den Rinnsteinen und nach mit Kippen und kaputten Schuhen auf den Straßen, nach Neonlichtern und brutalen, menschengemachten Dingen. Zu Hause füllte sich der Kanal mit Schlamm, über dem Fluss hing Smog und der Dieselgestank hinten aus dem Bus drang in meine Lunge ein, und da bleibt er auch, für immer. Feinstaub, den man einmal eingeatmet hat, wird man nie wieder los. Alles hat eine Sonnen- und eine Schattenseite.

35

Wenn mein Großvater tobend nach Hause kam, schloss meine Großmutter sich mit ihren beiden Töchtern im Bad ein. Sie ließ Wasser in die Badewanne laufen, damit der rumpelnde Boiler und das gluckernde Wasser das Gebrüll von unten übertönten. Sie ließ sich in das heiße Schaumbad sinken, und die Mädchen seiften ihr den Rücken mit Lifebuoy-Seife ein. Mit ihren kleinen Fingern fuhren sie über die Knubbel der mütterlichen Wirbelsäule. Die drei blieben in der Badewanne, bis ihre Haut weich und schrumpelig war.

36

Mein Vater war groß und sanftmütig. In seiner Jugend bleichte er sich die blonden Locken mit Zitronensaft und Sun-In-Haaraufheller. Er trug einen goldenen Ohrring und ungebügelte hochgekrempelte Hemden. Unten an seinem linken Daumen hatte er ein selbst gemachtes Tattoo; er mochte David Bowie, Strandspaziergänge und helles Bier. Er verfasste lustige Gedichte, in denen alles falsch und in Großbuchstaben geschrieben war. Er lehnte an den klebrigen Wänden der Kellerdiscos von Sunderland und rauchte Lambert & Butlers. Im Mitternachtsnebel verdrehte er die Augen und blinzelte schüchtern in die Dunkelheit, und die Discolichter verfingen sich in den silbernen Armreifen, die er leicht am Handgelenk trug.

Er wohnte zu Hause bei seinen Eltern in Tunstall, wo Efeu um die Haustür wucherte. Er und sein Bruder bauten sich ihre eigenen Surfboards aus Brettern und fuhren nach Schottland, um sie auszuprobieren. Im Auto drehten sie die Beach Boys bis zum Anschlag auf. Sie retteten eine verletzte Schleiereule, die bei ihnen in der Garage wohnte. Irgendwo gibt es einen Zeitungsartikel über die beiden: mein Onkel mit seinen dunklen frechen Augen, mein Vater sehr klein mit seinem weißblonden Lockenkopf, auf dem Arm die Eule mit ihren scharfen Krallen.

Dad konnte unglaublich gut Sachen reparieren. Er brauchte sich ein kaputtes Gerät nur vorzunehmen, hatte es in Minutenschnelle auseinandergenommen und herausgefunden, was damit los war. Er lötete Drähte zusammen, fiddelte an Schalttafeln herum und drehte den Stromzähler zurück, damit wir so lange wir wollten vor dem künstlichen Feuer sitzen konnten und uns nicht den Kopf über die Rechnung zerbrechen mussten.

37

Mir fiel auf, dass die Hände vieler junger Männer in Donegal zittern. Wenn sie an der Supermarktkasse bezahlen, nach dem Salz- und Pfefferstreuer greifen oder den Schlüssel hochhalten, um ihr Auto zu entriegeln, dann zittern sie. Als wir nach der Beerdigung meines Großvaters im Pub saßen, erzählte ich es meiner Mutter.

»Das kommt vom Trinken«, sagte sie wissend.

38

Meine Eltern gaben ihr ganzes Geld für Ferien im Süden aus, wo sie, Fake-Ray-Bans auf der Nase, kaltes Bier süffelten. Sie schmierten sich mit Babyöl ein und ließen die Talking Heads auf ihrem Radiorekorder laufen, sammelten schimmernde Muscheln und schleppten viel Sand ins Bett.

Sie fuhren nach Florida und ließen sich vor dem Disneyland-Märchenschloss fotografieren. Als ich auf die Welt kam, kauften sie mir das Ding aus Plastik. Man konnte auf einen Knopf drücken, dann flackerten goldene Lichter über den Turmspitzen, und das sah aus wie ein Feuerwerk. Mit heruntergekurbelten Fenstern fuhren sie durch Miami und liehen sich ein Motorrad, um die Strände zu erkunden. Beide trugen abgeschnittene Jeans und schlabberige weiße T-Shirts. Eines Abends war mein Vater so betrunken, dass er meiner Mutter in den Mund kotzte, als er sie küssen wollte.

 

Weihnachten wurde immer bei einem Onkel gefeiert. Er führte einen zwielichtigen Gebrauchtwagenhandel und besaß ein schickes, dunkel getäfeltes Haus mit Jacuzzi und begehbarem Kleiderschrank. Alle saßen am Tisch und zogen von zwei Seiten an den Papphülsen, aufgeregt, was die Zukunft ihnen wohl bringen würde.

»Frohe Weihnachten, mein Schatz.« Meine Nan küsste meine Mutter auf die Wange, wobei ihr das Papphütchen auf die Augen rutschte. »Tom hält sehr große Stücke auf dich, genau wie wir auch. Aber das weißt du ja.«

Zum Pogues-Song »Fairytale of New York« walzten sie durchs Wohnzimmer, schrien »You scumbag! You maggot!« und ließen die Gläser mit Asti klirren. Mein Vater lag sturzbetrunken auf dem künstlichen Schaffell im Wohnzimmer, während die andern um ihn herumtanzten.

39

Eine Bewegung auf der Milchoberfläche. Kalte Hände an meinem Gesicht. Ich sehne mich nach Geborgenheit. Ein rosa Pulli. Eine schwellende Brust. Ich spreche die Sprache deines Körpers fließend. Braune Sommersprossen in deinem rohen Inneren. Meine knubbeligen Knie. Meine komischen dicken Ellbogen. An unserem geheimen dunklen Ort ist es warm und weich, aber Dad ist hart. Schleicht um meine Ränder herum. Die Finger rau und köstlich rauchig. Er hält mich im Arm, als wüsste er nicht, wie das geht. Meine Haut ist nicht dick genug. Meine ungeübten Finger können nichts halten. In mir entsteht Leere, wo etwas anderes sein sollte.

40

Ich war blond, süß und aß Birnen und Eis. Ich liebte Märchen, Magie und Rollerskaten auf der Straße. In meinen silbernen Tap-Dance-Schuhen steppte ich durch die Küche und klapperte die Rhythmen, die nachts unter meinem Kissen wuchsen. Meine Mutter zog mir gerüschte Söckchen und Blümchenkleider mit passendem Haarreif an. Sie bauschte meine Puffärmel auf.

»So! Jetzt siehst du aus wie eine kleine Prinzessin.«

»Ich will aber keine Prinzessin sein«, schmollte ich. Ich buddelte Regenwürmer im Garten aus, steckte sie ein und nahm sie mit in die Schule. Wenn keiner hinguckte, küsste ich sie unter der Schulbank auf den glitschigen Kopf. Ich machte mir Sorgen, dass sie niemand außer mir sie lieb hatte.

41

Meine Eltern lernten sich kurz vor Weihnachten im Queen Alexandra Pub in Grangetown kennen. »The Whole of the Moon« von den Waterboys war gerade herausgekommen und lief andauernd. Meine Mutter war zum Einkaufen in der Stadt gewesen und hatte eine Papiertüte mit einem blauseidenen, mit Blumen bemalten Morgenrock dabei. Mein Vater zog ihn an, schlüpfte aus seinen Jeans und stolzierte mit nackten Beinen und dicken Arbeitsstiefeln an den Füßen im Pub herum. Auch auf dem Heimweg zog er den Morgenmantel trotz Kälte nicht aus, und meine Mutter musste ihn am nächsten Tag bei ihm zu Hause abholen. Sie wusch die Weinflecken aus, packte ihn ein und schenkte ihn ihrer Mutter zu Weihnachten.