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Eine berührende Geschichte, erzählt mit so viel Leichtigkeit, dass sie auf nahezu jeder Seite ein Lächeln hervorzaubert.
Der 16-jährige Felix hat alles verloren: seine Eltern, seine kleine Schwester, seine Unbeschwertheit. Einzig Bolt, der dicke, eigenwillige Hund seiner Familie, ist ihm geblieben – und die Trauer, die ihn zu ersticken droht. Doch als Bolt immer apathischer wird, muss Felix handeln und beginnt eine Therapie. Im Wartezimmer trifft er Mo, einen gleichaltrigen Jungen mit dunklem Humor und einer rätselhaften Vergangenheit. Aus Fremden werden Freunde, und zusammen mit der lebensfrohen Marie begeben sie sich auf einen holprigen Weg zurück ins Leben. In ihrer wackeligen Dreierkonstellation stellen sie sich ihren Ängsten – auch in waghalsigen Challenges ...
Einfühlsamer Jugendroman über Verlust, Freundschaft und den Mut, das Leben wieder neu zu entdecken. Für Leser:innen ab 13 Jahren.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Eigentlich können wir uns nicht leiden, doch Trauer schweißt wohl zusammen. Wir, das sind Bolt, der hässlichste Hund der Welt, und ich. Als wir nicht mehr weiterwissen, sind da auf einmal die Therapeutin Frau Rose, Marie, die immer gute Laune hat, und Mo mit seinem schrägen Humor. Drei Menschen, die zwar keine Familie ersetzen, aber Bolt und mir Hoffnung geben. Gemeinsam stolpern wir durch den Sommer, haben Spaß, bauen Mist – und merken, dass Freundschaft das ist, was einem dabei helfen kann, zurück ins Leben zu finden.
Eine bewegende Geschichte über Verlust, Neuanfang und erste Liebe, voller Leichtigkeit erzählt
© privat
Franziska Hörner wurde 1993 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Englisch- und Biologiestudium wurde sie Elefantenforscherin (ja, wirklich) und bereist dafür zahlreiche afrikanische Länder. Nebenbei schreibt sie Geschichten für Jugendliche und junge Erwachsene, was schon immer ihre Lieblingsbuchsparte war. Ihr Wunsch war es stets, ein Buch zu schreiben, das sie selbst gerne lesen würde. Sie lebt zusammen mit ihrem Hund in einer glücklichen Wohngemeinschaft.
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Viel Spaß beim Lesen!
Franziska Hörner
Thienemann
Für alle Glückskinder.
Ich sah ...
Ein blasses Gesicht mit Bartstoppeln. Einen Fetzen Sternenhimmel. Ein Stück vom Kran, das in der Dunkelheit verschwand. Ein anderes, dumpferes Schwarz, das mein Sichtfeld fraß. Vertrauter, aber kein gutes Zeichen.
Ich hörte ...
Rauschen in meinen Ohren. Das Murmeln einer Männerstimme. Unverständliche Worte. Mos stoßweisen Atem. Mos Atem. Nicht genug Luft. Auch er bekam nicht genug Luft.
Ich spürte ...
Das kalte Gitter an meiner Wange. Ein schweißnasses Kribbeln auf meiner Haut. Schwere Arme, die mich umschlangen.
Etwas kratzte an meinem Bewusstsein. Ein Gedanke, der versuchte, sich durch den Nebel in den Vordergrund zu schieben. Doch er drang nicht durch, ich bekam ihn nicht zu fassen. Das Schwarz nahm überhand und ich kniff die Augen zusammen, damit es endlich aufhörte.
»Ilona, Sie können jetzt zu Herrn Zwickau rein.« Die Sprechstundenhilfe steckte den Kopf in das Wartezimmer und sah das ganz in Schwarz gekleidete Mädchen, das auf einem der Plastikstühle saß, freundlich an. Finster starrte das Mädchen zu Boden. Die dunklen Haare fielen ihr wie ein Vorhang vors Gesicht, während sie durch das Zimmer eilte, als wäre hier drinnen alles giftig.
Verübeln konnte ich ihr das nicht. Ich war auch ungern hier. Wieder versuchte ich mich nach hinten zu lehnen, aber die bunten Plastikstühle waren so dermaßen unbequem, dass ich dabei mit dem Hintern fast vom Stuhl rutschte. Bolt, der auf dem Boden neben meinen Füßen lag und seinen Kopf zwischen seine Vorderpfoten gelegt hatte, zuckte nicht mal mit dem Ohr. Er kam genauso ungern hierher wie ich.
»Felix, du kannst jetzt zu Frau Rose«, kam die Stimme der Sprechstundenhilfe durch die offene Tür. Ich fragte mich, ob ich mir etwas darauf einbilden sollte, dass sie mich duzte, aber das lag eh nur an Bolt. Alle liebten diesen kleinen, fetten Hund und irgendwie schwappte das dann auf mich über. Als wäre ich direkt liebenswerter, nur weil ich einen dicken Vierbeiner neben mir hatte. Ein unerklärliches Phänomen. Sowohl das mit der Liebe für den dicken Hund als auch das mit dem Überschwappen.
Ich stand auf und zog an Bolts Leine. Widerwillig hievte er sich auf seine vier Tatzen und taperte hinter mir her in Frau Roses Sprechstundenzimmer. In dem hellen Raum fläzte er sich sofort auf den weichen cremefarbenen Teppich. Ich ließ mich auf den Sessel gegenüber von Frau Rose fallen.
»Hallo Felix«, begrüßte sie mich freundlich. Ihr Sessel war blassgrün, im Gegensatz zu meinem, der blassblau war. Ob sie extra bunte Sessel ausgesucht hatte, um den Raum freundlicher zu gestalten? Die Sessel waren auf jeden Fall bequemer als die Plastikstühle im Wartezimmer.
»Wie war deine Woche?«, fragte Frau Rose.
»Gut«, log ich und guckte an ihr vorbei aus dem Fenster.
»Was bringst du heute mit?«, stellte sie mir ihre klassische Eröffnungsfrage. Mein Blick huschte zurück zu ihr und sie lächelte mich aufmunternd an. Ich zuckte die Schultern.
»Möchtest du heute einmal über die Beerdigung sprechen?«, fragte sie.
»Eigentlich nicht.«
Was ich an jenem Tag vor drei Monaten gelernt habe: Erstens, Hunde sind auf Beerdigungen nicht gestattet. Und zweitens, Menschen, in diesem Fall Pfarrer, tendieren dazu, eine Ausnahme zu machen, wenn es sich bei der Beerdigung um die Beisetzung deiner kürzlich verstorbenen Eltern und kleinen Schwester handelt und besagter Hund das einzige Familienmitglied ist, das du noch hast. Gleiches gilt übrigens auch für Psychotherapiepraxen.
Beim Verlassen der Praxis von Frau Rose nach der Sitzung war es heiß draußen und die Sonne schien grell auf den Asphalt. Erschöpft drehte ich den Schlüssel im Fahrradschloss und schob das Rad Richtung Straße. Bolts Leine zog durch. Er stand noch auf dem schattigen Bürgersteig und guckte mich wehleidig an. Bolt hasste es, am Fahrrad mitzulaufen. Das konnte ich gut verstehen. Er musste dann auf seinen kurzen Stummelbeinen neben dem schnellen Rad herrennen. Und das an der Leine. Außerdem hatte er diese absurd eingedrückte Nase, durch die er dann schnaufte, wie ein erstickendes Walross. Und dann hatte er auch noch Fell. Ich schwitzte ja schon in meinem T-Shirt.
Meine Schwester hatte ihn immer in ihr Fahrradkörbchen vorn am Lenker gesetzt. Da hatte er gethront wie der König aller Hunde, eine Rolle, in der Bolt sich sehr wohlfühlte. Aber ich hatte keinen Korb an meinem Rad, nicht mal einen Gepäckträger.
Ich blieb stehen. Schaute auf Bolt hinunter, der auf dem Bürgersteig im Schatten stand und jetzt schon hechelte. Es waren fast 30 Grad: Sommer in der Großstadt.
»Na gut«, sagte ich und rollte mein Rad wieder von der Straße runter. »Wir gehen zu Fuß.«
Noch als ich mein Rad über den Bürgersteig beförderte und Bolt zufrieden neben mir herhechelte, fragte ich mich, warum ich mir überhaupt die Mühe machte, mein Rad mitzunehmen. Ich schob es ja doch am Ende nur.
Zu Hause hatte meine Tante gerade auf der Terrasse den Tisch fürs Abendessen gedeckt.
»Hallo! Du bist spät dran, wie war es bei der Therapie?«, begrüßte sie mich. Wieder jemand, der meine Meinung zu etwas hören wollte.
»Ganz gut«, sagte ich nur und ärgerte mich, dass sie immer so genau wusste, wann meine Termine in der Praxis waren. So merkte sie, wenn ich danach nicht direkt nach Hause kam. Wenigstens fragte sie nicht, was ich in der Zeit tat. Die Antwort wäre nämlich gewesen: nichts.
»Hast du Hunger?«, fragte sie nun und kam durch die Terrassentür, um in die Küche zu gehen, in der Töpfe auf dem Herd standen. Seit Becca eingezogen war, gab es ständig Nudeln mit Tomatensoße. Meine Tante hatte keine Kinder und arbeitete viel. Sie war es nicht gewohnt, jemanden versorgen zu müssen. Ich glaube, bei ihr zu Hause kochte meistens Phil, ihr Freund. Aber nun wohnte sie hier.
»Hab schon was gegessen«, log ich. »Ich geh hoch.« Schnell verschwand ich auf der Treppe und Bolt hüpfte hinter mir die Stufen nach oben. Ich drehte mich nicht um, aber ich wusste, dass Becca in der Küchentür stand und mir hinterherblickte.
In meinem Zimmer zog ich in Erwägung, ein bisschen am Computer zu spielen. Aber ich hatte keine Lust. Also legte ich mich aufs Bett und starrte vor mich hin. Bolt legte sich über meine Beine und mir wurde warm. Irgendwann dösten wir so sein.
Schlaf war mein letzter Zufluchtsort. Ich konnte nicht mehr zählen, wie häufig ich in den letzten Monaten gefragt worden war, wie ich aktuell schliefe. Doch hier konnte ich endlich mal eine zufriedenstellende Antwort geben: viel. Ich schlief tief und fest und traumlos. Ich schloss die Augen und konnte endlich raus aus meinem Kopf. Ein Ort, an dem es wohl kaum jemand aushalten würde. Auch ich nicht.
Als ich einige Tage später mein Rad über den Bürgersteig zu Frau Roses Praxis schob und Bolt an der Leine neben mir herlief, sah ich, wie ein Junge sein BMX-Rad an der Laterne vor der Praxis abschloss, wo auch ich meins immer ankettete. Genervt guckte ich dahin, wo ich mein Rad jetzt einfach auf dem Gehweg stehen lassen musste, ohne es fest anzuketten. Mein Vater hasste das. Hatte das gehasst.
Ich zog Bolt durch die Tür. Frau Roses Praxis lag im dritten Stock. Bolt wachte bei der kühleren Luft regelrecht auf. In den dritten Stock laufen wollte er allerdings nicht. War auch scheiße, wenn man so kurze Stummelbeine hatte. Vor den Stufen blieb er stehen und schaute mich aus seinen Triefaugen an. Ich seufzte, beugte mich zu ihm herunter und hob ihn hoch. Früher wäre es undenkbar gewesen, dass ich Bolt trage. Oder dass er sich von mir tragen ließ.
An der Rezeption der Praxis bemerkte ich den Jungen, der sein Fahrrad an meiner Laterne abgeschlossen hatte. Er war ohne jeden Laut ins Praxisgebäude gegangen. Vorsichtig beäugte ich ihn von der Seite. Ich hatte ihn hier noch nie gesehen. Er hatte dunkle, strubbelige Haare und seine Haut einen Ton wie Karamell. Er sah aus, als wäre er etwa in meinem Alter.
Die Sprechstundenhilfe reichte ihm gerade ein paar aneinandergeheftete Seiten Papier. »Heute füllen Sie nur die Bögen aus. Sie können dafür im Wartezimmer Platz nehmen. Wenn Sie damit fertig sind, bringen Sie mir die und dann machen wir einen Termin aus.«
Aha. Er war also neu hier. Die Bögen hatte ich am Anfang auch ausfüllen müssen. Auf dem ersten musste man nur seinen Namen und sein Alter und andere persönliche Daten eintragen. Aber darunter erinnerte ich die vielen Bögen, in denen man angeben musste, wie man sich in den letzten Tagen und Wochen gefühlt hatte. Alles auf einer Skala von eins für »gar nicht«, bis zehn, »sehr häufig«. »Haben Sie traurige Gedanken?«, »Fällt es Ihnen schwer, positiv in die Zukunft zu blicken?«, »Haben Sie Schwierigkeiten einzuschlafen?«, »Haben Sie den Gedanken, dass Ihr Leben nicht lebenswert ist?«
Bei unserem ersten Gespräch hatte Frau Rose die Bögen mit den von mir angekreuzten Antworten auf dem Tisch neben sich liegen gehabt. Sie verlor aber die gesamte Sitzung über kein Wort darüber. Erst am Ende sagte sie, dass es nach meinen Testergebnissen nicht ausgeschlossen wäre, »über eine medikamentöse Zusatzbehandlung nachzudenken.« Ich hatte sie stirnrunzelnd angesehen und sie hatte mit einem leisen Lächeln hinzugefügt: »Begleitend zu der Therapie könntest du Antidepressiva nehmen. Sie könnten dir in der momentanen Situation ganz gut helfen. Du kannst darüber nachdenken.«
Ich hatte kurz überlegt. »Gibt es das auch für Hunde?«, hatte ich dann gefragt.
Und Frau Rose musste lachen.
Die Rezeptionistin begrüßte mich an diesem Tag mit einem fröhlichen Lächeln. »Du kannst gleich zu Frau Rose rein, Felix. Setz dich noch mal kurz.«
Ich ging ins Wartezimmer. Der Junge saß schief auf einem der unbequemen Plastikstühle, die Bögen unangerührt auf dem Schoß und einen Comic vom Tisch mit den Zeitschriften in der Hand. Als ich reinkam, sah er auf. Er warf mir nur einen kurzen Blick zu, dann schaute er Bolt an.
»Das ist ja mal ’n hässlicher Hund«, stellte er fest.
Ich guckte ungläubig. Bolt war hässlich wie die Nacht. Aber noch nie hatte das jemand einfach so ausgesprochen. Außer mir. Ich hatte es meiner Schwester tausendmal gesagt. Aber für Isabell war er der süßeste Hund der Welt.
Jetzt schaute der Junge mich an. »Warum ist der so hässlich?«, fragte er.
Gegen meinen Willen musste ich grinsen. »Ich glaube, er macht es aus Bosheit.«
Die Antwort schien dem Jungen zu gefallen. Er grinste zurück.
»Ich bin Mo«, sagte er.
»Felix.«
Mo tippte auf die Blätter in seinem Schoß. »Hast du die auch ausgefüllt?«
Ich nickte.
»Ganz schön kranke Scheiße!« Er hob die Blätter hoch. »›Denken Sie darüber nach, Ihr Leben zu beenden?‹«, las er vor. »›Haben Sie morgens Probleme, in den Tag zu starten?‹ Digga, wenn ich Probleme hätte, morgens in den Tag zu starten, würde ich es auch nicht schaffen, morgens um acht Uhr hier zu hocken, um diesen Bogen auszufüllen.«
Ich musste lachen. Es war ein ungewohntes Gefühl. Lachen.
Wenn er sprach, klang eine andere Melodie mit. Als wäre seine Zunge es noch nicht ganz gewohnt, die Worte auszusprechen, obwohl er keine Fehler machte.
»Kommst du schon länger hier hin?«, fragte Mo.
Widerstrebend nickte ich einmal knapp.
»Wie lange?«, wollte Mo genauer wissen. Die Frage war so direkt, dass ich einfach antwortete.
»Seit drei Monaten.« Ich fand, dass es ihn gar nichts anging. Immerhin kannten wir uns nicht und es war unhöflich, das einfach zu fragen. Aber es schien ihn nicht zu jucken.
»Das findest du lang?«, fragte er und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, was lustig war, weil seine buschigen Brauen dann fast in seinem Haar verschwanden.
Mir blieb eine Antwort erspart, weil ich in dem Moment zu Frau Rose ins Zimmer gerufen wurde. Ich verabschiedete mich beim Aufstehen von Mo. Er nickte mir nur zu und steckte sein Gesicht zurück in das Comicheft.
Nach dem Termin schob ich mein Rad wieder nach Hause. Bolt hechelte neben mir her. Eigentlich hatte ich mich schon an das Schieben gewöhnt. Aber auf dem Weg die Straßen entlang kam mir eine Idee, die mich zum ersten Mal seit Wochen so etwas wie Aufregung spüren ließ.
Als wir in unsere Straße einbogen, ging ich nicht sofort ins Haus, sondern schloss die Garage auf. Sie war bis oben hin vollgestopft mit Krempel. Alte Fahrräder, eine Tischtennisplatte, aufgestapeltes Holz, Werkzeug, Altglas. Die Kisten mit der Weihnachtsdeko. Das Auto hatte hier nie reingepasst. Aber das war jetzt sowieso nicht mehr da.
Ich quetschte mich an dem klapprigen Moped vorbei, an dem mein Vater manchmal rumgeschraubt hatte und schob dabei die flauen Gefühle im Bauch beiseite, die der Anblick der vertrauten Sachen auslöste. Bolt legte sich im Toreingang in den kühlen Schatten der Garage und beobachtete, wie ich mich durch die Sachen wühlte. Ganz hinten fand ich es. Dort an der Wand lehnte mein altes Longboard. Ich war ewig nicht mehr damit gefahren. Ich hatte es zum elften Geburtstag bekommen und ein paar Jahre war ich ständig mit dem Ding unterwegs gewesen und hatte mich mit meinen Freunden bei den Treppen am Schwimmbad getroffen, wo wir Stunts geübt hatten. Wir waren sogar gar nicht mal schlecht gewesen. Irgendwann landete es dann hier in der Garage. Auf jeden Fall lange genug, um ordentlich Spinnweben zu sammeln.
Ich zog es hinter den Kisten hervor. Die Rollen waren noch gut. Den letzten Satz hatte ich kaum runtergefahren. Auf der Rückseite waren noch meine alten Simpsons-Aufkleber. Mit einem leichten Lächeln betrachtete ich das staubige Board in meinen Händen.
Zusammen mit meinem Fund kämpfte ich mich aus den Tiefen der Garage zu Bolt, der sich mittlerweile auf die Seite gelegt hatte. Als ich das Board neben ihn auf den Boden stellte, zuckte er mit den Ohren. Ich setzte einen Fuß auf die dunkle, raue Fläche, kickte mich vom Boden ab und rollte aus der Garage in Richtung Straße. Fühlte sich vertraut an. Anscheinend verlernte man Longboardfahren nicht. Ich neigte mich zur Seite und bog in einer Kurve auf die Straße ab. Noch ein Kick, um Tempo aufzunehmen. Das Board klapperte unter mir und die Rollen machten das angenehme Surrgeräusch auf dem Asphalt. Das Gefühl, schneller zu werden, und den Wind in den Haaren zu haben, fühlte sich gut an.
In einer Anwandlung von Übermut steuerte ich auf den Bordstein zu und probierte einen Grind. Das Board flog mir unter den Füßen weg und ich stolperte hinterher. Ich musste grinsen. Schon zum zweiten Mal heute.
Mit dem Board unterm Arm ging ich zurück zu Bolt. »So, mein Dicker«, sagte ich. »Jetzt probieren wir mal was aus. Das dürfte dir gefallen.« Ich hob ihn hoch und setzte ihn vorne auf das Board. Er passte perfekt drauf. Hinter ihm war gerade noch genug Platz für meinen Fuß. Ich musste ihn leicht unter seinen Hintern schieben, um nicht zu weit hinten zu stehen, aber Bolt störte das nicht.
Wieder trat ich mich vom Boden ab. Diesmal viel vorsichtiger. Erst war Bolt irritiert und wollte vom Board springen. Aber ich hielt ihn mit meinem freien Bein davon ab und er setzte sich hin. Langsam rollten wir über den Weg. Es war etwas holprig, durch das zusätzliche Gewicht war die Balance anders und ich konnte nicht so gut lenken. Doch nach ein paar Runden hatte ich den Dreh raus.
Wir fuhren immer wieder die Straße rauf und runter. Bolt hatte sich schnell daran gewöhnt, auf dem rollenden Board zu sitzen, genau, wie ich es mir vorgestellt hatte. So musste er nicht laufen. Und ich musste mein Fahrrad nicht mehr schieben.
Zufrieden mit meiner Idee rollten wir den ganzen Nachmittag unsere Straße auf und ab, immer auf dem Bürgersteig. Es machte richtig Spaß und ich kam sogar ins Schwitzen. Es fühlte sich beinah merkwürdig an, aber ich konnte nicht genau benennen, was es war.
Als meine Tante mit dem Auto nach Hause kam und vorm Haus parkte, skateten wir noch über den Gehweg. Sie kam uns entgegen und schaute ungläubig auf Bolt, der nun wie ein König vorne auf dem Board thronte und sich von mir fahren ließ.
»Mega die gute Idee!« Sie strahlte mich an.
Ich nickte und grinste wieder leicht.
»Geht’s dir gut?«, fragte sie mich.
»Ja«, antwortete ich und merkte, dass es fast stimmte. Da wurde mir bewusst, was das merkwürdige Gefühl von vorhin war. Es hatte sich für einen Moment angefühlt, als wäre ich wieder ich selbst.
Der erste Moment, in dem ich es gespürt hatte, so richtig tief in meinem Inneren gespürt hatte, dass mit mir nun etwas anders war, war etwa zwei Wochen nach dem Unfall gewesen. Es war um die Mittagszeit gewesen und ich hatte bereits diverse Löcher erst in meine Zimmerdecke und dann in den Wohnzimmerteppich gestarrt. Irgendwann war mir Bolts Gebettel aufgefallen und es muss schon viel bedeuten, dass er es geschafft hatte sich in mein Bewusstsein zu drängen, denn das war zu dem Zeitpunkt ein wirklich weit entfernter Ort.
Er musste aufs Klo. Zumindest ging ich davon aus. Ich sprach nicht viel Hund. Unbeholfen stand ich von der Couch auf, bei der ich mich nicht daran erinnern konnte, wie ich überhaupt auf sie gekommen war und streckte meine steifen Glieder. Seit Tagen trug ich dasselbe Shirt mit demselben Kapuzenpulli und musste vollkommen zerknittert aussehen. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal geduscht hatte. Und hatte ich mir eigentlich die Zähne geputzt? Nicht heute, sondern generell? Wann war ich das letzte Mal im Bad gewesen?
Keiner der Gedanken blieb lang genug. Kein Gedanke schaffte es überhaupt bis nach ganz vorne in meinem Kopf. Ganz vorne in meinem Kopf war ein Vakuum aus Schock.
Im Flur nahm ich Bolts Leine und machte sie unbeholfen an seinem Halsband fest. Es fühlt sich falsch an, soweit sich überhaupt irgendetwas in diesem Moment anfühlen konnte. Ich dachte noch daran, meinen Schlüssel mitzunehmen, dann verließ ich das Haus. Als ich auf den Bürgersteig trat, dachte ich abwesend, dass es deutlich wärmer war, als ich erwartet hatte. Wärmer als das letzte Mal, als ich draußen war. Wann war ich das letzte Mal draußen gewesen?
Ich schlug den Weg Richtung Park ein. Nicht weit von unserem Haus entfernt gab es eine kleine Grünanlage, in der ich als Kind mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft im Sommer gespielt hatte und in der viele Leute mit ihren Hunden spazieren gingen. Soweit ich wusste, war Isa da auch mit Bolt regelmäßig gewesen. Warum war ich eigentlich nie mitgegangen? Aber warum hätte ich sollen? Im Ranking der Dinge, die ich in meinem Leben zuletzt gerne gemacht hatte, war Zeit mit meiner kleinen Schwester zu verbringen nicht mal aufgelistet gewesen.
Wir kamen an den Parkeingang und Bolt fing sofort an, an seiner Leine zu ziehen. Nicht etwa, weil er weglaufen wollte. Er blieb nur einfach stehen, um ausführlich an einem Grasstreifen zu schnüffeln. Mit unglücklichem Gesichtsausdruck beobachtete ich ihn dabei und fragte mich, was er da machte. Ich wollte ihn an seiner Leine weiterziehen, wusste aber nicht recht, wie das ging, und außerdem schien ihm das rein gar nichts auszumachen. Er ignorierte mich einfach rundheraus. Mir wurde bewusst, wie schlecht ich diesen kleinen, hässlichen Hund kannte. War das sein normales Verhalten oder tat er grade etwas, was er sonst nicht tat? Musste man auf irgendwas achten, wenn man mit Hunden spazieren ging und durfte man sie eigentlich ableinen?
Ich wusste nichts von all dem. Also stand ich weiter einfach nutzlos da und wartete, während er in aller Seelenruhe an seiner Grasstelle schnupperte.
Schließlich machte er ein paar Tippelschritte zur Seite, hob sein Hinterbein an. Und pinkelte an die inspizierte Stelle. Im Ernst. Er hatte grade geraume Zeit darauf verwendet, einen Ort auszukundschaften und zu beschnüffeln, nur um ihn dann anzupinkeln. Wäre ich nicht so vollkommen neben der Spur gewesen, hätte ich es lustig gefunden.
Wir gingen ein Stück weiter, doch schon nach wenigen Metern zog Bolt abermals an der Leine. Das gleiche Prozedere. Er wollte an einer anderen Stelle, die absolut genauso aussah wie die von vorhin, schnuppern. Okay. Ich blieb stehen. Wartete.
Während Bolt seine Nase ins Gras steckte, blickte ich mich im Park um. Mir wurde abermals bewusst, dass ich zu warm angezogen war. Die Sonne schien durch die Bäume und es lagen sogar vereinzelt Leute auf Decken rum, die bloß in Shorts und T-Shirt gekleidet waren. War es schon Sommer? Es war doch erst April, oder? Oder?
Und plötzlich wurde mir sehr kalt. So kalt, dass ich in meinem dreckigen Kapuzenpulli anfing zu zittern. Dabei schien mir sogar die Sonne auf Gesicht und Rücken und unter der Kälte spürte ich, dass mir eigentlich zu warm war.
Fahrig schaute ich zu Bolt, der nach wie vor mit seiner Grasstelle beschäftigt war. Mit einer Hand fuhr ich mir in den Nacken und rieb über meine kribbelnde Haut. Auf einmal war ich mir der anderen Leute im Park übermäßig bewusst. Genauso wie meiner ungewaschenen Klamotten und Haare. Ich fühlte mich klebrig und der kalte Schweiß, der sich grade wie ein Film über meine Haut zog, half nicht dabei.
Ich wünschte, ich hätte noch die andere Hand frei, denn nun wollte ich mir auch übers Gesicht reiben und meine Augen abschirmen. Doch ich hielt noch Bolts Leine.
Bolt zog und riss mich dadurch aus meinem Tunnel. Ich bückte mich runter und löste die Leine von seinem Halsband, den Gedanken, ob das überhaupt ging, ignorierend. Ich wollte einfach, dass er nicht mehr an der Leine zog und beide Hände frei haben.
Dann lief ich mit hastigen Schritten weiter und schlug einen Weg ein, wo es zu einem kaum besuchten Teil des Parks ging. Dort setzte ich mich auf eine Bank und stützte meinen Kopf in beide Hände. Mein Puls war viel zu schnell, das spürte ich jetzt. Und mein Atem ging stoßweise. Je bewusster mir das wurde, umso schlimmer wurde es. Mir wurde übel und das Kribbeln auf meiner Haut verstärkte sich noch. Ich hatte einen metallenen Geschmack im Mund und hörte Rauschen in den Ohren.
Fest kniff ich die Augen zusammen. In dem Moment spürte ich, dass mir zum Weinen zumute war. Aber ich wusste nicht warum. Weil ich mich so fühlte, wie ich mich grade fühlte? Weil ich meine Familie vermisste? Weil ich Angst hatte? Angst. Ich hatte Angst.
Und das war in meinem Kopf wie ein Stichwort, wie ein Signal und meine Gedanken, die sich sowieso schon überschlugen, fingen an absolut zu rasen. Pure Panik befiel mich, weil ich hier in einem sonnigen Park saß und Angst hatte. Und das machte mir noch mehr Angst. Meine Angst machte mir Angst. Wie lächerlich war das bitte. Ich saß am helllichten Tag bei Sonnenschein auf einer Parkbank und hatte Angst? Ich hatte nie Angst. Ohne Scheiß, ich war gleich nach Isa einer der mutigsten Menschen, die ich kannte. Wie konnte ich jetzt ohne jeden ersichtlichen Grund Angst empfinden? Und dann auch noch eine Angst, die so stark gegen meine Brust drückte, dass ich kaum Luft bekam.
Wieder wollte ich lachen. Doch stattdessen fing ich an zu schluchzen und drückte meine Handballen fest in meine Augen. Kurz überkam mich der Drang, mich zur Seite kippen zu lassen. Das Bedürfnis mich hier auf der Parkbank zu einer Kugel zusammenzurollen, während diese Flut über mich hereinbrach, war beinah übermächtig.
Ich wiegte mich vor und zurück, meine Kiefernmuskeln waren verkrampft, genauso wie jeder andere Muskel in meinem Körper. Ich drückte meine Hände noch fester in mein Gesicht, bis der Druck auf meine Augäpfel so stark war, dass es schmerzhaft wurde. Das holte mich kurz zurück. Dieser körperliche Schmerz, der nichts mit dem Schmerz und der Panik in meinem Inneren zu tun hatte, ließ meinen Körper und meinen Kopf wieder ineinander rasten. Mein Atem beruhigte sich etwas, wenn auch nicht ganz und ich holte tief und zittrig Luft und reduzierte den Druck auf meine Augen, auch wenn ich die Hände noch nicht wegnahm. Ich spürte, dass mein Gesicht nass von meinen Tränen war. Wie diese durch den Druck meiner Fäuste dringen konnten, war mir schleierhaft.
Langsam ließ ich die Hände sinken und richtete mich auf der Bank auf, lehnte mich sogar zurück. Zu spüren wie die plötzlich aufgestiegene Anspannung langsam meinen Körper verließ, fühlte sich komisch an. Und mir liefen auch immer noch Tränen über die Wangen, mir war immer noch viel zu kalt und mir klebte nach wie vor mein T-Shirt an der schweißnassen Haut. Selten hatte ich mich so armselig gefühlt. Ganz toll.
Wieder holte ich tief Luft und öffnete langsam die Augen. Der Park vor mir erschien verschwommen. Das lag zum einen an meinen Tränen, aber auch daran, dass ich so fest auf meine Augen gedrückt hatte. Ich spürte noch immer dem Druck meiner Handballen nach. Mit zitternden Fingern wischte ich mir übers Gesicht. Langsam wurde mein Blick klarer und erleichtert stellte ich fest, dass ich in meiner Ecke des Parks immer noch alleine war. Alleine.
Mit einem Mal war alle Panik zurück und ich sprang auf. Doch bevor ich mich weiter in Bewegung setzen konnte, rührte sich etwas vor meinen Füßen.
Da saß er. Bolt war mir einfach gefolgt. Hatte sich zu mir gesetzt und auf mich gewartet. War nicht weggelaufen, um noch mehr Grasstellen anzupinkeln oder sich eine bessere Beschäftigung zu suchen, als einem bemitleidenswerten Typen in ranzigen Klamotten zu folgen, der nicht mal wusste, wie man seine Leine richtig hielt. Und ich hatte ihn nicht einmal bemerkt. War ohne weiter über ihn nachzudenken, in diese Ecke des Parks gegangen und hatte absolut die Kontrolle verloren. Und wirklich keinen einzigen Gedanken an diesen hässlichen Hund vergeudet.
Wieder kamen mir die Tränen. Diesmal noch unkontrollierter. Was war los mit mir? Auch wenn ich grade nicht die Panik von vorhin empfand und meine Haut auch nicht begann zu kribbeln, konnte ich nicht aufhören zu weinen. Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer und ich bekam vor lauter Schluchzen kaum noch Luft, mein Brustkorb war zusammengeschnürt. Meine Zähne klapperten.
Hastig beugte ich mich zu Bolt runter und hob ihn kurzerhand hoch.
Und dann rannte ich. Ich war vielleicht zehn Minuten von zu Hause entfernt. Ich rannte die ganze Strecke durch in einem Sprint, der meinen Sportlehrer mit Stolz erfüllt hätte. Ich rannte und rannte, es fühlte sich an, als würde ich vor etwas wegrennen, nur wusste ich nicht vor was. Außer vor mir selbst vielleicht.
Als ich zu Hause ankam, schloss ich mit wackligen Fingern die Haustür auf und schlug sie sofort hinter mir zu. Dann sackte ich auf dem Boden im Flur zusammen und diesmal rollte ich mich wirklich zu einer Kugel ein, zog meine Knie an meine Brust und umklammerte mit beiden Armen fest meine Beine. Und weinte. Und weinte. So lange, bis in mir drin einfach keine Tränen mehr sein konnten. Und selbst dann blieb ich noch liegen. Selbst als das Licht, das durch die Milchglasfenster der Haustür fiel, sich veränderte und ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis Becca nach Hause kommen würde, blieb ich noch liegen. Und Bolt lag neben mir. Direkt neben meinem Kopf. Bewegte sich nicht. Wartete. Wartete mit mir, dass es endlich vorbei sein würde.
Doch das war es nicht. Das schreckliche Gefühl von Panik, das mich im Park befallen hatte, war irgendwann, während ich auf dem Boden lag, zurückgekehrt. Es steckte in meiner Brust, hatte sich dort festgesetzt, eingenistet, zog hoch in meine Kehle und runter in meinen Bauch. Es machte mir das Atmen nicht mehr komplett unmöglich, doch es drückte auf meinen Brustkorb und auf mein Herz, das sich unsäglich schwer anfühlte.
Und auch wenn es mich nicht komplett überfiel und die Kontrolle über mich einnahm, so wie zuvor, war es doch da. Lauerte dort und erinnerte mich daran, dass es bereit war, das jederzeit wieder zu tun. Und so würde es ab jetzt immer sein. Dieses Gefühl war nun mein ständiger Begleiter. Und vor nichts hatte ich so viel Angst wie vor diesem Gefühl der Angst. Wie absurd.
Von dem Moment an, als ich mit dem Longboard bei uns auf der Straße herumgefahren war, fuhren Bolt und ich auf dem Board zusammen durch die Gegend. Die Leute sahen sich viel nach dem kleinen, dicken Hund um, der auf dem schwarzen Board saß und sich sehr zufrieden mit sich und der Welt herumkutschieren ließ. Wenn ich unsere Spiegelung in Autoscheiben sah, musste ich zugeben, dass wir zusammen ziemlich cool aussahen.
Bei unserer nächsten Sitzung erzählte ich Frau Rose von meiner neuen Idee. »Ich dachte, es wäre ganz praktisch. Und es scheint ihm gut zu gefallen«, berichtete ich auf dem flauschigen Sessel.
Bolt hatte sich auf dem cremefarbenen Teppich ausgestreckt und schnaufte laut beim Atmen.
»Und wie gefällt es dir?«, fragte mich Frau Rose und probierte, nicht zu dem laut atmenden Hund zu gucken. Ich glaube, es kostete sie viel Überwindung, Bolt auf ihrem ordentlichen, sauberen Teppich zu akzeptieren. Er hatte zwar eine recht ähnliche Farbe wie der Teppich, bis auf die dunklen Flecken hier und da, aber er war und blieb ein räudiger Hund und Frau Roses Teppich strahlte diesen unbestechlichen Eindruck von absoluter Reinheit aus. Bolt nicht.
Ich dachte über ihre Frage nach. »Gut«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. Keine Ahnung, wie sollte es mir schon gefallen. War besser als Laufen und Bolt mochte es.
»Es scheint dir auf jeden Fall Freude zu bereiten«, sagte Frau Rose nun und schaute mich aus ihren freundlichen Augen aufmerksam an.
»Ja, doch, schon«, räumte ich ein.
»Vielleicht kannst du das dann ja mal als Gelegenheit nutzen, deinen Bewegungsradius ein bisschen zu erweitern«, schlug sie vor.
Ich rutschte tiefer in den Sessel. Der Vorfall im Park war nicht der Grund dafür gewesen, dass ich angefangen hatte, bei Frau Rose in die Praxis zu gehen. Doch nach einigen seeehr schweigsamen ersten Sitzungen bei ihr, während derer ich es nicht über mich bringen konnte, über die Geschehnisse in meinem Leben seit dem Unfall zu reden, hatte ich es doch geschafft, ihr von dem Gefühl der Angst in meinem Bauch zu erzählen, das sich dort festgesetzt hatte, seit ich mit Bolt das erste Mal spazieren gegangen war. Und auch wenn es sich anfühlte, wie die peinlichste Sache in meinem Leben, hatte ich es seit diesem missglückten Besuch im Park nicht mehr geschafft, das Haus zu verlassen, außer Becca war dabei oder ich hatte einen Termin bei Frau Rose. Mein Bewegungsradius beschränkte sich auf den Laternenpfosten an unserer Straßenecke – Bolts bevorzugte Toilette –, den Supermarkt, in den Becca mich mindestens einmal die Woche schleppte und den Weg zur Praxis. Wenn ich so drüber nachdachte, erschien mir mein aktuelles Leben wie ein armseliger Haufen Traurigkeit. Dabei war ich mal so normal gewesen. Und normal hieß in dem Fall, dass ich kein sonderbares Verhältnis zu einem hässlichen Hund hatte, zur Schule ging und Zeit mit meinen Freunden und beim Sport verbrachte. Es war nicht so, dass ich da besonders hohe Maßstäbe hatte.
»Bolt würde es sicher auch gefallen, mal ein bisschen rauszukommen«, fuhr Frau Rose fort. »Wer weiß, vielleicht holt es ihn ein bisschen aus seiner Lethargie raus.«
Ich sah zu ihr hoch und bemerkte, dass sie mich augenzwinkernd ansah. Warum war ich noch mal hier?
An die ersten Tage nach dem Unfall konnte ich mich kaum erinnern. Es war, als würde ein Nebel über dieser Zeit liegen. Ich wusste, dass meine Tante da war und meine Großeltern auch. Freunde von meinen Eltern kamen und gingen. Ich aß, machte den Fernseher an, ging mit meiner Tante einkaufen und saß neben ihr, während sie und meine Großeltern lauter rechtliche Dinge mit einem Notar klärten, von denen ich nichts verstand, bei denen ich aber auch nicht zuhörte. Freunde von mir kamen vorbei und nahmen mich in den Arm, wussten aber nicht, was sie sagen sollten. Ich selbst sagte kaum etwas.
Frau Rose erklärte mir später, dass ich damals unter Schock gestanden hatte.
Als alles etwas ruhiger wurde und meine Tante wieder arbeiten ging und nicht mehr so häufig Leute vorbeikamen, blieb ich allein zu Hause. Meiner Tante erzählte ich abends, ich sei spazieren gegangen oder hätte mich mit irgendwelchen Freunden getroffen. Aber die meiste Zeit lag ich einfach nur in meinem Bett und starrte an die Decke. Schlief zwischendurch ein, verbrachte Stunden im Halbschlaf und war doch niemals müde genug, um richtig zu schlafen. Was meine Aktivitäten anging, so war es bei dem einen Ausflug in den Park geblieben.
Bolt lag in dieser Zeit stets neben meinem Bett. Damals hatte ich es noch für mich allein.
Irgendwann, nachdem ich mehrere Wochen so zugebracht hatte, schaute ich auf den Hund, der da neben meinem Bett lag und blieb mit den Augen hängen.
Irgendetwas stimmte nicht. Er war noch genauso hässlich wie immer. Triefaugen, Fledermausohren, der Überbiss, bei dem die untere Zahnreihe hervorblitzte. Der kleine unproportionierte Körper mit dem schmutzig weißen Fell und den dunklen Flecken dazwischen. Aber etwas war anders.